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CRANACH
NATÜRLICH

HIERONYMUS IN DER WILDNIS

Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum
1.3. – 7.10.2018

INHALT

VORWORT

Wolfgang Meighörner

CRANACHS HIERONYMUSBILDER UND DIE NATUR

Agnes Thum

DER HL. HIERONYMUS IM 16. JAHRHUNDERT:
THEOLOGISCHE ASPEKTE SEINES BILDES IN DER FRÜHEN NEUZEIT

Christian Hecht

CRANACHS HIERONYMUS ALS PARADIGMATISCHE LEITFIGUR IN VIELERLEI GESTALT

Michael Hofbauer

CRANACHS INNSBRUCKER HIERONYMUSBILD: NEUES ZUR PROVENIENZ

Agnes Thum

BILDTEIL I: CRANACH UND HIERONYMUS

VON DER EINÖDE INS PARADIES: DIE WÜSTE ALS WALD BEI CRANACH

Helena Pereña

„NACH STÄNDIGEM AUFBLICK ZUM HIMMEL“: DIE VÖGEL AUF CRANACHS WIENER HIERONYMUSBILD

Gábor Endrődi

CRANACHS INNSBRUCKER HIERONYMUSBILD: DIE SPRACHE DER NATUR

Agnes Thum

NICHT NUR DER LÖWE HINKTE: INTERPRETATIONSVERSUCHE ZU CRANACHS „ALBRECHT ALS HIERONYMUS“-GEMÄLDEN

Andreas Tacke

BILDTEIL II: NATUR ALS SYMBOL

DIE KUNST AUS DER NATUR REIßEN: NATUR UND LANDSCHAFT BEI LUCAS CRANACH D. Ä.

Nils Büttner

DIE KUNST, DIE NATUR ZU KENNEN: PRODUKTION, FIXIERUNG UND TRANSFER VON NATURWISSEN IN DER FRÜHEN NEUZEIT

Dominic Olariu

CRANACH IM FOKUS DER NATURWISSENSCHAFT:
AUSGEWÄHLTE BOTANISCHE UND ZOOLOGISCHE IDENTIFIKATIONEN

Peter Morass & Michael Thalinger

BILDTEIL III: DIE ENTDECKTE NATUR

ANHANG

Lucas Cranach d. Ä.: Kurzbiografie des „Naturmalers“

Liste der ausgestellten Objekte

Auswahlbibliografie

Autorinnen und Autoren

Zur Ausstellung

Dank

Abbildungsnachweis

Impressum

 

VORWORT

Lucas Cranach der Ältere – spontan assoziieren wir damit den Maler der Reformation, den Bildgeber für Luther, den (auch wirtschaftlich) so innovativen und erfolgreichen Maler-Unternehmer aus Mitteldeutschland. Legion sind die Ausstellungen zu diesen Aspekten, in Zehntausenden zählt man deren staunende Besucher. Warum also erneut eine Ausstellung zum Werk des großen Meisters?

Mehrere Gründe haben uns dazu bewogen. Zum einen befinden sich auch in den großartigen Sammlungen des Tiroler Landesmuseums wesentliche Werke Cranachs: Der „Hl. Hieronymus“ von 1525 zählt zu den Zimelien des Bestandes im Ferdinandeum. Zum anderen aber haben die jüngeren Forschungen über sein Werk auch auf neue Aspekte wie etwa seine intensive Naturbetrachtung und -kenntnis aufmerksam gemacht, die interdisziplinär aus den umfänglichen Beständen unseres Vielspartenhauses bearbeitet und präsentiert werden können. Erst dieser interdisziplinäre Zugriff, den die Tiroler Landesmuseen durch die Einbindung von Experten auch aus anderen Fachgebieten als der Kunstgeschichte ermöglichen, kann Cranachs Naturdarstellung schlaglichtartig im Kontext seiner Hieronymusbilder beleuchten – und so eine neue Facette für seine Beurteilung als Künstler sichtbar machen.

Die Zusammenarbeit greift dabei weit über die eigenen Häuser hinaus: Universitäten, Bibliotheken und andere Museen aus dem nationalen wie internationalen Umfeld, Naturwissenschaftler und Theologen, Kunsthistoriker und Gestalter haben aktiv zusammengearbeitet und so eine bislang weitgehend unbeachtete Sicht auf das Werk Cranachs ermöglicht. Diese weitreichende Unterstützung hat auch dazu beigetragen, dass in der Ausstellung wesentliche Stücke aus Cranachs Schaffen in neuer Zusammenschau vereint werden konnten. Dafür gilt es Dank zu sagen.

An erster Stelle sei das Kunsthistorische Museum in Wien genannt. Generaldirektorin Dr. Sabine Haag, der Direktor der Gemäldegalerie Dr. Stefan Weppelmann und Dr. Guido Messling haben von Beginn an das ambitionierte Projekt unterstützt und gefördert. Gleichermaßen beigetragen haben mit Sachverstand und einer wichtigen Leihgabe die Staatlichen Museen zu Berlin mit Generaldirektor Prof. Dr. Michael Eissenhauer und Dr. Stephan Kemperdick. Dank schulden wir auch den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen in München unter Leitung von Generaldirektor Prof. Dr. Bernhard Maaz und seinem Stellvertreter Dr. Martin Schawe sowie dem Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, wo uns Generaldirektor Prof. Dr. G. Ulrich Großmann und sein Stellvertreter Dr. Daniel Hess alle erdenkliche Hilfe zukommen ließen. Auch die fürstlichen Sammlungen des Hauses Liechtenstein in Wien/Vaduz trugen durch die Unterstützung von Direktor Dr. Johann Kräftner wesentlich zum Gelingen bei. Vom Museum Bautzen erhielten wir tätige Hilfe durch Direktor Dr. Jürgen Vollbrecht. Kollegialen Dank schulden wir auch der Universitäts- und Landesbibliothek der Leopold-Franzens-Universität, die mit Direktorin Mag. Eva Ramminger und dem Leiter der Sondersammlungen, Mag. Peter Zerlauth, bereitwilligst einige entscheidende Leihgaben für das Vorhaben bewilligte. Auch Privatsammler erklärten sich bereit, unser Ausstellungsprojekt mit großzügigen Leihgaben zu unterstützen – nicht zuletzt gilt auch ihnen unser Dank.

Ein Ausstellungsprojekt benötigt Ideengebung und Leitung. Als vor rund zwei Jahren die Hauptkuratorin Dr. Helena Pereña mir die ersten Ideen vortrug, fiel mir als Verfechter des interdisziplinären Arbeitens eine Zustimmung leicht. Ich danke ihr und der externen Kuratorin Dr. Agnes Thum für den hohen Einsatz, bei dem sie von Mag. Astrid Flögel im Team unterstützt wurden. Gedankt sei an dieser Stelle auch allen Wissenschaftlern, die dem Kuratorenteam im Werden dieser Schau mit Rat und Tat zur Seite standen. Die Gestaltung der Ausstellung wurde einmal mehr von Juliette Israël verantwortet – auch hierfür meinen Dank, in den ich auch die anderen Kolleginnen und Kollegen aus den Tiroler Landesmuseen von Herzen einbinde. Aus den Naturwissenschaftlichen Sammlungen waren dies der Kustos Mag. Dr. Peter Huemer, sein Stellvertreter Peter Morass und Mag. Michael Thalinger, aus der Bibliothek Kustos Mag. Roland Sila und Dr. Hansjörg Rabanser. Aus dem Kustodiat der Älteren Kunstgeschichtlichen Sammlungen hat schon kurz nach seinem Dienstantritt Dr. des. Peter Scholz mit Mag. Christina Zenz und Mag. Claudia Mark das Projekt unterstützt. Die umfängliche restauratorische Betreuung oblag der Abteilung Restaurierung unter Leitung von Dipl.-Rest. (univ.) Laura Resenberg, die 2014 bei ihrer Bearbeitung „unseres“ Hieronymus bereits einige wichtige Erkenntnisse veröffentlichte, die einen Grundstein dieser Ausstellung bilden. In kürzester Zeit hat Mag. Ulrike Fuchsberger-Schwab wichtige Gemälde aus dem Bestand in neuem Glanz erstrahlen lassen. Mag. Borislav Tzikalov und Alexander Fohs ist für die restauratorische Betreuung aller grafischen Objekte ebenso zu danken.

Es ist die Aufgabe von Museen, verständliche und spannende Einblicke in Entwicklungen der Vergangenheit zu geben, mit dem Ziel, das Verständnis für die Gegenwart zu erleichtern. Hierfür sammeln wir die dingliche Hinterlassenschaft nach strengen Kriterien. Wenn diese dann – insbesondere in unserer Zeit – den Besuchern in des Wortes bester Bedeutung auch noch schöne Augenblicke beschert, dann sind dies umso mehr gute Gründe für eine Ausstellung. Die Schau „Cranach natürlich. Hieronymus in der Wildnis“ ist eine solche – möge sie viele Besucher sehen.

PD. Dr. Wolfgang Meighörner

Direktor

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CRANACHS HIERONYMUSBILDER UND DIE NATUR

Agnes Thum

Das Innsbrucker Hieronymus-Gemälde (Kat. 2) 1 ist ein außergewöhnliches Werk – außergewöhnlich sowohl im Œuvre von Lucas Cranach d. Ä. (1472–1553) als auch im Kontext der Hieronymus-Darstellung der nordalpinen Renaissance. Zugleich ist es für beide Bezugsräume typisch: Der Kirchenvater Hieronymus (um 347–419/420) als Büßer in der Landschaft war schließlich ein echtes Lieblingsthema der Epoche, dem sich auch Cranach und seine Werkstattmitarbeiter zahlreich widmeten. Innerhalb dieser Bildaufgabe hatten Cranach und seine Zeitgenossen nicht nur die Möglichkeit, einen echten Modeheiligen darzustellen und dabei malerisch über das im Zeitalter Luthers heftig umstrittene Wesen der Buße zu sinnieren. Sie konnten auch, und nicht zuletzt, ihre Fähigkeiten im Naturbild beweisen: Der landschaftliche Rückzugsort des Hieronymus, eine Wüste nur der Idee nach, war vielen Malern mindestens ebenso wichtig wie die Darstellung des Kirchenvaters selbst. Lucas Cranach d. Ä. zeigte sich dabei mehr als einmal höchst kreativ.2 Dieses Phänomen ist es, dem die Beiträge dieses Bandes und die sie begleitende Ausstellung auf verschiedenen Wegen nachspüren wollen. Schon in einem seiner frühesten bekannten Gemälde, dem auf 1502 datierten, in der Körperdarstellung wie in der Landschaft ausnehmend expressiven Tafelbild aus Wien (Kat. 1), widmete Cranach sich dem hl. Hieronymus als Büßer. Der wilde Wald, der den Kirchenvater hier anstelle der historisch geforderten syrischen Wüste umfängt, ist dem Menschen gleichberechtigter ekstatischer Ausdrucksträger und zugleich Hort subtiler Symbolik.3

Die nächste durch Datierung bezeugte Beschäftigung Cranachs mit dem Sujet erfolgte 1509. In diesem Jahr entstand der beruhigte, geradezu idealisiert anmutende Holzschnitt (Kat. 5), der Hieronymus in einer fast schon romantisch zu nennenden Gegend lokalisiert: Unter einem luftigen, solitären Eichenbaum kniet der Heilige am lichten Rand eines windstillen Waldes, nahe einer sprudelnden Quelle und einer kleinen, halb verfallenen Kirche – einem waldigen Paradies ist der Büßer hier zumindest landschaftlich bereits nahe.

Zwischen dieser Druckgrafik und einem erst kürzlich wieder aufgetauchten Hieronymus-Gemälde, das offenbar der Werkstatt Cranachs d. Ä. zuzuweisen ist (Kat. 3),4 sind, der abweichenden Technik ungeachtet, einige frappierende Vergleichspunkte festzustellen: Der Heilige selbst mit dem stark in den Nacken gelegten Haupt und dem „dürerisch“ betonten Oberschenkel, über dem sich das üppig gefältelte Gewand glättet (vgl. Kat. 6) bietet ebenso eine Anknüpfungsmöglichkeit wie die Auffassung der Landschaft mit ihren dürren, nur spärlich belaubten Bäumen. Die stilistische Verhärtung, gleichwohl sie im Falle des Holzschnitts freilich zu einem Teil der Technik zuzuschreiben ist, hat das Gemälde ebenfalls mit der Grafik gemein. Es erscheint vor diesem Hintergrund legitim, als Anreiz zur weiteren wissenschaftlichen Diskussion dieses Bildes die Frage aufzuwerfen, ob es in zeitlicher Nähe zum Holzschnitt von 1509 entstanden sein könnte, vielleicht also noch vor dem angenommenen Beginn der Hieronymus-Serienproduktion datiert. Wäre es dann möglicherweise sogar denkbar, dass dieses Werk gemeinsam mit dem Wiener Bild (Kat. 1) und dem Holzschnitt (Kat. 5) eine Trias „früher“ Solitäre Cranachs zum Thema des büßenden Hieronymus formt? Hier sind die Ergebnisse vertiefender Forschung abzuwarten.

In der Landschaftsauffassung zeigt das Bild jedenfalls eine für die Epoche typische Mischung aus felsigen und waldigen Elementen. Mit einer Felsformation wie der Wüste Siph, die Cranach in anderem malerischen Kontext darstellt, hat diese „Hieronymus-Wüste“ nur wenig gemein (Kat. 30).5 Erhellend ist dagegen ein Vergleich mit dem bereits um 1470 entstandenen Hieronymusbild des Meisters der Heiligen Sippe (Kat. 12). Denn hier offenbart sich der symbolische Ursprung dieser Landschaftsformation: Karge Zweige und üppig belaubte Bäume stehen einander gegenüber wie Buße und Erlösung, der Fels mit der Kirche steht wohl für den vielzitierten Christusfelsen, und im Hintergrund ergänzen Vögel diese natürliche Allegorie.6 In dem Gemälde aus der Cranach-Werkstatt (Kat. 3) gehen vergleichbare Elemente fruchtbarer und unfruchtbarer Natur dagegen in (scheinbar) realistischer Landschaftsschilderung auf.

Als große Zeit der Cranach’schen „Hieronymusse“ werden die Jahre um 1515–1520 angenommen. Zahlreiche Tafelbildchen mit dem büßenden Kirchenvater verließen nun die florierende Werkstatt. Vorbild war, wie so oft zu dieser Zeit, Albrecht Dürer (1471–1528), der sich mit der Thematik vor allem in der Druckgrafik intensiv auseinandergesetzt hatte (Kat. 6, 7, 9, 10). So hallt dessen Kupferstich „Hieronymus unter dem Weidenbaum“ von 1512 in Cranachs Bildformulierung des schreibenden Kirchenvaters im Wald nach Kat. 4), der eine für die Zeit äußerst charakteristische Vermengung mit dem Wissenschaftspatron „Hieronymus im Gehäuse“ darstellt – doch dazu unten mehr.

Klarer erkennbar ist das Vorbild Dürer in einem zweiten, weiter verbreiteten Bildtypus aus der Cranach-Werkstatt,7 der im 16. Jahrhundert äußerst bekannt und beliebt gewesen sein muss. Zahlreiche nahezu identische, wenngleich in der malerischen Qualität durchaus variantenreiche Wiederholungen bezeugen die große Popularität dieser Bilderfindung. Eine Tafel aus Privatbesitz (Kat. 8) gibt die Komposition wieder: Der Heilige mit dem „dürerisch“ gerafften Gewandbausch und dem auffordernd aus dem Bild herausblickenden Löwen ist umgeben von einer Landschaft, die ganz auf (symbolischen) Dualismus zurückgeführt ist. Die Vielfalt des Naturraums, die Dürers Stich (Kat. 6) vorgibt, wird dabei durch prägnante Gegensatzpaare ersetzt: Karger Fels kontrastiert mit üppiger Bewaldung, ein einsamer Bußwinkel mit der fernen Stadt. Diese einfache Lesbarkeit von Cranachs Bilderfindung, die auch ihre Naturdarstellung einschließt, dürfte zu deren Popularität einiges beigetragen haben.

Dass es gerade das Landschaftliche ist, das Cranachs Zeitgenossen an den Hieronymusbildern reizte, bezeugt eine Variante des oben beschriebenen Typus. Die Komposition verlegt den Fokus vom hl. Hieronymus deutlicher auf die ihn umgebende Landschaft (Abb. 1): Ein sumpfiges Wasserloch ist ebenso hinzugefügt wie zwei Bäume, deren einer dem Kruzifix zugewiesen ist, während der andere, instabilere wohl den Kirchenvater meint.8

Auch das Innsbrucker Hieronymus-Bild nimmt vergleichbar den Ausgangspunkt bei Cranachs populärem Serien-Motiv und erweitert dessen Landschaftsausschnitt (Kat. 2, vgl. Kat. 8). In diesem Werk, seiner nicht nur größten und detailreichsten, sondern wohl auch letzten Beschäftigung mit der Thematik des büßenden Hieronymus in der Wildnis, geht Cranach aber deutlich über alle Vorgaben früherer Jahre hinaus: In atmosphärisch dichtem, felsigem Waldwinkel vor niederländisch anmutendem Landschaftsausblick avancieren Tiere und Pflanzen zu geheimen Hauptdarstellern.

NATURBILDER ZWISCHEN EMPIRIE UND SYMBOLIK

Im Detail verblüfft dabei Cranachs Treffsicherheit in der Naturerfassung.9 Die einzelnen Arten sind im Innsbrucker Gemälde botanisch und zoologisch meist gut identifizierbar (vgl. S. 194–195). Mit diesem offensichtlichen Interesse an den charakteristischen Eigenarten von Flora und Fauna, das sich vergleichbar in Naturstudien und Grafiken (Kat. 36, 54–56, 58), aber auch in Gemälden wie dem „Hl. Eustachius“ Kat. 57) zeigt, ist Cranach ein Kind seiner Zeit.10 Denn in der Renaissance erwachte das Interesse für naturkundliche Forschung und Illustration (Kat. 70–76), wovon auch die Kunst nicht unbeeinflusst blieb. Im Rahmen dieser Wechselbeziehung entstanden langsam, zunächst insbesondere in den „dienenden Gattungen“ der Naturstudien und in den sich mehr und mehr ausweitenden Hintergründen religiöser Szenen, die Vorboten freier, empirischer Naturschilderungen und Landschaftsmalereien.

Und doch ist das Innsbrucker Gemälde (Kat. 2) von echtem „Naturalismus“ noch weit entfernt. Sowohl die additiv anmutende Gesamtkomposition als auch die Kombination der Naturdarstellung mit dem religiösen Bildthema des büßenden hl. Hieronymus machen deutlich, dass es Cranach nicht nur um die Natur um ihrer selbst willen gegangen sein kann. Im 16. Jahrhundert standen die Naturwissenschaften erst am Beginn ihres langen Ablösungsprozesses von der Religion. Über Jahrhunderte war schließlich alle Beschäftigung mit der Natur überhaupt nur religiös zu rechtfertigen gewesen. Erforschung der sinnlich wahrnehmbaren Natur war Ergründung ihrer übersinnlichen Ursachen. Diese vormoderne, durch und durch symbolhafte Sichtweise, in der jedes Lebewesen ein Abbild des Schöpfungsgeheimnisses (und zugleich meist auch ein konkretes, religiös-moralisches Sinnbild) war, wirkte mit Kraft in die Frühe Neuzeit hinein. Denn auch nach 1500 war die allegorische Lesart der Natur allgegenwärtig: Noch immer kannte man die christlichen Tierdeutungen des Physiologus und der Bestiarien, die Tier- und Pflanzensymbolik der moraltheologischen Traktate oder die „naturkundliche“ Marien- und Passionsikonographie (vgl. Kat. 37–40, 43–51), und noch immer erfuhr auch Konrad von Megenbergs (1309–1374) mittelalterliche Naturkunde, das „Buch der Natur“ (Kat. 42), neue Auflagen. Hinzu kamen humanistische Impulse wie die sukzessiv erblühende Emblematik sowie die im 16. Jahrhundert wieder modern gewordene Tierfabel (vgl. Kat. 52).

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Abb. 1 Lucas Cranach d. Ä. und Werkstatt, Büßender hl. Hieronymus, um 1515–1518, Malerei auf Lindenholz, Privatbesitz

Das Naturbild Cranachs und seiner Zeitgenossen beiderseits der Alpen bedient also zwei Betrachtungsweisen. Es liegt in einem Spannungsfeld zwischen Empirie und Symbol, Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit, neuem und tradiertem Wissen. Im Innsbrucker Gemälde wird eben dieses Spannungsfeld auf den ersten Blick anschaulich: Auf der einen Seite sind die Lebewesen durchaus detailliert und oft nahezu exakt dargestellt (vgl. S. 194–195). Auf der anderen Seite wird jedoch eine symbolische Ebene unmittelbar augenscheinlich: So finden sich etwa Fabelwesen in diesem doch nur scheinbar realistischen Naturraum, der in der Gesamtschau völlig der Empirie entbehrt. Der additive, ja „künstliche“ Charakter dieses Arrangements von Tieren und Pflanzen ist grundlegend vergleichbar mit den einleitenden Holzschnitten in den spätmittelalterlichen Inkunabeln des genannten „Buchs der Natur“, das Cranach, wie noch zu zeigen sein wird, als Inspiration für sein Innsbrucker Gemälde nutzte.

Bevor aber die Symbolsprache der Tiere und Pflanzen im Einzelnen betrachtet wird,11 stellt sich eine Frage: Was hat der Kirchenvater Hieronymus überhaupt mit der Natur zu tun?

LÖWE, SCHLANGEN, SKORPIONE HIERONYMUS IN DER BUßLANDSCHAFT

Der hl. Hieronymus wurde in der Renaissance in verschiedenen Rollen verehrt und dargestellt:12 Als Philologe, Bibelübersetzer und Kenner der paganen Literatur war er der Patron der Humanisten und der Wissenschaftler, was den Bildtypus „Hieronymus im Gehäuse“ generierte (Abb. 6, 7 & Kat. 9, 10). In der heraldischen Heiligenfigur (Kat. 13, 16) spiegelt sich seine Verehrung als Papstvertrauter, Kirchenvater und Autorität in Glaubensfragen wider. Die Darstellung in der Natur bedient dagegen einen dritten Aspekt: Hieronymus ist Vorbild für monastische Ideale, für das Leben in der Abgeschiedenheit, für Entbehrungen, Askese und Buße. Und mit eben diesen Ideen ist die Naturdarstellung verknüpft, insbesondere die Einsamkeit einer öden, kargen „Wüstenei“.13 Dieser von Viten und Legenden getragene Topos ist es, der die Verbindung von Bußvorbildern wie Hieronymus, aber auch Maria Magdalena, dem König David der Bußpsalmen oder Johannes Baptist mit der Naturdarstellung generierte (vgl. Kat. 29).

Zur Einsiedelei gehören auch wilde, gefährliche Tiere, die zu zahmen Gefährten des Büßers werden. Durch seine Askese kommt der Eremit dem paradiesischen Urzustand vor dem Sündenfall nahe, in dem die Ureltern friedlich mit den Tieren zusammenlebten wie Hieronymus mit seinem Löwen. Die Tierzähmung ist aber auch ein hergebrachtes Symbol für die Zähmung der eigenen sündhaften Natur – so wurde es gedeutet, wenn Hieronymus seinem Löwen den Dorn aus der Pfote zog (vgl. Kat. 19, Abb. auf S. 30, 32f.).14

Der Bezug wilder Tiere auf menschliche Sünden ist auch unabhängig vom Löwen mit Hieronymus verbunden. Im zu Cranachs Zeiten meistzitierten Werk des Kirchenvaters, dem auch volkssprachlich verbreiteten Brief an Eustochium (um 368–419/420),15 bekennt Hieronymus, die Einsiedelei „in der einzigen Gesellschaft von Skorpionen und wilden Tieren“ sei der „Kerker“ für sein „sündiges Fleisch“. „Dieses Leben ist für uns Sterbliche ein Kampfplatz“, sinniert Hieronymus. „Hier müssen wir um die jenseitige Krone ringen. Wer sich zwischen Schlangen und Skorpionen bewegt, bleibt nicht ungefährdet. […] Wir haben den Kampf nicht gegen Fleisch und Blut zu führen, sondern gegen die Mächte und die Gewalten dieser Welt und dieser Finsternis, gegen die bösen Geister in der Luft.“16 Die wilden Tiere sind also für Hieronymus, wiederholt in der weitverbreiteten „Legenda aurea“ oder in den nicht minder populären angeblichen Hieronymusbriefen (Kat. 18–20),17 Sinnbilder von Sünden und moralischen Versuchungen. Im Falle des Kirchenvaters, in dem „das Feuer sündlicher Begier“ tobte, betraf das vor allem die fleischlichen Lüste.

Mit dem Umbruch zum 15. Jahrhundert entwickelte sich aus diesen Vorgaben eine besonders in Italien lebendige Bildtradition des Hieronymus als Büßer in der Landschaft. Umgebung, Tier- und Pflanzenwelt spielen dabei wichtige Rollen. Neben dem attributiven Löwen sowie Kamelen und Esel der gelegentlich gezeigten Karawanenlegende (Kat. 1, 4, vgl. S. 164) stehen zunächst vor allem die genannten „Wüstentiere“, Skorpione und Schlangen, im Fokus (Abb. auf S. 72). Auch Drachen, Leoparden und andere Wesen, die Gefahr versinnbildlichen, lassen sich bald im Gefolge des Hieronymus finden. Den Zeitgenossen waren es leicht verständliche Sinnbilder der Sündenbedrohung.

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Abb. 2 Giovanni Bellini, Der lesende hl. Hieronymus, 1505, Malerei auf Holz, National Gallery of Art, Samuel H. Kress Collection, Washington

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Abb. 3 Anonym, König David als Büßer und die Todsünden, 15. Jh., Malerei auf Pergament (Stundenbuch), Bibliotheque nationale de France, Département des Manuscrits, Paris, NAL 215, fol. 122v

DIE BUßLANDSCHAFT ALS TIERGARTEN

Doch dabei bleibt es nicht. Im weiteren Verlauf des 15. Jahrhunderts finden sich zunehmend Tier- und Pflanzensymbole in den Hieronymuslandschaften, die mit der Wüsteneinsiedelei nichts zu tun haben. Die Künstler setzten nun auch die heimischen, aus direkter Anschauung bekannten Arten ins Gefolge des Büßers. Hirsche, Singund Greifvögel, Hasen, Rebhühner, Frösche, Bären und viele andere Wesen, darunter auch exotische Papageien, bevölkern bald die Bußlandschaften besonders der norditalienischen Malerschulen (Abb. 2, Abb. auf S. 74).

Der Grund für diese Ausweitung der Hieronymus-Thematik zu einer breiten natürlichen Allegorie ist die über Jahrhunderte festgefügte Verbindung von Tieren und Pflanzen mit christlich-moralischen Inhalten, im Besonderen mit Tugenden, Lastern oder Sünden (vgl. Kat. 39, 43–51).18 Da der Dualismus von Sünde und Tugend eng mit der Bußidee verbunden ist, lässt sich, vor allem nördlich der Alpen, auch an anderen Stellen der „Bußikonographie“

Vergleichbares beobachten: bei Johannes dem Täufer19 oder, die Symbolhaftigkeit besonders prägnant vor Augen führend, bei König David als Büßer. Schon hier, auf den Startseiten vieler Bußpsalmensektionen im spätmittelalterlichen „Massenmedium Stundenbuch“, findet sich als Sonderlösung die Zusammenstellung mit den Tiersymbolen der sieben Todsünden (Abb. 3, vgl. Kat. 43–49).20 Hier ist vüllig unmissverständlich ausgesprochen, was die Tiere beim Büßer zu bedeuten haben.

Dennoch ist Hieronymus in üppiger Tierlandschaft nördlich der Alpen eher selten anzutreffen. Lediglich Vogelsymbole, die in der einheimischen Malerei einige Tradition hatten, sind auch hier häufig.21

Mit seinem frühen Wiener Hieronymusbild steht Cranach, ebenso wie vor ihm der Meister der Heiligen Sippe, in dieser Tradition (Kat. 1, 12).22 In den übrigen Darstellungen des büßenden Kirchenvaters verzichtet er dagegen auf umfangreiche natürliche Symbolik – mit Ausnahme des Innsbrucker Bildes (Kat. 2).

Dieses Gemälde ist ein echtes Unikum. Ein konkretes oder auch nur allgemeines Vorbild, etwa aus dem Umkreis Dürers, konnte für diesen „Tiergarten“ bislang nicht ausgemacht werden. Ein Zusammenhang scheint einzig mit einem Hans Wechtlin (* um 1480/85)23 zugewiesenen Holzschnitt zu bestehen (Abb. 4). Denn auch hier finden sich, angeregt in diesem Fall wohl von Giovanni Bellini (1435/38–1516, Abb. 2), zahlreiche Tiere in der Bußlandschaft. Über diese allgemeine Vergleichbarkeit hinaus schafft ein seltenes Sondermotiv24 die Verbindung zum Innsbrucker Bild: der saufende Löwe. Da Cranach mit Wechtlin, zu seiner Zeit einer der Vorreiter des Farbholzschnittes (Kat. 38), um 1506 zusammengetroffen sein muss, wäre eine Anregung durchaus denkbar. An enzyklopädischer Breite der Naturdarstellung übertrifft Cranach den Grafiker jedoch bei Weitem.

EIN KIRCHENVATER IM PARADIES

In dieser Naturdarstellung eröffnet sich im Detail eine betont altgläubige Buß- und Rechtfertigungsallegorie: Derjenige, der dem Vorbild des Hieronymus nacheifert, seine Sünden erkennt, bereut und sich in Tugenden übt, wird am Ende seiner Tage die Seligkeit erlangen.25 Die weitgehende Konzentration auf die heimische Tier- und Pflanzenwelt suggeriert dabei eine Vertrautheit, die didaktisch wirksam werden kann. In heimischer Umgebung kann Hieronymus leichter zur Identifikationsfigur, zum Buß- und Frömmigkeitsvorbild jedes einzelnen Betrachters werden.

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Abb. 4 Hans Wechtlin (zug.), Die Buße des hl. Hieronymus, um 1515, Holzschnitt, Privatbesitz

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Abb. 5 Andrea del Castagno, Der hl. Hieronymus mit der Dreifaltigkeit, um 1453, Fresko, Santissima Annunziata, Florenz

Aber auch eine ganz grundsätzliche Aussage wird durch die Erweiterung des Bildthemas zum „Tiergarten“ getroffen: Im Gesamt der Naturdarstellung, der friedvollen Fülle und Mannigfaltigkeit der Arten, ist auf die Schöpfung in ihrem paradiesischen Urzustand verwiesen.26 Seine Askese erlaubt Hieronymus, diesem Ideal nahe zu kommen. Zugleich deutet die paradiesische Natur in der Vorausschau auf seinen Eingang ins Himmelreich als Lohn für das entbehrungsreiche Leben hin. Diese Betrachtungsebene der Bußlandschaft legt nicht zuletzt der Vergleich mit anderen expliziten „Tierbildern“ Cranachs offen, auf denen die Artenvielfalt zweifellos das Paradiesische bezeichnet: die Londoner „Adam und Eva“-Tafel (Abb. auf S. 101),27 die Varianten des „Paradieses“ (Abb. auf S. 202–203) oder – im Profanen – das „Goldene Zeitalter“. Die exakte und detailreiche Darstellung der Arten ist vor diesem Hintergrund auch als Lob der Schöpfung und ihrer Weisheit zu verstehen.

HIERONYMUS UND DIE WEISHEIT DER SCHÖPFUNG

Diese Weisheit der Schöpfung ist es, die einer weiteren Betrachtungsebene des „Hieronymus in der Tierlandschaft“ das Stichwort gibt. Denn die geschaffene Natur wurde, einem dem gesamten Mittelalter geläufigen Topos folgend, auch im 16. Jahrhundert noch als „Buch“ gesehen, in dem der Gottessuchende die Offenbarung „lesen“ kann. Analog zur Bibel galt die Natur als das „zweite Buch Gottes“,28 in dem gerade das einfache Volk, das des Lesens nicht mächtig ist und dem die gelehrte Welt der Bibel notgedrungen fremd bleibt, Gottes Weisheit erleben kann.

Dieses Sinnbild von den „zwei Büchern“ passt besonders gut zum Kirchenvater Hieronymus, der mit der Bibel als Übersetzer aufs Engste verbunden ist. Dass nun gerade dieses sonst fast obligatorische Buch im Innsbrucker Bild fehlt und die Natur, das Buch der Ungelehrten, gewissermaßen an seine Stelle tritt, ist durchaus symptomatisch: Offenbar soll jeder Hinweis auf Hieronymus als Wissenschaftler vermieden werden. Der Büßer hat seine Gelehrsamkeit ganz abgelegt und sich, umgeben vom „Buch der Natur“, der Weisheit des Schöpfergottes vollständig untergeordnet. Sicher nicht ohne Grund finden sich auf der Wiese zu Füßen des Kirchenvaters so viele „Trinitätsblumen“, die in der Dreizahl von Blüten und Blättern auf die Dreifaltigkeit verweisen.29 Die Schöpfung nämlich galt als deren Abbild. Ganz ähnliche Schwerpunkte setzte bereits Jahrzehnte zuvor Andrea del Castagno (1419–1457) mit seinem Trinitätsfresko in Florenz (Abb. 5), wenn er den Büßer unter der Dreifaltigkeit darstellte.30 Während Andrea aber die personale Trinität als Adressaten der Demutsgeste des Hieronymus zeigt, präsentiert Cranach den Trinitätsverweis im „Buch der Natur“.

In den Schriften des Kirchenvaters findet dieser Gestus seine Entsprechung. Mehrfach lehnt Hieronymus in seinen Überlegungen zum 91. Psalm31 die Erforschung der Trinität – also der Schöpfung – ab und weist sie dem Laster Neugier (curiositas) zu: „Ein aus Lehm gebildetes Gefäß läßt sich in Erwägungen über den Schöpfer ein und kann nicht einmal zur Ergründung seiner eigenen Natur gelangen. Voller Neugier sucht es über das Geheimnis der Dreifaltigkeit zu wissen, was selbst die Engel des Himmels nicht zu ergründen vermögen.“ „Ist es nicht besser“, fragt Hieronymus, „demütig seine Unwissenheit einzugestehen, als aus Stolz sich eine Kenntnis anzumaßen? Am Tage des Gerichtes werde ich nicht verdammt werden, weil ich etwa sage: ‚In das Wesen meines Schöpfers bin ich nicht eingedrungen.‘ Wenn ich aber eine verwegene Behauptung aufstelle, dann wird der Vermessenheit ihre Strafe werden, die Unwissenheit jedoch wird Verzeihung erhalten.“ An die Stelle sündigen Forscher- und Erkenntnisdranges setzt er den Glauben: „Ich glaube, was ich nicht verstehe. Und darum bin ich ein Wissender, weil ich mir meiner Unkenntnis bewußt bin.“

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Abb. 6 Antonello da Messina, Hieronymus im Gehäuse, um 1475, Malerei auf Holz, National Gallery, London

Über die angeblichen Hieronymusbriefe (Kat. 20) wurde die Erkenntniskritik des Hieronymus, seine demütige Anerkennung der „gotleichen weisheit, di nymant begreiffen kann“, popularisiert. Statt zu forschen, solle sich der Mensch in Tugenden üben.32

Es ist erstaunlicherweise eben diese gänzlich wissenschaftsfeindliche Haltung, die sich in der „wissenschaftlichen“ Detailgenauigkeit der Naturdarstellung des Innsbrucker Bildes offenbart. Statt, analog zu seiner Tätigkeit als Wissenschaftler am „Buch der Bibel“, die Geheimnisse der Natur erforschen zu wollen, erniedrigt sich der Kirchenvater demütig vor dem „Buch der Natur“. Er erkennt die höhere Weisheit Gottes als undurchdringliches Geheimnis an – nur so kann er dem paradiesischen Urzustand nahekommen.

WAS MACHT DIE NATUR IM STUDIERZIMMER?

Nun hat Cranach innerhalb seiner Beschäftigung mit der Hieronymus-Thematik aber auch an anderer Stelle die „Tierlandschaft“ eingesetzt: bei den Rollenporträts des Kardinals Albrecht von Brandenburg (1490–1545) nicht als Büßer, sondern als Wissenschaftler Hieronymus (Abb. auf S. 110, 111, 115, 116). Besonders im Falle der Darstellungen „im Gehäuse“ (Abb. auf S. 110, 111) ist der heutige Betrachter irritiert. Was macht die Natur im Studierzimmer?

Auch hier gibt es italienische Traditionslinien,33 obwohl kein Italiener, auch nicht Antonello da Messina (um 1430–1479, Abb. 6), so viel Getier ins Gehäuse gebracht hat wie Cranach. Umso dringlicher stellt sich die Frage nach der Ursache. Die Antwort liegt nahe: Grundlegend bezeichnet die Verbindung des „Tiergartens“ des Hieronymus mit seiner Darstellung als Wissenschaftler die Vermengung der beiden in der Renaissance geläufigen Bildtypen: des elitären Philologen und Humanistenpatrons „im Gehäuse“ und des volkstümlichen Bußvorbildes „in der Einöde“. Dies geschieht entweder durch die Verpflanzung des Studierzimmers in die Bußlandschaft (vgl. Kat. 4, 7) oder aber durch das Eindringen der Bußlandschaft ins Studierzimmer.

Durch diese bildliche Allianz war es möglich, im Detail eine symbolische zweite Sprachebene einzuführen, aber auch, die beiden scheinbar konträren Eigenschaften des Hieronymus zu vereinen. Hieronymus ist zugleich Büßer und Wissenschaftler, gelehrter Frommer und frommer Gelehrter. Er hat sich als Wissenschaftler verdient gemacht, jedoch zum Nutzen der Religion und immer im demütigen Wissen um die höhere Weisheit Gottes. Durch diese Haltung kann der Kirchenvater, darauf deutet die Natur ebenfalls hin, auch als Gelehrter dem paradiesischen Urzustand nahekommen.

CRANACH, HIERONYMUS UND DIE CHRISTLICHE WISSENSCHAFT

Die Bußlandschaft im Studierzimmer bot also die Möglichkeit, den Wissenschaftspatron Hieronymus zu „entweltlichen“, seine Gelehrsamkeit auch bildlich im christlich-religiösen Sinne zu „korrigieren“. Dies hatte seine Notwendigkeit, denn der Philologe und Bibelübersetzer war im Humanismus zum Kronzeugen der Zulässigkeit und theologischen Nützlichkeit weltlicher Wissenschaft erklärt worden: „Die Humanisten werden nicht müde, sich auf den ‚göttlichen Hieronymus‘ zu berufen, wenn sie der Kirche und bigottem Kleinmut gegenüber ihre weltlichen Studien zu verteidigen haben.“34 Bilder des Gelehrten im Gehäuse hätten vor diesem Hintergrund leicht auf den Weltwissenschaftler Hieronymus bezogen werden können. Sie waren also im christlichen Sinne kommentarbedürftig, wenn sie nicht in den Ruch geraten sollten, der Hybris der weltlichen Wissenschaften zu huldigen. In diesem Sinne sind zahlreiche bildliche Zusätze bei „Hieronymus im Gehäuse“ zu werten.

Am geläufigsten ist diesbezüglich der Verweis auf die Vergänglichkeit. Schon Jan van Eycks (um 1390–1441) einflussreiche Bilderfindung35 zeigt den Kirchenvater im Gehäuse in betont melancholischer Haltung vor einem Stundenglas. Dürer stellte seinen Gehäusestich (Abb. auf S. 24, vgl. Kat. 9) in ganz ähnlichem Sinne mit der rätselhaften „Melencolia I“ zusammen. Einflussreich wurde auch sein 1521 in Antwerpen geschaffenes Gemälde,36 in dem er Hieronymus zwischen Totenschädel und Kruzifix zu einer regelrechten Vanitas-Allegorie verwandelt. In den Niederlanden wurde Dürers Vorgabe weitergetragen, symptomatisch in einer ganzen Reihe an Gemälden des Marinus van Reymerswaele (um 1490–1546/57). Im Amsterdamer Bild (Abb. 7) ist Hieronymus von der Askese gezeichnet und hat den Kardinalshut demütig abgelegt. Die Bücher seiner Studien sind verschlossen, die Papiere mit seinen Aufzeichnungen unordentlich eingerollt. Das Studierzimmer ist ganz zu einer frommen Zelle geworden, in der Totenschädel, erloschene Kerze und die prominente Weltgerichts-Miniatur im aufgeschlagenen Buch auf die Nichtigkeit der weltlichen Studien und auf die Herrschaft Gottes verweisen. Hier wird eine Aussage getroffen, die auch den vernunftkritischen Tendenzen der Epoche Rechnung trägt.37

Grundsätzlich schlägt die Kombination des Wissenschaftlers Hieronymus mit den Elementen der Bußlandschaft, die bei Cranachs Albrecht-Rollenporträts so üppig ausgeprägt ist, in dieselbe Kerbe einer christlichen Korrektur des Wissenschaftspatrons. Doch wird dabei, wie übrigens in katholischen Kreisen favorisiert, ein positiveres Bild der menschlichen Gelehrsamkeit gezeichnet. Nicht so sehr die Eitelkeit der menschlichen Vernunft steht hier, gleichwohl angedeutet, im Fokus. Vielmehr ist es die Schöpfungsweisheit als ihr Vor- und Spiegelbild, die mit der Natur dieses Studierzimmer einnimmt – hier dürfte auch der Grund dafür zu suchen sein, dass sich in Gehäusedarstellungen, wie Friedman feststellt, keine gefährlichen „Wüstentiere“ finden lassen.38

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Abb. 7 Marinus van Reymerswaele (zug.), Hieronymus im Gehäuse, um 1535/45, Malerei auf Holz, Bonnefantenmuseum, Maastricht (Leihgabe des Rijksmuseum Amsterdam)

Die intendierte Wechselwirkung der Natur im Gehäuse mit der Bußlandschaft macht eine Rangordnung klar: Die menschliche Wissenschaft ordnet sich der göttlichen Weisheit, ihrem Vorbild, demütig unter. Hieronymus (oder Albrecht) im Gehäuse wird so zum Ideal des christlichen Wissenschaftlers, in dem sich weltliche Klugheit mit religiöser Demut vereint.

Dafür verehrt den Kirchenvater auch Erasmus von Rotterdam (1465/1466–1536), Albrechts „Lieblingshumanist“. Ersterer war übrigens von Dürer ebenfalls im Typus des Wissenschaftlers Hieronymus dargestellt worden, wobei eine Vase mit Maiglöckchen, Veilchen und Ehrenpreis auf die Demut und die höhere Schöpfungsmacht der Dreifaltigkeit hinweist (Abb. 8). Eine im Kern vergleichbare Bildaussage mag es gewesen sein, die Albrecht bei der Beauftragung der Rollenporträts mit Natursymbolik vorschwebte. Und vielleicht hatte der Kardinal dabei auch im Hinterkopf, aus welchem im Reformationszeitalter wieder tagesaktuellen Grund Hieronymus selbst die Vereinigung von Bildung und Frömmigkeit eingefordert hatte: „Heiligkeit ohne Bildung nützt nur ihrem Träger. Soviel sie auf der einen Seite durch das Verdienst eines tugendhaften Lebens an der Kirche Christi aufbauen kann, ebensoviel zerstört sie auf der anderen Seite, wenn sie die Gegner nicht zu widerlegen vermag.“39

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Abb. 8 Albrecht Dürer, Porträt des Erasmus von Rotterdam, 1526, Kupferstich, Rijksmuseum Amsterdam

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1     Friedländer, Max J./Rosenberg, Jakob: Die Gemälde von Lucas Cranach, Basel–Stuttgart 1979, Nr. 169. – Resenberg, Laura: Neueste Erkenntnisse über das Holztafelgemälde „Hl. Hieronymus“ von Lucas Cranach d. Ä., um 1525, in: Tiroler Landesmuseen-Betriebsgesellschaft m.b.H. (Hg.): Wissenschaftliches Jahrbuch der Tiroler Landesmuseen 2014 (= Wissenschaftliches Jahrbuch des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum 7), Innsbruck 2014, S. 218–239, mit Identifikation der Tiere und Pflanzen. – Weitere Lit.: vgl. http://lucascranach.org/ AT_TLFI_Gem116 (Zugriff: 14.8.2017) und Einzeldarstellung zu Werk-Nr. CC-CMS-180-006 auf www.cranach.net (Zugriff: 6.8.2017).

2     Zur Naturdarstellung bei Cranach vgl. Campbell, Caroline (Hg.): Temptation in Eden. Lucas Cranach’s Adam and Eve, Katalog The Courtauld Institute of Art Gallery 2007, London 2007 und Stadlober, Margit: Der Wald in der Malerei und der Graphik des Donaustils, Wien 2006.

3     Vgl. dazu im vorliegenden Band Helena Pereñas Beitrag sowie Gábor Endrődis Beitrag.

4     Als „Cranach d. Ä.“ am 12.11.1918 bei Rudolph Lepke, Berlin, Lot 57. – Am 31.10.1934 bezeugt bei Scheidwimmer, München, mit Hinweis „wahrscheinlich Werkstattbild“. – Am 29./30.7.2016 beim Kunstauktionshaus Schlosser, Bamberg, Lot 60, als „Werkstatt Cranach d. Ä.“. – Seither Privatsammlung. – Erstmals als Leihgabe aus Privatbesitz ausgestellt auf der Schau „Cranach From All Sides“, 22.6.2016–22.1.2017 in der Nationalgalerie Prag–Sternberg Palais, jedoch erst zum Ausstellungsende (Januar 2017) und darum außer Katalog (vgl. Laufzeit der Ausstellung und Auktionstermin Bamberg). Freundliche Auskunft von Olga Kotková, Nationalgalerie Prag. – Zu Werk und Provenienz vgl. Einzeldarstellung zu Werk-Nr. CCCMS-180-015 auf www.cranach.net (Zugriff: 23.10.2017) und Michael Hofbauers Beitrag im vorliegenden Band.

5     Vgl. dazu Helena Pereñas Beitrag im vorliegenden Band.

6     Vgl. dazu Gábor Endrődis Beitrag im vorliegenden Band.

7     Vgl. Heydenreich, Gunnar/Görres, Daniel/Wismer, Beat (Hg.): Lucas Cranach der Ältere. Meister, Marke, Moderne, Katalog Museum Kunstpalast Düsseldorf 2017, München 2017, S. 280f.

8     Vgl. dazu den Beitrag „Cranachs Innsbrucker Hieronymusbild: Die Sprache der Natur“ der Autorin im vorliegenden Band.

9     Vgl. Christoph Scheurls (1481–1542) Lobrede auf Cranach, 1508, übersetzt bei Schuchardt, Christian: Lucas Cranach des Aeltern Leben und Werke, Bd. 1, Leipzig 1851, S. 27–35.

10   Vgl. dazu im vorliegenden Band Nils Büttners Beitrag sowie Dominic Olarius Beitrag.

11   Vgl. dazu den Beitrag „Cranachs Innsbrucker Hieronymusbild: Die Sprache der Natur“ der Autorin im vorliegenden Band.

12   Vgl. dazu Christian Hechts Beitrag im vorliegenden Band. – Zum Sonderthema „Hieronymus mit Tieren“ grundlegend Friedmann, Herbert: A bestiary for Saint Jerome. Animal symbolism in European religious art, Washington 1980. – Zu Verehrung und Darstellung des Hieronymus vgl. Strümpell, Anna: Hieronymus im Gehäuse; in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 2, 1925/26, S. 173–252. – Klapper, Joseph: Aus der Frühzeit des Humanismus. Dichtungen zu Ehren des heiligen Hieronymus, in: Boehlich Ernst/Heckel, Hans (Hg.): Bausteine. Festschrift für Max Koch, Breslau 1926, S. 255–281. – Jungblut, Renate: Hieronymus. Darstellung und Verehrung eines Kirchenvaters, Bamberg 1967. – Meiss, Millard: Scholarship and penitence in the early Renaissance. The image of St. Jerome, in: Pantheon 32, 1974, S. 134–140. – Bauer, Erika: Heinrich Hallers Übersetzung der „Hieronymus-Briefe“, Heidelberg 1984, S. 13*–32*. – Ridderbos, Bernhard: Saint and symbol. Images of Saint Jerome in early Italian art, Groningen 1984. – Rice, Eugene F.: Saint Jerome in the Renaissance, Baltimore–London 1985. – Wiebel, Christiane: Askese und Endlichkeitsdemut in der italienischen Renaissance. Ikonologische Studien zum Bild des heiligen Hieronymus, Weinheim 1988. – Hamm, Berndt: Hieronymus-Begeisterung und Augustinismus vor der Reformation. Beobachtungen zur Beziehung zwischen Humanismus und Frömmigkeitstheologie (am Beispiel Nürnbergs), in: Hagen, Kenneth (Hg.): Augustine, the harvest and theology (1300–1650), Leiden 1990, S. 127–235. – Lössl, Josef: Konfessionelle Theologie und humanistisches Erbe. Zur Hieronymusbriefedition des Petrus Canisius, in: Berndt, Rainer (Hg.): Petrus Canisius SJ (1521–1597). Humanist und Europäer, Berlin 2000, S. 121–153. – Lössl, Josef: Hieronymus – ein Kirchenvater?, in: Arnold, Johannes/Berndt, Rainer/Stammberger, Ralf M. W. (Hg.): Väter der Kirche. Ekklesiales Denken von den Anfängen bis in die Neuzeit, Paderborn–München–Wien–Zürich 2004, S. 431–464.

13   Vgl. dazu Helena Pereñas Beitrag im vorliegenden Band.

14   Rice: Jerome (wie Anm. 12), S. 39f.

15   Etwa Hieronymus: Ein epistel oder sandbrieff Sand Jeronimi zu der heyligen iunckfrawen Eustochium von dem lobe der iunckfrawschafft, o. O. [Nürnberg] um 1493.

16   Hieronymus: An Eustochium, in: Des heiligen Kirchenvaters Eusebius Hieronymus ausgewählte Briefe (Bibliothek der Kirchenväter, 2. Reihe, 16), Kempten–München 1936, S. 58–118, S. 69, 63.

17   „Ob ich nun gleich ein Geselle war der Scorpionen und ein Genosse der wilden Tiere, so war ich im Geiste doch oft in dem Reigen schöner Jungfrauen, und in dem kalten Leib und in dem halbtoten Fleisch tobte noch das Feuer sündlicher Begier. Also weinte ich alle Zeit und zähmte das widerspenstige Fleisch durch wochenlanges Fasten. Ich weinete oft Tag und Nacht und ließ nicht eher ab, die Brust zu schlagen, bis mir von Gott Ruhe ward verliehen.“ Voragine, Jacobus de: Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine. Aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz, Gerlingen 1997, S. 758. – Vgl. Eusebiusbrief, zit. n. Bauer: Hieronymus-Briefe (wie Anm. 12), S. 10.

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