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Natalka Sniadanko

Sammlung der Leidenschaften

Roman

Deutsch von Anja Lutter

Kindliche Leidenschaften

Wann man damit anfangen sollte und worauf es nicht ankommt

Tolja war der größte, der dickste und der lockigste Junge in unserer Klasse. Er schämte sich sehr dafür, dass ihm oft das Hemd über seinem Kugelbauch spannte und die Knöpfe seiner Jacke nicht zugingen. Seine Mutter zwang ihn, im Sommer Kniestrümpfe statt Socken unter den Hosen zu tragen, und im Winter lange, von seiner Oma gestrickte Wollstrumpfhosen. Ich fühlte mit ihm, denn meine Mutter zwang mich auch, unter meinem Schulkleid lange Schlüpfer aus grober Wolle zu tragen, die im Volksmund „Reformhosen“ hießen und manchmal unter dem kurzen Rock hervorguckten. Vielleicht bildete ich mir auch nur ein, dass sie hervorguckten; etwas derart Widerliches anziehen zu müssen, konnte einem jedenfalls das Leben vergällen. Ich weiß nicht, was Tolja mit seinen Strumpfhosen machte – ich zog ab etwa der sechsten Klasse meine Unterhosen im Hausflur aus, stopfte sie in den Briefkasten und zerrte sie nach der Schule wieder heraus. Bis meine Mutter einmal früher von der Arbeit kam und meine Reformhosen neben der Zeitschrift ‚Wissenschaft und Leben‘ entdeckte.

Tolja war sehr schüchtern und wurde jedes Mal rot, wenn ihn unsere Mathelehrerin an die Tafel rief. In den Pausen, wenn alle anderen Jungen in den Hof stürzten, um Fußball zu spielen oder Bockspringen zu machen, suchte sich Tolja eine Ecke, in der ihn keiner sah, holte aus einer Geheimtasche seiner Jacke ein dünnes dunkelgrünes Büchlein hervor und verbrachte die ganze Pause mit Lesen, wobei er versuchte, unbemerkt zu bleiben, da solches Verhalten bei unseren Klassenkameraden kaum Billigung gefunden hätte. Für seine Lektüre verzog sich Tolja meistens in die oberste Etage des Schulgebäudes; dort, in einer kleinen Abstellkammer neben dem Physikraum, war es still und einsam, denn die Physiklehrerin, die den Raum unter ihrer Aufsicht hatte, war der Meinung, die Pausen seien nicht dazu da, dass die Schüler durch die Gegend rennen und herumkrakeelen, sondern dazu, dass die Lehrer sich ausruhen und auf die nächste Stunde vorbereiten können. Deshalb wachte sie streng darüber, dass neben ihrem Raum kein Bockspringen veranstaltet, Gummitwist oder gar Pfänderspiele gespielt wurden. Wer in dieser Ecke die Ruhe störte, konnte ziemlichen Stress bekommen, und manche bekamen ihn auch. Einer dieser Ruhestörer musste sich danach sogar in psychologische Behandlung begeben. Deswegen spielen jetzt alle etwas weiter weg vom Physikraum.

In der ersten Klasse konnten Tolja und ich das jedoch nicht wissen, weil wir noch keinen Physikunterricht hatten und auch nicht von einem Raum in den anderen zogen wie die älteren Jahrgänge, sondern den ganzen Unterricht in ein und demselben Raum im „jüngeren“ Trakt absaßen, der dem „älteren“ Flügel gegenüberlag. Aus unserer ganzen Klasse waren Tolja und ich die Einzigen, die Ausflüge in den „älteren“ Flügel unternahmen. Beide hielten wir unter der Schuluniform unsere dünnen dunkelgrünen Büchlein versteckt, und dann stellte sich sogar heraus, dass es sich um zwei identische Bücher mit dem Titel ‚Cosette‘ handelte. Diesen Auszug aus einem Victor-Hugo-Roman erkannte ich dank der Einheitlichkeit der sowjetischen Buchausgaben und der Gleichartigkeit der elterlichen Bücherbestände schon von weitem.

Ich weiß nicht, warum Tolja und ich für unsere heimliche Pausenlektüre gerade dieses Buch ausgewählt hatten. Heute denke ich, dass unsere Wahl wenig mit kindlicher Romantik zu tun hatte; das Buch war einfach das kleinste und leichteste und dementsprechend am besten unter der Schuluniform zu transportieren. Doch damals schien mir diese Übereinstimmung geheimnisvoll und rätselhaft, und ich sah darin eine versteckte Bedeutung.

Tolja war der Erste in unserer Klasse, der lesen konnte, und hatte immer die besten Noten in Schönschrift. Er war keineswegs in allen Fächern der Beste und gab den geisteswissenschaftlichen Disziplinen den klaren Vorzug vor den Naturwissenschaften, doch unsere Mitschüler spotteten trotzdem über ihn, wie oft über „künftige Medaillenträger“ gespottet wird. Die Jungs nahmen ihn nicht einmal mit, wenn sie den Großen beim Fußball zugucken gingen.

Am Ende des ersten Schuljahrs sprach Toljas Mutter mit dem Rektor, und er wurde direkt in die dritte Klasse versetzt, damit er unter seinen Altersgenossen, die um etliches kleiner und zierlicher waren als er, nicht so hervorstach. Den Stoff des übersprungenen Schuljahrs holte er über den Sommer nach. Seine Eltern waren Arbeitskollegen von meinen Eltern und kamen hin und wieder zu uns zu Besuch. Einmal fuhren wir in den Sommerferien sogar gemeinsam in Urlaub. In ein Erholungsheim in der Nähe von Odessa, und zwar, wie es damals in Mode war, mit dem eigenen Auto. Die ganze Fahrt über unternahm Tolja immer wieder Versuche, mein Interesse zu wecken, wollte mit mir Schach und Dame spielen oder sich über Bücher unterhalten. Aber uns beiden war derart schlecht, dass unsere Eltern alle halbe Stunde anhalten mussten. Unsere Mütter zerrten uns der Reihe nach an die frische Luft, wo wir uns unseres Mageninhaltes entledigten. Danach stiegen wir wieder ins Auto und hielten vorsichtshalber unsere Spucktüten umklammert, für den Fall, dass wir nicht rechtzeitig würden anhalten können. Infolge dieser Widrigkeiten gelang es uns nicht, eine gemeinsame Sprache zu finden, und auch die ganzen darauffolgenden Ferien über konnte sich unsere Freundschaft nicht festigen. Zwar versuchte Tolja hin und wieder, mich zum Federballspielen auf dem Gelände des Erholungsheims zu bewegen – seine Familie hatte Schläger ausgeliehen –, doch ich hatte dauernd, und zwar recht bildlich, unsere gemeinsame Autofahrt vor Augen; ich musste daran denken, wie Tolja mir fast meine Shorts besudelt hatte, als er es mit der schon halbvollen Spucktüte in der Hand gerade noch schaffte, aus dem Auto zu springen, und schlug das Angebot aus.

Außerdem missfielen mir die gelb gepunktete Unterhose, die Toljas Mutter ihm anstelle einer Badehose anzog, und Toljas Bauch, der über die gelb gepunktete Hose hing, zutiefst. Obendrein wurde mir, sobald wir die Schwelle des Speisesaals überschritten, Tolja fortwährend als Vorbild hingestellt:

„Sieh mal“, bekam ich von meiner Mutter regelmäßig bei jeder unserer Mahlzeiten zu hören, „Tolja hat schon alles aufgegessen, und du träumst hier über deinem Teller vor dich hin.“

Mit Tolja, der bei dreißig Grad im Schatten mit dem Ausdruck höchster Wonne zwei Portionen kalte Nudeln verschlang, sie mit warmem Brei aus getrockneten Birnen hinunterspülte, dann an den Strand ging und noch vier Portionen Butterbrot drauflegte, das es beim Frühstück zum Tee gegeben hatte, konnte ich natürlich nicht mithalten.

Mit einem Wort, Tolja weckte keinerlei Sympathie bei mir, obgleich es in dem Erholungsheim keine weiteren Kinder in unserem Alter gab.

Selbst wenn ich mich richtig schlimm langweilte, blieb ich standhaft und las, statt zu Tolja zu gehen, in der Zeitschrift ‚Wissenschaft und Lebern‘, die meine Eltern von zu Hause mitgebracht hatten. Weitere Lektüre hatte meine Mutter extra nicht mitgenommen, damit ich mir nicht „die Augen verdarb“. Der Augenarzt hatte geraten, ich solle eine Lesepause einlegen, damit ich keine Brille tragen müsste.

Besonders oft las ich einen Artikel über neue Entdeckungen auf dem Gebiet der Kristallchemie, vielleicht weil er ganz vorn in dem Heft stand, und einmal, als meine Eltern mich wieder einmal nötigen wollten, noch einen Fleischklops zu Mittag zu essen, hielt ich es nicht mehr aus und zitierte: „Der Geokristallchemie als einer neuen Richtung der traditionellen Kristallchemie gebührt oberste Priorität bei der Untersuchung der Mineralentwicklung in den Gesteinsarten verschiedener geologischer Formationen; außerdem spielt sie dank der Erforschung des Isomorphismus sowie des Polymorphismus mit Hilfe röntgenstruktureller, elektronografischer, neutronografischer chemischer sowie einer Reihe physikalischer Methoden unter Berücksichtigung der Energie der Kristallgitter eine wichtige Rolle für die Synthese von Stoffen mit bestimmten gegebenen Eigenschaften. Und ihr haltet euch hier mit solchem Pipifax auf.“ Damit leerte ich siegesbewusst mein Kompottschälchen, und meine Eltern konnten nur noch verblüfft zusehen, wie Tolja seine Portion Fleischklopse mit Perlgraupen verdrückte.

Vielleicht war ein Teil dieses Monologs Tolja zu Ohren gelangt, jedenfalls hat er mich nie mehr aufgefordert, mit ihm und den entliehenen Schlägern eine Partie Federball zu spielen. Meine Eltern hielten die Zeitschrift ‚Wissenschaft und Lebern‘ von nun an vor mir versteckt, doch Appetit auf kalte Nudeln stellte sich bei mir dadurch nicht ein.

Bedauern über meinen jugendlichen Hochmut empfand ich erst einige Jahre später, als mir in der achten Klasse klar wurde, dass ich mich zum ersten Mal verliebt hatte.

Michael Jackson, die Poesie und der „Süße Mai“

Im Grunde fiel der Mai dieses Jahres für die weibliche Hälfte unserer Klasse alles andere als süß aus. Es war eine Art Epidemie ausgebrochen. Meine Klassenkameradinnen bildeten drei Parteien: Die eine war bis zur Besinnungslosigkeit in Michael Jackson verliebt, die zweite in George Michael, und die dritte, die kleinste Gruppe, hatte sich zum Objekt ihrer Leidenschaft den Sänger der damals unionsweit angesagten Popgruppe „Süßer Mai“ erkoren. Welche der drei Parteien am stärksten litt, ist schwer zu sagen.

Die Symptome der Erkrankung waren, unabhängig von der Wahl des konkreten Objekts, immer die gleichen. Ausnahmslos alle, selbst die eifrigsten Streberinnen, trugen den Rock der Schuluniform plötzlich deutlich kürzer, hörten auf, die obligatorischen Bänder im Haar zu tragen (an Werktagen hellblau und an Feiertagen schneeweiß), mopsten ihren Müttern Schuhe mit hohem Absatz und zogen diese, auch wenn sie die falsche Größe hatten und ziemlich unbequem waren, erst nach der Schule und später sogar im Unterricht an.

Die nächste Phase der Krankheit war durch in den unglaublichsten Rosatönen lackierte Fingernägel, dicht getuschte und mitunter auch angeklebte Wimpern sowie fein gezupfte Augenbrauen gekennzeichnet; manche erkühnten sich sogar, Lippenstift in Hellrosa aufzulegen. So sah es in der Schule aus. Nach Schulschluss wurde das Make-up noch um einiges intensiver und ließ mitunter an die Helden von James Fenimore Cooper denken; die Röcke wurden noch einmal stark gekürzt, unter mancher Jacke war überhaupt kein Rock mehr zu sehen; hinzu kamen übermäßige Dosen von Mamas Parfum und die ersten, im Hauseingang gerauchten Zigaretten.

Das letzte und schwerste Stadium der Krankheit brachte Wände, die vollständig mit Postern aus der damals von sämtlichen Vertretern der entsprechenden Altersgruppe abonnierten Zeitschrift ‚Der Altersgenosse‘ bepflastert waren, individuelle Postersammlungen, die aus anderen Heften stammten, sowie noch gravierendere äußerliche Veränderungen der Erkrankten mit sich. Alles Weitere hing von der jeweiligen Ausprägung der Erkrankung ab.

Diejenigen meiner Mitschülerinnen, die eifrig Bilder von Michael Jackson sammelten, färbten sich vorzugsweise die Haare schwarz und ließen sich eine starke Dauerwelle machen. Wer George-Michael-Bilder sammelte, legte weniger Wert auf die Frisur, dafür bemühte man sich in dieser Gruppe darum, dass die eigene Garderobe eine möglichst große Anzahl schwarzer Rollis, Jeans und Jacketts aufwies, die in Kombination mit glatt nach hinten gekämmten Haaren und mehreren Paar Ohrringen getragen wurden.

Die Bewunderinnen von „Süßer Mai“ kümmerten sich insgesamt weniger um ihr Äußeres; einesteils folgten sie darin ihren Idolen nach, zum anderen waren ihre Familien im Vergleich zu denen der Mädchen, die dem „westlichen Pop“ anhingen, materiell schlechter gestellt. Die Anzeichen ihrer Krankheit waren äußerlich weniger deutlich zu bemerken; ein ungeübtes Auge hätte sie sogar für vollkommen normale Jugendliche halten können.

Dieser allgemeinen Verliebtheitsepidemie entging auch ich nicht, allerdings traten die Anzeichen bei mir etwas später auf als bei allen übrigen Mädchen in meiner Klasse und nicht ganz so, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich hatte schon angefangen, mir Sorgen zu machen, ob der Prozess der sexuellen Reifung bei mir wohl richtig vonstattenging – beziehungsweise ob er überhaupt vonstattenging. Deshalb stürzte ich jeden Morgen, wenn ich aufwachte, als Erstes auf die Toilette, wo ich sorgfältig aus der Jugendzeitschrift ‚Der Altersgenosse‘ herausgetrennte Poster von Michael Jackson und George Michael sowie einen kleinen Zeitungsausschnitt mit einem Schwarz-Weiß-Gruppenfoto von „Süßer Mai“ aufgehängt hatte. Dort versuchte ich mir darüber klar zu werden, beim Anblick welches dieser Männer mein Herz schneller schlug.

Da ich mich für meine verzögerte Entwicklung schämte, begann ich den Prozess künstlich zu stimulieren und dachte im Laufe des Tages der Reihe nach gezielt an jeden Einzelnen der Anwärter auf mein Herz. Eine Zeitlang tröstete ich mich damit, dass die Objekte meiner Zuneigung mir erst noch vertrauter werden müssten; dann versuchte ich es damit, die Toilette jeden Morgen zweimal aufzusuchen: einmal vor und einmal nach dem Frühstück, da ich mir dachte, dass die Liebe auf leeren Magen vielleicht langsamer wirkt als auf vollen. Binnen kurzem hatte ich mir einen regelmäßigen Rhythmus eingerichtet – alle halbe Stunde –, doch das führte lediglich dazu, dass meine Mutter sich erkundigte, was mit meinem Magen los sei, und mich zwang, irgendwelche Tabletten einzunehmen. Allerdings schlug mein Herz beim Anblick des Frühstücks ohnehin höher, als wenn mein Blick auf einem der Objekte der heißen Liebe meiner Klassenkameradinnen ruhte.

Die Situation wurde kritisch, als eines Tages in der Schulkantine mein Blick zufällig auf Tolja fiel und ich merkte, dass mein Herz anfing zu rasen, als wäre ich gerade zur Straßenbahn gespurtet, die eben abfahren wollte. Erst traute ich meinen Augen nicht und schaute mir meinen ehemaligen Klassenkameraden, der gerade im Begriff war, die dritte Portion Würstchen mit Kartoffelbrei zu verdrücken, ein wenig genauer an. Doch je gieriger er sich das Sauerkraut in den Mund stopfte, von dem ihm kleine Stückchen am Kinn klebten, desto stärker wurde mein Verlangen, ihm dabei zuzuschauen, ich konnte den Blick nicht abwenden. Dazu muss ich sagen, dass Tolja in der Zeit unseres Heranwachsens beträchtlich an Körpergröße gewonnen, sich ansonsten aber kaum verändert hatte. Er war immer noch der Größte in der Klasse, sein runder Bauch hing immer noch über den Ledergürtel seiner Schuluniform, er lief in jeder Pause in die Kantine und spielte nie mit seinen Mitschülern Fußball. Jetzt trug er, inzwischen ganz offen, ein dickes Buch überall mit sich herum, sogar in der Kantine – ‚Quentin Durward‘ von Walter Scott –, und nutzte jede freie Minute, um zu lesen; selbst die Zeit, in der er darauf wartete, dass ihm das Tablett mit dem dampfenden Kartoffelbrei und den Würstchen gereicht wurde. Es kümmerte ihn nicht, dass seine Tischnachbarn diese Zeit dazu nutzten, einander mit den Ellbogen zu traktieren, um den, der am Rand saß, von der Bank zu schubsen. Immer wenn einer zu Boden ging, erscholl am Tisch lautes, schadenfrohes Gelächter. Tolja mit den Ellbogen zu schubsen trauten sie sich nicht, wohl wegen seines soliden Körperbaus, denn mit ein bisschen Kraftaufwand hätte er sie alle miteinander von der Bank gefegt. Just zu der Zeit las auch ich gerade ‚Quentin Durward‘, allerdings heimlich und zu Hause, denn erstens hatte der Augenarzt mir wieder verboten zu lesen, und zweitens war das Buch zu schwer, um es neben all den Schulbüchern noch mitzuschleppen. Doch diese neuerliche geheimnisvolle Übereinstimmung ließ mein Herz schneller schlagen.

Ich saß in der Falle. Aus dieser Situation würde ich ohne den Verlust meiner Würde nicht wieder herauskommen. Bis jetzt hatte ich mich bloß für meine Rückständigkeit vor meinen Mitschülerinnen geschämt, die sich jeden Morgen besorgt erkundigten: „Nun sag schon endlich, welcher dir gefällt!“ Meine Versuche, mich in eins der allgemein anerkannten Idole zu verlieben, wurden nämlich von der gesamten weiblichen Hälfte unserer 8 a gespannt verfolgt. Ich schlug dann die Augen nieder und musste bekennen: „Keiner.“ Ich war kurz davor, den letzten Rest an Achtung einzubüßen, man fing schon an, mich für zurückgeblieben zu halten. Doch nun wurde alles noch schlimmer. Indem ich Tolja zum Objekt meiner ersten Liebe erwählt hatte, hatte ich mein eigenes Todesurteil unterzeichnet. Mit dieser Wahl konnte ich bei keiner meiner Freundinnen auf Verständnis rechnen – diese Geschmacksverirrung, diese absolute Ignoranz gegenüber dem Wesen männlicher Schönheit, diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Spiel starker Muskeln und dem von einer eng sitzenden Hose umspannten Sinnbild der Männlichkeit in Kombination mit der sanften Erotik eines geschmeidigen Timbres, einer prachtvollen Frisur und zahlreichen Ringen im Ohr. Mit dieser Wahl war meine vollkommene Unfähigkeit in Sachen weiblicher Solidarität endgültig zutage getreten, denn so wie es alle machten, wollte es bei mir nicht klappen.

Mein Erwählter hatte eine Figur, als hätte er dreißig Jahre einen Großbetrieb geleitet, und es war offensichtlich, dass nicht einer seiner Muskeln je mit einem Expander Bekanntschaft gemacht hatte, von Hanteln oder Gewichten gar nicht zu reden.

Während ich mir, wenngleich unter größten Schwierigkeiten, immerhin vorstellen konnte, meiner besten Freundin zu gestehen, dass ich außerstande war, mich in Michael Jackson zu verlieben, so würde ich es doch niemals, nicht einmal unter dem Siegel der absoluten Verschwiegenheit, fertig bringen, dieser Freundin zu erzählen, dass ich in Tolja verliebt war.

Erstens hätte sofort die ganze Schule davon erfahren, denn welche Freundin kann so etwas schon für sich behalten. Zweitens, und das war das Schlimmste, hätte auch Tolja davon erfahren. Und das hätte ich auf keinen Fall überlebt.

Die einzige Möglichkeit, aus der Situation herauszukommen, ohne meine Ehre zu verlieren, war der Selbstmord. Doch bevor ich mich zu einem so schwerwiegenden Schritt durchrang, beschloss ich, meinen Kummer in Verse zu gießen. Mein erstes Werk hieß ‚An dich‘:

An dich muss ich immer denken

An dich will ich mich verschenken

Kann weder schlafen noch essen

Nie werd ich dich vergessen

Du bist so stark und schlank

Und ich vor Sehnsucht krank

An dich reicht kein anderer heran

Geliebter, begehrter Mann

Trotz gewisser Zweifel angesichts der Worte „stark und schlank“ im Hinblick auf Toljas Erscheinung gefiel mir mein Gedicht, und ich beschloss, mit dem Selbstmord noch zu warten, um der Menschheit meine unsterblichen Werke zu hinterlassen. Mein nächstes Gedicht entstand gleich in derselben Nacht und hieß ‚Für dich‘:

Für dich allein schlägt mein Herz

Für dich ertrag ich allen Schmerz

Die Tränen stehn mir im Gesicht

Doch du, du siehst sie nicht

Für dich gäb ich mein Leben

Für dich würd ich alles geben

Mein Leid soll erfahren die Welt

in der mich außer dir nichts mehr hält

Dies war bereits ein unbestreitbarer Fortschritt in der Entwicklung meiner schöpferischen Individualität. „Mein Leid soll erfahren die Welt – in der mich außer dir nichts mehr hält“ – das war genial, allein auf diese außerordentlich poetische Weise ließ sich die Palette widersprüchlicher Gefühle umreißen, die mich mit der ersten Liebe ergriffen hatten. Kurz, stark und schrecklich – sehr expressionistisch. Morgens wachte ich mit dem Gefühl auf, es sei vielleicht alles gar nicht so schlimm. Wenn es mit der Liebe nicht klappte, würde ich vielleicht wenigstens als Dichterin in die Geschichte eingehen, und noch vor dem Frühstück verfasste ich ein Gedicht mit dem ­Titel ‚Ohne dich‘:

Ohne dich kann ich nicht sein

Ohne dich ist alles Pein

Deine Gestalt, sie ist so schön

Nie wieder will ich andre seh’n

Wie gern würd ichs dir sagen

Doch sag, kann ich es wagen?

Ohne dich geh ich zu Grunde

Erlöse mich  noch diese Stunde

Das hatte Anklänge an alte Volkslieder und klang, wenn nicht originell, so doch wenigstens ziemlich innig, und mit gewissen Einschränkungen konnte man es als Stilisierung auffassen. Ich war sehr zufrieden mit mir. Alle drei Gedichte schrieb ich in ein besonderes Heft und nannte es ‚Dich‘. In den folgenden Tagen schrieb ich alle Seiten des karierten Heftchens mit Gedichten voll, dann noch eins, bis mir klar wurde, dass ich mir ein richtig dickes Schreibheft anschaffen musste. Mein Werk zeichnete sich in dieser Phase durch eine besondere stilistische Einheitlichkeit aus, die schon an den Titeln abzulesen war. Nach dem Zyklus ‚Dich‘ schrieb ich eine Sonettfolge mit dem Titel ‚Mich‘, dann ein Poem mit dem Titel ‚Dich und Mich‘, danach einen Gedichtzyklus mit dem Titel ‚Uns‘, und schließlich verfasste ich noch eine weitere Anzahl Gedichte, die man schon als Sammlung bezeichnen konnte. Ich nannte sie ‚Über uns‘, und damit war der Vorrat an Personalpronomen im Akkusativ ziemlich ausgeschöpft. Ihre zahlreiche Präsenz in meiner ersten Gedichtsammlung sollte wenn schon nicht die Literaturkritik, so doch wenigstens die Wissenschaft beschäftigen. Wenn heute jemand ‚Die Rolle der Vokative im Spätwerk des Spätromantikers Pantelejmon Kulisch‘ untersuchte, warum sollte nicht auch irgendein zukünftiger Literaturwissenschaftler eine Dissertation über die Personalpronomen und ihre Deklination in meinem Frühwerk schreiben?

Literatur im Heft und Literatur im Leben • Die Geheimnisse des männlichen Herzens

Die Tage vergingen, meine Gefühle wuchsen und sprengten bald den bescheidenen Rahmen abendlichen Dichtens. Ich hatte mit meinen Offenbarungen bereits mehrere Hefte vollgeschrieben, doch was änderte das? Ich hätte meine Gedanken gern mit irgendjemandem geteilt, noch lieber aber hätte ich mit Tolja selbst gesprochen und herausgefunden, ob ich Chancen auf Gegenliebe hatte. Darin lag der einzige Vorteil meiner Erkrankung gegenüber der meiner Klassenkameradinnen. Denn sie konnten noch sosehr leiden – ihre Chancen auf Erwiderung ihrer Gefühle waren gleich null.

Allerdings bot Toljas Verhalten, das ich aufmerksam beobachtete, keinen Anlass zum Optimismus. Die ganze Zeit, seit seine Person plötzlich zum Zentrum all meiner Gedanken und Gefühle geworden war, hatte er sich weiterhin vollkommen normal verhalten, als würde er meine Existenz gar nicht bemerken. Das konnte zweierlei bedeuten: Entweder verbarg er seine Gefühle ebenso sorgfältig wie ich – oder er verspürte keinerlei Gefühle.

Ich klammerte mich an die Hoffnung, so hart könne das Schicksal nicht zu mir sein, doch der Gedanke an diese Möglichkeit ließ mir keine Ruhe, und das Bedürfnis, die Wahrheit herauszufinden, wurde mit jedem Tag dringlicher.

Ich überlegte lange, wie ich das anstellen könnte, und schließlich hatte ich eine Idee.

In einer schlaflosen Nacht übersetzte ich ‚Tatjanas Brief‘ aus ‚Eugen Onegin‘ ins Ukrainische und beschloss, Tolja dieses Schreiben unauffällig in die Jackentasche zu stecken.

Der Brief begann mit den Worten: „Ich liebe Sie, ist das nicht schon genug?“ und endete mit dem Satz: „Ich komme nun – zum Schluss, ich scheue mich, dies noch einmal zu lesen.“ In einem kurzen P.S. legte ich Tolja ans Herz, er solle eine Antwort verfassen, sie in die Tasche seiner Jacke stecken, die Jacke in der Garderobe in der dritten Reihe an den zweiten Haken von rechts hängen und weiter nichts in Erfahrung zu bringen versuchen. Den Brief unterzeichnete ich mit „Miss X“ (Tolja hatte ich mit „Mister Y“ angeredet).

Die folgenden Tage verbrachte ich wie im Fieberwahn, mehrmals täglich suchte ich die Garderobe auf, in der Hoffnung, Toljas Jacke an dem angegebenen Haken hängen zu sehen, doch es verging eine Woche und dann noch eine, und Tolja hängte seine Jacke dort auf, wo er sie auch früher aufgehängt hatte, und ihre Taschen waren leer. Letzteres hatte ich überprüft, da ich fürchtete, er könnte die Anweisungen missverstanden und die Antwort in seine Jackentasche getan, die Jacke aber nicht umgehängt haben.

So vergingen zwei Wochen. Ich inspizierte meinen „Briefkasten“ jeden Tag derart gründlich, dass die Garderobendamen schon anfingen, mich komisch anzugucken.

Dann hielt ich es nicht mehr aus und schrieb Tolja einen weiteren Brief, in dem ich auf die Versform zur Darlegung meiner Gefühle verzichtete und alles in eigene Worte fasste, wobei ich versuchte, mich so einfach und verständlich wie möglich auszudrücken. Dabei bemühte ich mich zugleich um maximale Aufrichtigkeit sowie darum, meine Würde zu wahren und auf Tolja den bestmöglichen Eindruck zu machen. Ergebnis dieser Bestrebungen waren Konstruktionen von der Art „Bitte halte mich nicht für plemplem, aber ich gehe davon aus, dass die emotionale Färbung unserer eventuellen Konversation beim gegebenen situativen Kontext eine positive Entwicklung nehmen könnte. Aufgrund meines Bestrebens, größtmögliche Anonymität zu wahren, schlage ich vor, zunächst mit einem verbal-virtuellen Typ der Bekanntschaft zu beginnen, wobei die Option bestünde, später zu direktem Kontakt überzugehen“. Ich legte Tolja, das heißt „Mister Y“, noch einmal ans Herz, er möge seine Jacke mit einer Antwort in der Tasche in der Garderobe in der dritten Reihe an den zweiten Haken von rechts hängen und weiter nichts in Erfahrung zu bringen versuchen.

Er versuchte nichts in Erfahrung zu bringen und kam ungeachtet dessen, dass wir Winter hatten, bis zum Ende des Quartals ganz ohne Jacke in die Schule.

Dafür gab es zwei mögliche Erklärungen: Entweder hatte Tolja meine Briefe nicht richtig verstanden und war zu dem Schluss gekommen, jemand wolle sich einen Spaß mit ihm erlauben; oder er hatte seinerseits beschlossen, sich über mich lustig zu machen, was meine schlimmsten Befürchtungen wahr gemacht hätte.

Im ersten Fall hätte es bedeutet, dass Tolja feige war, im zweiten – meine Niederlage. In der folgenden Nacht verfasste ich den letzten meiner Liebe zu Tolja gewidmeten Gedichtzyklus mit dem Titel ‚Du bist es nicht wert‘, verbrannte feierlich ein Blatt Papier, auf das ich Toljas Namen geschrieben hatte, und schwor mir, mich niemals mehr unglücklich zu verlieben und das männliche Geschlecht bis ans Ende meiner Tage für meine so mit Füßen getretene erste Liebe büßen zu lassen. Das Gedicht, das ich diesem Ritual widmete, nannte ich ‚Der Schwur‘. Es schloss mit den meiner Ansicht nach besonders ­starken Zeilen:

Ich schwöre, ich will euch alle vergessen

Sonst soll der Teufel mich holen und fressen.

Leidenschaften auf Ukrainisch

Dee Snider, die „Zelle“ und die Crux des vorehelichen Sex

Alles begann mit Dee Snider und der „Zelle“. Selbst wenn Dee Snider in seinem Leben nichts weiter getan hätte als ‚Dee Snider’s Teenage Survival Guide‘ zu schreiben, von dem Ende der achtziger Jahre Auszüge in der Zeitschrift ‚Der Altersgenosse‘ veröffentlicht wurden, hätte er mit vollem Recht als herausragende und schicksalsbestimmende Persönlichkeit in die Geschichte unseres Wohnblocks eingehen können. Doch Dee Snider war außerdem noch ein cooler Rocker, ein geiler Typ mit einer geilen Mähne, der die steilsten Soli auf seiner Fender hinlegte, eine abgewetzte Lederjacke trug und bei dem es auf jedem Konzert so richtig abging. Er war nicht einer dieser Poptypen wie Jim Morrison, Santana oder „Led Zeppelin“, ganz zu schweigen von „Halloween“ oder solchen Leuten, die alle hörten und alle toll fanden. Dee Snider machte richtig coole Mucke für die, die geschnallt hatten, was echter Hardrock bedeutete, die ordentliche Dezibels zu schätzen wussten und es sich nicht leicht machten im Leben. Dee Snider machte Mucke für die Hippies unter den Hardrockern und ist deshalb auch mit vollem Recht in die Geschichte der internationalen Rockmusik eingegangen. Obwohl das für unsere Geschichte nicht so wichtig ist.

Nachdem der ‚Altersgenosse‘ über mehrere Nummern Auszüge aus dem ‚Teenage Survival Guide‘ abgedruckt hatte, diese Hefte von uns wieder und wieder – bis sie auseinanderfielen – verschlungen, sorgfältig vor den Eltern versteckt, immer wieder neu gedeutet, erörtert und noch einmal durchgelesen worden waren, begann bei uns im Block die sexuelle Revolution.

Die heutige Schülergeneration wird unsere damalige Ahnungslosigkeit wahrscheinlich stark verwundern. Heute – zumindest wenn man der Zeitschrift ‚Natalie‘ glauben will, die auf eine vergleichsweise keusche und anständige Leserschaft ausgerichtet ist – kann ein Mädchen, das mit dreizehn immer noch nicht ihre Jungfräulichkeit verloren hat, sich als physiologisch nicht vollwertig betrachten. Nicht zu reden vom männlichen Teil dieser Generation, der zwar die Zeitschrift ‚Natalie‘ nicht liest, sich aber über seine Vollwertigkeit nicht wesentlich später zu sorgen beginnt.

Zu unserer Zeit kam dies gerade erst in Mode, was ein gewisses Element der Unruhe in unser beschauliches Provinzdasein brachte. Unsere Eltern hatten uns in dem Bewusstsein erzogen, dass die erste Ehenacht, wenigstens für die Braut, tatsächlich die erste sein sollte, dass sexuelle Erfahrung erst nach der Hochzeit zu sammeln sei und dass ein Mädchen, das sich von einem Jungen hat rumkriegen lassen und von der verbotenen Frucht gekostet hat, sich mit Fug und Recht als entehrt und seine Chancen auf eine glückliche Heirat automatisch um mindestens 50 Prozent geschmälert betrachten könne.

Andererseits war der Strom der verderbten westlichen Zivilisation, der sich in den sexfreien postsowjetischen Raum ergoss, immer weniger aufzuhalten, und Publikationen von der Art des ‚Guide‘ untergruben nach und nach unsere traditionellen Vorstellungen, wenngleich der Schritt von der Theorie zur Praxis beileibe nicht allen glückte. Allein manche Kapitelüberschriften bei Dee Snider trieben mir bei dem Gedanken, die Zeitschrift könnte meinen Eltern in die Hände fallen, den Schweiß auf die Stirn. Man stelle sich unser Gespräch vor, nachdem sie dahintergekommen sind, dass ich mich für Artikel interessierte wie zum Beispiel: „Eltern und Familie – mit ihnen leben kann ich nicht, aber sie abzuknallen täte mir auch leid“, „Was es heißt, zu früh des Lebens müde zu werden“, „Ist Abtreibung gefährlich?“ oder „Der Druck der Clique, der Druck des Biers und der Druck in der Blase“.

Zudem kamen mir manche Tipps des westlichen Rockers etwas widersprüchlich vor. Einerseits mahnte er: „Geht nie ohne Kondom aus dem Haus!“, erklärte einem dabei aber nicht, was man seinen Eltern sagen sollte, wenn sie auf einmal ein Kondom bei einem im Federmäppchen, unterm Kopfkissen oder in der Hosentasche der Jeans im Wäschekorb fanden. Andererseits war es zweifelhaft, dass ein Kondom einen vor allen Gefahren der Straße schützen konnte, denn laut einer Statistik ebenjenes Dee Snider „erkranken trotz der aktiven Aufklärungsarbeit spezieller Einrichtungen jährlich dreitausend Jugendliche an Syphilis, einer chronischen und höchst ansteckenden Geschlechtskrankheit, die, wenn sie nicht behandelt wird, tödlich verlaufen kann. So weise ist Mutter Natur!“. Erstens war mir nicht klar, inwiefern hier die Weisheit von Mutter Natur zum Ausdruck kam, zweitens, welche Art Aufklärungsarbeit die sozialen Einrichtungen leisteten und ob man ihnen angesichts der trostlosen Statistik Vertrauen schenken sollte. Und drittens, wie konnte man es nach einem solchen Hinweis überhaupt noch wagen, das Haus zu verlassen?

Zuweilen durften Dee Sniders Leser sich als komplette Idioten fühlen: „Wenn du dir nicht sicher bist, ob du vielleicht schwanger bist, solltest du als Erstes einen Schwangerschaftstest machen.“ Das klang so weit recht schlüssig, nicht ganz klar war allerdings, woher man im postsowjetischen Raum Ende der achtziger Jahre einen solchen Test hätte nehmen, geschweige denn, wie man ihn hätte anwenden sollen. Stattdessen hieß es dort: „Wenn das Testergebnis negativ ist, bedeutet das, du hast dich umsonst aufgeregt. Wenn es aber positiv ist, steht dir eine schwerwiegende Lebensentscheidung bevor.“ Für alle, die es immer noch nicht begriffen hatten, folgten noch genauere Erläuterungen: „Diese Entscheidung sieht dann so aus: Entweder du nimmst eine Abtreibung vor (für die ganz Begriffsstutzigen hier noch eine letzte Präzisierung:), das heißt, du brichst die Schwangerschaft durch einen chirurgischen Eingriff ab, oder du trägst das Kind aus.“

Für diejenigen, die sich für die Abtreibung entschieden, führte Dee Snider eine Liste von Organisationen an, an die man sich wenden konnte: ein US-weites Netz von Kliniken zur Geburtenkontrolle, die Organisation „Birthright“ und die Nationale Föderation für Abtreibung. Die Nummern, unter denen alle diese Einrichtungen zu erreichen waren, sollte man „im Telefonbuch nachschlagen“. Kunststück!

Nicht weniger simpel stellte sich der Weg für diejenigen dar, die sich dazu entschlossen, das Kind auszutragen und zur Adoption freizugeben: „Mit dem Problem der Adoption befassen sich verschiedene Einrichtungen wie zum Beispiel die ‚Vereinigten Sozialen Dienste‘, die ‚Katholische Wohlfahrt‘ oder die ‚Allgemeine Föderation jüdischer Philanthropen‘. Die Adressen dieser Einrichtungen findest du im Telefonbuch.“ Dee Snider hätte mal versuchen sollen, die Nummer der Lemberger Auskunft zu wählen und nach der „Allgemeinen Föderation jüdischer Philanthropen“ zu fragen.

Doch obwohl wir weder Gin und Tonic hatten, um uns vor dem „ersten Mal“ Mut anzutrinken, noch die Möglichkeit, Sex auf dem Rücksitz des väterlichen Wagens auszuprobieren (selbst wenn der Vater ihn einem anvertraut hätte, erforderte die Ausführung dieses Vorhabens etwa in einem sowjetischen Kleinwagen vom Typ „Saporoshez“ mehrjährige Erfahrung, ein Anfänger war mit dieser Aufgabe überfordert), oder überhaupt einfach ohne weiteres an Kondome gekommen wären, mal ganz abgesehen von ihrer Zuverlässigkeit (erhältlich waren damals im Wesentlichen Erzeugnisse einheimischer Produktion und zweifelhafter Qualität), beschlossen wir, Dee Sniders Ratschläge auszuprobieren.

Der Ort, den wir dafür auswählten, hieß „die Zelle“ und war ein winziger Raum unterm Dach eines der Häuser in unserem Block. Schon als Kinder hatten wir uns dort versteckt, wenn wir „Räuber und Gendarm“ oder „Krieg“ spielten. Damals war es ein leeres, heruntergekommenes kleines Kabuff über dem Fahrstuhl gewesen, dessen Türen immer offen gestanden hatten. Als wir heranwuchsen und drei coole Typen aus unserem Block nicht ohne Einfluss von Dee Snider beschlossen, eine eigene Rockband zu gründen und „geile Mucke, die richtig fetzt“, zu machen, kam die Idee auf, die „Zelle“ als Übungsraum zu nutzen.

Die Hausverwaltung, wohin sich die Jungs wegen der Genehmigung wandten, kam der Jugend zunächst entgegen und gestattete, in dem Kabuff über dem Fahrstuhl Proben durchzuführen. Sie machten es also sauber, schleppten von der Müllkippe ein paar Stühle an, die gerade noch funktionstüchtig waren, bugsierten ein Schlagzeug hinauf und hielten die erste Probe ab.

Bereits am folgenden Tag nahm die Hausverwaltung ihre Worte zurück und kam den empörten Bewohnern mehrerer Nachbarhäuser entgegen. Sie untersagten der frisch gegründeten und auf dem Gebiet der damals erst schwach entwickelten Musikrichtung des „Thrash Metal“ äußerst vielversprechenden Band, ihre Proben in der „Zelle“ zu veranstalten, und veranlassten so die heranwachsende Generation dazu, ihr Hauptaugenmerk von dem Aspekt ihrer kulturellen Entwicklung auf andere Aspekte ihrer Entwicklung zu verlagern, namentlich auf den sexuellen. Es wurde beschlossen, die „Zelle“ für andere Zwecke zu nutzen. Dazu wurden von der Müllkippe weitere noch nicht ganz unbrauchbare Möbel herangeschafft und mehr schlecht als recht eine Art Intimraum geschaffen.

Halbdunkel, ein schmales Sofa mit hier und da hervorquellender Füllung und herausstechenden Sprungfedern, ein Kassettenrecorder, Kassetten, verschiedene Flaschen mit alkoholischen Getränken und ein Sortiment Kondome. Hinter einer schmutzigen Gardine ein großes, an eine ehemalige Schultür erinnerndes Brett, das auf wacklige Pfosten gelegt und mit einem nicht allzu sauberen Tischtuch bedeckt worden war.

Die Jungs konnten sich lange nicht dazu durchringen, ihren Partnerinnen solch improvisierte Verhältnisse zuzumuten, doch schließlich fand sich das erste Paar, das die Freuden der Intimsphäre hinter verschlossenen Türen ausprobieren wollte. Ein solcher Luxus war bisher keinem von uns, die wir zu der Zeit bereits die elfte Klasse besuchten, zuteilgeworden. Unsere langen Diskussionen waren ausgesprochen theoretisch geblieben, die Überzeugungen unserer Eltern waren nicht weniger konservativ geworden, und unsere Angst, etwas Verbotenes zu tun, wurde verstärkt durch den Mangel an zuverlässigen Verhütungsmitteln und die frühen Ehen, die immer noch in Mode waren. Aus all diesen Gründen war unsere Generation die letzte, die sich ernsthaft mit der jungfräulichen Ehre beschäftigte. Das Thema „Voreheliche sexuelle Beziehungen: pro und contra“ nahm in unseren Gesprächen immer größeren Raum ein und wurde schließlich zu ihrem Hauptgegenstand.

Viele von uns erfuhren erst durch Dee Snider davon, dass Sex vor der Ehe in vielen Ländern als normal, in einigen sogar als unverzichtbar angesehen wird; doch das überzeugte längst nicht alle davon, dass es damit seine Richtigkeit habe. Wir spalteten uns in zwei Gruppen, die in dieser Frage äußerst konträre Positionen vertraten, die einen waren „pro“ und die anderen entsprechend „contra“.

Ich hatte mich sofort und ohne den leisesten Zweifel der „contra“-Gruppe angeschlossen, was nicht zuletzt zu den unten beschriebenen Ereignissen führte.

Was ist besser: Philologin oder Programmiererin? • Miss X und Mister Y • Geheime Korrespondenz • Bildung ist bei einem Mann nicht die Hauptsache

Die Geschichte meiner Beziehung zu Dima begann, wie es sich für eine jugendliche Liebe gehört, sehr romantisch.

An einem Frühlingsabend, an dem mein Vater überzeugt war, dass ich zu Hause saß und für die Abschlussprüfungen lernte, während ich überzeugt war, dass mein Vater zu einer Geburtstagsfeier gegangen war und spät nach Hause kommen würde, trafen wir uns unerwartet auf der Straße. Mein Vater ließ keinerlei Anzeichen nachgeburtstagsfeierlicher Betrunkenheit oder wenigstens leichter Gelockertheit erkennen, und ich befand mich in Begleitung eines Jungen in abgewetzter Lederjacke, mit langer Mähne und der Aufschrift „Metallica“ auf dem schwarzen T-Shirt. Zu allem Übel war mein Vater merklich gereizt, da ihn dringende Geschäfte daran gehindert hatten, zu der Feier zu gehen, was ihm nicht nur von seinen Freunden, sondern auch von meiner Mutter verübelt wurde, die extra früher von der Arbeit gekommen und zum Friseur gehetzt war. Und ich ging nicht einfach neben einer Person männlichen Geschlechts einher, und diese Person hatte nicht nur ein für den Geschmack meines Vaters zweifelhaftes Äußeres; wir besaßen auch noch die Frechheit, Händchen zu halten. Und das beim ersten Rendezvous, ich war gerade mal siebzehn Jahre alt und stand unmittelbar vor Beendigung meiner Schul- und der Vorbereitung auf meine Hochschulbildung.

Sie werden verstehen, dass die Situation nicht angenehm war, besonders wenn man den jähzornigen Charakter meines Vaters berücksichtigt, seinen Traum von einem Schwiegersohn mit Ingenieursdiplom und seine feste Überzeugung, dass die erste männliche Person, die die Schwelle unserer Vierzimmerwohnung überschritt, früher oder später dieser Schwiegersohn werden würde. Es ist die heilige Pflicht aller Eltern, diesen Moment wenigstens bis zum Abitur hinauszuzögern.

Vor einiger Zeit hatten meine Eltern beschlossen, sich um meine berufliche Zukunft zu kümmern. Diskussionen darüber, was ich werden sollte, waren in unserer Familie auch früher schon geführt worden, doch ihre Intensität und Schärfe nahm in dem Maße zu, wie die Abiturfeier näher rückte. Wie es sich für eine ordentliche Familie gehört, gingen unsere Ansichten auseinander. Meine Eltern waren der Meinung, der aussichtsreichste Beruf sei derzeit der des Programmierers, und versuchten mich zu überzeugen, ich solle mich an der polytechnischen Hochschule einschreiben. Ich teilte ihre Einschätzung hinsichtlich der Aussichten, hatte aber Zweifel, ob ein Mensch, dem die Benutzung eines Gasherds, eines elektrischen Bügeleisens und zuweilen sogar eines Kühlschranks ernsthafte Schwierigkeiten bereitete, ein guter Programmierer werden könne. Ganz abgesehen von der Drei minus im Computerkurs (welcher nur aus Theorie bestand), die die Lehrerin am Ende in eine Eins korrigierte, um das ansonsten ausgezeichnete Zeugnis nicht zu ruinieren. Ich wagte es aber nicht ohne weiteres, meinen Zweifeln beziehungsweise Wünschen in dieser Sache Ausdruck zu verleihen. Ich kannte meine Eltern, und mir war klar, dass es nicht leicht sein würde, sie umzustimmen.

„Wenn du was erreichen willst im Leben, hör auf, diese Romane zu lesen, die kein Mensch braucht. Das Leben findet in der realen Welt statt und nicht in irgendeiner ausgedachten. Geh und hilf deiner Mutter in der Küche“, lautete der Rat meines Vaters, wenn er mich beim Lesen antraf.