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Klaus Merz

Der Argentinier

Novelle

Mit drei Pinselzeichnungen von Heinz Egger und einem Beitrag von Beatrice von Matt

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Im Lauf seiner schlimmsten Nacht auf hoher See biss Grossvater ins Bild seiner Liebsten, die er in Europa zurückgelassen hatte, und erfuhr Linderung dadurch. Amelie hatte am Tag seiner Abreise versteinert am Gleis gestanden, als er im Frühzug an ihrem Elternhaus vorbeigedonnert war und sein Taschentuch im Wind hatte flattern lassen. Am Morgen nach der stürmischen Nacht an Deck der alten Virginia kroch er auf allen Vieren vor bis zur Reling, das Meer lag da, als ob nichts gewesen wäre, er übergab sich ein weiteres Mal und atmete durch.

Die Überfahrt auf dem Frachter hatte ihn schnell gelehrt, geschehen zu lassen, was geschah: Wind, Wetter, die Launen des Kapitäns, das Fluchen der Heizer. Die eisernen Magenkrämpfe bei stürmischer See. Er schmeckte Rost im Mund und liess es sich nicht anmerken. Ein Matrose verlor beim Vertäuen der losgerissenen Fracht zwei Finger der rechten Hand. Drei Wale folgten dem Schiff, drei Fontänen.

Als er nach Wochen in Buenos Aires an Land ging, wankte der Boden unter seinen Füssen noch tagelang. Der Matrose mit der bösen Hand wurde fiebernd von Bord getragen. Grossvater trug seine kleine Erbschaft in einen Stoffbeutel genäht nah am Körper. Amelie aber war unkenntlich geworden auf der Fotografie: Ich habe deine Bisse gespürt bis ins Herz, jeden einzelnen, schrieb sie ihm in einem Brief, der die Neue Welt nie erreichen sollte.

Im selben Briefumschlag hatte auch ein neues Bild von Amelie gesteckt, das sie in Ermangelung einer aktuellen Fotografie aus einem Gruppenbild ihrer Konfirmation herausgeschnitten hatte. Da sie am Rand der kleinen Schar stand, musste sie mit dem scharfen Rasiermesser, das Vater in der Küche zurückgelassen hatte, niemanden ernstlich verletzen. Ein neues Bild wäre ihr zwar lieber gewesen, aber dieser Brief eilte, und das Fotografieren war teuer. Immerhin hatte sie zur Konfirmation ihre Zöpfe schon abgeschnitten, und sehr viel älter war ihr Gesicht in den vergangenen vier Jahren nicht geworden, das hatte sie im Toilettenspiegel genau überprüft, die Lippen auf dem Bild mit einem zungenfeuchten Farbstift leicht rot koloriert.

Zwei Jahre später wendete Grossvater sein Pferd und kehrte aus den Pampas nach Buenos Aires zurück. Er verkaufte seinen Sattel, die Sporen, Bola und Zaumzeug an einen Neuankömmling aus Niederösterreich. Das lange Messer, das zu jedem Gaucho gehört, brachte er in Zeitungspapier eingewickelt im Reisegepäck mit nach Hause. Es verschwand später in Grossmutters Besteckschublade. Auf der Titelseite des zerknitterten Blattes, das der Heimkehrer mit der flachen Hand glattstrich, war das Bild eines strahlenden Paares zu sehen, Juan Domingo Perón in Uniform mit seiner jungen Frau Eva. Sie standen da wie im Film.

Wir hatten zum ersten Mal seit Schulaustritt wieder zusammengefunden, doppelt so alt jetzt. Der Klassenerste trug bereits eingearbeitetes Haar. Lenas Grossvater war uns allen vom Sehen her noch gut in Erinnerung, ein stiller Mann mit Hut, der in den grossen Pausen, während die Klassenzimmer gelüftet wurden, im Schulhof gemächlich auf- und abschritt. Ab und zu kickte er seinen Oberschülern einen verlorenen Ball zu, trennte zwei erhitzte Raufbolde voneinander, half einem schweren Schüler aufs Reck oder sprach, wenn es sein musste, ein ernstes Wort und gesellte sich wieder den beiden wartenden Kolleginnen der Unter- und Mittelstufe zu. Sie setzten zusammen ihren Spaziergang fort. – Grossvater sei vorige Woche begraben worden, sagte Lena, ihr erster Toter, wir waren noch jung.

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Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, unmittelbar nach Abschluss seiner Primarlehrerausbildung und der anschliessenden Rekrutenschule auf einem Waffenplatz der unerschütterlichen Schweizer Armee, sei Grossvater von South­ampton aus Richtung Südamerika abgedampft, um ein Gaucho zu werden. Um wegzukommen aus der alten, auf Grund gelaufenen Welt. Auf der Suche nach einem neuen, menschlicheren Stück Erde. – Das Steak unter dem eigenen Pferdesattel gar zu reiten, sagte Lena, hätte ihn als Lebensvorstellung mehr angezogen als die abgewetzten Hosenböden seiner Professoren, wenngleich er seinerseits stets ein leidenschaftlicher Leser geblieben war.

Die Berichte von und über Fridtjof Nansen, der das Grönlandeis durchquerte, mit seiner „Fram“ drei Jahre lang im Nordpolarmeer driftete und für seine Arbeit als Hochkommissar des Völkerbundes schliesslich den Friedensnobelpreis erhielt, sowie die kühnen Abenteuer von Roald Amundsen hatte der junge Mann schon als Schüler eingesaugt, wie frische Luft. Auch wenn ihm Amundsen, der die antarktische Nacht bezwungen und im Zweikampf mit Robert Falcon Scott am Südpol obsiegt hatte, als Mensch nie geheuer war. Scotts Tagebücher vom Ringen und Sterben im ewigen Schnee waren ihm hingegen wie glühendes Eisen unter die Haut gefahren. Und Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ geleitete ihn in sein eigenes Schattenreich hinab. Gleichzeitig war Grossvater aber auch von den Gedanken und Abenteuern, der beispiellosen Hingabe eines Johann Heinrich Pestalozzi angetan, der in Stans die Waisenkinder gelehrt und später die Volksschule begründet hatte.

Zurückgekehrt in die Schweiz entschied sich Grossvater dann für den langen Rest seines beruflichen Alltags zum Dienst an der kleinen Dorfschule. Vermutlich war auch die Sehnsucht nach Amelie, die im Lauf der Zeit wieder erwacht war, zu stark geworden. Oder es lag an diesem Heimweh, das die Schweizer in fernen Ländern, wie gerne behauptet wird, stets überfalle.

Einmal war Grossvater ausserhalb von Santa Fe auf ein ganzes Dorf von schweizstämmigen Argentiniern getroffen und wie ein Messias empfangen worden, da er, wie sich rasch herausstellte, seine Oberwalliser Wurzeln mit den Siedlern teilte. „Chumm inna!“, sagten sie. – Bleiben hätte er aber dort auch nicht können. Zu eng in der Weite sei ihm dieses Dorfleben vorgekommen. Lena hielt mit dem Erzählen inne und schaute einen Augenblick lang in unsere Gesichter hinein, als suchte sie darin nach Spuren von Gold.

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Damals in Argentinien, habe Grossvater einmal erklärt, sei er ja nur wegen eines hartnäckigen Heuschnupfens, er reagierte allergisch auf ein bestimmtes Gras, nicht zum waschechten Gaucho, sondern lediglich zu einem halbwegs akzeptablen Tangotänzer geworden, der den Viehtreiber in ihm wohl etwas zu rasch zum Erliegen gebracht hätte. Und diese neue Formation wiederum, wenn man dem so sagen könne, sei auch nur durch das beinahe somnambule Hinauszögern seiner anstehenden Heimreise überhaupt möglich geworden: Den Heuschnupfen hätte man vielleicht heilen können, dem Tango sei medizinisch nicht beizukommen gewesen.

Wohin es uns nach dem Schulaustritt denn verschlagen habe, wollte Lena jetzt in einem Atemzug von mir und den paar Kameradinnen wissen, die nach der grossen Begrüssungsrunde wieder zu uns gestossen und teils von weiter her angereist waren. Wir standen, hübsch zurechtgemacht, zusammen im Kreis. Australien wurde als Aufenthaltsort genannt, Paris, London, New York, Südafrika, auch die Karibik blieb als Feriendestination nicht unerwähnt. Viele aus unserer Primarschulklasse waren aber stets in der Nähe geblieben, allein oder in wechselnden Beziehungen, zwei zeigten Bilder der eigenen Kinder. Das älteste der Kleinen war schon zehn Jahre, das jüngste erst zwei Monate alt. Es bildeten sich neue Interessengruppen.

Lena und ich blieben zusammen neben dem verhüllten Klavier stehen. Auf dem Sportplatz, der in einiger Entfernung an den Garten des Hotels stiess, war ein Fussballspiel im Gang. Wir sahen den herumrennenden Spielern in ihren grünen und roten Trikots und der kleinen Schar heftig mitfiebernder Zuschauer durchs grosse Saalfenster zu. Es war wie zwanzig Jahre zuvor, gab immer wieder Verletzte. Der Schiedsrichter hielt die gelbe Karte in die Höhe und ein Pfleger, es war tatsächlich der unverwüstliche Lehmann, rannte mit seinem blauen Wasserkessel übers Feld, um den Gefoulten einen nasskalten Schwamm auf die schmerzende Stelle zu drücken. Die startbereiten Hilfspfleger, die Tragbahre zur Hand, kamen gar nie zum Einsatz, denn schnell wurde weitergespielt.

Ich bat Lena, noch mehr von ihrem Grossvater zu erzählen. Ich selber hatte meine Grosseltern kaum kennengelernt, nur in den Märchen waren sie zuweilen vorgekommen, da frass sie der Wolf. Wir traten zu einem der kleinen runden Tische, an dem für vier Leute aufgedeckt war, und setzten uns. Nach dem Essen sollte man „rotieren“, damit alle mit allen ins Gespräch kämen. Patrick hatte sich das so ausgedacht, er war der Regisseur des Abends. Zu unserer Linken hing eine farbige Luftaufnahme des renovierten Landgasthofes an der Wand, vom anliegenden Fussballplatz allerdings keine Spur. Drei Tulpen aus Amsterdam standen auf jedem Tischchen, die unseren waren weiss.

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