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Kateryna Babkina

Heute fahre ich nach Morgen

Roman

Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe

Im Grunde lebte sie gern. Von April bis September wurde sie von der Sonne verwöhnt, die ein angenehmes Kitzeln unter der Haut erzeugte und ihr einen zarten, warmen Teint verlieh. Einen Teint wie versengtes Gras oder Tee mit Jamaikarum, wie das Spiegelbild des Morgenmondes im grünlichen Wasser eines milden, seichten Sees, wie der Sand an den vom Sommer entblößten Flussläufen. Auch von Oktober bis März wurde Sonjas Haut von der Sonne verwöhnt, nur, dass sie unter der Kleidung versteckt war, und auch das mochte Sonja gern. Die feinen Härchen an den Waden und Armen, die sie nie entfernte, waren durchscheinend. Sonjas Männer liebten es, in sie hineinzupusten. Manchmal leuchteten die Härchen im Dunkeln, als hätte sie ein magischer Stromstoß aus dem Körperinnern elektrisiert.

Sonja hatte kaum Geld. Sie hätte durchaus arbeiten können. Aber das Leben gefiel ihr so besser. Zweimal im Jahr putzte sie das schmale Küchenfenster und das große Fenster im winzig kleinen Wohnzimmer, das für ein aufstrebendes Leben projektiert sein musste. Denn die Decke war dreimal so hoch wie Sonja, und so ließen sich weder die dort sitzenden schwerfälligen, dunkelgeflügelten Schmetterlinge ausgiebig beobachten noch Glühbirnen tauschen. Deshalb liebte Sonja Steh- und Tischlampen und betrachtete Schmetterlinge auf Zeichnungen und Fotos. Zweimal im Jahr putzte Sonja fremde Fenster und kaufte sich von dem erputzten Geld im Secondhandladen luftige Kleider und Sandalen, Schmuck aus Emaille und manchmal auch Silberkettchen, die sie sich ums Handgelenk wickelte. Wenn Sonja malte, klirrten die Kettchen leise. Im Winter zog Sonja Kräuter und servierte dazu Konfitüren und Brotaufstriche, die sie im Sommer aus den ungewöhnlichsten Dingen zubereitet hatte, zumeist aber aus Obst und Blüten. Was sie nicht servierte, brachte sie in den Laden eines Freundes. Für das eingenommene Geld kaufte sie Wolle und strickte daraus Pullover, Mützen, Schals, Handschuhe und lange Socken, die ihr unheimlich gut standen – besonders wenn Sonja nichts darunter trug. Die Socken, Mützen, Handschuhe, Muffs, Pullover und Krägen, die sie strickte, aber nicht trug – egal ob mit oder ohne Kleidung –, brachte sie zu … Ach, lassen wir das mit dem Geld.

Sonja fuhr einen hellen, großen, glänzenden Lada. Dunkelgrün und rundäugig, war es ein rührendes und zugleich bemitleidenswertes Vehikel. Das Auto roch nach Kindheit, nach Ausflügen an den Fluss mit Ballspielen und Badminton, nach schmutzigen Teppichen und einem großen Zuber, in dem die kleine Sonja badete, während ihre Mutter die Teppiche reinigte, der Großvater blinzelnd Äpfel schälte und jemandes weiße und schwarze Ziegen sich bei den Uferweiden tummelten. Es duftete nach Herbsttouren zum Sammeln von Pilzen und Hagebutten, die dann zu Hause getrocknet wurden. Die Pilze wurden an Schnüren aufgefädelt und unter die Küchendecke gehängt, die Hagebutten – orange, unansehnliche Früchte, deren Inneres wie Glaswolle in einer Gelatinehaut zusammenklumpte – wurden auf dem Fensterbrett ausgebreitet. Der Lada trug den Geruch von nächtlichen Bahnhofsfahrten zum Zug ans Meer, wo die Erholungssuchenden in Privatunterkünften wohnten und in billigen Kantinen nach ewigem Anstehen Rindfleischsuppe verzehrten und sich alle möglichen Krankheiten einfingen; der Wagen roch nach Gummistiefeln, nach Apfelstiegen, nach Regen, der durch die porösen Dichtungen am Fenster drang, und immer ein bisschen nach Benzin, weil Sonja die Benzinpumpe selbst befestigt hatte. Das Auto war so alt wie Sonja, aber das kam ihr nicht besonders alt vor. Sonja chauffierte alle, besonders oft ihre Freunde: Sie kutschierte sie mit Instrumenten zu Konzerten, mit Bildern zu Ausstellungen, mit Laptops, Beamern und Bildschirmen zu Präsentationen, mit Kleidung zu Modeschauen, mit Schminkkoffern zu Fotoshootings oder einfach nur mit Koffern zum Flughafen. Und Betrunkene, Verwirrte, Fröhliche, Ausgelassene ohne Gepäck beförderte sie ebenso. Sonja machte das nichts aus. Dafür bekam sie von ihren Freunden und den anderen Fahrgästen hübsche Dinge geschenkt: kleine, kaum gebrauchte Ikea-Regale, Tassen von Butlers, Gläser aus Restaurants. Manchmal auch kaum angebrochene Parfum­flakons, Pullover und T-Shirts von All Saints, Therapy oder Bolongaro Trevor und einmal sogar ein Abendkleid von Comme des Garçons und eine Brille von ­Balenciaga. Deshalb war Sonja immer die Schönste. Vielleicht nicht nur deshalb.

Sonja malte. Hauptsächlich sich selbst. Für Zeitschriften, Internetseiten, Drucksachen, Plakate, Logos und Kinderbücher malte Sonja von Hand und mit Photoshop immerzu Sonja. Mal schwarzhaarig, mal blond. Mal hatte sie kurze Haare, mal lange Zöpfe. Mal war sie hübsch und geschmackvoll gekleidet, mal war sie nackt und hatte schamlos gespreizte Beine. Mal war Sonja ein Kind, das für eine Fibel schwungvolle Buchstaben zauberte, mal war sie ein Mann. Aber immer war es Sonja.

Sonja ging auf Partys.

Sonja besuchte Sprachkurse. Mal Deutsch, mal Französisch.

Sonja brachen Absätze ab und sie rang die Hände vor Lachen, wenn es passierte.

Sonja war geprüfte Gebärdendolmetscherin, hatte aber keine Ahnung von der Gebärdensprache.

Sonja verliebte sich hin und wieder.

Sonja hatte ein Zeugnis über einen absolvierten Kurs in Geschichte. Um welche Geschichte es sich dabei genau handelte, war allerdings nicht angeführt. Mal sagte Sonja Weltgeschichte, mal die Geschichte mit dem Hund in der Nacht. Mal die Geschichte von Suchmaschinenanfragen, mal die Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts.

Sonja träumte viel.

Sonja hatte die Schlüssel zu einem Taubenschlag. Im Hof ihres Stalinbaus stand tatsächlich einer.

Sonja behandelte alte Leute immer zuvorkommend, selbst wenn sie sich damit schadete.

Sonja kam immer, wenn sie Sex hatte. Manchmal sogar ohne Sex.

Sonja dachte nie darüber nach, wie es besser sein könnte, als es war.

Sonja tanzte vergnügt und begeistert.

Sonja wollte niemanden belügen, und wenn sie doch jemanden belog – was immer mal wieder passierte –, ging sie danach hin und sagte die Wahrheit.

Sonja hatte vor vielen Sachen Angst. Vor Einsamkeit zum Beispiel, vor dem Alter, vor plötzlichen Verkehrskontrollen, davor, nie zu heiraten, schlecht zu malen, bei einer Wissenslücke ertappt zu werden, den Sommer in der Stadt verbringen zu müssen, ihr Handy zu verlieren, die Zehnerkarte nicht abzuschwimmen, an Menschen zu geraten, von denen ihr Leben abhing, aber …

Manchmal war Sonja ganz ungezwungen, und das rettete sie.

Alles war gut.

Was Louis daran nicht gefiel, war vollkommen unklar.

„Und wo ist er hin?“, fragte Katja. Sie saß in Sonjas Küche und schlürfte eine Mischung aus verdünnter Konfitüre und Eis aus einem Cocktailglas. Sonja zuckte mit ihren goldbraunen Schultern. Beide saßen in Unterwäsche da. Es war Anfang Mai, aber heiß wie im späten Juli, und Sonja hatte keine Klimaanlage.

„‚Ich liebe dich nicht mehr‘“, las Eteri auf dem abgegriffenen Papier, das sie in den letzten Stunden immer wieder herumgereicht hatten. „‚Es wäre unfair. Versuch, mir zu verzeihen.‘ So etwa?“

„Ja“, sagte Sonja. Sie lernte gerade Französisch, und Louis hatte ihr auf Französisch geschrieben.

„So steht es da? ‚Ich liebe dich nicht mehr‘?“ fragte Nastja zum wiederholten Mal.

„Für mich wäre auch weniger okay gewesen“, sagte Sonja.

„Und wo ist er hin?“, fragte Katja noch einmal. Alle schwiegen. Wenn sie nicht gerade in Sonjas Küche saß, arbeitete Katja als Kommunikationsmanagerin, fragte also immer so lange, bis sie eine Antwort bekam.

Eteri trank aus ihrem Glas, allerdings keine Konfitüre mit Eis, sondern Kognak. Im Sommer trug Eteri keine Unterwäsche, deshalb war sie nackt, was sie nicht im Geringsten störte. Sie hatte schwere Brüste mit dunklen Brustwarzen. Eteri war fast dreißig und Georgierin. Was sie machte, wusste keiner so recht. „Zu seiner Arbeit“, sagte Eteri, „in sein Lille. Wie lange war er eigentlich hier und hat geforscht? Ein Jahr? Und wie lange hätte er bleiben sollen?“

„Ein Jahr“, antwortete Sonja verzweifelt. „Ich liebe ihn auch nicht mehr. Ich liebe ihn immer noch so wie früher, nicht mehr und nicht weniger.“

„Der hat dich doch nur ausgenutzt“, sagte Nastja, und ihre Augen wurden feucht. Sie hatte ein kleines Kind und war immer schnell gerührt, besonders wenn das Stillen anstand und die Milch aufs Herz drückte.

„Hat er alles bezahlt?“, fragte Katja.

„Was denn bezahlt?“, wunderte sich Sonja.

„Keine Ahnung. Hat er wenigstens irgendwas bezahlt?“

„Er ist ein Arsch“, warf Eteri ein.

„Er und ich“, sagte Sonja. „Mein Herz ist gerissen. Wir haben uns nie gestritten. Alles, was er gemacht hat, war gut.“

„Der hat doch nichts Gutes gemacht“, bemerkte Eteri.

„Vielleicht hat das was damit zu tun, dass er Ausländer ist?“, fragte Katja.

„Ich war mit ihm in Paris“, sagte Sonja. „Er hat mich rumgeführt und mir gezeigt, wo er gewohnt hat und wo er zur Schule gegangen ist, und den Kindergarten, in dem er gearbeitet hat. Ich habe ihn förmlich vor mir gesehen: groß, braungebrannt, mit den kleinen Kindern, die in meiner Vorstellung schwarz waren, vielleicht weil der Kindergarten in Château Rouge liegt, da sind ja alle schwarz. Und dann das Haus, in dem er aufgewachsen ist. Das Haus, das bis in den letzten Winkel erfüllt ist von seiner dynamischen, rührigen, rothaarigen Schwester, einer Sängerin mit weißen Zähnen und dichten Brauen. Da stehst du am Morgen auf und trittst barfuß durchs Schlafzimmerfenster hinaus in das Gärtchen, zwei mal zwei Meter, da stehen ein alter Stuhl und ein marokkanisches Tischchen. Irgendwo hinter den Büschen liegt die Straße, es riecht nach Seife und Brot. Louis’ Vater liegt auf Père-Lachaise begraben, und seine Mutter hat ’68 mit Pflastersteinen geschmissen und gerufen, unter den Steinen käme Strand. Molotowcocktails hat sie wahrscheinlich auch geworfen. In meiner Familie gibt es niemanden dieser Art. Wir sind in Belleville spazieren gegangen, dort sieht es genauso aus wie im Film Das große Rennen von Belleville. Im chinesischen Viertel sind wir auch gewesen, Lampions gibt es da, und komischerweise sind da auch alle schwarz. Dann waren wir noch auf der Rue de Ménilmontant. Dort hat er ein Lied für mich gesungen: ‚Hier, Madame, auf dieser Straße, habe ich einst mein Herz verloren, aber eine neue Flamme gefunden, die mich inspiriert‘, so ähnlich geht das Lied. Vielleicht habe ich auch was dazu gedichtet, aber das Lied gibt’s wirklich.“

Nastja seufzte.

„Ich fand alles so toll, seine Witze und dass ich auf jedes Wort, das er sagt, und auf jeden Satz, den er schreibt, stolz sein kann. Ich fand es toll, dass ich seine Lieblingsplätze besonders mochte und dass mir das Essen immer schmeckte, das er bestellt hat, und dass er die passendsten Sightseeingtouren und den passenden Lebensplan zusammenstellt und dass ich alles interessant und nützlich fand, was ich erlebt habe, wenn ich mit ihm zusammen war. Ich mochte es, wie sein Haar fällt und wie die Nagelhaut an seinen Zehen und Fingern wächst und wie er einmal in fünf Tagen abends seine Kontaktlinsen herausnimmt, seine Brille aufsetzt und plötzlich ganz anders aussieht, so vertraut, und dass er Geld anlegt, um das alte Familienhaus im Süden zu renovieren, und dass er lernen will, Möbel zu tischlern und zu restaurieren, dass es mir egal ist, ob er Geld hat oder jemals welches haben wird. Ich mochte es, wie er mit seinem Mitbewohner im Duett rappt, wie er auch betrunken seinen Rücken wie ein Tänzer hält, wie er mit Messer und Gabel isst, als hätte er nie anders gegessen, und wie er mit den Fingern isst wie ein Affe. Ich mochte sein Sixpack, seinen idealen und wohlgeformten Körper und wie sich die knittrigen T-Shirts über seine Schultern spannen, wie das Licht morgens durch die Jalousien fällt und auf seinen Unterarmen und Knien helle Flecken wirft. Und dass wir immer zusammen waren. Das war die Hauptsache. Das mochte ich.“

„Na, zumindest damit ist es ja jetzt vorbei“, konterte Eteri.

„Du denkst sehr gut von ihm“, sagte Katja. „Das kommt mir komisch vor. Ich glaube, du brauchst einfach jemanden, damit du gut von ihm denken kannst.“

Katja trank ihren Marmeladenmix aus und Eteri gab ihr etwas von ihrem Kognak ab.

„Eigentlich habe ich die ganze Zeit getanzt, auch beim Schlafen und Malen, und in dieser Zeit habe ich viel gemalt. Ich habe sogar seine wissenschaftlichen Artikel gelesen, obwohl ich ehrlich gesagt besser Deutsch als Französisch kann. Wenn er geschlafen hat, habe ich beobachtet, wie die Lichtstrahlen über ihn hinweg krochen. Wenn er mich berührt hat, kam es mir so vor, als würden Kirschblüten, leuchtender Plankton und kleine Quallen in mir schwimmen. Auf der Straße haben sich plötzlich alle umgedreht, wenn wir gemeinsam unterwegs waren.“

„Nach dir drehen sich auch so alle um, Sonja“, sagte Eteri.

„Ich weiß nicht, was ich ohne ihn machen soll. Ich lebe nur noch mechanisch vor mich hin. War das Liebe?“ Was Liebe wirklich war, hatte Sonja glatt vergessen. Sie fand es unerträglich, die ganzen Einzelheiten auszubreiten.

„Nein, das war Rotz.“

Dann brachten sie Nastja nach Hause und fuhren weiter in den Wald. Der Wald leuchtete aus seinem Inneren heraus. Sonja schaltete die Lichter aus, sie saßen mitten in der feuchten Nacht und beobachteten, wie ganz in der Nähe eine von Scheinwerfern bunt gefärbte Dunstwolke pulsierte, in der sich Menschen schemenhaft bewegten, beugten, die Hände hoben. Manchmal liefen die Silhouetten aus dem hellen Dunst ins Dunkel, stolperten durchs nasse Gras und verschwanden zwischen den Bäumen. Allein zum Pinkeln, zu zweit oder in Gruppen mit anderen Absichten. Die Musik schien weit entfernt zu sein, sie verlor sich zwischen Baumstümpfen, Büschen und dem jungen Grün. Die Mainacht mit all den kleinen, dichten Tönen, mit dem Rascheln, dem Tropfen, dem stillen Fließen der Baumsäfte, dem Zerspringen der Zellen bei ihrer Teilung in einem neuen Blatt und dem Atmen der feuchten Erde hüllte sie ganz ein. Der dunkle Himmel lag über dem Wald und rieb sich den angenehm weichen Bauch.

„Jetzt“, sagte Sonja, „reißt das Herz.“

Vielleicht riss ihr Herz nicht wegen Louis, sondern einfach so.

„Wisst ihr eigentlich, was mit Gena ist?“, platzte Katja heraus.

„Was denn?“, fragte Eteri.

„Gena ist durchgeknallt“, sagte Katja. Und dann erzählte sie. Nachdem die unweigerlichen zwei Wochen vergangen waren, in denen er sich lose mit ihr getroffen, ihr dämliche SMS geschrieben und sie nachts betrunken angerufen hatte und sie sich gegenseitig Andeutungen gemacht hatten, von denen sich die Verliebtheit in der Magengegend aufblähte wie eine hellblaue Leuchtkugel, gefüllt mit warmer Atemluft, brachte er Katja nach Hause, parkte sein Auto so, als wollte er über Nacht bleiben, legte ihr die Arme um den Hals und sagte etwas Wichtiges. „Ich kann dir fliegen beibringen, willst du?“ Das hatte er gesagt.

„Vielleicht hat er das mehr im übertragenen Sinne gemeint?“, fragte Eteri.

„Er sah vollkommen ernst dabei aus. Das geht, hat er gesagt, und ich weiß, wie.“

„Vielleicht hatte er irgendwas dabei?“

„Der hatte nichts dabei, der ist doch gegen das ganze Zeug.“

„Gegen alles?“, fragte Sonja verwundert.

„Nein, nur gegen manches.“

„Und dann?“, fragte Eteri.

„Nichts“, antwortete Katja traurig. „Er ist einfach durchgeknallt. Ernsthaft durchgeknallt meine ich, richtig krank. Ich habe Angst vor solchen Typen, irgendwann werden die dann zum Stalker oder zum Psychomörder.“

„Na, das wünscht sich ja keiner“, sagte Eteri.

„Ja“, sagte Katja, obwohl sie sich das eigentlich sehr wünschte.

Sonja stieg aus dem Auto und trat ins Gras, ihr war kalt. Sie fühlte sich wackelig in den dünnen Sandalen und hob beim Zulaufen auf die Musik und das Licht die Füße weit vom Boden ab. Bei jedem Schritt spritzten Wassertröpfchen von den Stängeln unter ihren Sandalen hoch und ihre Silberkettchen klirrten, als wollten sie den Ton wiedergeben, mit dem Sonjas Herz riss. Katja und Eteri folgten ihr, an ihnen klirrte nichts, sie dufteten nach Parfüm und bliesen ihre Erwartungen in die Luft der leichtflügeligen Schmetterlinge. Dann tauchten die drei in die bunt gefärbte Dunstwolke der Party ein.

Wenn Sonja tanzte, standen ihre Haarsträhnen über dem Kopf und den Schultern und wippten im Takt ihres Körpers mit. Sonja schloss die Augen und lauschte, was in ihr ohne Louis passierte. Es passierte nichts. Eine klirrende Leere, kühl und bitter, hielt ihr Inneres umklammert. Sonja versuchte sich an Louis’ Gesicht zu erinnern, aber es gelang ihr nicht. Sie wollte in Gedanken seine Bewegungen wiederholen, wenn er den Kopf drehte, aber die Erinnerung schob ihr andere Bewegungen unter: wie ein Achtknoten zu stricken ist, wie Eteris Brüste unter dem T-Shirt hüpfen, wie Photoshop lädt, wie Häuser und Bäume im Rückspiegel vorbeiziehen. Sonja strengte sich an und wollte sich Louis vorstellen, seine Figur, sein Haar, seine Hände, die Farbe seines Hemdes, sein Lächeln, seine blinzelnden Augen und seine Augenfältchen, aber das Gedächtnis zeigte ihr fremde Umrisse. Vor ihr stand ein virtueller, abstoßender Mann, aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt, die für sich stehend zu prägnant waren, um zueinanderzupassen. Er sah aus wie Barbies Ken in Menschengröße. Sonja entspannte sich und verscheuchte das Monster, öffnete die Augen und betrachtete die tanzenden Menschen ringsum. Sie färbten sich von grün nach rosa nach blau nach violett. Wenn das Licht flimmerte, glänzten ihre Augen, Zähne und hellen Accessoires und die Menschen bewegten sich wie Roboter. Der Rauch, der auf die Tanzfläche geblasen wurde, war geruchs- und geschmacklos. Jemand schmiegte sich von hinten an Sonja und tanzte mit ihr, atmete ihr in den Nacken und haschte nach ihrem Haar. Dann küsste er sie auf den Hals, trat einen Schritt zurück und verschwand. Sonja konzentrierte sich noch einmal und versuchte, Louis aus ihrer Erinnerung zusammenzusetzen. Wieder tauchten vor ihrem Auge ganz andere Bilder auf. Eteri und Katja saßen an der Bar. Sonja hielt plötzlich inne, noch kurz standen ihre Haare in der Luft, dann fielen sie auf die Schultern. Zwischen den tanzenden, verschwitzten, nächtlichen Körpern fühlte sie die unvermeidliche Leere besonders stark.

„Ich kann mich überhaupt nicht an ihn erinnern“, sagte Sonja und kletterte auf den Hocker zwischen Eteri und Katja.

„Und was heißt das?“

„Dass ich ihn noch einmal sehen muss. Um ihn zu betrachten und in Erinnerung zu behalten. Nicht einmal malen könnte ich ihn jetzt. Das war wirklich gemein, dass er nichts angedeutet hat, jetzt ist alles weg. Als hätte es nie einen Louis gegeben. Ich wollte ihn für immer in meinem Gedächtnis behalten, jetzt weiß ich nicht mal mehr, wie er aussieht.“

„Dann schau dir doch die Fotos auf deinem Handy an“, riet Eteri.

Sonja holte ihr Handy raus. Auf dem Touchscreen sah Louis wie Louis aus, aber sobald sie den Blick vom Display abwandte, verschwanden die Umrisse erneut, zerfielen, gingen verloren oder formten sich zu einem verzerrten Trugbild.

„So war es bei mir, als mein Vater gestorben ist“, sagte Katja. „Ich saß da und habe überlegt, wie er aussah. Mit Worten konnte ich alles beschreiben: Dass er eine Glatze hatte und eine Warze unterm linken Auge, markante Augenbrauen und Wimpern, dass seine Augen braun waren und seine Unterlippe zitterte, seit er sechs Jahre zuvor einen Schlaganfall erlitten hatte. Wenn er sprach, sah es so aus, als würde er auf einer Seite lächeln, deswegen dachte ich immer, er wolle eine Anspielung machen. Und deshalb haben wir uns oft gestritten. Ich konnte beschreiben, dass er einen langen Hals hatte und seine Krägen immer zu weit waren, dass er zarte Schultern hatte, dass das rechte Ohr abstand und das linke nicht. Beschreiben konnte ich das alles, als hätte ich einen Text auswendig gelernt, den ich mit mir herumtrug, aber ich hatte kein Bild vor mir. Allerdings war das nicht Louis. Sondern mein Vater. Den habe ich mein Leben lang angeschaut, vielleicht nicht so begeistert wie du Louis, aber tagaus, tagein.“

Katjas Vater war in irgendeinem See ertrunken, als er mit ihrem jüngeren Bruder beim Skilaufen war. Das dünne Eis war mit Schnee überzogen, und beide brachen ein, nachdem sie abseits der Piste einen ausladenden unberührten Hügel hinabgefahren waren. Katjas Bruder war fast eine ganze Stunde im See geschwommen und hatte unter Wasser seine Ski und die schweren Skischuhe abgestreift, konnte aber nicht an Land kriechen. Das Eis brach und knackte, der See wollte kein Ende nehmen und überall war Wasser. Auch Katjas Vater hatte seine Skiausrüstung unter Wasser ausgezogen. So lagen sie dann auf dem kalten Grund: zwei Paar Skier, zwei Paar Skischuhe und Katjas blaugefrorener Vater in Skianzug und Vliesmütze.

„Und dann ist er dir wieder eingefallen?“

„Er ist mir im Traum erschienen“, sagte Katja, „mit seinen Skiern. Und seiner nassen Mütze. So sehr ich mich auch anstrenge, das ist das einzige Bild, das ich von ihm habe. Manchmal sitze ich da und denke an meine Familie. Dann sehe ich meine Mutter, die hat diesen Sommer abgenommen; meinen Bruder, der studiert jetzt, ist erwachsen geworden und sieht endlich aus wie ein normaler Mensch; und dann meinen Vater auf Skiern.“

„Ob Louis mir auch im Traum erscheint?“, fragte Sonja.

„Ja“, sagte Eteri, „wenn er tot ist.“

Sonja hätte sagen sollen, dass sie überhaupt nicht wollte, dass Louis je starb, doch sie horchte in sich hinein und merkte, dass es ihr egal war. Sie fühlte sich wie ein leeres, wegen Baufälligkeit geschlossenes Schwimmbad, aus dem Liebe und Schmerz abgelassen worden waren wie blaues Chlorwasser. Das kam ihr viel schlimmer vor als das tatsächliche Durchleben von Liebe und Schmerz. Nur die Alltagserinnerungen und die Pläne für das Leben zu zweit, das es nun nicht mehr geben würde, waren geblieben wie Reste von Schränken und Trampolinen, abgeschaltete Duschen und geschlossene Umkleidekabinen. Dass sie mit all dem nichts mehr anzufangen wusste, zerriss ihr das Herz.

„Das geht alles gar nicht“, sagte Sonja, „das ist einfach unerträglich. Ich muss ihn noch einmal sehen.“

„Dann siehst du ihn auch“, sagte Eteri.

Und dann sah Sonja Louis.

Sie rannte ihm nach. Er lief in langen Schritten, die Schultern in Rauch- und Lichtfetzen gehüllt. Der dunkle Wald nahm ihn behutsam auf, im Gehen nestelte er an seiner Hose. Sein Rücken war wie immer breit und gleichmäßig. Sonja trat beinahe unbemerkt hinter ihn, blieb stehen und wartete, bis er an einem Baum sein Geschäft verrichtet hatte. Was sollte sie ihm eigentlich sagen? Nichts, beschloss Sonja, ich schaue ihn einfach an und behalte ihn in Erinnerung. Und dann kann er gehen, wohin er will. Louis knöpfte sich die Hose zu, drehte sich um und wäre beinahe mit Sonja zusammengestoßen. Sie schloss die Augen und atmete tief ein.

„Was willst du?“, sagte er, und beinahe hätte Sonja angefangen zu weinen. Der Mann war groß, geschmeidig und athletisch, hatte Augenfältchen und zerzaustes Haar, einen Bart, dichte, gleichmäßige Brauen, große Hände und schmale Lippen. Rücken, Hemd, schmale Hüften. Es nützte nichts. Alles war wie bei Louis, aber es fügte sich wie in Sonjas ausgehöhlter Vorstellung zu einer völlig anderen Person zusammen.

„Darf ich dich malen?“, fragte Sonja vor lauter Überraschung. Die gleichmäßigen Brauen runzelten sich, er schaute von oben auf sie herab.

„Na gut“, sagte er. „Jetzt gleich? Ist es nicht zu dunkel? Bist du mir nachgelaufen, um mich zu malen?“

„Ja“, antwortete Sonja und korrigierte sich sofort. „Nein. Entschuldigen Sie, ich kann nicht lügen.“

„Ich auch nicht“, sagte er. Das gefiel Sonja.

„Bist du betrunken?“

„Nein“, sagte Sonja. „ich trinke Wasser. Ich bin mit dem Auto da.“

„Gut, dass du mit dem Auto da bist. Lass uns fahren.“

„Na, los, ich bring dich heim“, willigte Sonja ein, überlegte und fragte: „Und was, wenn ich betrunken wäre?“

„Dann würden wir jetzt nicht fahren“, sagte der Mann.

Und das stimmte.

Während Sonja sich vorsichtig einen Weg zur Straße bahnte und die Räder über das nasse Gras rutschten, war der Mann eingeschlafen. Sonja stoppte und schnallte ihn an, sein Kopf flog vor und zurück. Sie roch an seinem Hals, neben dem Ohr. Er wachte nicht auf, als Eteri anrief.

„Wo bist du denn?“

„Auf dem Nachhauseweg“, sagte Sonja. „Und ihr?“

„Wir haben noch niemanden kennengelernt“, schrie Katja in den Hörer und versuchte, die Musik zu übertönen.

„Ich auch nicht“, sagte Sonja und schaute auf den Beifahrersitz. Der Mann schlief und wollte sie keineswegs kennenlernen.

„Wir bleiben noch ein bisschen“, sagte Eteri.

An der Ortseinfahrt sprang ein Hase auf die Fahrbahn und hoppelte eine Zeit lang neben dem Auto her. Wenn man von Hasen träumt, fiel Sonja ein, dann stehen große Veränderungen bevor. Läuft der Hase fort, muss man versuchen, ihn einzuholen, dann ändert sich das Leben zum Besseren. Sonja bremste, und der Hase hoppelte voraus. Sonja gab Gas, der Hase erschrak, machte einen ungeschickten Satz zur Seite und war im Gras verschwunden, ehe Sonja ihn überholen konnte. Nicht so schlimm, dachte sie, es war ja sowieso kein Traum. Und dann dachte sie noch, dass man weder einen Hasen noch sich selbst betrügen konnte. Zumindest nicht gleichzeitig.

In der Stadt war es kalt und leer wie in Sonjas Innerem. Der Mann schnarchte. Louis hatte im Schlaf oft Französisch gesprochen, hatte von unangenehmen, anstrengenden Dingen geträumt: Dass er vor der Polizei auf der Flucht war und kein Versteck fand oder dass er sein Flugzeug in Belgrad nicht besteigen konnte und das Flugzeug abhob, während er sich mit fehlenden Dokumenten herumschlug, oder dass er über den Friedhof Père-Lachaise ging und das Grab seines Vaters nicht wiederfand. Sonja war immer aufgewacht und hatte ihm ins Ohr gepustet. Jemand hatte ihr einmal gesagt, dass sich so Träume teilen ließen, und Sonja hatte immer leichte, gute, einfache Träume. Einmal, als sie im Bus fuhr, pustete Sonja einer Oma ins Ohr, die auf Sonjas Nachbarsitz fest eingeschlafen war. Die Oma erschrak, sprang auf und brach sich den Oberschenkelhals. Danach kaufte Sonja für sie ein, brachte ihr Lebensmittel und Medikamente. Eines Tages kamen die Töchter der Oma aus Ischewsk angefahren und schrien herum, Sonja wollte die Oma ins Grab bringen und sich die Wohnung unter den Nagel reißen. Von da an brachte Sonja keine Lebensmittel und Medikamente mehr, und bald starb die Oma. Da riefen die Töchter an und fragten, ob Sonja die Wohnung nicht für einen fairen Preis kaufen wollte, damit sie gelassen nach Ischewsk zurückfahren konnten, aber Sonja wollte nicht, denn seit der Zeit hatte Sonja traurige Erinnerungen an die Wohnung und ein leichtes Schuldgefühl. Sonja fragte Eteri, Katja und Nastja, aber die wollten auch nicht. Überhaupt wollte keiner von Sonjas Freunden und Bekannten eine Wohnung kaufen. Alle gaben sich Mühe, nicht zu wollen, denn wollen wird unerträglich, wenn man nicht kann. Nicht mal für einen fairen Preis.

Der Mann erwachte, als Sonja im Hof parkte und den Motor abstellte. Die Vögel sangen.