Letzter Applaus

Eva Gründel

Mörderhitze

Ein Kroatien-Krimi



Eva Gründel

Mörderhitze

Für Heinz

Eva Gründel

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© Foto: Heinz Tomek

Zur Autorin

Eva Gründel, geboren 1948 in Wien, lebt heute auf Sizilien. Promotion in Publizistik und Kunstgeschichte, Redakteurin für die österreichische Tageszeitung Die Presse. Zahlreiche Reiseführer über den Süden Italiens, Österreich und Tschechien. 1994 Übersiedlung nach Taormina, Leitung von Studienreisen. Seit 2010 erscheinen ihre Kriminalromane rund um die Reiseleiterin Elena Martell und Commissario Giorgio Valentino. Bei HAYMONtb: "Mörderwetter". Ein England-Krimi (2014) und "Mörderhitze". Ein Kroatien-Krimi (2015).

Impressum

© 2015

HAYMON verlag

Innsbruck-Wien

www.haymonverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-3646-7

Umschlag- und Buchgestaltung nach Entwürfen von hoeretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Umschlag: Eisele Grafik·Design, München

Covermotive: Bullauge: depositphotos.com/frogtravel; Rovinj: depositphotos.com/kavita

Karte: Karin Berner

Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Diesen Kroatien-Krimi erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

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Cover: Mörderwetter

Am wolkenverhangenen Himmel Südenglands braut sich etwas zusammen. Eine Reisegruppe findet den Earl of Wharvedale tot in seinem Gartenlabyrinth. Mittendrin: die couragierte Reiseleiterin Elena Martell und ihr Lebenspartner Commissario Giorgio Valentino.

Mit Schwung und britisch-trockenem Humor sorgt Eva Gründel vor der beeindruckenden Kulisse der Cotswolds und in den Straßen Londons für First-Class-Krimi-Lesevergnügen.

„Ein wenig Agatha-Christie-Flair (…), viel Hintergrundinformationen zu Land und Leuten – eine gelungene Mischung mit Spannung und sympathischen Akteuren.“

Wiener Zeitung, Monika Jonasch

Eva Gründel

Mörderwetter

Ein England-Krimi

ISBN 978-3-7099-7788-0

Diesen England-Krimi erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

1. Kapitel

Elena war nervöser, als sie es sich eingestehen wollte. Acht Uhr früh! Sie hatten noch nicht einmal in Dubrovnik angelegt, und in wenig mehr als einer Stunde sollte das Flugzeug aus Mailand landen. Mit dem Industriellen an Bord, der sie für einen zehntägigen Törn entlang der kroatischen Küste engagiert hatte. Ein ungewöhnlicher Auftrag, der sich gänzlich von der Routine ihrer sonstigen Reiseleiter-Jobs unterschied. Und jetzt das. Statt wie angekündigt die Nachmittagsmaschine zu nehmen, hatte Leonardo Mancuso im letzten Moment umdisponiert und den Frühflug gebucht. Oder besser gesagt: von seiner Sekretärin buchen lassen, die Elena ärgerlicherweise erst jetzt verständigt hatte.

Bei ihrer spontanen Zusage war ihr die Aufgabe, eine luxuriöse Segeltour noch luxuriöser zu gestalten, denkbar einfach erschienen. Auch wenn sie ihr Wissen über die Sehenswürdigkeiten Kroatiens ebenso im Schnellverfahren auffrischen musste wie die Informationen, wo man entlang der Route die schönsten Badebuchten und die besten Restaurants fand.

Jetzt aber war sich Elena alles andere als sicher, ob sie sich nicht überschätzt hatte. Dieser Leonardo Mancuso war schließlich nicht irgendwer, sondern sogar ihr ein Begriff. Wie er aussah, wusste sie aus der italienischen Klatschpresse, die in schöner Regelmäßigkeit über die neuesten Schmuckkreationen aus dem Hause Mancuso berichtete – oft bebildert mit Aufnahmen vom Chef, der sich gern an der Seite attraktiver Blondinen zeigte.

Diesmal aber kam er allein, es sei denn, er hatte sich auch das im letzten Moment anders überlegt. Wahrscheinlich reiste er aus Rücksicht auf seine Tochter ohne Begleitung, vermutete Elena, die sämtliche Daten der zu erwartenden Gäste inzwischen auswendig kannte.

Mit ihren 25 Jahren hätte Francesca Mancuso auch ihre Tochter sein können und ihr nur um weniges älterer Freund ihr Sohn. Elena spürte einen Anflug von Wehmut. Eigene Kinder – irgendwie war es dafür immer zu früh oder zu spät gewesen, und seit es einen Giorgio Valentino in ihrem Leben gab, war der Zug ohnedies unwiderruflich abgefahren.

Unbewusst straffte sie die Schultern. An Giorgio wollte sie später denken, erst nach dieser Reise, keine Minute früher. Im Moment hatte sie wahrlich andere Sorgen. Wieder beschlichen sie Zweifel, ob sie sich nicht blamieren würde. Auf Sizilien kannte sie jeden Stein und absolvierte ihre Führungen mit Bravour, hier aber fühlte sie sich selbst als Touristin, was nicht gerade die ideale Voraussetzung für eine professionelle Reise­leitung war.

»Alles in Ordnung, Elena?« Dragos besorgter Tonfall holte sie endgültig in die Gegenwart zurück. Ihr Skipper aus Rovinj, mit dem sie seit nunmehr drei Tagen von Istrien aus die dalmatinische Küste entlanggesegelt war, sah ihr die Nervosität offenbar von Weitem an. »Reg dich nicht unnötig auf, wir haben alles unter Kontrolle. Während wir die Leute vom Flughafen abholen, bewacht Mirko das Boot, damit keiner uns den Champagner stiehlt. Oder gar deine kostbaren Unterlagen.«

Drago Magdalenic und sein Neffe Mirko Babic – die beiden waren wirklich ein Glücksfall. Vom ersten Moment an hatte sich Elena mit dem erfahrenen Skipper und dem Schiffsjungen, die als Istrianer perfekt Italienisch sprachen, bestens verstanden. Mit Touristen durch die Adria zu schippern, war Dragos gut bezahltes Hobby, denn nach den Sommerferien würde er wieder unterrichten. Als Professor für Italienisch und Deutsch am Gymnasium von Rovinj.

Vom Meer aus hatte sich Elena Dubrovnik noch nie genähert. Sie kannte die Stadt noch aus der Zeit vor dem Balkankrieg, in dem vieles im historischen Zentrum zerstört worden war.

»Jetzt ist alles wieder wie früher«, hatte Drago versichert. »Hat zwar Unsummen gekostet, aber ein Kulturerbe der Menschheit muss der Welt schon was wert sein.«

Keine zehn Minuten später legte der Katamaran unterhalb der mächtigen Festungsmauern an. Im alten Hafen zu ankern, war ein Privileg, für das man gute Beziehungen zur Kommandantur benötigte. Wie Drago, der offenbar überall die richtigen Leute kannte.

»Für den Flughafenbus ist es zu spät, wir müssen ein Taxi nehmen«, stellte Elena nach einem Blick auf ihre Armbanduhr fest.

Drago sah sie erstaunt an. »Ich hatte nie etwas anderes vor. Warum um alles in der Welt wolltest du einem Millionär beim Sparen helfen?«

»Weil die Reichsten normalerweise die Geizigsten sind«, stellte Elena lakonisch fest, nachdem Drago dem Fahrer ihr Ziel genannt hatte. »Aber vielleicht ist dieser Mancuso ja eine Ausnahme. Bisher hat er von allem nur das Teuerste ausgesucht. Den Katamaran in Luxusausführung, das exquisiteste Catering …«

»… und dazu die brillanteste Reiseleiterin und den besten Skipper«, lachte Drago. »Ich habe übrigens einen vernünftigen Fahrpreis ausgehandelt, aus Prinzip. Touristen zahlen um einiges mehr, und auch wenn du jeden Cent abrechnen kannst …«

»Siehst du den Chauffeur vom Limousinen-Service hier irgendwo?«, unterbrach ihn Elena, als das Taxi mit einem beruhigenden Zeitpolster vor der Ankunftshalle des Flughafens anhielt. »Man hat mir einen weißen Mercedes versprochen, eine Luxuskarosse, in der fünf Personen bequem Platz haben.«

»Wieso fünf, mit dir seid ihr doch sieben?«

»Mach mich nicht verrückt. Leonardo Mancuso kommt allein, sein Gast, ein gewisser Yannis Zammit, ebenfalls. Bleiben noch die Tochter Mancuso und ihr Verlobter. Das Ehepaar Vukovic steigt erst in Split zu, habe ich dir das nicht gesagt?«

»Hast du nicht, aber egal. Das heißt, dass ich mich jetzt um das Gepäck von einer Frau und drei Männern kümmern muss. Dafür brauche ich keinen Kombi, ein gewöhnliches Taxi wird genügen. Dort drüben parkt übrigens gerade ein großer weißer Wagen ein, das dürfte deiner sein. Ich kann das für dich checken. Du bleibst am besten in der Halle, denn wenn ich die Durchsage richtig verstanden habe, ist die Maschine bereits gelandet. Eine Viertelstunde zu früh. Habe ich hier auch noch nicht erlebt, aber man lernt ja nie aus.«

Soll er sich ruhig über meinen Pünktlichkeitswahn lustig machen, sagte sich Elena, als sie Drago nachblickte, der in aller Ruhe zum Ausgang schlenderte. Sogar von hinten sieht dieser Mann gut aus, stellte sie nicht zum ersten Mal fest. Am besten aber gefiel ihr Drago im Halbprofil, da kamen seine dunklen, fast schwarzen Augen ebenso zur Geltung wie seine schmale, leicht gebogene Nase oder die vollen, ungewöhnlich roten Lippen. Und selbst im Alter würde er sich nicht vor einer Glatze fürchten müssen, solche Haare sind wie Schweinsborsten, die fallen nicht so leicht aus.

Unter anderen Umständen wäre dieser Drago Magdalenic eine Todsünde wert, gestand Elena sich ein. So hätte sich zumindest ihre Mutter ausgedrückt, die das Faible für fesche Männer mit ihrer Tochter teilte. Aber etwas Dümmeres, als ein Verhältnis mit einem Kollegen anzufangen – und das noch dazu am Beginn eines Törns, bei dem man auf engstem Raum und aufeinander angewiesen war –, hätte ihr wohl nicht einfallen können. Und außerdem gab es da noch Giorgio …

Rasch wischte sie den Gedanken an ihren Lebensgefährten beiseite und lauschte der auf Englisch wiederholten Ansage, die für sie ebenso unverständlich klang wie die kroatische zuvor. Da hatte man den im Krieg zerstörten Flughafen zur Gänze neu errichtet, aber bei Details gespart! Lautsprecher mussten wirklich nicht pfeifen oder krachen, sodass man kein Wort mehr verstand. Vorsichtshalber sah sich Elena nach dem Informationsschalter um. War die Maschine aus Mailand tatsächlich bereits gelandet?

Die Antwort erübrigte sich, als die Türen zur Ankunftshalle zur Seite glitten. Der Mann, der als Erster herauskam und sich suchend umblickte, war Leonardo Mancuso. Auch wenn Elena den auf den Illustriertenfotos stets konservativ gekleideten Industriellen in dieser Freizeitausführung erst auf den zweiten Blick erkannte: weißes T-Shirt, rote Leinenhose, Sneakers – und auf dem Kopf ein weißer Strohhut mit schwarzem Band. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht mit einem Millionär, der sich als gewöhnlicher Tourist verkleidete. Irritiert hob Elena die Hand zur Begrüßung.

Als sie ihre kleine Gruppe zur bereitstehenden Limousine führte, hatten sie die erste Panne bereits hinter sich. Ausgerechnet Leonardo Mancusos Koffer war verschollen, ein Ärgernis, das er mit erstaunlichem Gleichmut hinnahm.

»Solche Sachen passieren nun einmal, Elena. Ich darf Sie doch so nennen?«

Weshalb fragte er überhaupt? Dieser Mann machte ohnedies nur das, was er wollte, und keiner widersprach ihm. Der geborene Chef, das war Elena von der ersten Sekunde an klar gewesen. Mit jener undefinierbaren Ausstrahlung, die sich um kein Geld der Welt kaufen lässt: liebenswürdig und sympathisch – aber stahlhart, wenn es darauf ankam. Das sollte ich besser nie vergessen, ermahnte sie sich.

»Ich kann Leute nicht ausstehen, die sich im Urlaub über jede Kleinigkeit aufregen. Das gehört doch dazu, dass auf Reisen unerwartete Dinge passieren. Angenehme und unangenehme. Wer das nicht einkalkuliert, bleibt besser zu Hause. Aber jetzt zum Tagesprogramm. Was schlagen Sie vor, Elena?«

»Eine Führung durch das historische Zentrum, anschließend Mittagessen in einem der Lokale in der Altstadt. Dann können Sie immer noch entscheiden, ob wir über Nacht in Dubrovnik bleiben oder bereits heute Nachmittag in die Inselwelt aufbrechen. Die Alternative wäre, gleich an Bord zu gehen und dort einen Imbiss einzunehmen. Es ist alles vorbereitet …«

»Auf dem Schiff sind wir noch lang genug. Da ich Dubrovnik nicht kenne, bin ich für den Stadtbummel, Papa«, mischte sich Francesca Mancuso ein. »Das ist doch auch in deinem Sinne, Titus?«

Der junge Mann an ihrer Seite brummte Unverständliches. Dass er zu jeder Gelegenheit einen lateinischen Spruch parat hatte – und damit seiner Umwelt bisweilen ziemlich auf die Nerven ging –, konnte Elena nicht wissen.

»Wie bitte?«, fragte sie auf Deutsch. Laut ihren Unterlagen stammte Titus Reinthaler aus Bad Deutsch-Altenburg an der Donau und kam wie sie aus Österreich.

»Tertium non datur«, wiederholte ihr Landsmann geduldig und fügte nun seinerseits auf Deutsch hinzu: »Das heißt, ein Drittes gibt es nicht. Man könnte aber auch sagen: Utile e dulci – lasst uns das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden.«

Spinner, dachte Elena. Dabei sah er ganz und gar nicht verschroben aus, sondern nett und sympathisch. Groß, schlank, sportlich, ein wenig zu grobknochig vielleicht, aber mit feinen Gesichtszügen, einem Grübchen am Kinn und intelligenten, fröhlichen Augen.

Eigentlich hatte Elena an der Seite einer Frau aus der Mailänder Society einen ganz anderen Männertyp erwartet, einen in Designerklamotten gekleideten Feschak etwa. Aber auch Francesca mit ihren zu einem Pferdeschwanz gebundenen rotblonden Locken entsprach keineswegs ihren Klischeevorstellungen. Statt Designer-Jeans trug sie eine klassische Lee und auch das weiße T-Shirt, das über ihrem üppigen Busen ein wenig spannte, konnte sie, ebenso wie die lässig über die Schulter geworfene Jacke, durchaus auf irgendeinem Straßenmarkt erstanden haben.

»Kannst du nicht ausnahmsweise einmal klar und deutlich sagen, was du willst? Das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden, meinst du damit Stadtführung und Restaurant oder Auspacken und Essen an Bord?«, hakte Francesca nach, was ihrem Vater ganz und gar nicht gefiel.

»Spart euch die Diskussion für später auf, ich will jetzt weg von hier. Mir ist es egal, also richten wir uns doch nach Yannis?« Bevor der Mann, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, antworten konnte, eilte Drago mit einem Koffer in der Hand auf die Gruppe zu. »Das ist doch Ihrer, Signor Mancuso? Namensschild ist keines dran, aber nach der Beschreibung müsste das Ihr Gepäck sein.«

»Ja, das ist mein Koffer, wunderbar! Worauf warten wir noch? Also Yannis, was meinst du?«

»Ich war noch nie in Dubrovnik, daher …«

»… ist die Sache entschieden.« Mit einem zufriedenen Lächeln stieg Leonardo als Erster in die Limousine. »Ich sag’s ja immer, wenn es um wichtige Entscheidungen geht, muss ein Mann aus Brüssel her.«

Mann aus Brüssel? Verwirrt blickte Elena auf ihre Liste. Yannis Zammit, 1966 in La Valetta geboren, war doch Malteser? Was freilich nicht ausschloss, dass er nunmehr in Belgien lebte. Verstohlen musterte sie den schweigsamen Mitreisenden, der zu jenen Männern zählte, die man leicht übersah. Alles an ihm war Durchschnitt: Die Größe, die Figur, der Haarschnitt, das nichtssagende Gesicht. Lediglich die angenehm modulierte Stimme war ihr bei den wenigen Worten, die er bisher von sich gegeben hatte, aufgefallen.

Lieber ein Langweiler als ein Besserwisser, dem man nichts recht machen kann, sagte sich Elena, doch da hatte sie ihre Zweifel. Die am harmlosesten wirkenden Zeitgenossen entpuppten sich nicht selten als das genaue Gegenteil. Wenn ihre Menschenkenntnis sie nicht trog, konnte auch dieser Yannis mit seiner zur Schau getragenen Verbindlichkeit noch für einige Überraschungen gut sein.

Darüber aber würde sie später nachdenken. Jetzt musste sie erst einmal entscheiden, wie viel an Kunst und Kultur ihrer kleinen Schar zuzumuten war. Dubrovnik light in maximal 30 Minuten oder doch eine komplette Führung von mindestens zwei Stunden, verbrämt mit einer ordentlichen Dosis Geschichte?

Weniger war zumeist mehr, das wusste Elena aus Erfahrung, aber galt das auch für einen Leonardo Mancuso, der für sein Geld die entsprechende Leistung erwarten durfte? Oder schätzte der erfolgsverwöhnte Geschäftsmann Flexibilität höher ein als die pflichtgemäße Erfüllung einer vereinbarten Quote?

Was auch immer sie beschloss, es war Elena bewusst, dass sie einen Fehler unter gar keinen Umständen begehen durfte: einmal zu oft nach den Wünschen der Gäste zu fragen – und damit das Heft aus der Hand zu geben. Wer als Reiseleiter bestehen wollte, musste Autorität ausstrahlen. Nur einer konnte das Programm bestimmen, sonst machte jeder, was er wollte, und schlussendlich waren alle unzufrieden. Das galt für eine 50-köpfige Gruppe ebenso wie für ihr Quartett.

Geweih

Glück gehabt! Ein mehrstöckiges Kreuzfahrtschiff lief eben aus, weshalb das nächste, das wieder ein paar hundert Leute auf den Kai spucken würde, noch vor der Hafeneinfahrt warten musste. Bis die alle herbeigekarrt waren, herrschte innerhalb der mächtigen Festungsmauern eine geradezu idyllische Stimmung. Auf dem schimmernden Pflaster der Flanierstraße Placa, die seit dem Mittelalter Dubrovniks Zentrum durchschnitt, tummelten sich an diesem strahlend schönen Septembervormittag ungewöhnlich wenige Touristen.

»Wir befinden uns über einem zugeschütteten Meeresarm. Um etwa 1150 hat man die kleine Felseninsel Lausa, auf der wir hier stehen, mit dem Festland verbunden. Damit schuf man die Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Aufstieg der bis dahin unbedeutenden Stadt, die bis 1918 übrigens Ragusa hieß«, setzte Elena eben zu einer Erklärung an, als ein Mann aus dem Schatten eines Seitengässchens trat und heftig gestikulierend auf sie zuging.

»Sie veranstalten hier eine Führung? Haben Sie dafür eine Konzession?«, herrschte er sie auf Italienisch an. Entweder hatte der Fremdenführer, der Jagd auf illegale Konkurrenten machte, gut geraten, oder er war ihnen seit Längerem gefolgt. »Nein? Wie zuvor der Kollege von Studiosus, der war auch ein Illegaler. Das wird teuer für Sie, denn ich werde auch Sie anzeigen. Es sei denn …«

»Gar nichts werden Sie. Schauen Sie lieber, dass Sie weiterkommen, sonst gehen nämlich wir zur Polizei. Verstanden?«

Verblüfft blickte Elena in die wütend funkelnden Augen des Maltesers, der mit einem Mal alles andere als durchschnittlich aussah. Von dieser Seite hatte sie als Letztes Schützenhilfe erwartet.

»Lass es gut sein, Yannis«, sagte sie und legte beschwichtigend eine Hand auf seinen Arm. »Der Gute kann ja nicht wissen, dass wir keine Touristengruppe, sondern eine Familie sind.« Geistesgegenwärtig war Elena ins vertrauliche Du gewechselt.

»Familie oder nicht, das ist vollkommen egal. Als Gruppe gilt laut EU-Bestimmungen erst eine Anzahl von mehr als sechs Personen und wenn ich richtig rechnen kann, sind wir fünf. Außerdem hat der Mann versucht, Sie zu erpressen, haben Sie das nicht gemerkt? Entweder Bargeld oder Anzeige, so geht das Spiel. Aber nicht mit uns.«

Dem Stadtführer war offenbar klar, dass er auf verlorenem Posten stand. Mit einem unterdrückten Fluch suchte er das Weite.

»Verzeihen Sie, Elena, dass ich Ihr Du-Wort ausgeschlagen habe, aber dazu lasse ich mich doch nicht von so einem dahergelaufenen Typen zwingen. Das holen wir nach. Stilvoll, wie es sich gehört.«

»Gilt da auch Campari Soda, oder muss es bei dir immer Champagner sein, wenn du einer Frau den Bruderkuss gibst?«, fragte Francesca mit spöttischem Unterton. »Ich habe jedenfalls Durst und im Moment auch keine große Lust, mir den Kopf mit der Vergangenheit Dubrovniks vollstopfen zu lassen. Das ist nicht gegen Sie gerichtet, Elena, Sie machen Ihre Sache wunderbar, aber dafür bleibt noch Zeit genug. Dort drüben das Kaffeehaus, das sieht doch nett aus. Marmortischchen, Thonetstühle, Kristalllüster, fast könnte man glauben, in Wien zu sein.«

»Francesca hat in Ihrer Heimatstadt antike Numismatik studiert«, erklärte Leonardo, dem Elenas fragende Miene nicht entgangen war. »Sie leben zwar auf Sizilien, aber Sie sind doch eine gebürtige Wienerin, die sich nach ein paar Semestern Kunstgeschichte als Werbetexterin einen Namen gemacht hat, nicht wahr? Das ist zwar schon eine ganze Weile her, aber zufällig kenne ich den Chef der Agentur, für die Sie gearbeitet haben.«

Gab es etwas, worüber dieser Mancuso nicht Bescheid wusste? Offenbar pflegte er sich genau zu informieren, bevor er jemanden engagierte, und sei es auch nur für einen Segeltörn.

Ja, ich bin in Wien geboren, als Helene Hubinek, und ich bin die Witwe des Südtiroler Bildhauers Paul Martell, der 2004 an einem Kopftumor gestorben ist, hätte sie fortsetzen können. Ich bin 45 Jahre alt, Skorpion, Hundeliebhaberin und nunmehr Lebensgefährtin des sizilianischen Kriminalkommissars Giorgio Valentino, den ich bei einer Mordermittlung kennen gelernt habe. Weil einer meiner Gäste so leichtfertig war, sich während einer von mir geführten Reise in den Ruinen von Selinunte erschlagen zu lassen.

Aber das brauchte sie einem Leonardo Mancuso nicht erzählen, fand Elena. Bis auf ein paar unwesentliche Details kannte er ihre Biographie vermutlich ziemlich genau, eine Tatsache, die ihr ganz und gar nicht gefiel. Dass sie nichts zu verbergen hatte, spielte dabei keine Rolle. Unwillkürlich runzelte sie die Stirn, doch dann gewann ihr Humor die Oberhand. Offenbar bedarf es nicht immer der NSA, um jemanden in einen gläsernen Menschen zu verwandeln. Und war es nicht eigentlich schmeichelhaft, wichtig genug zu sein, um nach allen Regeln der Kunst durchleuchtet zu werden?

Geistesabwesend hatte Elena als Einzige einen Cappuccino bestellt, eine kluge Entscheidung, Mit einem Kaffee konnte man nicht anstoßen, und somit war das Thema Du-Wort erst einmal vom Tisch. Wie hatte sie nur so leichtfertig sein können, sich überhaupt in diese Situation zu bringen? Ihr Verhalten war ein Reflex gewesen. In ihren Anfängertagen, ehe sie die nötigen Prüfungen abgelegt hatte, war sie in Palermo einmal als illegale Reiseleiterin erwischt worden. Eine äußerst kostspielige – und peinliche – Erfahrung, die sie kein zweites Mal machen wollte.

Diesmal aber kam es in erster Linie darauf an, die nötige Distanz zu wahren. Auf einem Schiff konnte man sich nicht aus dem Weg gehen, was ihre Rolle doppelt schwierig gestaltete. Sie zählte nicht zur Crew wie der Skipper und der Schiffsjunge, sie war keine Stewardess, die sich um das leibliche Wohl der Passagiere kümmern musste. Auch wenn sie sich verpflichtet hatte, für das Frühstück und kleine Imbisse zu sorgen, bestand ihre Hauptaufgabe darin, die Landausflüge zu organisieren. Ihr oblag es, durch die interessantesten Städte entlang der Route zu führen, Taxis an den Kai zu bestellen und die passenden Lokale auszusuchen.

Irgendwie kam Elena sich vor wie eine Gouvernante in einem viktorianischen Haushalt, die nicht zum Personal, aber auch nicht zur Familie gehörte. Diesen Spagat galt es zu meistern, wobei ihr das nur gelingen konnte, wenn sie die richtigen Akzente setzte. Was bereits bei der Wahl der Kleidung anfing.

Das Kostüm, das sie bereits angehabt hatte, wäre viel zu förmlich gewesen, einer Uniform zu ähnlich. Das war ihr im letzten Moment klar geworden, und sie hatte sich vor der Fahrt zum Flughafen in aller Eile umgezogen. Jetzt trug sie ein schlichtes cremefarbenes Etuikleid, das ihr ausgezeichnet stand. An Bord würde es dann natürlich legerer zugehen, untertags Shorts und am Abend lange Hosen waren sicherlich eine unverfängliche Wahl. Wie ihr zeitloser, einteiliger Badeanzug mit dem dezenten Ausschnitt.

»Möchten Sie noch etwas bestellen? Wenn nicht, wir wären dann so weit.« Mit einem kräftigen Ruck, der die leeren Gläser zum Klirren brachte, schob Leonardo Mancuso den schweren Kaffeehaustisch von sich. Elena fuhr zusammen. Wie peinlich! Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass man nur noch auf sie wartete. War ihr etwas Wesentliches entgangen? Verunsichert blickte sie in die Runde.

»Animus in patellis est«, brummte Titus. »Was wörtlich übersetzt heißt …«

»Das will keiner wissen«, unterbrach ihn Francesca und runzelte unwillig die Stirn. »Du nervst. Für heute kein Latein mehr, bitte.«

Der Geist ist in der Schüssel, hätte Elena fortsetzen können. Sie kannte den Spruch noch aus ihrer Schulzeit weit besser, als ihr lieb war. Ihrem Professor war es damals nämlich nur selten entgangen, wenn sie wieder einmal gedankenverloren ins Narrenkastl geschaut hatte, wie man auf gut Wienerisch zu sagen pflegte. Seltsam, dass ein Mann von nicht einmal dreißig so versponnen war, bei jeder sich bietenden Gelegenheit die alten Römer zu zitieren.

Wahrscheinlich hatte er Latein und Geschichte studiert und unterrichtete an einem Gymnasium. Das konnte sie sicher bald herausfinden. Jedenfalls würde sie genau aufpassen, dass ihr bei den Ausführungen über die Vergangenheit Dubrovniks kein Fehler unterlief.

Geweih

Alles ging gut. Wieder einmal bewährte sich ihr Erfolgsrezept, auf Daten und Jahreszahlen weitgehend zu verzichten. Elena verstand es meisterhaft, längst versunkene Epochen mit Leben zu erfüllen. So gelang es ihr sogar, einen anfangs ziemlich gelangweilten Leonardo Mancuso in ihren Bann zu ziehen.

Das spektakuläre Ambiente hatte ihr die Arbeit freilich leicht gemacht. Auf den meterbreiten Bastionen, die das alte Dubrovnik wie ein Schutzschild umgaben, konnte man hoch über der beeindruckenden Dachlandschaft spazieren gehen. Tief unten funkelte blitzblau das Meer, auf dem sich Lokrum als grüner Tupfen abzeichnete.

»Die kleine Insel befand sich zuletzt in Privatbesitz der Habsburger, aber sie hat ihnen kein Glück gebracht«, sagte Elena. »Es ist natürlich nur ein Zufall, aber ich finde es interessant, dass die letzten zwei Angehörigen dieses Hauses, denen Lokrum etwas bedeutet hat, gewaltsam ums Leben gekommen sind.« Spätestens jetzt konnte sich Elena über mangelnde Aufmerksamkeit nicht mehr beklagen. »Erzherzog Maximilian hat Lokrum Mitte des 19. Jahrhunderts gekauft und das romanische Benediktinerkloster zu einem Schloss umgestalten lassen. Entsprechend dem Zeitgeschmack …«

»Hat ihm denn seine protzige Residenz bei Triest nicht genügt?«, unterbrach Francesca, die sich mit Schaudern an die ihrer Ansicht nach grässliche Innenausstattung von Schloss Miramare erinnerte. »Sie sprechen doch von dem Maximilian, dem späteren Kaiser von Mexiko?«

»Ganz richtig. Maximilian wurde von einem Exekutionskommando erschossen und sein Neffe, Kronprinz Rudolf, hat sich selbst die Kugel gegeben. In Mayerling, Sie alle kennen die Geschichte. Der österreichische Thronfolger hatte die Insel geerbt und sich hauptsächlich um den Schlosspark gekümmert. Er hat auch ein bisschen herumgebaut, aber dann …«

»Schluss, aus, Themenwechsel«, fuhr Leonardo mit sich überschlagender Stimme dazwischen. »Die waren doch alle beide Verlierer, die haben ihr Schicksal selbst verschuldet. Mir ist es völlig egal, ob sie Opfer politischer Intrigen waren oder nicht, für Versager habe ich nichts übrig. Nicht für die von gestern und schon gar nicht für die von heute. Wer die Spielregeln der Macht nicht beherrscht, sollte besser die Finger davon lassen.«

Was war denn das jetzt?, fragte sich Elena, als sie Mancusos grimmig verzerrte Miene musterte. Wieso brachten ihn diese alten, von der Unterhaltungsindustrie bis zum Erbrechen verkitschten und ausgeschlachteten Tragödien dermaßen aus dem Gleichgewicht? Da musste mehr dahinterstecken.

»Hinrichtungen und die Macht des Stärkeren, Aggressionen und Gewalt, die vor Mord und Selbstmord nicht Halt machen, sinnloses Sterben für nichts und wieder nichts, ich will davon nichts hören«, setzte er unerwartet leise fort. »Tot ist tot. Ich halte es mit den Lebenden. Carpe diem, so sagt man doch, Titus? Also pflücken wir den Tag. Auf geht’s ins Restaurant, das Elena für uns ausgesucht hat.« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte Leonardo sich um und stapfte in die Richtung des nächstliegenden Treppenabgangs, der von der Stadtmauer hinunter ins Zentrum führte.

»Einen Moment noch, Signore«, hielt Elena den Mann, der Widerspruch offensichtlich nicht gewöhnt war, zurück. »Wenn Sie mir hier heroben noch einige wenige Schritte folgen würden … Danke. Und jetzt schauen Sie bitte nicht in die Ferne, sondern nach rechts. Direkt unter uns befindet sich der alte Hafen – und die schönste und größte Yacht mittendrin ist Ihre …«

»Die Seacloud, tatsächlich, hier liegt sie in all ihrer Pracht! Sieht sie nicht wundervoll aus, meine alte Freundin?« Beifall heischend blickte Leonardo in die Runde. »Unser letztes Rendezvous hatten wir in der Karibik. Vor ziemlich genau einem halben Jahr. Da war ich allerdings nur als Gast an Bord, gechartert hatte sie ein amerikanischer Geschäftspartner. Aber jetzt …«

»… geschieht auf der Yacht einzig und allein das, was du möchtest. Das ist es doch, worauf es dir ankommt, Papa?«, sagte Francesca lächelnd, doch Elena war der leise Anflug von Bitterkeit, der in ihren Worten mitschwang, nicht entgangen. Es konnte nicht einfach sein, ihn zum Vater zu haben. Eine Kostprobe davon, wie es war, neben einem Machtmenschen dieses Kalibers zu bestehen, hatte sie eben selbst erhalten.

Auf diesem Törn würde noch so einiges auf sie zukommen, das war Elena nach seinem Auftritt eben klar geworden. Leonardo Mancusos Wunsch war Befehl, daran ließ er keine Zweifel aufkommen, und sie durfte gespannt sein, was er als Nächstes zum Tabu-Thema erklären würde.

Dass man in seiner Gegenwart nicht über Gewaltverbrechen diskutierte, hatte er deutlich zum Ausdruck gebracht. Gespräche über Mord und Totschlag zu vermeiden, dürfte freilich nicht allzu schwierig werden.

Schon der nächste Tag sollte Elena allerdings eines Besseren belehren.

Prolog

Ein leichter Flossenschlag genügte und der leblose Körper drehte sich in einer perfekten Pirouette wieder und wieder um die eigene Achse. Eine einsame Darbietung ohne Publikum, nur ein einziger Thunfisch vergnügte sich noch mit dem ungewohnten Spielzeug. Seine Artgenossen fanden die Leiche, die seit ein paar Stunden wie eine Puppe zwischen ihnen trieb, mittlerweile gänzlich uninteressant.

In ihrem Gefängnis waren die großen Fische an kleine Menschlein gewöhnt, die weit mehr Unterhaltung boten als dieser merkwürdige Gast. Tagtäglich kamen sie in ihren schwarzen Gummianzügen zu ihnen in die Tiefe, schwammen mit seltsamen Geräten auf dem Rücken hin und her und stießen blubbernde Luftblasen aus.

Auch rochen diese Männer, die jeden Winkel des Käfigs mit grellen Lampen ausleuchteten und nach kranken Gefangenen absuchten, nicht nach Blut, so wie dieses Exemplar hier. Das Wasser hatte die unzähligen Wunden im Rücken und auf der Brust des Toten längst ausgewaschen, aber mit ihren empfindlichen Sinnesorganen konnten die Fische ihn nach wie vor blindlings aufspüren.

Doch wozu? Als Futter kam eine Leiche für sie nur im äußersten Notfall in Frage. Sie waren zwar Räuber, aber keine Haie und somit auch keine Aasfresser, die sich an Menschenfleisch gütlich taten. Die »Geparden des Meeres«, die in Freiheit bis zu siebzig Stundenkilometer erreichten und Tausende von Meilen zurücklegten, wurden in ihren Käfigen aus Bewegungsmangel zwar fast verrückt, aber man ließ sie nicht hungern. Im Gegenteil, man versorgte die gefangenen Giganten reichlich mit frischen Sardinen, damit sie Fett ansetzten und rasch an Gewicht zulegten.

Noch einmal kehrte der verspielte Thunfisch um, doch diesmal hielt er Distanz zu dem nackten Mann, der nunmehr mit ausgebreiteten Gliedmaßen in der Mitte des Beckens schwebte. Wie ein Fächer umspielten seine dunklen Haare den Kopf, als wollten sie das Gesicht verhüllen, das es nicht mehr gab.

Lobbyismus ist wie ein Flipper.

Die Kugel, die rollt, sieht man, aber der

Mechanismus bleibt im Verborgenen.

Woody Allen

3. Kapitel

In einer eleganten Kurve umkreiste das Polizeiboot die Yacht, bevor es sich mit leise tuckerndem Motor auf Rufweite näherte. Mit den kroatischen Wortfetzen, die zwischen den zwei Uniformierten und Drago hin- und herflogen, konnte Elena nichts anfangen. Wahrscheinlich ging es bloß um irgendein Formular, das sie ausfüllen sollten. Vielleicht langweilten sich die Beamten auch nur und wollten sich die Luxusyacht aus der Nähe ansehen.

Automatisch blickte Elena auf ihr Handgelenk. Noch nicht einmal acht Uhr, kein Wunder, dass außer ihr und dem Skipper noch niemand auf zu sein schien. Sie selbst war freilich seit der ersten Morgendämmerung munter. Wann immer das Wetter es erlaubte, schlief sie an Deck. Weil es für sie nichts Schöneres gab, als unter einem samtschwarzen Sternenhimmel zu liegen, so dunkel und gleichzeitig hell funkelnd, wie es ihn nur in der Wüste oder auf dem Wasser zu sehen gab. Und mit der ersten Ahnung des anbrechenden Tages aufzuwachen, wenn sich der Mond noch schwach vom zarten Blau des Firmaments abhob und die Welt wie frisch geputzt aussah.

Wenigstens machten die Motoren im Leerlauf keinen Krach, als das Polizeiboot an der Backbordseite der Seacloud zum Stillstand kam. Elena strich das überlange T-Shirt glatt, das ihr je nach Bedarf als Strandkleid oder Nachthemd diente.

»Was ist los, Drago?«

»Inspektor Srna bittet um Erlaubnis, an Bord zu kommen.«

»Was will denn die Polizei bei uns?«

»Herausfinden, ob wir jemand vermissen.«

»Nein, uns geht niemand ab. Hast du ihm das nicht gesagt?« Unwillig schüttelte Elena den Kopf. »Jedenfalls waren gestern Abend alle da, heute habe ich natürlich noch niemand gesehen. Außer dich. Mirko schläft sicher auch noch.«

»Der Inspektor möchte sich selbst überzeugen, dass keiner fehlt.«

»Wie will der gute Mann das feststellen? Und wozu überhaupt?«

»Ganz einfach, er muss nur eure Daten in den Computer eingeben. Ihr seid alle registriert. Dich habe ich in Rovinj einklariert und die anderen gestern, gleich nach der Ankunft. In der Hafenkommandantur von Dubrovnik. Normalerweise muss man das persönlich erledigen, aber ich kenne da wen …«

Bevor Drago weitersprechen konnte, überschüttete ihn der Polizeibeamte mit einem Redeschwall, der ebenso abrupt endete wie er angefangen hatte.

»Es wurde eine Leiche gefunden, die man noch nicht identifiziert hat. Daher werden jetzt alle Boote überprüft …«

»Und deshalb soll ich unsere Gäste aufwecken? Wir haben damit nichts zu tun! Sag deinem Inspektor, er soll später wiederkommen.« Nur mit Mühe rang sich Elena ein Lächeln ab. »Ich will ja nicht unfreundlich sein, aber …«

»Was geht hier vor?« Elena fuhr herum, als sie Leonardo Mancusos Stimme vernahm. Im Gegensatz zu ihr, die noch immer in dem zerknitterten Baumwoll-Shirt dastand, sah er in seinem hellblauen Hemd und der langen weißen Hose wie aus dem Ei gepellt aus. »Kein Problem, ich habe nichts dagegen, dass der Mann seine Pflicht tut«, sagte er gelassen, nachdem ihm Drago die Situation erklärt hatte. »Aber vielleicht sollten wir ihm zuerst einen Kaffee anbieten, damit die anderen Zeit haben, sich anzuziehen.« Mit einem maliziösen Grinsen betrachtete er das Nachtlager, das Elena auf einer der Matratzen des Badedecks aufgeschlagen hatte.

Der Seitenhieb saß, gestand Elena sich ein, als sie Decke und Polster zusammenraffte und in ihre Kabine eilte. Die Situation war mehr als zweideutig. Sie hätte es Mancuso nicht einmal übel nehmen können, wenn er daraus falsche Schlüsse zog. Weiß der Teufel, was er jetzt dachte. Vielleicht gar, dass sie hier heroben mit Drago schlief? Sie beschloss, die Lage bei erster Gelegenheit zu klären, aber das musste warten. Jetzt war dafür mit Sicherheit nicht der richtige Zeitpunkt.

Als Elena zwanzig Minuten später den Salon betrat, werkte Mirko an der Espressomaschine. »Signor Mancuso und der Polizist sind versorgt, Signorina Francesca und Signor Titus wollen ihren Kaffee erst später, also bist jetzt erst einmal du dran«, sagte er und drückte Elena einen Cappuccino in die Hand. »Sie sind alle auf dem Oberdeck, nur Signor Zammit fehlt noch.«

»Dasselbe für mich, bitte.« Wie auf ein Stichwort tauchte der Kopf des Maltesers im Treppenaufgang auf. Er war sichtlich noch verschlafen und versuchte erst gar nicht, das Gähnen zu unterdrücken. »Verschönerung folgt«, brummte er und strich sich über das unrasierte Kinn. »Guten Morgen, Elena! Sagen Sie, was hat die Polizei bei uns zu suchen?«

»Bald nichts mehr, da Sie sich ja offenbar bester Gesundheit erfreuen«, fertigte Elena ihn kurz angebunden ab. Smalltalk in aller Herrgottsfrüh – darauf hatte sie nun wirklich keine Lust.

»Welche Laus ist denn Ihnen über die Leber gelaufen? Oder sind Sie um diese Tageszeit immer so schnoddrig? Ich habe doch nur höflich gefragt …«

Schuldbewusst verzog Elena den Mund zu einem Lächeln. Yannis konnte ja wirklich nichts dafür, dass heute nichts so lief, wie es sollte. »Verzeihen Sie, aber eine Leiche auf nüchternen Magen bekommt mir nicht.«

»Welche Leiche? Wer ist gestorben? Doch nicht Leonardo?« Mit weit aufgerissenen Augen ließ Yannis seinen Blick zwischen Elena und dem Schiffsjungen hin- und herwandern.

Elena wollte antworten, doch Mirko kam ihr zuvor. »Es handelt sich um einen Mann zwischen 30 und 50, und er soll ermordet worden sein«, flüsterte er. »Das hat mir der narednik verraten.«

»Wer um aller Welt ist denn das wieder?«

»Narednik ist kein Name, sondern ein Dienstrang. So heißt bei uns ein kleiner Polizeibeamter, einer von denen, die einen Inspektor begleiten. Auf Italienisch Agente oder Assistente Capo. Oder so ähnlich. Ein armer Teufel, der nichts anderes ist als ein Laufbursche in Uniform. Deshalb habe ich ihm auch einen Espresso gemacht.« Mirko holte tief Luft, bevor er leise hinzufügte: »Der hat mir das mit dem Mord gesagt, aber das hätte ich wahrscheinlich nicht weitererzählen sollen …«

»Hättest du auch nicht.« Mit strenger Miene blickte Drago, der plötzlich in der Salontüre stand, seinen Neffen an. »Ich suche Sie, Signor Zammit. Holen Sie doch bitte Ihren Pass, Sie müssen sich ausweisen. Und du komm mit, Elena. Es gibt Schwierigkeiten.«

Geweih

Da ging es zu wie in »Dynasty«, dachte Ivo Srna – und er war mittendrin. Nur selten hatte er früher eine Folge der TV-Serie versäumt. Damals waren die Carringtons fast so etwas wie Familienmitglieder für ihn gewesen, die Farbe in den grauen Alltag eines Inselpolizisten auf Korčula brachten. Reiche Verwandte in Amerika, auf die man stolz sein konnte und die nichts mit den armen Schluckern gemeinsam hatten, die wie seine Brüder als Gastarbeiter in Österreich oder Deutschland arbeiteten.

Auch er wäre gerne weggegangen, am liebsten nach Kanada, als Ranger, aber das sollte ein für immer unerfüllter Traum bleiben. Mit seinen knapp 20 Jahren saß er in der Falle. Weil sein Mädchen ein Kind von ihm erwartete. Hochzeit in Weiß, Unterschlupf im Haus der Schwiegereltern, ein Dasein zwischen Babygeschrei und Streitereien, bei denen es sich stets um dasselbe drehte: um das Geld, das er, der Sohn eines Fischers, nicht hatte.

Ivo hatte damals nicht lange gezögert und sich bei der Polizei beworben. Als kleiner Wachtmeister verdiente er zwar nicht viel, aber das sichere Einkommen eines Staatsdieners reichte der Bank für einen Kredit. Bevor sein zweites Kind zur Welt kam, erwarb der policijski narednik Ivo Srna ein Grundstück in dem Dorf Račišće. In der Nähe von seinem Arbeitsplatz in Korčula-Stadt – und weit genug entfernt von der Verwandtschaft in Vela Luka am anderen Inselende.

Heute war er Policijski inspektor, mit seinen nunmehr 57 Jahren hatte er es zwar nicht weiter als bis zu einem Stern, aber immerhin bis zum Dienststellenleiter gebracht. Eine zufriedenstellende, aber glanzlose Karriere ohne Höhen und Tiefen. Bis auf den Heimatkrieg vor zwanzig Jahren, als Tausende aus dem bombardierten Dubrovnik auf die umliegenden Inseln geflohen waren, gab es nichts Bemerkenswertes.

Dass er damals nicht für sein Vaterland gekämpft hat, schmerzte Ivo bis heute. Es können nicht alle Polizisten fortgehen, es müssen auch welche bleiben, um die Sicherheit auf der Insel zu garantieren, hatte sein Vorgesetzter erklärt. Außerdem sollte sich jeder Mann um die vierzig gut überlegen, ob er sich das Soldatenleben überhaupt zutraute. Aber man würde natürlich niemanden aufhalten …

Den Gesichtsausdruck des Offiziers, der bei diesen Worten Ivos Körpermitte mit einem vielsagenden Blick musterte, würde er nie vergessen. Zu alt, zu fett, zu kurzatmig – so lautete die Rechnung für zu viel Bier, üppiges Essen und zwei Packungen Zigaretten am Tag. Eine traurige Bilanz, an der sich wenig geändert hatte. Nur dass Ivo seit zwei Jahren nicht mehr rauchte, dafür trug er nun Kleidung mit drei statt nur einem X vor dem Large. Mit einer Größe von 1,76 Metern war er mehr breit als hoch, ein fast glatzköpfiges Michelin-Männchen mit einem schmalen Haarkranz rund um den überraschend wohlgeformten Kopf.

Nein, es hatte sich wirklich nichts Außergewöhnliches ereignet im Leben des Ivo Srna, nicht in seinem privaten und schon gar nicht in seinem beruflichen. Bis zum Läuten des Telefons heute Früh kurz vor sechs.

»Er ist tot. Mausetot. Komm sofort. Sofort, hörst du!«

Der Anrufer hatte sich erst gar nicht die Mühe gemacht, seinen Namen zu nennen, sondern darauf vertraut, dass Ivo die Stimme erkannte. Was auch stimmte, das Falsett seines Schwagers Bela, der in seiner Aufregung gleich um noch eine Oktave höher sprach, war unverkennbar. Was konnte so wichtig sein, dass er ihn an einem Sonntag zu einer so unchristlichen Zeit aufweckte? Irgendwer war gestorben, aber wer? Und warum hatte Bela gleich aufgelegt?

»Dein lieber Bruder macht aus einer Mücke wieder einmal eine ganze Elefantenherde«, sagte Ivo zu seiner Frau. Er schaltete sein Handy aus und zog sich die Decke über den Kopf.

»Und wenn wirklich etwas passiert ist?«

»… werde ich es schon noch rechtzeitig erfahren. Aber gut, wenn es dich beruhigt, rufe ich ihn zurück.«

Nach dem zehnten Läuten landete er in der Mobilbox. Genervt hievte sich Ivo aus dem Bett.

Eine halbe Stunde später war er froh, außer einem Schluck Wasser und den Tabletten gegen seinen hohen Blutdruck nichts im Magen zu haben. Der Anblick der Leiche, die ein Taucher in einem der beiden Thunfischbecken entdeckt und an Land gebracht hatte, war so grässlich, dass Ivo schlecht wurde.

Die Kugeln einer Schrotflinte hatten vom Gesicht des Mannes nur zerfetzte Fleischmasse übrig gelassen. Das Opfer musste aus nächster Nähe erschossen worden sein, daran gab es für Ivo, der sich als passionierter Jäger mit Waffen auskannte, keinen Zweifel. Mit zitternden Fingern zog er sein Handy hervor und rief die Kriminalpolizei in Dubrovnik an. Nachdem er Meldung erstattet und einen seiner beiden Wachtmeister zur Bewachung zurückgelassen hatte, ging er mit ebenso zitternden Knien zurück zu seinem Dienstboot.

Es würde Stunden dauern, bis das Team der Mordkommission auf der Insel eintraf. Sollte er bis dahin hinter seinem Schreibtisch sitzen und Daumen drehen? Und die Aufklärung des einzigen spektakulären Todesfalls, der sich in seinem Umfeld jemals ereignet hatte, anderen überlassen? Natürlich durfte er dem Kriminalkommissar nicht ins Handwerk pfuschen, aber ein wenig Vorarbeit konnte er doch leisten. Und wie gut würde er erst dastehen, wenn es ihm vor den Profis aus Dubrovnik gelang, die Identität des Toten herauszufinden! Irgendwer musste den Unbekannten, der solch ein grausiges Ende genommen hatte, doch vermissen.

Ivo beschloss, herumzufragen, und damit am besten gleich bei den Yachten anzufangen, die in der Nähe ankerten. Als Nächstes konnte er sich dann die Boote in der Marina von Korčula vornehmen, während der letzte Beamte, den er noch aus dem Bett trommeln musste, die wenigen Hotel- und Privatzimmer in der Altstadt abklapperte.

Das Gebiet zwischen der Thunfisch-Farm vor der winzigen Ortschaft Babina und seinem Heimatdorf Račišće konnte er vernachlässigen. Dort waren nur ein paar Fischerboote unterwegs, das hatte er bereits auf der Fahrt zum Leichenfundort festgestellt. Ein kleines Stückchen weiter östlich aber wurde er unmittelbar hinter dem Kap, das wie ein Zeigefinger auf die gegenüberliegende Halbinsel Pelješac wies, erstmals fündig.

Die Hauptsaison ist vorbei, dachte er mit leisem Bedauern, als er in die großzügig geschwungene Bucht fuhr und die Geschwindigkeit des PS-starken Polizeibootes drosselte. Bald würden die langen, langweiligen Herbst- und Wintermonate beginnen. Noch vor Kurzem hatten sich Segler, zumeist aus Italien, Österreich und Deutschland, um die besten Ankerplätze gerissen. An diesem Septembersonntag aber schaukelte hier lediglich ein einziges Boot unter italienischer Flagge. Ein bescheidener Kahn im Vergleich zu den funkelnagelneuen Yachten, die kroatische Charterunternehmen in den Marinas rund um Split gleich in dutzendfacher Ausführung anboten.

Ivo hielt sich nicht lange auf. Er notierte die Namen der sechs Personen, die ihm ihre Pässe eher unwillig aushändigten. Drei italienische Staatsbürger, ein US-Amerikaner und ein Pärchen aus Kroatien – eine interessante Mischung, vor allem, wenn man sich die Geburtsdaten näher ansah. Wenn er richtig rechnete, war die Italie­nerin Milena Pertini 53, das kroatische Mädchen namens Sanja Verbic hingegen gerade einmal 22 Jahre alt. Auch bei den Männern gab es eklatante Unterschiede. Mit einem Mal durchzuckte Ivo ein Verdacht.

Waren nicht jene Umweltaktivisten von Black Fish, die erst Anfang Juli mehr als tausend Thunfische aus den Zuchtbecken vor der Insel Ugljan befreit hatten, genau so ein bunt zusammengewürfelter Haufen gewesen? Seither hieß es polizeiintern, jede Abweichung von der Norm mit doppelter Aufmerksamkeit zu verfolgen. Der Appell des Fischerei-Ministers Ljubomir Kučić an die Polizei, im Umfeld von Aqua-Farmen besonders wachsam zu sein, hing an der Pinnwand hinter seinem Schreibtisch.

Auch vor Korčula wurden seit gut einem Jahr Thunfische gezüchtet. Trotz der Proteste der Einheimischen, die dafür eine ganze Reihe von Gründen hatten. War es also wirklich so unwahrscheinlich, dass es einen Zusammenhang mit dem Toten aus dem Zuchtbecken gab? Aber die Fischer, von denen er die meisten seit Jugend­tagen kannte, würden deswegen doch keinen umbringen …

Mit dir geht die Phantasie durch, Ivo Srna, ermahnte er sich. Wilde Spekulationen brachten gar nichts. Ein guter Ermittler musste kühles Blut bewahren. Bei den Leuten auf dem italienischen Boot handelte es sich garantiert nur um harmlose Touristen, die wahrscheinlich nicht einmal wussten, dass man unweit von ihrem Ankerplatz Hunderte Fische auf engstem Raum zusammengepfercht hatte. Von der Freiheit trennten die Tiere nur ein paar Netze, aber die musste man erst einmal durchschneiden oder aus den Verankerungen reißen.

Ivo schob seine Überlegungen beiseite und trank seinen mittlerweile kalten Cappuccino aus. Er wollte sich schon verabschieden, als eine Windböe die Seiten seines Notizblocks zurückblätterte. Tatsächlich, hier stand es.

»Kennen Sie einen Filippo Mancuso?«, fragte er den Mann, der ihn immer mehr an den Chef des Denver-Clans erinnerte, in seinem holprigen Italienisch.

Die Reaktion wäre eines Blake Carrington würdig gewesen. Pokerface, Schweigen, Achselzucken und schließlich, als er die Frage schon wiederholen wollte, die Antwort: »Si, é mio filio. Perché?«

Geweih

Aus einem unsichtbaren Walkman drang die Dynasty-Titelmelodie an Ivos Ohr. Eine nur für ihn hörbare Untermalung für die Szene, die sich vor seinen Augen abspielte. Wie zwei Kampfhähne standen Vater und Tochter einander gegenüber, mit gegrätschten Beinen und gespreiztem Gefieder, jederzeit bereit, aufeinander loszugehen.

»Ich mag keine Überraschungen, das weißt du sehr gut«, eröffnete Leonardo mit gefährlich leiser Stimme den Schlagabtausch.

Francescas Gegenstrategie war ebenso einfach wie klug: Sie schwieg. Ihre einzige Chance war es, ihren Vater aus der Reserve zu locken. Mit seinen eigenen Methoden. Wer brüllt, hat verloren, so lautete das Credo, das er ihr von Kindesbeinen an eingetrichtert hatte.

»Was hast du dir dabei gedacht, Filippo hierher zu lotsen? Eine tränenreiche Versöhnung zwischen Vater und Sohn? Nicht nötig, seit einiger Zeit reden wir wieder miteinander. Hat er dir das nicht gesagt?«

»Nicht miteinander, sondern aneinander vorbei. Und genau darum geht es. So könnt ihr doch nicht weitermachen!«

»Meinst du? Das können wir sehr wohl. Wir müssen nur aufpassen, dass wir einander nicht zu nahe kommen. Und das wird jetzt passieren. Bei allen guten Vorsätzen, die er vielleicht haben mag.«

»Die hat er, glaub mir. Deine Geschäfte interessieren ihn nicht …«

»Seit wann? Er ist es doch, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit über die Plünderungen der Korallenriffe plappert. Macht sich gut, wenn man Mancuso heißt und der eigene Vater sein Geld mit Schmuck aus Korallen verdient. Publicity ist einem da sicher, und das weiß mein Herr Sohn, der große Umweltschützer, ganz genau.« Bisher hatte Leonardo keine Miene verzogen, jetzt aber war ihm sein Zorn deutlich anzusehen. Und anzuhören. »Meine Korallen werden nicht illegal gebrochen«, fuhr er deutlich lauter fort, »von irgendeinem Riff, das unter Naturschutz steht. Man kann nur Edelkorallen verarbeiten, alle anderen sind viel zu weich und zu brüchig. Ich weiß, wovon ich rede, immerhin war mein Vater einer der besten Korallenschnitzer von ganz Sizilien …«

»… und auch du hast das Handwerk gelernt. Ja, ja, ich kenne sie auswendig, diese alten Geschichten. Wie Großvater als armer Mann nach Mailand gekommen ist, wie er das Geld für den kleinen Juwelierladen zusammengekratzt hat. Dass er Tag und Nacht schuften musste, damit sein Sohn eine gute Schule besuchen kann …«

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