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Christos Chryssopoulos

Parthenon

Roman

Aus dem Neugriechischen
von Theo Votsos

 

Wir sind die verträumten Irren dieser Erde,

die mit dem entflammten Herzen, dem enthemmten Blick.

Wir sind die unerlösten Denker und die tragisch Liebenden.

Tausend Sonnen fließen durch unser Blut

und überall jagt die Vision des Unendlichen hinter uns her.

Die Form vermag uns nicht zu zähmen.

Wir verliebten uns in das Wesen unseres Seins

und das ist es, was wir in all unseren Lieben lieben.

Die großen Enthusiasten und die großen Verweigerer sind wir.

Schließen die Welt in uns ein und gehören doch nicht zu dieser Welt.

Ein Flächenbrand sind unsere Tage und unsere Nächte ein offen Meer.

Um uns erschallt das Gelächter der Menschen.

Wir sind die Vorboten des Chaos.

Jorgos Makris, „Wir, die Wenigen“ (1950)1

Für meinen Vater

Inhalt

1.   Ein möglicher Monolog des Täters Ch. K.

2.   Zeugenaussagen vom selben Tag

3.   Die Nachricht

4.   Fundstücke

5.   Bezüglich der Erklärung des Jorgos V. Makris

6.   Kurzes Eingeständnis eines Wächters

7.   Liste der Personen, die der Täter Ch. K. im Verlauf des Verhörs erwähnte

8.   Objektives Beweismaterial

9.   Die aufgefundene Fotografie

10. „… durchsichtig wie japanisches Reispapier“

11. Verurteilung und Bestrafung

12. Die Moral von der Geschichte

Anmerkungen

1.   Ein möglicher Monolog des Täters Ch. K.

Es sind ausschließlich Geräusche vom Zurechtrücken von Möbelstücken zu hören. Stühle, die über den Boden geschoben werden. Schritte. Das Drücken verschiedener Knöpfe auf einem elektronischen Gerät. Schließlich hört man den schweren Atem von jemandem, der seinen Mund vor das Mikrophon hält. Pause von einigen Sekunden Länge. Absolute Stille.

Als ich begann, hatte ich keine Ahnung, wie ich vorgehen sollte. Ich hatte weder einen Plan noch ließ ich mich von irgendeinem Ideal leiten. Der Ausgangspunkt war eine Welle, die mich mitriss und zufällig in diese Richtung trieb. Genauso gut hätte sie mich auch woandershin tragen können.

Es gab keinen ersten Tag. Es gab keinen konkreten Anfang. Ich erkenne weder eine wie auch immer inspirierte Eingebung an, noch folgte ich irgendeinem vorgegebenen Ziel. Das Erste, was mir durch den Kopf ging, oder vielmehr das Erste, was ich mir überdeutlich und lebhaft vorstellen konnte, waren die Folgen. Nur die Folgen. Der Widerhall auf den Titelseiten der Zeitungen, in den ersten verstörten Worten der Nachrichtensprecher, in den ersten Fernsehbildern. Die Folgen … Die Tat, die über der Stadt schwebt. Die Tat, die sich in Druckwellen über die Stadtviertel und Boulevards ausbreitet, vom Dach der Stadt herunterhängt, in den Wolken über der Stadt feststeckt. Die Tat, die eine Nachricht wird. Die Tat, die in aller Munde ist. Die Tat, die überall und jederzeit allgegenwärtig ist. Die Tat, die nun unser Gemeingut geworden ist. Die Lust, die dem bereitet wird, der sie insgeheim als eigene wiedererkennt.

Das war der erste Schritt. Jetzt kann ich es mit Sicherheit sagen. Die erste Sache, die mich faszinierte, war, dass alle davon sprechen, alle von ihr Kenntnis nehmen, alle verblüfft sein würden, aber nur ich alleine wäre imstande, sie auch zu genießen. Nur ich würde darauf warten, dass sie sich ereignet, und jedes Mal, wenn jemand darüber spräche, jedes Mal, wenn ich selbst ihre Schilderung zu lesen bekäme, würde sich jedes noch so kleine Detail, ja alles in eine Zutat der süßesten Bestätigung verwandeln. Diese Tat würde ganz und gar mir allein gehören.

Es ist kaum möglich, dass du in unserer Stadt etwas ganz und gar dein Eigen nennen kannst. Deine Erfolge musst du mit denen teilen, die sie sich aneignen. Die Misserfolge stellen erst gar kein Eigentumsobjekt dar, denn sie werden mittlerweile nur selten akzeptiert. Also bleibt nichts mehr übrig, das uneingeschränkt dir gehört. Mit Ausnahme vielleicht einer allerletzten Selbstillusion: der Tat nach bestem Wissen und Gewissen.

Ich fürchtete mich sehr davor, missverstanden zu werden. Das ließ mich oftmals vor der Tat zurückzuschrecken und veranlasste mich immer wieder dazu, sie zu verschieben. Ich wollte nicht als ein weiterer abscheulicher Verbrecher gebrandmarkt werden. Als faszinierender Paranoiker. Als skrupelloser Irrer. Als bequemes Stereotyp.

Unsere Stadt verfügt über ein einziges Denkmal. Ein einziges Sinnbild, das gerade deswegen für die unterschiedlichsten Zwecke genutzt wird. Andere Wahrzeichen mit Wiedererkennungswert existieren schlicht und ergreifend nicht. Und wenn auch noch jener einzige Herkunftsbeweis fehlen würde, auf den wir alle einen legitimen Besitzanspruch zu erheben glauben, hätten wir das Gefühl, in einer fremden, künstlichen Welt zu leben. In einem Brettspiel vielleicht oder am Grund eines Aquariums.

Die Lichter in unserer Stadt schillern bunt. Gelb oder orange. Unsere Stadt gibt sich mal langsam und träge, mal ungeduldig wie wir selbst. Bisweilen weiß sie, wo sie hinsteuert, bisweilen torkelt sie ziellos umher. Unsere Stadt sind wir selbst. Wo wir auch hingehen, wir tragen die Stadt in unseren Taschen mit. Und wenn wir vom Tragen mal müde werden, dann legen wir sie, wo auch immer wir uns gerade befinden, auf die Erde ab und treten in sie ein. Wir decken uns gut zu und leben eingeschlossen in ihren Eingeweiden. In dieser heißen und wasserarmen Stadt singen wir uns flüsternd die immer gleichen Lieder vor. Wieder und immer wieder.

Es ist von entscheidender Bedeutung, klare Motive zu haben. Ich hatte nicht vor, Böses zu tun. Ich hatte nicht vor, Böses zu tun. Ich wollte nicht zerstören. Es war nicht meine Absicht, zu zerstören. Einleuchtende Erklärungen können hier nicht gegeben werden. Es gibt nur die Illusion der Tat aus eigenem Antrieb, einzig auf die Aktion kommt es an. Ich vertrete nichts und niemanden. Was geschah, gehört einfach nur mir. Das ist alles. Diese Tat gehört mir.

Er scheint kurz zu zögern, den Faden zu verlieren. Sodann beginnt er, laut nachzudenken. Als würde er zu sich selbst sprechen.

In unserer Stadt wandelt jeder auf seinen eigenen Pfaden – oder müsste ich eher sagen, auf seinem eigenen Pfad? Ich überquere die Straßen jedes Mal von derselben Stelle aus. Ich gehe die Stufen auf und ab. Genau dreizehn zwischen jeder Etage. Vier am Gehweg. Zwei jedes Mal, um in den Bus einzusteigen. Weitere zwei, um auszusteigen. Vier am gegenüberliegenden Gehsteig, zwanzig bis zur Tür. Alles erweckt den Anschein, hier nur einen Schritt voneinander entfernt zu sein. Das eine Viertel gibt dem anderen die Klinke in die Hand, wodurch eine zusammenhängende urbane Kette erzeugt wird. Das eine Haus scheint am anderen anzulehnen. Die eine Straße reicht den Stab an die andere, und nur der Name ändert sich. Dieser stetige Übergang weist nichts unbedingt Besonderes auf. Er überrascht mich nicht. Das ist nicht alleine hier anzutreffen. Nur, dass hier alles nur einen Schritt voneinander entfernt ist. Infolgedessen hat jemand, der hier lebt, das Gefühl, die ganze Stadt auf einem einzigen Spaziergang sehen zu können. Und der Horizont verschwindet so oft zwischen den Gebäuden, dass man geneigt ist zu glauben, es reiche, aus der Tür zu treten und mit derselben Leichtigkeit, mit der man eine Runde um den Block dreht, jede Ecke dieser kleinen Welt abschreiten zu können. Doch es ist nicht nur der Raum, der sich mit der Länge eines Schrittes messen lässt. Es ist auch die Zeit, die man ebenso leicht mit einem einzigen Schritt zu überbrücken meint. Diese Empfindung weist nichts unbedingt Besonderes auf. Sie überrascht mich nicht. So etwas ist nicht alleine hier anzutreffen. Wäre nur nicht diese unerbittlich brennende Sonne. Der Staub, der so dicht durch die Luft wirbelt, dass man meint, man könnte seine Hand damit füllen. Wäre nur nicht die Hitze …, die diesen einen einzigen Schritt so beschwerlich macht. Alles hier macht dich zu einer Geisel des Lichts.

Er spricht nun langsamer weiter, als versuche er, sich an etwas Vergangenes zu erinnern.

Alles fing mit einer Feststellung an: Das Zeichen unserer Stadt prangt an ihrem höchsten Punkt. Es erhebt sich stolz im Zentrum, und wir beleuchten es, damit wir es nicht einen einzigen Augenblick aus den Augen verlieren. Das Zeichen der Stadt ist männlichen Geschlechts. Es hat einen Namen, aber wir haben es entpersonalisiert. Statt es beim Namen zu nennen, sagen wir „Sieh Ihn dir an“ oder „Ich habe Ihn gesehen“ oder auch „neben Ihm“ oder „in Seinem Schatten“ und so weiter und so fort.

Schon als kleines Kind sah ich, wie Er von dort oben den Herrscherstab führte. Und ich hörte alle sagen, wie außergewöhnlich schön Er doch sei, wie luftig-leicht und harmonisch. Wie vorzüglich Er mit der Landschaft korrespondiere und wie vortrefflich Er auf das menschliche Maß zugeschnitten sei. Alle sagen, Er sei ein Meisterwerk. Er symbolisiere das Erhabene und Schöne schlechthin. Wer erschuf Ihn eigentlich? Das hat keinerlei Bedeutung mehr, es reicht völlig aus, dass Er existiert. Die Schöpfer genießen bei uns keine Ehren. In dieser Stadt gehört uns nichts, ein Sinn für Besitz ist nicht vorhanden. Nicht einmal der Stolz auf Ihn gehört uns. Wir leihen ihn uns aus.

Ich bin viele Male hinaufgegangen, um Ihn aus der Nähe zu betrachten, Ihn zu studieren. Für gewöhnlich tun wir das nicht. Sobald wir in Seiner Nähe sind, werfen wir Ihm allenfalls einen flüchtigen Blick zu und wenden uns dann der Stadt zu, die sich am Fuß des Hügels ausbreitet. Dabei monieren wir, dass sie Ihm nicht würdig sei, und auch uns wird es trotz aller bemühten Versuche niemals gelingen, einem solchem Meisterwerk gerecht zu werden.