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Doris Gercke

Milenas Verlangen

Es regnete und roch nach Hund. Während Jean Beringer in den Taschen seines Trenchcoats nach dem Haustürschlüssel suchte, sah er dem Taxi nach, dessen Rücklicht das einzig Lebendige in der nassen Finsternis war, bis der Fahrer um die Ecke bog und die Lichter nicht mehr zu sehen waren. Da hatte er auch den Schlüssel gefunden und schloss die Haustür auf. Die Luft drinnen roch, als sei seit mindestens sechs Wochen niemand im Haus gewesen. Er brauchte eine Weile, um sich klar zu machen, dass dieser Niemand er selbst war.

Er hängte den Mantel so über die Garderobenhaken, dass er trocknen konnte, ohne allzu sehr zu verknittern. Dann stellte er die Reisetasche auf die unterste Treppenstufe, ging über den kurzen Hausflur und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Das alles tat er, ohne eine Lampe anzumachen. Für das Wohnzimmer aber reichte das Licht der Straßenlaterne nicht mehr aus. Also knipste er die Deckenbeleuchtung an und sah, was er erwartet hatte: das Wohnzimmer eines kleinen Reihenhauses, möbliert mit Möbeln, die ihm nicht vertraut waren, an die er sich aber erinnerte; eine schmale Terrassentür, die, auch daran erinnerte er sich, in einen schmalen, verwinkelten Garten führte, an dessen Ende ein wackeliger Schuppen stand. Er befand sich also in dem Reihenhaus, das sich ein früh pensionierter Kripomann, der einen Teil seiner Pension dazu verwendet, seiner geschiedenen Frau ein einigermaßen erträg­liches Leben zu finanzieren, ohne seine stille ­Reserve anzugreifen, gerade noch leisten kann. Was er sah, machte ihn nicht glücklich, aber es beruhigte ihn.

Die Tür zur Küche stand offen. Als er eingezogen war, vor zwei Monaten, hatte er vorgehabt, sie auszuhängen, um so das Wohnzimmer zu vergrößern. Dann war er nicht mehr dazu gekommen, denn die Kur war schneller bewilligt worden, als er gedacht hatte. Im Grunde war die Idee, die Tür auszuhängen, auch nicht seine gewesen. Dem Makler, der ihm das Haus vermittelt hatte, war das eingefallen. Obwohl er wusste, dass es ihm nun besser ging, jedenfalls körperlich, war ihm klar, dass er die Tür jetzt nicht mehr aushängen würde.

Der Kühlschrank war leer. Hunger hatte er nicht, aber er hätte gern etwas zu trinken gehabt. Er setzte Wasser auf und suchte nach Teebeuteln. Es würde sowieso besser sein, Tee zu trinken. Die Ärzte hatten sein Knie so weit repariert, dass er ohne Beschwerden laufen konnte, wenn man davon absah, dass er das rechte Bein dabei nachzog. Er war regelmäßig zum Training gegangen, sodass er für einen Mann von Mitte vierzig gut in Form war, was Arm- und Bauchmuskeln anbetraf. Seinen Magen hatten sie nicht wirklich beruhigen können. Die Anfälle von Magenschmerzen kamen aber nicht mehr so häufig. Dafür war er dankbar, denn sie waren ziemlich unerträglich gewesen. Der Magen lauerte sozusagen im Hintergrund und manchmal schlug er eben immer noch zu. Das waren dann Schläge, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieben und auf die er gern verzichtet hätte.

Mit einem Becher Tee in der Hand ging er zurück ins Wohnzimmer. Er hatte das Haus zusammen mit den Möbeln gemietet, aber noch kaum Gelegenheit gehabt, darüber nachzudenken, ob sie ihm gefielen. Wahrscheinlich würden sie ihm nicht gefallen, wenn er über sie nachdächte, deshalb beschloss er, während er sich auf einem geblümten Sessel niederließ, fortan keine Gedanken mehr an sie zu verschwenden. Im gleichen Moment fiel ihm der Satz ein: Es gibt Wichtigeres zu tun. Dann, nach einer kleinen Pause, begann er zu überlegen, was das wohl sein mochte.

Es gibt immer zwei Möglichkeiten: Entweder man ist am Ende oder am Anfang. Das Schwierige ist mitunter, herauszufinden, wo man sich gerade befindet. Selbstverständlich waren ihm während der Kur psychologische Beratungen angeboten worden. Er hatte aber darauf verzichtet, sie in Anspruch zu nehmen; nicht etwa, weil er etwas gegen Psychologen gehabt hätte. Er wollte einfach lieber selbst versuchen, sich auf die Schliche zu kommen. Seit er aus dem Dienst entlassen worden war, hatte er das Bedürfnis entwickelt, allein zu sein, darin wäre er durch die Gespräche mit einem Psychologen nur gestört worden. Außerdem gab es in der Klinik Leute, die diese Beratungen nötiger hatten als er. Ihm fiel der junge Motorradfahrer ein, dem auf dem Weg zu einem Rendezvous mit seiner Freundin beide Beine abgefahren worden waren. Sie hatten eine Weile zusammen in einem Zimmer gelegen. Der Junge trank, und wenn er betrunken war, versicherte er ein um das andere Mal, er werde sich umbringen, wenn er hier raus wäre. Wenn er nüchtern war, sagte er nie etwas. Beringer überlegte, in welchem Zustand er ihn besser hätte ertragen können. Wahrscheinlich im Betrunkenen. Der Junge trank besonders hemmungslos, wenn er von den Sitzungen beim Psycho-Doktor zurückkam, aber er sprach nie darüber, was dort geschehen war. Er redete ausschließlich davon, dass er sich umbringen würde.

Es war ihm unangenehm, an diesen armen Menschen zu denken. Deshalb stand er auf und ging noch einmal in die Küche. Während das Wasser heiß wurde, stand er am Küchentisch und sah auf die Straße. Eine Weile geschah gar nichts. Es fuhren nur noch wenige Autos vorüber. Im Lichtschein der Laterne vor dem Haus konnte er den Regen beobachten, der gleichmäßig und schnurgerade vom Himmel fiel. Unter der nächsten Laterne, etwa dreißig Meter entfernt, stand eine SOS-Notrufsäule. Sie war orange gestrichen. Die Buchstaben SOS leuchteten in Schwarz, falls Schwarz überhaupt leuchten kann. Er hörte, dass hinter ihm das Wasser im Kessel zu brodeln anfing, und wollte sich vom Fenster abwenden, als er beobachtete, wie ein Auto neben der Notrufsäule stoppte. Er hätte nicht sagen können, weshalb er am Fenster stehen blieb, Neugierde, vermutlich. Eine junge Frau sprang aus dem Auto, stellte sich vor die Notrufsäule und starrte sie an.

Sie liest die Gebrauchsanweisung, dachte er. Dann sah er, dass sie entschlossen den Hebel herunterzog und sich vorbeugte, um in das Mikrofon zu sprechen. Sie sprach nur dreißig Sekunden, höchstens. Dann lief sie zurück zum Auto und fuhr schnell weiter. Er wendete sich vom Fenster ab und goss sich noch einen Tee auf. Das da draußen ging ihn nichts mehr an. Mit dem Becher in der Hand schritt er zurück ins Wohnzimmer.

Er hatte schon während der Kur über die Frage „am Ende oder am Anfang“ nachgedacht. Dass er jetzt noch einmal damit begann, geschah lediglich, um zu überprüfen, ob seine Überlegungen auch außerhalb der Klinik Bestand hätten. Sie hatten. Der Weg, den er gehen würde, war klar. Nichts, aber auch gar nichts, würde ihn davon abhalten können, den zu finden, dem er das steife Knie zu verdanken hatte. Er würde ihn finden und unschädlich machen. Es war ihm egal, wie lange er dafür brauchen würde. Er hatte Zeit. Er war am Anfang.

Irgendwann stand er auf, brachte den leeren Becher in die Küche zurück, ging in den Flur, zog den Mantel an und verließ das Haus. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, schon am ersten Abend seinen Posten zu beziehen. Er hatte nur, als er im Taxi daran vorbeifuhr, mit einem gewissen Gefühl der Zufriedenheit auf die blaue Insel in der Dunkelheit gesehen. Aber seit ihm klar geworden war, dass der Entschluss, den Mann zur Strecke zu bringen, für die nächste Zeit sein einziges Ziel sein würde, hatte er das Gefühl, seinem Magen ginge es besser. Er würde eine kleine Portion Alkohol durchaus vertragen können. An diesem Abend betrat er zum ersten Mal die Blaue Lagune.

***

Doris Gercke

Autor Foto

© Foto: Deff Westerkamp

Zur Autorin

Doris Gercke, geboren 1937 in Greifswald, studierte Rechtswissenschaften und lebt als Schriftstellerin in Hamburg. Die preisgekrönte Kult-Autorin schuf die legendäre Ermittlerfigur "Bella Block", die schon seit Jahrzehnten eine große Leserschaft begeistert. Doris Gerckes Krimis locken ein breites Publikum nicht nur vor die Bücher, sondern auch vor die Fernsehbildschirme. In ihren anspruchsvollen und intelligenten Kriminalromanen entführt sie in die verschiedensten Länder der Welt. Für ihr Schaffen wurde die Autorin im Jahr 2000 mit dem Glauser Ehrenpreis ausgezeichnet. "Milenas Verlangen". Kriminalroman (2016 bei HAYMONtb neu aufgelegt) ist Doris Gerckes fulminante Premiere bei Haymon.

Impressum

© 2016

HAYMON verlag

Innsbruck-Wien

www.haymonverlag.at

Originalausgabe: Ullstein, München 2002

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-3688-7

Umschlag- und Buchgestaltung nach Entwürfen von hoeretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Umschlag: Eisele Grafik·Design, München, unter Verwendung einer Bildvorlage von Jan Martin Will/bigstockphoto.com

Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Autorenfoto: Deff Westerkamp

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Inhaltsverzeichnis
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Titel
"Es regnete und roch nach Hund..."
Doris Gercke
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Doris Gercke

Milenas Verlangen

Kriminalroman

Für den Besuch in der Lagune war es, er hätte es sich denken können, aus verschiedenen Gründen zu früh. Er hatte noch keinen konkreten Plan und sein Magen vertrug nicht einmal ein lächerliches Bier. Er saß eine Weile in einer Ecke, sah nach draußen und wartete auf nichts. Dann rebellierte sein Magen, und er sah zu, dass er schnell hinauskam. Eine Kotzerei im Raststätten-Klo wäre vermutlich der Auslöser für eine Drei-Tage-Depression geworden. Er ging nach Hause, das heißt, er ging in diesen Arme-Leute-Reihen-Bungalow, den er bewohnen würde, bis er seine Arbeit erledigt hätte, und legte sich schlafen. Bevor er ins Bett ging, putzte er sich die Zähne und sah dabei sein Gesicht im Spiegel an. Er versuchte, den Polizisten darin wieder zu erkennen, aber das war nicht einfach. Er musste ziemlich lange hinsehen. Trotzdem schlief er nicht schlecht. Vielleicht, weil er wusste, dass er zu tun haben würde, wenn die Nacht vorüber wäre.

Am Morgen war es im Haus kalt und die Möbel sahen noch schäbiger aus als am Abend bei Lampenlicht. Er hatte sie nicht so heruntergekommen in Erinnerung gehabt. Er nahm sich vor, ihnen nicht ähnlich zu werden. Er ging in den Keller. Der Makler hatte behauptet, die Heizung sei überholt worden und der Tank mit Öl gefüllt. Er hatte nicht zu viel gesagt. Die Heizung sprang sofort an. Das bollernde Geräusch, das sie dabei von sich gab, klang wie ein Versprechen nach Wärme und erweckte in ihm eine kleine Unruhe, die ihn erstaunte.

Sieh an, doch noch nicht ganz tot, hätte er denken können, aber das dachte er selbstverständlich damals nicht. Er verließ das Haus, um an der nächsten Ecke beim Bäcker zu frühstücken. Wegen des Magens, der sich ein bisschen wie eine offene Wunde anfühlte, nahm er nur ein Milchbrötchen mit Butter, aber das Brötchen oder der Kaffee bekamen ihm nicht. Er kaufte irgendeine der Zeitungen, die im Laden auslagen, brachte sie aber noch einmal zurück, um sie gegen die Regionalzeitung auszutauschen. Welcher Schützenverein die neue Bank gestiftet und welcher Kaninchenzüchterverein im Bundeswettbewerb den Sieg davongetragen hatte, interessierte ihn zwar nicht. Aber er würde von jetzt an die Regionalzeitung nach Spuren durchsehen. Da er annahm, dass sein Gegner noch hier in der Gegend war, würde er irgendwann auf Spuren stoßen, auch in der Regionalzeitung, davon war er überzeugt.

Auf dem Weg zurück dachte er darüber nach, ob es sich lohnen würde, das Haus wohnlicher zu gestalten. Er wusste nicht, wie lange er in der Gegend bleiben würde. Früher oder später würde er ihn finden. Nur wann, das war völlig offen. Im Keller hatte er einen Blick auf die Kisten und Kartons geworfen, die dort noch unausgepackt herumstanden.

In einer Familie wie der seinen, in der die Männer über Generationen Militärs und Polizisten waren, sammeln sich bestimmte Gegenstände an, die weitergegeben werden wie der verdinglichte Ausdruck der Tradition, in der man sich bewegt. Solche Gegenstände, in Gelehrtenfamilien vielleicht Bücher, in Künstlerfamilien vielleicht Bilder oder Fotos oder Garderobe, gibt man nicht weg, auch nicht, wenn man geschieden wird und der andere Teil nach jedem Wertgegenstand giert.

Er dachte einen Augenblick an den Inhalt der Kisten und beschloss, sie unausgepackt stehen zu lassen bis auf die beiden Porträts, die auch bisher schon in seinem Arbeitszimmer an der Wand gehangen hatten. Wie um nicht zu vergessen, was er sich vorgenommen hatte, ging er nach seiner Rückkehr sofort in den Keller, um die Bilder heraufzuholen.

Im Haus war es inzwischen warm geworden. Er stand mit den Bildern in der Hand im Wohnzimmer, als ihm einfiel, dass er ja frei wäre, die Möbel so hinzustellen, dass ihre Anordnung den Raum einem Arbeitszimmer ähnlich machte. Er schob den Esstisch unter das Fenster neben der Terrassentür und nahm die Tischdecke ab. Einen der Esstischstühle stellte er als Schreibtischstuhl davor und einen links für Besucher daneben. Er schob das Sofa auf den Flur hinaus und stellte den Couchtisch und die beiden Sessel in eine Ecke – die Besprechungsecke. Er holte ein paar leere Einkaufstüten, die er in der Küche fand, packte den Nippes aus der Schrankwand hinein und trug ihn auf das Sofa im Flur. In die leeren Fächer legte er den Stadtplan und ein paar Landkarten und Messtischblätter der Umgebung. Er nahm sämtliche Bilder von der Wand, drehte sie um und untersuchte die Rückseite. Drei von ihnen, erfreulicherweise die größten, eigneten sich als Pinnwand. Die beiden anderen legte er zu dem Nippes im Flur. Die Pinnwand brachte er an der Wand neben der Küchentür an. Die Porträts seines Vaters und seines Großvaters hängte er rechts und links von seinem Schreibtisch auf. Sein Großvater saß auf einem schwarzen, glänzenden Araberhengst. Er trug eine Polizeiuniform, die 1905 für preußische Polizeioffiziere üblich gewesen war. In den Rangabzeichen kannte er sich nicht mehr genau aus, aber man hatte ihm schon als Kind, wenn er voller Bewunderung auf das Bild geschaut hatte, erklärt, so sehe ein Polizeigeneral aus. Deshalb nannte er seinen Großvater bei sich „den General“, obwohl er nicht sicher war, dass der Alte es tatsächlich zum General gebracht hatte.

Sein Vater war in Zivil porträtiert worden. Er wunderte sich ein wenig darüber, wie immer, wenn er das Bild ansah. Er hatte ihn als Kind sehr oft in Uniform gesehen. Jean Beringer erinnerte sich gut an ihn, auch wenn der Vater schon fünfzig gewesen war, als er geboren wurde.

Im Grunde, dachte er, brauchte er die Uniform überhaupt nicht. Sein Vater war der Inbegriff von Korrektheit und Disziplin gewesen, unabhängig davon, wie er gekleidet war.

Er ging in die Küche, um nach Aschenbechern zu suchen, die er auf dem Schreibtisch und auf dem Besprechungstisch zu verteilen gedachte, als es an der Haustür klingelte. Mit den Aschenbechern in der Hand schlängelte er sich an der Couch im Flur vorbei und öffnete die Tür. Er war überrascht, obwohl er es sich hätte denken können: Inge Dellbrück.

Er bat sie herein, sie schlängelten sich nacheinander am Sofa vorbei, er blieb in der Tür zum Arbeitszimmer stehen, sie stellte sich neben ihn.

„Sieht aus, als wenn du hier arbeiten willst“, sagte sie, und obwohl er lieber allein gewesen wäre, war er ihr ein klein wenig dankbar für diese Bemerkung. Er überlegte, ob er sie bitten sollte, Platz zu nehmen. Es würde sich nicht umgehen lassen, abgesehen davon, dass er bei seinen Nachforschungen vielleicht irgendwann auf sie angewiesen sein könnte. Er bat sie, sich auf den Stuhl neben dem Schreibtisch zu setzen. Ein Sessel am Besprechungstisch wäre der Situation vielleicht angemessener gewesen, aber im letzten Augenblick fiel ihm ein, dass er es dort schwerer haben würde, das steife Bein unterzubringen.

Inge Dellbrück war die Kollegin, die am meisten davon profitiert hatte, dass er nicht mehr im Polizeidienst war. Sie mochte ein paar Jahre jünger sein als er, aber nicht jung genug, um ihre Karriere noch vor sich zu haben. Und dort, wohin sie hätte aufsteigen können, hatte er gesessen. Wahrscheinlich war sie ihm dankbar dafür, dass er ausgeschieden war. Vielleicht gab es aber noch einen anderen Grund, weshalb sie sich seinetwegen mehr bemühte, als unter Kollegen üblich. Er hatte nie viel Lust gehabt, darüber nachzudenken.

Sie war verheiratet. Seine Frau und er waren, als sie noch zusammen gewesen waren, manchmal zu den Dellbrücks nach Hause eingeladen worden, das übliche Gartenfest oder ein Essen zwischen Weihnachten und Neujahr. Sie hatten ebenfalls keine Kinder, aber, im Gegensatz zu ihnen, großes Interesse daran, immer nach der neuesten Mode eingerichtet zu sein. Jedenfalls hatte seine Frau das gesagt und es dabei fertig gebracht, in ihrer Stimme sowohl Neid als auch Verachtung mitklingen zu lassen. Dellbrück machte irgendetwas Kaufmännisches, ein rundlicher, jovialer Typ, der gern gut aß, Rotwein trank und regelmäßig nach dem Essen zu Grappa überging. Sicher war er kein Trinker, aber damals, als er, Jean, sich selbst noch in jeder Beziehung für kräftig und gut trainiert und männlich hielt, hatte er nach so einem Abend kurz daran gedacht, was die Kollegin Inge wohl, wenn sie gegangen waren, mit ihrem betäubten Ehemann im Bett anfangen würde. Er hielt es für möglich, dass sie bei irgendeiner Gelegenheit diese Gedanken in seinem Gesicht gelesen hatte. Es waren, da war er sicher, sozusagen neutrale Gedanken gewesen, einfach nur routinemäßige Beobachtungs- und Kombinationsgabe. Sie wurden wahrscheinlich falsch interpretiert. Jedenfalls schien ihm das von Anfang an die einzig sinnvolle Erklärung dafür zu sein, dass sich das Interesse seiner Kollegin an seiner Person über dienst­liche Belange hinaus entwickelt hatte. Trotzdem war er erstaunt, sie nun zu sehen. Er war nicht mehr im Dienst. Die Situation „Zimmer an Zimmer“ war endgültig aufgehoben. Aus den Augen, aus dem Sinn wäre angemessen gewesen, jedenfalls für sein Gefühl. Deshalb fand er es bequemer, nichts zu sagen und darauf zu warten, dass sie erklärte, weshalb sie gekommen wäre. Was sie auch tat.

„Ich hab mich erkundigt“, sagte sie, „gesundheitlich scheinst du wieder in Ordnung zu sein.“ Er schwieg.

„Ich hab mir überlegt, was du jetzt tun wirst.“

Er schwieg und sah sie an.

„Ich bin darauf gekommen“, fuhr sie fort, „du wirst versuchen, den zu finden, der verantwortlich ist für das da.“

Sie wies mit dem Kopf auf sein Bein, das bequem unter dem Tisch lag. Er rührte sich nicht, sodass sie gezwungen war, weiterzureden.

„Das ist Wahnsinn“, sagte sie. „Wenn wir ihn alle zusammen nicht gefunden haben, dann wirst du allein ihn doch erst recht nicht aufspüren können.“

Er fand, dass ihre Stimme einen Unterton bekommen hatte, der das Gegenteil von dem ausdrückte, was ihre Worte sagten. Das schien ihm interessant zu sein, deshalb sah er sie aufmerksamer an als vorher, sagte aber noch immer nichts.

„Jedenfalls meinen das die Kollegen“, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.

Jetzt war es endlich an ihm, etwas zu sagen. Er wollte nicht unhöflich sein.

„Und du?“, fragte er, „was meinst du?“

„Das weißt du ganz genau“, antwortete sie. „Du wirst nicht aufgeben, bis du ihn hast. Ich bin gekommen, um dir meine Hilfe anzubieten.“

Im Grunde hatte er seit ein paar Minuten mit so etwas Ähnlichem gerechnet. Trotzdem wusste er nicht sofort, wie er darauf reagieren sollte. Einerseits wollte er keine Mitwisser, denn er war sich darüber klar, dass er nicht für ein rechtsstaatliches Verfahren garantieren könnte, wenn er am Ziel wäre. Andererseits hatte die Dellbrück Zugriff auf den gesamten Polizeiapparat samt aller angeschlossenen Labors, ohne die heute eine effektive Polizeiarbeit gar nicht mehr denkbar ist. Natürlich konnte man jede Analyse auch auf eigene Kosten vornehmen lassen. Nur würde das vermutlich seine finanziellen Möglichkeiten erheblich übersteigen. Er musste nicht sofort auf ihr Angebot reagieren, aber wenn er die Entscheidung hinauszögerte, würde er sich erneut mit ihr verabreden müssen, wozu er nicht die geringste Lust verspürte.

„Ich würde die Sache gern etwas weniger dramatisch und dafür pragmatischer handhaben“, sagte er schließlich. „Ich weiß nämlich noch nicht, ob ich etwas unternehmen werde.“

Er sah ihrem Gesicht an, dass sie ihm nicht glaubte, aber er ließ sich nicht beeindrucken.

„Wenn ich tatsächlich aktiv werde, dann kann es durchaus sein, dass ich ohne deine Mithilfe klarkomme. Wenn ich dich aber brauche, wie kann ich dich dann erreichen, ohne dass gleich der gesamte Apparat informiert ist?“

Es war nicht ganz das, was sie gern gehört hätte, aber sie gab sich zufrieden. Sie dachte einen Augenblick nach, bevor sie antwortete.

„Wenn es nicht sehr eilig ist, rufst du mich am besten mobil an und wir verabreden uns. Wenn du es eilig hast, kommst du persönlich. Du weißt ja, wo ich zu finden bin.“

Das wusste er, auch wenn er die protzige Villa schon lange nicht mehr aufgesucht hatte. Plötzlich erinnerte er sich daran, was bei ihrem letzten Besuch dort geschehen war. Der wirkliche Grund, weshalb er dafür gesorgt hatte, dass sie ihre Besuche dort einstellten, war seine Eifersucht gewesen.

Natürlich hatten die Dellbrücks einen Pool im Garten, einen ziemlich großen sogar. Sie gaben eines ihrer kleinen Gartenfeste für er wusste nicht wie viele Leute. Die Frauen in leichten Sommerkleidern, alle hübsch und sexy und übermütig, weil der Abend so schön war und der Champagner so gut gekühlt. Irgendwann belustigten sich einige Gäste damit, angezogen in den Pool zu springen, hauptsächlich Frauen, und seine eigene war dabei. Natürlich hatte sie ihr Kleid noch an, als sie aus dem Wasser stieg, aber sie sah trotzdem aus, als sei sie nackt. Und unter dem Kleid war sie es ja auch. Sie sah aus wie eine pralle, nackte Venus, so umwerfend, dass es für eine kleine Weile ganz still wurde um diesen Scheißpool herum. Irgendjemand, kann sein, der Hausherr persönlich, brachte ihr dann ein Badetuch. Das hatte er später in den Müll geworfen, nein, um bei der Wahrheit zu bleiben, nicht später, sondern gleich nachdem sie das Haus verlassen hatten, in einen der Mülleimer, die an der Straße standen. Sie ging vor ihm die Treppe hinauf, als sie nach Hause kamen. Ihr Anblick war das Erregendste, was er jemals gesehen hatte.

Er dachte daran, während er der Dellbrück gegenübersaß, und auch daran, wie die Nacht gewesen war, die dann folgte. Und er registrierte, dass die Erinnerung an den Anblick des Hinterteils seiner inzwischen von ihm geschiedenen Frau auf einem mit dunkel­rotem Velours ausgelegten Treppenaufgang ihn noch immer in eine gewisse Erregung versetzen konnte.

„Ja“, sagte er, „das ist ein praktikabler Vorschlag“, und war froh, dass sie seine Gedanken nicht lesen konnte. Dann wusste er nichts mehr zu sagen, jedenfalls nichts, was den Erwartungen der Dellbrück in irgendeiner Weise entsprochen hätte. Sie saßen sich noch eine Weile schweigend gegenüber, bevor die Dellbrück aufstand und er sie, an dem Sofa im Flur vorbei, zur Haustür brachte. Er bedankte sich bei ihr, während sie sich voneinander verabschiedeten. Wenigstens hoffte er später, dass es so gewesen war, wenn er an die Szene zurückdachte.

Dann ging er spazieren. Die Reihenhäuser lagen am Rand der Stadt, und nach zwanzig Minuten konnte auch ein Krüppel das freie Feld erreichen. Er fand einen Radweg, auf dem niemand unterwegs war. Schon während seines Kuraufenthalts war er kürzere Wege gegangen, aber er hatte sich vorgenommen, sobald er wieder zu Hause wäre, jeden Tag mit einem Fünf-­Kilometer-Fußmarsch zu beginnen. Die Hoffnung, dadurch das rechte Bein wieder beweglich zu machen, bestand nicht, aber wenigstens würde er nicht wegen Bewegungsmangels verfetten. Den Besuch der Kollegin Dellbrück vergaß er beinahe sofort. Er dachte darüber nach, weshalb nachgewachsener Klee heller ist als älterer, und verglich das verrottete Kar­toffellaub mit den Trümmerlandschaften auf Fotos von neunzehnhundertfünfundvierzig. Er war ziemlich stolz auf diesen, wie er fand, gelungenen Vergleich. Unterwegs begegnete er niemandem, außer ein paar ungewöhnlich großen Raubvögeln, die in niedriger Höhe über die Äcker segelten. Eine Weile lief ein kleiner Fuchs vor ihm her, der dann in einem Graben verschwand. Er dachte lange darüber nach, wie das Wort hieß, das Jäger für das Laufen der Füchse benutzen, und war beinahe fröhlich, als es ihm endlich einfiel.

„Sie schnüren, Füchse schnüren“, murmelte er vor sich hin.

Als er seine fünf Kilometer hinter sich gebracht hatte und auf die Uhr sah, war er enttäuscht. Für die Strecke, die ein gesunder Mann in fünfzig Minuten schafft, hatte er anderthalb Stunden gebraucht. Dabei war er, wie er glaubte, schnell gegangen und würde sich, er spürte es deutlich, im Haus erst einmal hinlegen müssen.

Im Halbschlaf, eine Decke über den Knien, den Kopf neben dem Radio, aus dem leise Musik kam, begann er, sich wieder wohl zu fühlen. Er merkte es daran, dass süße Rachefantasien seinen Kopf ausfüllten.

Er musste schon eine Weile geschlafen haben, als er durch die Haustürklingel geweckt wurde. Irgendjemand war anscheinend ungeduldig geworden, denn er nahm seine Finger nicht mehr vom Klingelknopf. Beringer stieß sich den Fuß an dem verdammten Sofa im Flur, als er auf dem Weg zur Tür war. Davor standen zwei Kollegen, ehemalige Kollegen, die ein ernstes Gesicht machten.

„Wir würden dich gern einen Augenblick sprechen“, sagte der eine, während sie eintraten, als habe er sie hereingebeten. Er kannte diese Art, er hatte sie selbst oft genug praktiziert.

***

Damals hätte er gern gewusst, wie sich sein Großvater in seiner Lage verhalten hätte. Oder, noch lieber, einer von dessen Vorfahren. Er nahm an, dass sie mutige Leute gewesen wären. Mutig und starrköpfig. Es gehört schon etwas dazu, wegen seines Glaubens sein Land zu verlassen, noch dazu, wenn man tatsächlich Land besitzt. Zu großem Landbesitz hatten sie es in Preußen nie mehr gebracht. Aber angesehene Ämter und ein kleines Vermögen – das, immerhin, hatten sie bald wieder. Die Hugenotten verstanden es, sich am preußischen Hof unersetzbar zu machen, was wahrscheinlich ziemlich einfach war für intelligente Franzosen. Außerdem waren sie immer so klug, sich auf die konservative Seite zu schlagen. In Preußen und in Deutschland ist man damit jedenfalls nicht auf der Verliererseite. Was das Vermögen betrifft, so hatte diese Taktik allerdings schließlich nichts mehr genützt. Ende der Zwanziger verschwand es im großen Schlund, wie so viele andere. Das Haus blieb übrig und hat sogar später den Krieg heil überstanden. Es gibt in jeder Stadt Gegenden, die bei Auseinandersetzungen kriegerischer Art vom Feind verschont werden. Im Grunde weiß man das, wenn man ein Haus baut. Die Schwierigkeit besteht nur darin, in einer solchen Gegend zugelassen zu werden. Und so eine Zulassung läuft über Geld und Familie. Beides hatte sein Großvater noch, als er das Haus baute. Jean hatte ihn nicht mehr gekannt, aber es kam ihm manchmal trotzdem so vor, als hätte er sich mit ihm unterhalten und könnte das Gespräch jederzeit wieder aufnehmen, wenn er es wollte. Er nahm an, das lag an dem Porträt. Aus einem Grund, den er nicht kannte und bisher vergeblich versucht hatte herauszufinden, waren die Augen darin so gemalt, dass sie den Betrachter in jeder Ecke des Raumes ansehen. Und diese Augen waren, jedenfalls wenn der Maler den Großvater so porträtiert hatte, wie er aussah, und es gab keinen Anlass, daran zu zweifeln, dunkelbraun, beinahe schwarz. Was dieser stolze Mann wohl getan hätte in einem Streit mit seiner Obrigkeit? Es gab natürlich eine Menge Geschichten über ihn, die alle darauf hinausliefen, dass er nicht nur sehr selbstbewusst, sondern auch sehr jähzornig gewesen war. Beringer hatte beides von ihm geerbt, und er fürchtete, damit nicht unbedingt mit den Eigenschaften ausgestattet zu sein, die ihm jetzt weiterhelfen würden. Deshalb trainierte er nun, sein Selbstbewusstsein nicht zur Schau zu tragen und seinen Jähzorn im Zaum zu halten. Der Zeitungsbericht war dabei eine gute Hilfe.

Er hatte während seiner gesamten Laufbahn mit der Presse zu tun gehabt und in dieser Zeit nicht einen einzigen Reporter kennen gelernt, vor dem er bereit gewesen wäre, den Hut zu ziehen. Weil er diese Leute kannte, hätte er gewarnt sein können. Und wäre doch beinahe explodiert, als er den Bericht über Inge Dellbrücks Tod und seine Rolle dabei zu Gesicht bekam.

Er betrachtete seinen Jähzorn eher als ein körperliches Gefühl, weniger als eine geistige Haltung. Seine Haut wurde auf der Oberfläche heiß, der Atem ging schneller, die Bauchmuskeln, die Hände krampften sich zusammen, im Gehirn wurde es weiß, ja, für einen kurzen Augenblick wurde es weiß im Gehirn, anders konnte er es nicht bezeichnen. Das war der Augenblick, in dem er dann bereit dafür war, die Dinge zu tun, mit deren Bereinigung er hinterher eine Menge Zeit vertun konnte. Es kostete ihn sehr viel Kraft, ruhig zu bleiben. Es fiel ihm auch schwer, weil er seine Kur zwar einigermaßen erfolgreich hinter sich gebracht hatte, was das Bein betraf, aber weil sein dickes Fell, wie er es vor der Verletzung gehabt hatte, ihm noch nicht wieder gewachsen war.

Er rief die Redaktion nicht an. Er sagte dem Reporter und dem Fotografen nicht, dass er sie für Abschaum halte. Er warf das Telefon nicht gegen die Wand. Er saß im Sessel und wartete darauf, dass seine Hauttemperatur normal, der Atem ruhig, die Muskeln locker und das Gehirn wieder rosa würden. Als er die Übung beendet hatte, zitterten ihm die Knie, und es war klar, dass er frische Luft brauchte. Als er aus der Haustür trat, sah er, dass ins Nachbarhaus junge Leute einzogen. Ihm war bis dahin gar nicht bewusst gewesen, dass das Haus leer war. Er nutzte die Gelegenheit und fragte sie, ob sie ein Sofa und ein paar Bilder gebrauchen könnten. Sie holten die Sachen so schnell aus dem Flur, als fürchteten sie, er könnte es sich am Ende noch anders überlegen.

Auf dem Weg durch die Felder war er so weit, dass er gelassen über den Zeitungsartikel nachdenken konnte. Wie immer in solchen Fällen stimmte das wenigste. So hatten sie geschrieben, seiner Frau gehöre die alte Villa, sie nutze sie aber nicht, weil sie darin zu sehr an ihr Ehe-Martyrium erinnert werde. In Wirklichkeit hatte sie das Haus haben wollen, aber es nicht bekommen. Die Bank, bei der seine Familie schon immer ihre Konten gehabt hat, war in dieser Angelegenheit außerordentlich großzügig gewesen. Jetzt war das Haus bis unters Dach mit Hypotheken belastet, aber sie würde ihren Hintern nicht vor einem anderen Mann die Treppe hinauf –

Er blieb einen Augenblick stehen, um durchzuatmen. Es war sein Haus. Es war sein Haus. Es war immer noch sein Haus.

Auch von ihr waren natürlich Fotos in dem Artikel gewesen. Sie machte sich gut auf Fotos. Er kannte die Bilder nicht, also nahm er an, dass man sie extra für diesen Artikel fotografiert hätte. Beim Nachdenken über diese Bilder fiel ihm ein, dass es allerdings merkwürdig war, sie nicht mit einem ihrer Sätze wörtlich zitiert zu finden.

„Mein geschiedener Mann ist ein brutaler Liebhaber. Ich spreche aus Erfahrung. Niemand weiß um das Martyrium, das ich an seiner Seite erlebt habe.“

Das hätten sie mit Vergnügen gedruckt, wenn sie es gesagt hätte. Alles in allem brachte es nicht viel, weiter über den Artikel nachzudenken. Er war geschrieben worden, um ihn in ein schlechtes Licht zu rücken. Na gut, damit konnte er leben. Was ihn beunruhigte, war etwas anderes.

Es war heller Tag gewesen, als die Dellbrück ihn aufgesucht hatte. Auch als sie ging, war es draußen hell. Er hatte wenige Minuten nach ihr das Haus verlassen. Er war sicher, dass er sogar hinter ihr die Haustür offen gelassen hatte, weil er das Haus ja ebenfalls gleich verlassen wollte. Er hatte weder im Haus noch auf seinem Weg in die Felder jemanden gesehen oder einen Schuss gehört. Er hätte aber wenigstens einen Schuss hören müssen.

Er ging durch die Felder, bis es anfing zu dämmern. Erst nach einer Stunde oder noch später hatte er den Kopf wieder frei. Ihm fiel ein, dass es wahrscheinlich ein Glück gewesen war, dass sein Arbeitsplan, seine Skizzen und Verbindungsschemata noch nicht an der Wand gehangen hatten, als die Kollegen ihn besuchten. Sonst hätten sie eine Menge Kopien aus Akten gesehen, die er eigentlich nicht hätte haben dürfen. Er hätte sie geradezu mit der Nase auf das gestoßen, womit er sich in den nächsten Monaten oder Jahren zu beschäftigen gedachte. Er war erleichtert und schwor sich, sobald die Pläne angebracht wären, vorsichtiger damit zu sein, wen er ins Haus ließe.

Von einem bestimmten, etwas erhöhten Punkt in den Feldern, genau genommen auf einem Weg, der eine Weile am Waldrand entlangführt, konnte man in der Ferne die Lagune schimmern sehen. Er wunderte sich nicht, dass ihm bei ihrem Anblick der Gedanke kam, er müsse unbedingt etwas trinken.

Er ging am Waldrand entlang und dann auf dem Feldweg zurück. Am Boden lagen dicht beieinander Blätter eines Baumes, den er nicht kannte. In der Nacht musste es einen Sturm gegeben haben, den er nicht bemerkt hatte, obwohl er der Überzeugung war, er habe kaum geschlafen. Nicht nur die herbstlich gelben Blätter lagen am Boden, sondern auch die noch grünen waren in großen Mengen abgerissen worden. Grüne und gelbe Farbflecke bildeten auf dem Boden ein dichtes Muster von ungewöhnlicher Schönheit.

Auf dem Weg zur Lagune kam er an seinem Häuschen vorbei. Es war dunkel, und er hielt einen Augenblick an, um das Licht über der Haustür anzuschalten. Durch die niedrigen Fenster rechts und links neben der Haustür des Nachbarhauses sah er die jungen Leute von nebenan. Sie waren noch immer mit dem Auspacken von Kartons beschäftigt. Das Haus schien voll von Möbeln und Geräten zu sein. Es sah so aus, als liefen sie hin und her, um für die Dinge, die sie auspackten, noch irgendwo einen freien Platz zu finden. Geschützt durch die Dunkelheit, sah er ihnen einen Augenblick zu, bevor er weiterging.

In der Lagune nahm er den Platz am Fenster ein, an dem er auch an den letzten Abenden gesessen hatte. Er saß nie in der Mitte eines Lokals, den Blicken der Leute preisgegeben. Und in der Lagune war er nicht einmal zu seinem Vergnügen. Er war sozusagen beruflich da und deshalb auf Tarnung angewiesen. Er hatte festgestellt, dass sein Platz von außen nicht besonders gut einzusehen war. In der Ecke, in der er saß, war es einfach zu dunkel dafür. Vermutlich sparte der Pächter nachts den Strom, denn das Lokal war nur in der Mitte einigermaßen ausgeleuchtet. Um den großen Raum zu unterteilen, hatte er nicht nur zaunähnliche Gitter um die Tische herum stellen lassen, sondern ihn zusätzlich mit Kübelpflanzen dekoriert. In der Nähe seines Platzes stand ein künstlicher Gummibaum von ungeheuren Ausmaßen, hinter dem er sich vor den Blicken der anderen abgeschirmt fühlte. Während er auf sein Bier wartete und aus dem Fenster sah, dachte er darüber nach, ob ihm so ein Verhalten von den Männern in seiner Familie als feige ausgelegt worden wäre. Er nahm an, dass sein Vater und Großvater sein Verhalten unterschiedlich beurteilt hätten. Aber dann wurde er von diesen völlig sinnlosen Gedanken befreit durch eine Szene, die sich draußen auf dem Parkplatz abspielte.

Eine der Frauen, die im Restaurant als Bedienung arbeiteten, war nach draußen gegangen, um, wie er annahm, ein wenig frische Luft zu schnappen. Im Restaurant war es warm und hinter der Theke, zwischen Mikrowelle und Kaffeemaschine, bestimmt ziemlich unerträglich. Er sah sie ein wenig abseits auf dem Parkplatz stehen und wunderte sich darüber. Um frische Luft zu haben, hätten ja durchaus auch ein paar Schritte vor die Tür gereicht. Dann stellte er an ihrem Gehabe fest, dass sie auf jemanden wartete. Sie ging auf und ab und sah dabei in die Dunkelheit. Wieder wurde ihm der Inselcharakter der Lagune bewusst, der durch die genau abgegrenzten, irisierenden blauen Neonröhren entstand. Dahinter begann schwarze Dunkelheit, nur hin und wieder von den Scheinwerfern eines Autos durchbrochen, das spät abends noch an eine der Zapfsäulen gefahren wurde.

Er hatte die Frau am Abend zuvor mit dem Fahrrad die Lagune verlassen sehen. Unwillkürlich nahm er an, sie wartete auf einen Radfahrer, der sie später nach Hause begleiten würde. Deshalb war er überrascht, als ein Auto in ihre Ecke fuhr und neben ihr anhielt. Es war eins von diesen Pseudodingern, die Landrover Vortäuschen wollen, weil sich ihre Besitzer keinen Landrover leisten können. Der Mann am Steuer stieg nicht gleich aus, sondern blieb an dem heruntergekurbelten Seitenfenster sitzen und tätschelte der Frau, die zu ihm herangetreten war, den Kopf. Natürlich konnte er nicht verstehen, was die beiden miteinander sprachen. Irgendwann bequemte sich der Mann auszusteigen. Beringer merkte an den Gesten der beiden, an ihrer Körperhaltung, dass ihre Unterhaltung heftiger wurde. Plötzlich ließ der Mann die Frau stehen, ging einige Schritte zur Seite, verschwand in der Dunkelheit und aus seinem Gesichtsfeld; allerdings nur für eine Minute. Dann kam er zurück, in den Händen ein Damenfahrrad, das, so vermutete Jean, abgeschlossen war, denn sonst hätte er es wahrscheinlich geschoben. Mit dem Fahrrad in den Händen ging er auf die Hintertür seines Wagens zu. Es sah aus, als wollte er das Rad einladen. Aber er kam nicht einmal dazu, die Autotür aufzumachen. Die Frau rannte auf ihn zu und riss ihm das Rad weg. Er schnappte sich einen der Lenkergriffe, aber er hielt ihn nicht fest genug, sodass er ihm nach kurzer Zeit aus der Hand rutschte. Die Frau hatte das Rad mit dem Vorderrad auf den Boden gesetzt und rannte damit quer über den Platz auf die Tür des Restaurants zu. Der Mann war verblüfft. Er tat zwei oder drei Schritte, blieb stehen und brüllte etwas hinter ihr her. Sie beachtete ihn nicht, sondern schob gleich darauf das Rad mit dem Vorderrad durch das Restaurant und in den Gang, an dem die Toiletten lagen. Er konnte ihr Gesicht sehen, während sie durch das Bistro ging. Sie sah sehr wütend aus, aber sie sprach nicht, schimpfte nicht vor sich hin und blieb auch ruhig, als ihre Kollegin sie gleich darauf auszufragen begann.

Er dachte, dass ihn das Ganze nichts anginge, und sah wieder hinaus auf den Platz. Der Mann war ins Auto gestiegen und hatte gewendet. Er war gerade dabei, rückwärts in der Dunkelheit zu verschwinden. Wenig später sah er das Auto über den Parkplatz schießen, auf die Ausfahrt zurasen und in Richtung Landstraße davonfahren. Er fand das Verhalten des Fahrers merkwürdig, aber er dachte sich nichts dabei.

Er saß da, starrte in sein Bier und spürte sein Knie, dem er mit dem langen Spaziergang zu viel zugemutet hatte. An diesem Abend beschloss er, täglich nicht länger als eine Stunde zu laufen und dafür nicht zwei, sondern drei Stunden in der Lagune zu sitzen und auf den Mann zu warten, der ihn in diese Situation gebracht hatte. Er wusste, dass der hier verkehrt hatte. Eine von den Frauen, die damals hier gearbeitet hatten, soll mit ihm befreundet gewesen sein. Es hatte Vermutungen gegeben, dass die Lagune Drogenumschlagplatz gewesen wäre. Diese Vermutungen hätten nur bestätigt werden können, wenn sie die Gelegenheit gehabt hätten, die Telefongespräche, die dort ankamen und von dort aus geführt wurden, lange genug zu überwachen. Die Genehmigung zur Überwachung hatten sie gehabt. Ihre Techniker waren dabei, sie zu installieren, als sie die Meldung bekamen, der Drahtzieher, die Spinne im Netz der Dealer, sei persönlich aus den USA gekommen, um die bestens funktionierende Vertriebsorganisation zu besichtigen. Es hieß, man wollte nach ihrem Vorbild ähnliche Organisationen in ländlichen Räumen auch in anderen Teilen der Welt aufbauen. Der Kampf um die Märkte in den großen Städten sei auf lange Zeit entschieden. Der Kampf um die Vorherrschaft auf dem flachen Land habe noch nicht einmal begonnen. So hatte ihr Informant berichtet, der, wie er später erfuhr, bald darauf tot und mit ans Geländer genagelter Zunge in einem unbewohnten Bauernhaus in der Nähe gefunden worden war.