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Oleksandr Irwanez

Pralinen vom roten Stern

Roman

Aus dem Ukrainischen von
Alexander Kratochvil

Ein Blick hinter die Mauer

Vorwort von Juri Andruchowytsch

Fans von James Joyce haben ihren Bloomsday, und zwar am 16. Juni.

Fans von Oleksandr Irwanez könnten – im Falle eines Falles – ihren Schlojma-Tag immer am 17. September haben.

So wie der Bloomsday jedes Jahr in Dublin stürmisch gefeiert wird, so könnte der Schlojma-Tag zweifellos in Riwne zelebriert werden. Nun hat die Stadt Riwne für die Ukraine bei weitem nicht die Bedeutung von Dublin für Irland, doch der Schriftsteller Oleksandr Irwanez verlieh der Stadt mit seinem Roman eine beachtliche, zumindest literarische Bedeutung.

Die Gemeinsamkeit beider Romane ist offensichtlich, denn es geht sowohl im Roman von Joyce als auch in dem von Irwanez um einen Tag mit einem konkreten Datum. Der Unterschied liegt freilich darin, dass Joyce das Jahr genau bestimmte: 1904. Irwanez gibt keine genaue Jahreszahl. Die Handlung des Romans spielt nicht wie bei Joyce in der Vergangenheit, sondern „quasi“ in naher Zukunft. Warum ich eben das Wörtchen „quasi“ verwendet habe, wird im Weiteren klar werden.

Vorläufig aber noch ein paar Worte zum Datum 17. September. Oleksandr Irwanez und ich gehören einer Generation von Ukrainern an, die in Sowjetschulen Sowjetgeschichte lernten und deshalb gezwungen waren, sich diesem Datum gegenüber ehrfürchtig zu verhalten. Denn am 17. September 1939 marschierten die Kampfverbände der Roten Armee in das Territorium der östlichen Regionen der Zweiten Polnischen Republik ein und besetzten sie nach kurzer Zeit vollständig. Damit halfen sie ihrem Verbündeten, dem Dritten Reich, das polnische Staatswesen zu liquidieren. Dank dieser Tatsache vereinigten die Sowjets „quasi“ (schon wieder dieses Wörtchen!) die ost- und westukrainischen Gebiete zu einer einzigen ukrainischen sozialistischen Republik (URSR) mit der Hauptstadt Kiew und noch einer Haupthauptstadt Moskau.

So wurde der 17. September zu einem Datum mit gegensätzlichem Sinn. Einerseits ein ganz besonderer „Tag der ukrainischen Einheit“, freilich irgendwie ein Fake, denn die Einheit war kommunistisch und vor allem erzwungen, und anderseits signalisiert er den Beginn der totalitären Unterwerfung der westukrainischen Gebiete und Repression gegen die lokale Bevölkerung im großen Stil durch die Bolschewiken.

Ein sprechenderes Datum hätte der Autor für die Handlung seines Romans kaum wählen können.

*

Aufgrund biographischer Umstände ist der Autor dieser Zeilen in nicht geringem Maße an der Entstehungsphase von „Riwne-Rowno“, wie „Pralinen vom roten Stern“ im ukrainischen Original betitelt ist, beteiligt gewesen. Der Roman ist Olav Münzberg, einem deutschen Gegenwartsautor gewidmet, der Prosa, Lyrik und Publizistik verfasst und darüber hinaus – was besondere Aufmerksamkeit verdient – im Laufe mehrerer Jahrzehnte zu einem „Wahl-Westberliner“ und für mich zum heldenhaften Führer (im Sinne eines Stadtführers) während meines ersten Aufenthalts in dem eben wiedervereinigten Berlin Ende 1993 wurde. Der Zufall wollte es, dass wir uns ungefähr nach einem Jahr auf einer internationalen Schriftstellerkreuzfahrt begegneten und zwar auf einem sechsstöckigen griechischen Kreuzfahrtschiff mit dem wohltönenden Namen „World Renaissance“. Während des unruhigen Geschaukels über drei Meere machte ich Olav mit meinen beiden besten Freunden und Bubabisten – Wiktor Neborak und den Autor des vorliegenden Romans – bekannt. Irwanez hatte im darauf folgenden Jahr 1995 die Chance, selbst nach Berlin zu kommen. Zu seinem Glück führte ihn kein anderer durch die Stadt als eben Olav Münzberg. Er zeigte ihm nicht nur die Stadt, sondern auch die Mauer. Zwar existierte sie quasi nicht mehr, aber in den Erzählungen von Olav wurde sie sehr existent. (Das Wörtchen „quasi“ wird immer markanter und in diesen Aufzeichnungen werde ich es sicher weiter verwenden).

*

Nun werden wir noch einen Schritt weiter in die Vergangenheit in Richtung des seltsamen Begriffs „Bubabisten“ machen, dem ihr sicher schon eure Aufmerksamkeit zugewendet habt.

Der Autor dieser Zeilen kennt nämlich den Autor dieses Romans schon seit Februar 1985. Damals waren wir junge Dichter und es fehlte uns in der damaligen Dichtung ganz entschieden Burleske, Balahan (resp. Jahrmarktskunst) und Buffonade. Und so nannten wir unser Dichter-Trio Bu-Ba-Bu. Der Dritte im Trio war der schon erwähnte Wiktor Neborak.

Im Großen und Ganzen handelte es sich um ästhetische Subversion. Wir hatten uns fest vorgenommen, die herrschenden Grenzen des Anstands in der Dichtung zu verschieben. Unsere Performance zwischen 1987 und 1992 war legendär und wurde zum markantesten Phänomen dieser wunderseltsamen Zeit. Das Sowjetsystem ging unter und zerfiel quasi von selbst und die ukrainische Unabhängigkeit wurde geboren. In dieser ganzen Geschichte sahen wir uns nicht nur als Zeugen und Chronisten, sondern auch als die eigentlichen Propheten des Künftigen.

An dem Abend, als in Berlin die Mauer endgültig niedergerissen wurde, traten wir mit unseren Gedichten auf der Bühne der überfüllten Theater meiner Heimatstadt auf. Wir verwandelten die Stadt in eine offene Stadt in völligem Einklang damit, wie die Berliner ihre Stadt öffneten. Es war eine parallele, ideal überblendete Aktion.

Die aktive Phase des Bubabismus endete wohl ungefähr damals, als ich den Autor dieses Romans Olav Münzberg vorstellte. In dem Jahr feierten wir ausgelassen das hundertjährige Bu-Ba-Bu-Jubiläum (entsprechend dem Alter von uns Dreien 34+33+33=100) sowie den Abschluss der Vorbereitungen für unsere erste Anthologie. Damit konnten wir uns verabschieden und unterschiedliche Wege gehen.

Der Weg von Oleksandr Irwanez führte großteils über Theaterstücke. Nein, nein, er hörte schon aus Prinzip nicht auf, Gedichte zu schreiben, wie auch der Autor dieser Zeilen. Mit seinen Theaterstücken hatte er einige außergewöhnliche Erfolge. Zum Teil solche, dass man seine Werke auf deutschen Bühnen deutlich eher inszenierte als auf ukrainischen. Ein Echo dieses Theater-Weges findet der Leser dieses teilweise autobiographischen Romans im Hauptstrang der Handlung.

Der Roman wurde aus diesen Theaterstücken geboren. Es kursierten seit Ende der 1990er Jahre Gerüchte über ihn. Als ich meinen alten Kumpel Oleksandr 2001 für einen ganzen Monat wieder in Deutschland begegnete, und zwar in der für kreative Arbeit geradezu idealen Künstlervilla „Waldberta“, wurde der Roman in der Ukraine gerade zum Druck vorbereitet. Zur Taufe des Buchs fuhr ich im Februar 2002 nach Riwne und las dabei die letzten Seiten des Manuskripts in einem halbdunklen, schmutzigen und winterlich kalten Wagon der ukrainischen Eisenbahn.

Das reale Land des Autors sowohl innerhalb als auch außerhalb des Eisenbahnwagons schien sich so ganz und gar nicht von jener im Roman dargestellten, erbärmlichen Sozialistischen Republik Ukraine zu unterscheiden.

*

Die Spezifik dieser Zeit lag in der Annäherung an eine gewisse Grenze: Nach ausdauernden, aber letztlich erfolglosen Protestaktionen, die eine „Ukraine ohne Kutschma“ als Ziel hatten, begann das übliche Abgleiten des offiziellen Kiews in die Arme Russlands mit seinem neuen und geheimnisvollen Präsidenten, hinsichtlich dessen (Who is Mr. Putin?) wir nicht die leisesten Zweifel hatten: Mr. Putin is a fucking KGB-crap. Vor diesem Hintergrund entfaltete sich eine beispiellose Kampagne im Parlamentswahlkampf, in dem schließlich überhaupt zum ersten Mal die oppositionelle Demokratie gewann.

Das machte eine neu entstandene gesellschaftliche Qualität in der Ukraine sichtbar und versprach auch neue gesellschaftliche Perspektiven. Nach etwa zweieinhalb Jahren erschien diese neue Perspektive massenhaft auf dem zentralen Platz der Hauptstadt, dem Unabhängigkeits-Majdan, in einem durch und durch intensiven Orange.

Der Roman von Irwanez, der ja im Vorfeld der Orangen Revolution mit ihrem kategorischen Sein oder Nichtsein geschrieben worden war, konnte durchaus als Antiutopie verstanden werden oder, auch solche Genres gibt es, als eine Roman-Prophezeiung.

Die Vorgeschichte des Romans verweist auf eine nicht näher genannte politische Katastrophe, wegen der die Ukraine in zwei Teile gespalten wurde: in eine prorussische SRU (Sozialistische Republik Ukraine), die einen beträchtlichen Teil des ehemaligen ukrainischen Territoriums einnimmt, sowie die prowestliche Westukrainische Republik. Die Spaltung der Ukraine verläuft auch quer durch die Heimatstadt des Autors und des Romanhelden. Aus einer Stadt werden zwei Städte: das zum Westen gehörende Riwne und sein Gegenpart, das sozialistische Rowno. Die einst zusammengehörende Welt wird nach dem bekannten Berliner Muster aus den Jahren 1961–1989 durch eine Mauer geteilt.

Das Romansujet erzählt einen Tag aus dem Leben des Schlojma Ezirwan, eines Schriftstellers und Bewohner des Westsektors, den er freilich im Ostsektor verbringen muss, da er seine Verwandten besuchen will.

*

Lässt sich aus heutiger Perspektive, besonders im Zusammenhang mit der militärischen Auseinandersetzung mit Russland und ihren Marionetten in den östlichen Landesteilen der Ukraine, der Roman „Riwne-Rowno“ tatsächlich als Roman-Prophezeiung bezeichnen?

Auf den ersten Blick schon. Seit dem Frühjahr 2014 (12 Jahre nach dem ersten Erscheinen des Romans) kann man in der Ukraine eine territoriale Spaltung beobachten. Natürlich kann man einwenden, dass die territoriale Verteilung genau umgekehrt wie im Roman ist. Das heißt, „unsere SRU“ ist ziemlich klein und „unsere Westukrainische Republik“ gleicht der Westukrainischen Republik im Roman ganz und gar nicht, da sie etwa 90 Prozent des ehemaligen Territoriums mit den südlichen, zentralen und östlichen Gebieten mit der Hauptstadt Kiew und deren wichtigsten Metropolen (Dnipro, Odessa, Charkiw) umfasst und nicht nur, wie im Roman, einige westukrainische Gebiete.

Das bedeutet, die Prophezeiung hat sich, wenn überhaupt, nur teilweise erfüllt, und zwar vor allem in einem Sinn: Tatsächlich wird ein kleines Gebiet nicht mehr von Kiew kontrolliert. Allerdings entgegen der Prophezeiung nicht aus westlicher Sicht, sondern aus der östlichen. Und dass es überhaupt existiert, hat nur die unmittelbare militärische Intervention Russlands ermöglicht und auch dessen weitere Existenz wird nur vom russischen Militär gesichert. Übrigens genauso wie im Roman die Existenz des demokratischen und freien Riwne durch die Anwesenheit eines begrenzten Kontingents von NATO-Soldaten (einem polnischen Bataillon) gesichert wurde.

Und an dieser Stelle ist es nun höchste Zeit, das Allerwichtigste zu erwähnen: Hat Oleksandr Irwanez tatsächlich in die Zukunft geblickt? Ist der Platz dieser Quasi-Antiutopie tatsächlich auf dem gleichen Bücherregal, auf dem sich die warnenden Werke von Orwell, Huxley oder Lem befinden?

Irwanez’ Roman handelt von der Vergangenheit. Das heißt, die Reise des Helden auf die andere Seite der Mauer erscheint nicht nur als Bewegung durch den Raum, sondern vielmehr und in größerem Maß durch die Zeit. Es ist eine Rückkehr in die Vergangenheit – in eine böse, komische, absurde, primitive, totalitäre, soz-realistische parodiehafte Vergangenheit. Die Zeit, das wird deutlich, scheint manchmal „quasi“ stehenzubleiben oder rückwärts zu laufen.

Als Ergebnis haben wir die karikierte SRU und ihre abscheuliche Stadt Rowno – eine fast schon zeitlose Verdichtung alles Sowjetischen, Anachronistischen und Abgestorbenen.

Und doch handelt es sich auch um ein Territorium der Nostalgie, Erinnerung, Sentimentalität, um eine Zone der verlorenen Zeit, die man unerwartet wiederfindet, einen Raum der Rekonstruktion von Träumen, die man, wie es schien, damals, in der Kindheit, ein für alle Mal ausgeträumt hatte – so wie der Autor des Romans und der Autor dieser Zeilen.

Und auch sonst haben der Autor und ich ein gemeinsames Land, nämlich eines, in dem nicht nur böse Träume von Zeit zu Zeit wiederkehren können.

Schlojma stieg hinter dem schweigsamen Samtschuk aus dem Wagen und vertrat sich ein wenig die Beine, die ihm schon eingeschlafen waren. Seine Begleiter sprachen derweil mit dem Fahrer. Der Blick des Schriftstellers Ezirwan fiel auf ein kurzes Stück Rohr, das inmitten des Bürgersteigs aufragte. Eine Bohrung, deren Öffnung mit einem grellorangen Deckel verschlossen war.

Also auch hier …, ging es ihm durch den Kopf. Mit solchen Bohrungen war ganz West-Riwne durchlöchert. Vor einigen Jahren hatten Satellitenaufnahmen, die speziell für geologische Forschungen ausgewertet worden waren, endgültig erwiesen, dass die größten Uranvorkommen der Welt unter der geteilten ukrainischen Stadt lagen. Seitdem flossen unter beständigen Protesten der Grünen aller Länder Investitionen nach West-Riwne, die wesentlich zum gegenwärtigen Aufschwung der Stadt beitrugen. „Aufschwung um den Preis der Zerstörung“, so und ähnlich kommentierte die linke Presse das Wirtschaftswunder. Den Zeitungen im Ostteil der Stadt war dieses Thema zu heiß und sie fassten es nicht einmal mit der Feuerzange an.

Schlojma hob den Blick vom Bohrrohr und blickte auf zur Mauer, die sich linker Hand entlangschlängelte. Von hier aus, von der Ostseite gesehen, war sie ziemlich eindrucksvoll. Keine provokanten Graffiti von Anarchos und Hip-Hoppern an ihrer grauen Fläche, stattdessen Stacheldraht, der die Mauer oben abschloss und auf die hiesige Seite nach Osten geneigt war. Das sah überzeugend und bedrohlich aus. An der Mauer und in ihrer näheren Umgebung war es wie ausgestorben, keine Menschenseele. Schlojma blickte nach links und nach rechts und bemerkte nun, dass im Schatten der Mauer doch Gestalten in khakifarbenen Mänteln standen, ungefähr je hundert Meter voneinander entfernt.

Hinter der Glastür des Hauses der geistigen Arbeit wartete man bereits auf sie. Als Samtschuk die Tür mit den blank polierten Türdrückern vor ihm öffnete, bemerkte Schlojma eine Menschengruppe in der geräumigen Halle. Sie bestand großteils aus Männern in Sakkos mit hellen Hemden und Schlips. Hinter ihnen konnte man zwei Tischreihen erkennen. Eigentlich waren es gar keine Tische, sondern einfach Schulbänke mit je zwei Stühlen. Auf den Bänken lagen aufgeschlagen Schulhefte und billige Kugelschreiber, eigentlich Wegwerfware, und doch waren einige mit Fäden oder Klebeband umwickelt und geflickt, manche am hinteren Ende auch angenagt – wohl in der Erregung schöpferischer Inspiration.

Inzwischen hatte sich aus der Gruppe der Sakko- und Schlipsträger ein untersetzter, glatzköpfiger Alter mit beachtlichem Bäuchlein und bäuerlicher Physiognomie gelöst und stellte sich vor die Ansammlung. Er fixierte mit einem kurzen Blick sein Kollektiv und sogleich erstarrte es und Stille machte sich breit. Dann, nachdem er sich geräuspert hatte, hob er an:

„Heute befindet sich hier … unser, wie soll ich sagen … Kollege … der Autor aus dem westlichen Riwne … der Schriftsteller … Literat … Ezirwan Schlojma Wasylowytsch … der vorübergehend … im okkupierten … Westsektor unserer Stadt … arbeitet …“

Die Pausen in der direkten Rede waren voluminös und hart, man spürte, wie sie einen Moment lang in der Luft hingen und dann auf den Fußboden klapperten wie leere Patronenhülsen.

„Wir werden ihn jetzt … der Reihe nach … begrüßen … den Gast … aus dem westlichen Riwne … und danach … fahren wir in unserer Arbeit fort … unsere Arbeit … an der wir gemeinsam … arbeiten … schon längere Zeit. Außerdem … haben wir heute … noch weitere Gäste … einen weiteren Gast …“

Nach diesen Worten ging der Alte mit Bäuchlein drei Schritte auf Schlojma zu und reichte ihm die Rechte: „Trochym Subtschuk. Verantwortlicher Erster Sekretär und Erster Vorsitzender der Sektion Rowno des Schriftstellerverbandes.“

Schlojma schüttelte die dargebotene Hand. Ihm war Subtschuk aus der Zeit bekannt, als die Stadt noch nicht geteilt war. Persönlich kannten sie sich jedoch nicht, da sie einander nie vorgestellt worden waren. Deshalb erinnerte sich Subtschuk anscheinend auch nicht an ihn. Der nächste Schriftsteller, der Schlojma die Hand entgegenstreckte, stellte sich als Petro Tymtschuk vor. In einem früheren Leben waren sie, wenn auch keine engen Freunde, so doch gute Bekannte gewesen. Vor zehn Jahren hatte Tymtschuk die Kulturabteilung der Gebietsjugend geführt, geistreiche Feuilletons verfasst und im Kiewer Verlag Jugend war sogar eine Humoreskensammlung von ihm im Programm gewesen. Schlojma konnte sich aber nicht mehr erinnern, ob sie jemals erschienen war.

„Na, wir kennen uns doch, Petro …“, sagte Schlojma sicherheitshalber mit gedämpfter Stimme und Verschwörermiene zum Humoristen.

„Wir können uns gar nicht kennen, denn unsere Sektion des Schriftstellerverbands der SRU führt ihre neuen Verzeichnisse erst seit der aktuellen Neuregistrierung der Mitglieder“, schwadronierte Tymtschuk zur Antwort. Dabei zwinkerte er nicht einmal, sondern richtete den Blick irgendwohin über Schlojma in die Höhe.

„Ach so, ja, gut. Wahrscheinlich, sicher, sicher …“, entgegnete Schlojma ebenso laut und deutlich wie der Humorist. Anscheinend ist es im Augenblick wirklich besser, sich bedeckt zu halten. Wer weiß, was die hier für Regeln haben, dachte er.

Die folgenden Autoren, die sich ihm vorstellten, mussten entweder Brüder sein oder hatten einfach die gleichen Namen. Bei dem Ersten meinte Schlojma sich verhört zu haben. Doch als einer nach dem anderen und noch einer sich als Hymnenjuk Wiktor, Hymnenjuk Andrij, Hymnenjuk Mykola vorstellte, hielt Schlojma die kräftige, wurstelfingrige Pranke des Letzten von ihnen, Mykola, fest und rang sich durch zu fragen: „Wie: Hymenjuk? …“

„Im Rahmen des Kampfes um die Rückkehr zu den Ursprüngen und zur wahren Wiege unseres Nachnamens haben wir ihm die ursprüngliche Bedeutung zurückgegeben und die Aussprache sowie die Schreibweise angepasst“, wurde Schlojma von Wiktor Hymnenjuk informiert. „Unser Nachname Hymnenjuk ist in der wolhynisch-polesischen Region weit verbreitet. Höchstens der Name Poleser ist mit unserem hinsichtlich der Verbreitung vergleichbar … oder wir mit ihm.“

Die Poleser stellten sich gleich nach den Hymnenjuks vor. Es gab ihrer zwei: Juchym und Nikifor. Beide schrieben Prosa, wie sie betonten, während sie Schlojma die Hand schüttelten.

„Und nun“, verkündete Trochym Subtschuk, nachdem die Prozedur des Händeschüttelns abgeschlossen war, „erklären wir unserem Gast aus dem westlichen Rowno, woran wir hier arbeiten. Das Kollektiv der Sektion Rowno der Schriftstellervereinigung der SRU wirkt an einem gemeinsamen künstlerisch-dokumentarischen Werk mit dem Titel Taras Hryhorowytsch Schewtschenko im Gebiet Rowno mit. Wir haben alle Erwähnungen dokumentarischen Charakters über den Aufenthalt des großen Kobsars Schewtschenko als Mitglied der ethnographischen Expedition von 1846 in unserer Region im Lichte der jüngsten Parteibeschlüsse studiert und analysiert, chronologische Tabellen und geographische Karten seiner Route auf dem Territorium des heutigen Gebiets von Rowno detailliert erstellt. Diesem Thema sind wir alle mit großem Ernst verpflichtet und ich möchte betonen, dass wir auch schon einiges sehenswerte Material erarbeitet haben. Wir werden unserem Gast nun … unseren Gästen, die gelungensten Teile des kollektiven Werkes vorstellen. Wer beginnt?“

Subtschuks Blick schweifte durch die Bankreihen der ihm anvertrauten Schriftsteller und rief dann: „Poleser Juchym Jakowytsch!“

„Rufen Sie doch einen auf, der eine Wohnung vom Verband kriegt!“, entgegnete Juchym Poleser scharf und rührte sich nicht vom Fleck.

„Nun, wenn Sie nicht wollen, Juchym Poleser, dann bitten wir eben jemand anderen“, ruderte Subtschuk gereizt zurück. „Und hinsichtlich Ihres Vorwurfs möchte ich nochmals darauf hinweisen, dass ich bereits zu einem früheren Zeitpunkt allen erklärt habe, dass wegen des Auftretens gewisser und vorübergehender Schwierigkeiten im Wohnungsbau das Gebkom der Partei die Order ausgegeben hat, bis auf Weiteres und bis weitere Order erfolgt den Mitgliedern unseres Verbandes Wohnungen erst posthum oder in andern außergewöhnlichen Fällen zuzuteilen. So! Und wer trägt uns nun seine Gedanken über den Aufenthalt von Taras Hryhorowytsch Schewtschenko in unserer Gegend vor? Vielleicht … möchte … vielleicht … Hymnenjuk Mykola möchte!“, verkündete fast schon erleichtert Trochym Subtschuk.

Mykola Hymnenjuk nahm ein Heft voller Eselsohren, drehte sich zum Publikum und begann mit einem nasalen Genuschel monoton vorzulesen: „Unterwegs von Korytz nach Meschirytz musste Taras Hryhorowytsch im Dorf Syniw, im heutigen Hoschtschansker Rayon, übernachten. Die Dämmerung brach rasch herein. Die Häuser der örtlichen Popen, Kulaken und Reichen standen hell erleuchtet da. ‚Nein, zu denen gehe ich nicht, um ein Nachtlager zu bitten‘, entschied sich Taras Hryhorowytsch, ‚ich werde zu den einfachen Menschen gehen.‘ So klopfte er ans Fenster einer ärmlichen Hütte am Dorfrand oberhalb des Wegs. Die Tür wurde geöffnet und auf der Schwelle erschien Omelko Stetsjuk, Herr der ärmlichen Hütte. Taras Hryhorowytsch stellte sich vor und bat um ein Nachtlager. Omelko Stetsjuk ließ mit großer Freude solch einen werten Gast ein. Obwohl die Kinder bereits schliefen, trug Omelko Stetsjuk seiner Frau auf, noch ein Abendessen zu bereiten. Omelkos Frau Paraska legte freudig auf den Tisch, was es bereits zum Abendbrot gegeben hatte – Milch, Brot und gekochte Kartoffeln …“

„Milch müssen Sie streichen!“, unterbrach Subtschuk erbost den Vortrag. „Woher sollen diese armen Arbeiter Milch haben! Die ersten Viehbetriebe kamen erst mit der Sowjetregierung in unser Gebiet!“

„Wenn Sie in solchem Ton mit mir reden, werde ich nicht weiterlesen. Ich bin nicht ihr Knecht!“, trompetete Mykola Hymnenjuk nasal, setzte sich auf seinen Platz und vergrub schluchzend sein Gesicht in dem geöffneten Heft.

„Nun ja, Sie haben Recht! Wir sind ein Kollektiv!“ Sub­tschuk überlegte, dass er wohl einen Fehler gemacht haben könnte, und bemühte sich nun, die Situation zu retten.

„Also gut, wir haben ja auch noch Poeten. Dort am Ende des Saales, komm nur vor, versteck dich nicht, Oles Fialka ist sein Name, das ist natürlich ein Pseudonym, sein richtiger Name ist Baranjuk, Student am Pädagogischen Institut, ein sehr talentierter junger Poet, Mitglied des Rats der Republik, nun komm, lies dem Gast dein Gedicht vor … das Gedicht, du weißt schon, über die Masse!“

Der sommersprossige Jüngling mit den abstehenden Ohren musste nicht lange gebeten werden, er stellte sich neben seine Bank und hob an zu deklamieren:

Hmm, und wenn ich mich einfach unbemerkt vom Acker mache …, überlegte Schlojma. Er schob den Gedanken rasch beiseite, doch es half nichts, er kehrte hartnäckig wieder und wieder. Wie lange wird hier Literatur als Richtblock benutzt? Drei Stunden wohl mindestens … Währenddessen hatte Oles Fialka-Baranjuk seine Miniaturen über den Frühling beendet, der in seiner Poesie die Wiedergeburt und das Erwachen alles Neuen, Unverbrauchten, Reinen und Fortschrittlichen symbolisieren sollte:

„Wunderbar, Oles!“, lobte ihn der verantwortliche Sekretär und Vorsitzende in Personalunion der Sektion Rowno. „Du machst Fortschritte. Bald schon können wir einige Publikationen im hiesigen Journal in Angriff nehmen. Das Niveau hierfür hast du erreicht.“

„Ich möchte meinen Auftritt“, unterbrach ihn plötzlich der junge Poet mit seiner sich überschlagenden Fistelstimme „mit einem Gruß an unseren geehrten Gast beenden!“

Das ganze Schriftstellerpublikum – als traue es seinen Ohren nicht – hob die Köpfe und blickte von Schlojma zu Oles Fialka und zurück.

„Schlojma Wasyljowytsch! Ich habe im hiesigen Archiv in alten Zeitungen Ihre ersten dichterischen Veröffentlichungen aufgespürt! Kehren Sie zur Poesie zurück, Schlojma Wasyljowytsch! Sie haben so wundervoll begonnen. Ich habe Ihre frühen Gedichte meinen Kommilitoninnen vorgelesen … und auch Kommilitonen. Allen haben sie sehr gefallen. Ihre Liebeslyrik, Ihren Walzer für Walja kenne ich auswendig:

Der Schweinepriester lockt mit meinen Gedichten die Mädels in die Büsche, konstatierte Schlojma kein bisschen erbost. Doch der junge Poet, der offensichtlich die letzte Strophe vergessen hatte, war wieder zur Prosa, fast schon Publizistik übergegangen.

„Die Mädchen, ähh, die Kommilitoninnen haben mich sogar gebeten, dieses Gedicht in ihr Poesiealbum, also in ihr Freundschaftsbuch einzutragen. Ja, so haben Sie, Schlojma Wasyljowytsch, früher zu schreiben vermocht! Doch das, mit dem Sie sich nun beschäftigen, ist wahrlich nicht das Wahre und den breiten lesenden Massen unverständlich. All diese ‚Bubabisten‘, ‚Luhosadisten‘, ‚Neuen Degenerierten‘, das ist alles, tut mir leid, unnötig. All jene verwenden in ihren Werken vulgäre Ausdrücke, schreiben in einer für die einfachen Massen unverständlichen Sprache. All jene …“ Hier verstummte der junge Poet plötzlich mit sichtbarem Unbehagen, dann setzte er sich auf seinen Platz zurück und seufzte erschöpft.

„Ach diese Jugend!“, fasste Subtschuk – war es nun als Tadel oder Lob gedacht – den Auftritt zusammen. „Doch nun fahren wir in unserer Arbeit fort. Will niemand mehr ein Kapitel aus unserer kollektiven Arbeit vorlesen … keiner?“ Subtschuks Blick glitt dabei über die Anwesenden, Schlojma eingeschlossen. „Nun, dann gebe ich das Wort weiter!“

Schlojma war auf einmal hellwach. Das fehlte gerade noch, dass er hier auftreten sollte! Was sollte er sagen? Was erzählen? Über was konnte man denn hier sprechen und über was lieber schweigen? Ach, wie schön wäre es doch, wenn man sich einfach in Luft auflösen könnte!

Doch er hatte sich umsonst gesorgt, denn Subtschuk legte eine ziemlich lange Kunstpause ein und verkündete dann siegessicher, dass er das Wort an einen weiteren Gast weitergebe, einen Gast aus der Hauptstadt, den gelehrten und berühmten Professor und Leiter des Lehrstuhls für Literaturwissenschaft der Kiewer Staatlichen Universität, an Jurij Pawlowitsch Tschmon.

Von der hintersten Bank erhob sich eine kräftige, untersetzte Gestalt in einem knallblauen Pullover mit himbeerfarbenen Ärmeln, klemmte sich eine Ledermappe unter den Arm und ging raschen Schritts zum hölzernen Rednerpult in der Ecke des Raums. Als sich die Blicke von Schlojma und Professor Tschmon kreuzten, nickte der kaum merklich mit seinem massigen Kopf, als grüße er Schlojma, oder vielleicht auch nicht.

Subtschuk führte Schlojma diskret zu einer vorderen Bank, auf der keiner saß. Nun waren alle Bänke mit Schriftstellern besetzt. Das Publikum hielt den Atem an, starrte gespannt auf Tschmon, der sich über das Rednerpult beugte, die Ärmel seines Pullovers nach oben krempelte und den Kopf am Hemdkragen öffnete.

„Über Schewtschenko zu sprechen, ist nicht einfach! Und nicht einfach ist es, über Schewtschenko zu sprechen, weil es schwierig ist …“ Tschmon suchte offensichtlich das richtigen Standbein, von dem aus er seine Rede auf die Zuhörer schleudern konnte wie ein antiker Diskuswerfer. „Über Schewtschenko könnte man endlos sprechen! Denn er ist der Monolith! Auf dem! Wir stehen! Die ukrainische! Literatur!“

Schlojma begann zu verstehen, warum er die Ausführungen Tschmons nie verstand, wenn er hin und wieder in den wenig gelesenen Kiewer Zeitschriften Kiew, Vaterland oder in der unlängst wiederbelebten Sowjetischen Literaturwissenschaft, die nun freilich Ukrainische Sozialistische Literaturwissenschaft hieß, auf sie traf. Währenddessen drosch Professor Tschmon vor der versammelten Autorenschaft des Gebietszentrums seine inhaltslosen Phrasen.

„Schewtschenko ist allumfassend! Er umfasst alles. Und eben deshalb! Eben deshalb sind unsere ideologischen Gegner …“ Hier warf Tschmon einen Blick auf Schlojma, einen kurzen und scharfen Blick, scharf wie der Hieb eines altrömischen Liktorenbündels. „All diese Grabowicze und ihre hausgebackenen Nachplapperer wie Oksana Sabuschko … haben die Dreistigkeit, das Schaffen unseres großen Kobsars Schewtschenko zu interpretieren. Dabei kommen sie zu … Na, ihr wisst selbst, wohin diese sogenannten Forscher kommen! … Ich erkläre vor allen hier Anwesenden, und bin mir dabei der großen Verantwortung bewusst, dass, falls …. ja falls Taras Hryhorowytsch aus seinem Grab in Kaniw aufersteht …“ Hier blickte Tschmon flehentlich in die Höhe und erstarrte.

Schlojma dagegen blickte schräg auf den rechts neben ihm sitzenden Subtschuk. Der schaute zutiefst gerührt nach oben und bemühte sich, jenen Punkt an der Decke aufzuspüren, auf den der Kiewer Professor gerade starrte.

„Ja, ginge es nach ihm, würde er diesen selbsternannten Forschern sogleich den Mund verbieten!“ Tschmons Stimme wurde nun schneidend und kreischend: „Und einigen würde er gar die Hose herunterlassen und ihnen mit dem Gürtel, mit der Rute den Hintern versohlen!!! Jawohl!“

Tschmon trommelte nun beinahe auf das Rednerpult, als wolle er mit aller Kraft zeigen, wie unbarmherzig Taras Schewtschenko die selbsternannten Interpreten seines Werkes traktieren würde.

Ahh, was habe ich nur verbrochen, dass ich hier sitzen muss!, dachte Schlojma voller Selbstmitleid. Draußen ist herrlicher Altweibersommer, vielleicht einer der letzten schönen Tage im Jahr. Ich könnte durch die Stadt oder den Park schlendern, in denen ich schon viele Jahre nicht mehr gewesen bin. Der Wunsch wurde so übermächtig, dass seine Beine schon zu zucken begannen, und nur der strenge Blick Subtschuks hielt ihn auf dem unbequemen Holzstuhl.

Währenddessen reckte in einer der zahlreichen Pausen Professor Tschmon hektisch den Kopf, als wolle er möglichst viel Luft in seine breite Brust saugen, um dann, kurz hüstelnd, nur noch ein Krächzen von sich gebend, langsam vom Rednerpult herabzusinken, wobei er flehentlich die Arme in Richtung des Schriftstellerpublikums ausstreckte. Subtschuk und einer der Schriftsteller eilten – nach einer Schrecksekunde – dem Professor entgegen. Es brach allgemeine Aufregung aus, einige riefen „Wasser! Wasser!“, doch Wasser konnte wie zum Trotz nicht herbeigebracht werden. Jemand stürzte auf den Flur, ein anderer schob einen Stuhl unter den Körper des Professors, der nun schwer wie ein Kartoffelsack war. Für sich selbst überraschend erhob sich Schlojma plötzlich und ging ohne Umschweife hinaus auf den Gang … Der breite Gang mit Fenstern zur rechten und Türen zur linken Seite verlor sich in den Tiefen des Hauses für geistige Arbeit. Auf der letzten Tür am Ende des Korridors prangte der metallene Buchstabe „M“. Schlojma trat rasch ein und blickte sich um. Es gab ein Fenster an der Mauer gegenüber der Holztür, allerdings etwas hoch gelegen. Oberhalb von zwei Pissoirs. Hoffentlich kommt keiner herein … dann könnte man es probieren …

Plötzlich war aus einem der Klosetts die Spülung zu hören, zwei- oder dreimal plätscherte es, der Klodeckel wurde zugeklappt und in der Kabinentür erschien der breitschultrige Samtschuk. Nachdem der zum Wasserhahn gegangen war, rieb er dort die Hände unter einem dünnen Strahl, blickte dabei über die Schulter zu Ezirwan, der an einem Pissoir stand, und fragte gut aufgelegt:

„Na, Schlojma Wasylowytsch, Räuberleiter?“ Dann schüttelte er sich rasch die Hände ab und verließ eilends die Toilette, wobei er die Tür behutsam schloss, damit sie nicht so knarrte.

Was wollte er damit sagen? Was sind das für Späßchen? Was geht hier vor sich? Schlojma blickte ihm nach. Dann zog er den Reißverschluss seiner Hose sicherheitshalber nach unten und oben und lauschte. Im Flur herrschte völlige Stille. So etwas würden die von mir nie erwarten! …

Die Ränder des Pissbeckens waren ziemlich rutschig, aber es gelang ihm, einen Fuß fest daraufzusetzen und sich dann mit dem zweiten vom Boden abzustoßen … das Fenster ist nicht einmal verschlossen, nur mit Farbe von der letzten Renovierung etwas verklebt, lässt sich leicht öffnen und schon ist man auf der anderen Seite. Er sprang auf den leicht abschüssigen Rasen. Hmmm, ein bekannter und ein wenig durchgeknallter Autor in den Vierzigern aus Riwne … was denkst du dir eigentlich dabei, wie ein Schuljunge abzuhauen … von so einer gewichtigen Veranstaltung, wo garantiert nicht weniger als die Rettung der Welt geplant wird! Nun, sollen sie ohne mich planen, ich bin derlei Palaver nicht mehr gewöhnt. Ich muss mir ein wenig die Beine vertreten und spazieren gehen.

Auf der Rückseite des Hauses für geistige Arbeit erhob sich steil eine Anhöhe, auf der rückseitig Pappeln aufragten. Als dieses Gebäude errichtet wurde, machten die Bulldozer den Teil des Hügels platt, auf dem sich ein alter jüdischer Friedhof befunden hatte. Am gegenüberliegenden Ende der Stadt, auf der Moskauer Straße (Stepan-Bandera-Straße – halt, falsch, er befindet sich jetzt auf dieser Seite der Mauer, also doch auf der Moskauer Straße), wo du deine Kindheit verbracht hast, machte unter uns Gleichaltrigen das Gerücht die Runde, die großen Jungs aus der nah gelegenen Schule Nummer 5 würden auf der Baustelle mit Schädeln kicken …

Um nicht weiter aufzufallen, ging er nun den Abhang hinauf. Nachdem er auf der langgestreckten Anhöhe angekommen war, klopfte er seine Hosen ab, an die sich einige vertrocknete Disteln gehängt hatten. Die italienischen Lackschuhe waren staubbedeckt und glänzten mit ihren stumpfen Näschen nicht mehr im Sonnenschein. Und wenn schon, du bist heute auf keinen Empfang mehr geladen. Er zupfte die letzte Distel vom Hosenschlag und ging den Abhang auf der rechten Seite weiter zu den grau rötlichen Mauern der Schule Nummer 5, die ganz in der Nähe hinter den Pappeln aufschienen. Diese Schule wurde – gerade als du achtzehn Jahre alt wurdest, wenn ich mich recht erinnere – in Form des Buchstabens H errichtet, der freilich nicht ganz symmetrisch geraten ist. Nach den gleichen Plänen wurde auch deine Schule Nummer 17 gebaut. Eine breite Betontreppe führte nach unten, wo die Mauer abknickte. Die Stufen waren mit niedrigen Weiden bepflanzt, deren Blätter unter der Septembersonne bereits ein wenig braun wurden. Eine einzelne Frauengestalt stieg die Treppe nach oben. Als sie auf gleicher Höhe waren und sich ihre Blicke trafen, verzog sich das Gesicht der Frau erstaunt und zugleich erschrocken, doch nur einen kurzen Moment, dann lächelte sie überrascht: „Schlojma!“

Seine Schwester Uljana hielt noch einen Moment zögerlich inne, breitete dann die Arme in den grünlich bananenfarbigen Ärmeln ihres Übergangsmantels aus: Er war es tatsächlich. Uljana schmiegte sich an den Bruder und sagte nochmals: „Schlojma …“

„Mutter meinte, du wärst in der Arbeit.“

„Ich … da war ich auch. Woher kommst du denn? Bleibst du länger?“

„Die Besuchserlaubnis gilt für einen Tag. Bis heute Abend. Bei Mama liegen für dich, Mykola und Ilka Geschenke.“

„Und Ilja ist in der Schule, er geht in die sechste Klasse. Er ist so groß geworden …“ Uljana zeigte mit der Hand ungefähr auf die Höhe ihrer Augen. „Hör mal, Schlojma, du wirst hier so beschimpft, in den Ukrainischlehrbüchern für die zehnte Klasse, da gibt es ganz am Schluss so ein kurzes Kapitel über die Gegenwartsliteratur.“

Seine Schwester hatte anscheinend keine Geduld und wollte über alles gleichzeitig mit ihm reden. „Da geht’s um dich, um Andruchowytsch, und auch um diesen Neborak … Schlojma, komm mit zu uns! Wir sind hier doch … na, du weißt schon …“

Schlojma blickte sich um. Aus dem Haus der geistigen Arbeit arbeiteten sich zwei Gestalten im Schrankformat unsicher die Anhöhe hinauf und blickten dabei hektisch nach allen Seiten.

„Du hast recht. Lass uns gehen!“ Er überlegte nicht lange und nahm die Schwester am Arm. In seinem Kopf blitzte ein Gedanke auf, der ihm wie die Rettung erschien.

„Kann man von euch aus ein Taxi anrufen?“

„Natürlich, ja, klar“, freute sich Uljana. „Du kriegst auch eine Wertmarke von uns.“

„Was für eine Wertmarke denn?“, fragte Schlojma verwirrt.

„Ach ja, du kennst das nicht. Für Taxis gibt’s hier Wertmarken, verstehst du? Wir brauchen allerdings keine. Aber Mykola erhält welche von seiner Arbeitsstelle, seinem Büro. Deshalb liegt zuhause auch ein ganzer Haufen davon.“

Auch Uljana hatte die beiden Schränke auf dem Abhang bemerkt und stellte sich nun vor Schlojma. Die Tarnung der grünlich bananenfarbigen Jacke eignete sich hervorragend dazu. Dann führte sie ihn rasch an dem heruntergekommenen Putz der Mauern der Schule entlang.

Zum Eingang ihres Hauses liefen sie fast, schnaufend drückte sie den abgegriffenen Plastikknopf des Fahrstuhls. In der Wohnung im sechsten Stock kamen sie schließlich zum Verschnaufen. Uljana stellte den Wasserkessel auf den Herd und ging dann zum Telefon, um ein Taxi zu rufen. Schlojma trat ans Wohnzimmerfenster und ohne den Tüllvorhang zu berühren blickte er hinunter auf den Hof. Auch Uljana trat heran und schaute nach unten. Die zwei Schrankförmigen eilten über den Hof, hierhin, dorthin, und setzten sich schließlich auf eine Bank direkt gegenüber dem Eingang. Dann begannen sie sich offensichtlich zu beraten.

„Ich hab das Taxi zum Eingang von Haus Nummer 1 bestellt“, flüsterte ihm seine Schwester schadenfroh ins Ohr. „Wir sind hier doch die Nummer 3. Du gehst einfach übers Dach und dann in Haus 1 herunter. Wir können noch Tee trinken, das Taxi kommt in zwanzig Minuten.“

Nachdem sie den Tee getrunken hatten, warf sich Uljana eine Jacke über und machte sich mit ihrem Bruder ins siebte Stockwerk auf und von da aufs Dach. Schlojma blickte sich um, auf der rechten Seite erstreckten sich weit unten die Häuser des Westsektors, übersät mit Antennen und Satellitenschüsseln, zwischen denen hier und da die hohen Bauten der Hotels Hilton, Mariott und Europäischer Hof aufragten. Uljana folgte seinem Blick.

„Mykola, Ilja und ich gehen manchmal aufs Dach und blicken in deine Richtung.“ Uljana lachte bitter. „Und die Wohnungen mit Fenstern nach Westen bekommen ausschließlich die Mitarbeiter des Gebietskomitees. Und vielleicht noch die von anderen Staatsorganen. Die können dann euer Fernsehen empfangen. Manche drei oder vier Sender, und nicht nur Radio eF-eM. Wir haben dich im Radio gehört, du hast ein Interview gegeben und über euer Theater und dein Stück erzählt. Das hat doch jetzt demnächst Premiere …“