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Werner Stanzl

Ball der Mörder

Commissario Vossi ermittelt

1

Täglich um vier Uhr früh der gleiche Ärger. Wohl hätte Rudolfo noch schlafen können und auch wollen. Doch da war seine Blase. Oder war es die Prostata? Jedenfalls trieb ihn immer um diese Zeit Harndrang aus den Decken. Und wenn er nach dem Wasserlassen wieder zurück in seinem Bett war, konnte er nicht mehr einschlafen. Sein Gedächtnis begann zu blubbern wie zu dick geratener Grießbrei über dem Feuer. Dabei drängte sich allerlei Ungemach des Vortags nach oben. Etwa dass Lisa die Kuh offensichtlich gefiebert hatte, dass der Motor von der Melkanlage unrund lief, dass er zwei Helfer für die Obsternte brauchte oder dass er endlich seinen Arzt wegen der Schmerzen, die ihn seit etwa zwei Monaten beim Wasserlassen plagten, konsultieren müsste. Das hatte noch jedes Mal Rudolfo mit Verwünschungen aus dem Bett getrieben. So auch diesmal.

Schlaftrunken wankte er treppab ins Wohnzimmer und stellte den Wasserkessel für den Tee an. Dabei nahm er durch das Küchenfenster die Lichter eines Wagens wahr, der in der Kurve etwa 200 Meter vor der Einfahrt zu seinem Hof halb im Straßengraben hing. Offensichtlich hatte der Fahrer das Licht im Wohnzimmer und jetzt in der Küche gesehen, denn er blinkte ihm mit dem Aufblendlicht zu. Rudolfo überlegte nicht lange. So wie er war, im blauen Pyjama, marschierte er los, um nach dem Rechten zu sehen oder zu helfen oder beides. Doch der Fahrer schien seine Hilfe nicht mehr zu brauchen. Denn kaum, dass Rudolfo aus dem Haus getreten war, machte der Wagen mit aufheulendem Motor einen Satz aus dem Graben, bog scharf nach rechts durch die Hofeinfahrt und flog wie ein riesiges Wurfgeschoss direkt auf den vor Staunen und Schrecken Bewegungsunfähigen zu. Niedergemäht blieb Rudolfo zwischen Wohnhaus und Stallungen liegen. Hätte er das Ereignis noch analysieren können, er hätte sich gewundert, dass er beim Aufprall nichts gespürt hatte. Für ihn war der frontale Zusammenstoß des Wagens mit seinem Körper ein bloß akustisches Erlebnis. Er hatte ihn gehört, wie ein unbeteiligter Zuschauer, der optisch gar nicht recht mitbekam, was eigentlich vor sich ging. Rudolfo war wohl noch einige Momente bei Besinnung, als er so dalag. Denn er dachte: „Mir ist kalt.“ Danach gingen ihm die Lichter aus.

Indes stieg der Lenker aus, beugte sich kurz über Rudolfo, ließ ihn aber einfach so liegen und fuhr auf und davon. Minuten später fuhr der mysteriöse Fremde wieder durch die Hofeinfahrt, diesmal allerdings in einem schweren Laster, randvoll mit einem Geröll aus Stein- und Felsbruch. Er packte den leblosen Körper seines Opfers mit einem gekonnten Griff und stemmte ihn wie einen schweren Sack Kartoffeln über die Bordwand auf die Ladefläche. Keine Minute später setzte sich der Laster in Richtung Cormons in Bewegung. Im Haus neben Rudolfos Hof, dem einzigen weit und breit, blieb alles dunkel und ruhig. Offensichtlich war niemand Zeuge des ungewöhnlichen Geschehens geworden.

2

Maria weckte Motorenlärm auf der Piazza von Cormons aus dem Schlaf. Sie spürte nur Müdigkeit. Sie war spät eingeschlafen, und das erst, nachdem sie eine zweite Kopfschmerztablette eingenommen hatte. Auf Anraten ihres Gatten Benito. „Wirf halt noch eine nach“, hatte er mit ekelerregender Gleichgültigkeit im Halbschlaf von sich gegeben, als er ihre Unruhe spürte. Denn der Herr litt an diesem Abend ebenfalls unter Schlafstörungen. Aber nicht wegen Kopfschmerzen, sondern weil er den ganzen Nachmittag auf dem Balkon vor sich hingedöst hatte. Dieses durch Arbeitslosigkeit mehr oder minder erzwungene Nichtstun ihres Mannes brachte sie stets auf die Palme. Aus drei Gründen: Erstens, weil der Balkon auf die Piazza ging und es bestimmt nicht Benitos Ansehen in der Nachbarschaft förderte, wenn dieser für alle sichtbar auf dem Balkon faulenzte. Zweitens, weil Maria nicht staubsaugen konnte, ohne dass der Mann ihres Lebens wegen des Lärms Streit anfing. Drittens, weil sie genau wusste, dass ihr Benito absichtlich bei jedem Schritt und Tritt in der Wohnung im Weg stand oder lag, um zu signalisieren: Du lässt ja keinen Cent aus und gönnst mir nicht einmal das Glas Friulano mit Freunden im Astra.

Das Astra war das kleine Caffè im Haus, das sich bei den Männern der Umgebung größter Beliebtheit erfreute, seit eine blonde Burgl aus dem Alto Adige mit ihrem kantigen Akzent, ihrem prallen Busen und einem tiefen Ausschnitt die Pacht übernommen hatte.

Unschuldig wie ein Kind lag er da, tief im Schlaf, kaum hörbar atmend. Wird Zeit, dass die neue Klinik eröffnet und er seinen Posten als Heilmasseur endlich antreten kann, dachte sie, als plötzlich ein bedrohliches Schwingen ihr Trommelfell schmerzhaft vibrieren ließ. Ein unwillkürlicher Blick auf die Uhr verriet Maria, dass es gerade über fünf war.

Den Ohrenschmerz verursachten Tonwellen von draußen, von der Piazza. Maria ging auf den Balkon, schob Benitos Liegestuhl zur Seite. Ein Lkw, voll beladen mit kohlkopfgroßen Steinen, hatte mit laufendem Motor hart am Podest der Mariensäule geparkt. Am Gestänge für die Blumenkörbe unter dem Gnadenbild hing ein Mann an seinen Hosenträgern. Um den Kopf und um die Schultern hatte er ein rotes Tuch. „Oder ist das etwa Blut?“, schoss es Maria durch den Kopf. In diesem Augenblick begannen die Glocken mit ohrenbetäubendem Geläut. Dabei war doch erst kürzlich nach einer Bürgerbefragung beschlossen worden, dass die Glocken bis sieben Uhr morgens zu schweigen hätten.

Der Klang der Glocken lockte rundum rasch Leute im Pyjama oder in Unterwäsche auf die Balkons der Piazza. Einige riefen den Nachbarn etwas zu, andere redeten durch die geöffneten Balkontüren auf ihre Familienmitglieder ein, fast alle rieben sich die Augen oder hielten sich mit beiden Händen die Ohren zu.

Ein unangenehmes Gefühl beschlich Maria. Und richtig, der Nachbar von Tür 14 konnte es wieder einmal nicht lassen. Sein Balkon war gleich nebenan, etwa fünf Meter entfernt, und sein unverschämter Voyeurismus scheuchte sie immer wieder vom Oben-ohne-Sonnenbad auf. Das erinnerte sie daran, dass sie abgesehen von einem hauchdünnen, kurz geschnittenen Nachthemd so gut wie nackt war. In der über das Balkongitter gebeugten Haltung war wahrscheinlich die untere Hälfte ihres Popos unbedeckt. Kein Wunder, dass sich der Nachbar für nichts anderes interessierte.

Sie zerrte instinktiv an dem Hemdchen und wollte schnurstracks zurück ins Zimmer, als sich, von unsichtbarer Hand gesteuert, die Ladefläche des Lkws hob und langsam zu kippen begann. Die Szene wurde für den Mann an der Säule höchst bedrohlich. Die Schieflage würde die ganze Ladung abrutschen lassen und ihn unter sich begraben. Maria erstarrte. Am vergeblichen Aufbäumen des Bedauernswerten erkannte sie jetzt, dass er an die Säule gebunden war. Just in diesem Moment verstummten die Glocken und für einen Augenblick war es auf der Piazza beängstigend still. Bis irgendwo ein Kind aufschrie. Ein Schrei, der sogleich vom höllischen Scheuern, Kratzen und Poltern übertönt wurde, mit dem sich die Lkw-Ladung über den Mann an der Säule ergoss.

Maria konnte das Geschehen nicht begreifen und starrte unentwegt auf das Geröll, das bis hinauf zu den Füßen der Madonna reichte. Den anderen Augenzeugen ging es um nichts besser, sodass es nun wieder gespenstisch still war. Nur das Kind weinte noch immer irgendwo in den Häusern gegenüber. Dieses Kindesweinen rief Maria zur Besinnung. Sie wollte sich abwenden, um Benito zu wecken, ihn hinunterzuhetzen, um den armen Mann auszugraben, irgendwie zu helfen. Doch der Laster, der eben noch regungslos dagestanden hatte, schüttelte sich unvermittelt wie ein riesiger nasser Hund, woraufhin auch noch die letzten Steinkrümel von der Ladefläche rollten. Sodann wurde das Rütteln von einem gewaltigen Seufzer der Hydraulik übertönt, mit dem die Ladefläche wie erschöpft in die Waagrechte fiel. Maria taumelte und sank in sich zusammen.

Ihr Mann Benito brauchte, bis er nach dem Sturmläuten des Nachbarn von Tür 14 aus dessen Worten schlau wurde: „Ihre Frau liegt auf dem Balkon und hat einen hysterischen Anfall.“

3

Die Welt des Commissario Bruno Vossi waren die Colli, die Hügel zwischen Gorizia und Cormons, mit ihren Weinbergen und Obstspalieren. Gleichwohl blickte man in seiner Familie mehr nach Südost, der verlorenen Heimat Istrien. Vater und Mutter hatten sie unter dem Diktat der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und Marschall Titos verlassen müssen. Bruno war da noch nicht geboren.

Andächtig hatte er der Mutter zugehört, wenn sie von den Schönheiten des Heimatdorfes in Istrien schwärmte. Sie erzählte auch von dem Grabstein auf dem alten Friedhof, der noch den alten Familiennamen trug, den die Faschisten 1928 vom deutsch/österreichischen Voss auf Vossi zwangsitalienisiert hatten. Die Familie wurde nicht gefragt. Widerstand, Beschwerden, ja selbst Nachfrage bei den Behörden hätten äußerst unangenehme Folgen haben können. Als Bruno das Dorf ihrer Herkunft als frischgebackener Gymnasiast erstmals besuchen konnte, zeigte ihm der Großvater den Platz, auf dem ihr Haus und das der Nachbarn gestanden hatten. Jetzt erhob sich darauf ein schmieriger Plattenbau mit einer schmutzigen Kneipe im Erdgeschoß, die nie Besseres als Betontristesse gesehen hatte. Statt Coca-Cola gab es Jugo-Cola, nicht bei Agip, sondern bei einer schmutzstarrenden Tankstelle mit der Aufschrift Jugopetrol. Den erwähnten Grabstein konnte der Großvater auf dem alten Friedhof nicht mehr finden.

Trotz all dieser Geschichten war Bruno damals stolz, Italiener zu sein. Es regte sich etwas wie Patriotismus für die Republik Italien in ihm, so glaubte er zumindest. In Wahrheit war er bloß froh, dass er nicht in diesem Kaff hatte aufwachsen müssen. Stolz war er auf sein Zuhause, das Land zwischen Triest, Gorizia, Palmanova und Cividale, das Land mit den Alpen im Norden, der Küste von Duino im Süden und den Ufern des Isonzo. Oft blieb er auf der Straße zu den Weinorten dieses Fleckens Heimat stehen, um sich am Anblick der Rebstöcke zu erfreuen. In Reih und Glied bewachten sie die sanften Hänge wie in Habachtstellung. So musste es dem Preußenkönig beim Anblick seiner langen Kerle ergangen sein, von dem Großvater in einer der vielen Stunden erzählt hatte, in denen Bruno Deutsch eingetrichtert bekommen hatte.

Brunos Deutschkenntnisse waren über die Jahre recht ordentlich angewachsen. Sein Großvater wäre stolz gewesen. Dazu kam mit der Zeit noch ein respektables Slowenisch. Diesen zusätzlichen Sprachschatz verdankte er Jelena, seiner Frau, die aus der Gegend von Kobarid stammte – Kobarid am Oberlauf der Soča, wie der Isonzo in Slowenien hieß. Dort hatte er sie kennengelernt. Er war damals auf der Polizeischule gewesen. Einige Kameraden hatten ihn dazu überredet, bei einer Kajakfahrt mitzumachen. Er war entsetzt, wie wenig diese Soča mit seinem Isonzo gemein hatte. Während sich der italienische Teil des Flusses gemächlich durch die Landschaft schlängelte, in den Windungen mit Sandhaufen spielte, die er da abgrub, um sie an anderer Stelle wieder aufzuschütten, gebärdete sich diese Soča wie ein Stier, der es nicht ertragen konnte, dass ihn überhängende Felswände in ein enges Kleid zwängten und ihm an einigen Stellen gar völlig den Weg verstellten. Mit weißer Gischt bäumte der Fluss sich zornig und unversöhnlich dagegen auf. Noch nie hatte Bruno Wildwasser live erlebt. Kein Wunder, dass der in Eskimorollen Ungeübte schon nach der ersten Stromschnelle kopfunter im Kajak steckte und Wasser schluckte. Hatte ihn der Fels, an dem er sich festklammern konnte, tatsächlich vor dem Ertrinken gerettet? Vermutlich, jedenfalls kam er sehr gelegen und irgendwie gelang es ihm schließlich, das Boot abzustreifen wie eine Raupe ihre Haut bei der Schmetterlingswerdung. Noch immer nach Luft schnappend, erreichte er eine Sandbank, auf der er sich ausruhen und einen gewagten Aufstieg nach oben zur Straße ausmachen konnte. Die wenigen Wildwasserspezialisten, die voll konzentriert an ihm vorbeiflitzten, hatten mit den Launen der Soča zu tun und keinen Blick für ihn frei. Und die Freunde waren längst stromabwärts außer Sichtweite, also blieb ihm gar nichts anderes übrig, als sich noch etwas aufzuwärmen und den Aufstieg zu wagen. Mit letzten Kräften erreichte er die Kante der Wand zur vorbeiführenden Straße und blickte hilflos nach rechts und links. Da stand sie, sah ihn und lachte lauthals auf. Bruno ärgerte sich über die Kuh und kam sich derart erniedrigt vor, dass er automatisch ein paar Schritte zurück und dazu noch den Fehler machte, nach unten zu schauen – in diesem Fall in eine Leere, auf deren Grund sich der eiskalte Fluss laut rauschend mit der Topografie maß. So hielt er sich krampfhaft an ein paar Wurzeln fest und starrte regungslos auf die junge Frau, die endlich den Ernst der Lage begriffen hatte und Hilfe herbeirief. Und tatsächlich, aus dem Nichts griffen vier starke Männerhände von oben nach ihm und zogen ihn auf die Straße.

Als er wieder klar denken konnte, befand er sich im nahen Dorfgasthaus. Wortlos trank er den Glühwein, den ihm die Wirtin, seine spätere Schwiegermutter, kredenzte.

„Nach Hausrezept“, sagte Jelena neben ihm auf Italienisch und goss nach.

Ein paar Tische weiter saßen drei Männer. Zwei erkannte er an den Hemdsärmeln als seine Retter. Heftig klopften sie dem Dritten, den sie in ihre Mitte genommen hatten, auf die Schulter und tranken ihm unablässig zu.

„Ist Polizist, will machen sich wichtig mit Protokoll. Besser er trinkt und kein Protokoll“, meinte Jelena verschwörerisch.

Nach dem vierten oder fünften Glühwein nach Hausrezept wankte der Polizist durch die Wirtsstube, drehte sich vor dem Ausgang noch einmal um und lallte: „Protokoll morgen, morgen Protokoll.“ Dann war es still in der Stube. Von draußen hörte man den Schlag der Wagentür, das Starten des Motors und die Abfahrt des Polizeiwagens mit quietschenden Reifen. Brunos fragendem Blick erwiderte Jelena beschwichtigend: „Nema problema, Polizeistube gleich um die Ecke.“

Von seinen Kameraden erfuhr Bruno später, warum der arme Dorfpolizist mit Glühwein arbeitsunfähig gemacht werden musste: Das Befahren der Soča war seit Tagen verboten, weil sie Hochwasser führte.

„Habt ihr das nicht gewusst?“, fragte er.

„Natürlich, deshalb sind wir ja losgezogen. Bei Niederwasser einfach so zu paddeln ist doch was für Bubis.“

Weil sie wussten, dass er angesichts des Verbots und der erhöhten Gefahren nie mitgekommen wäre, hatten sie das Hochwasser mit keinem Wort erwähnt. Aber er war ihnen nicht ernsthaft böse. Denn was sich später bewahrheiten sollte, ahnte er bereits: dass nämlich an diesem Sonntag das Schicksal gleich mehrmals entscheidend die Weichen für ihn gestellt hatte. Erstens, weil das kurze Hängen in der Wand mit Blick auf die unter ihm tosende Soča genügte, um für alle Zeiten sportliche Betätigung nur noch passiv als Zuseher zu genießen. Zweitens, weil er sich seither ein Leben ohne Jelena nicht mehr vorstellen konnte, und drittens, weil er in den Besitzern der vier lebensrettenden Hände mit Schwiegervater und Schwager brüderliche Freunde gewonnen hatte, die ihm Werte erschlossen, von denen er als Einzelkind bis dahin keine Ahnung gehabt hatte.

„Bruno, dein Handy.“

Jelenas Stimme kam aus der Küche, wo sie das Frühstück zubereitete. Und da er sich nicht rührte, folgte der Stimme alsbald die Person, schon in Jeans, die Gartenhandschuhe im Gürtel, während er sich noch nicht einmal den Sandmann aus den Augen gerieben hatte. Sie warf ihm das läutende Handy zu. Bruno klappte es auf, doch er hielt es schlecht und es schnappte gleich wieder zu. „Pronto“, sagte er laut und verärgert, doch seine Ungeschicklichkeit hatte die Leitung gekappt. Zufällig sah sich Bruno dabei im Schminkspiegel seiner Frau. Noch vor zehn Jahren hätte er jeden für anstaltsreif erklärt, der „Pronto“ in seine Faust rief, die ein schwarzes Etwas umschlossen hielt, und auf eine Antwort daraus wartete.

Das schwarze Etwas begann wieder zu läuten. „Morgen, Chef“, wünschte ein putzmunterer Roberto Vialli, sein sizilianischer Assistent. „Ich glaube, wir haben eine Leiche.“

„Was heißt das, du glaubst?“

„Auf der Piazza in Cormons wurde ein Mann von einer Lkw-Ladung Felsbrocken verschüttet. Sie haben ihn gerade erst ausgebuddelt. Könnte sein, dass er noch lebt.“

„Und was geht das uns an?“

Bruno registrierte, dass Jelena inzwischen für das Frühstück auf der Terrasse aufgedeckt hatte, und hoffte auf eine Antwort, die ihm die ersten Freuden des neuen Tages nicht verderben würde.

„Es sieht nicht nach Unfall aus, eher nach einer Hinrichtung.“

Roberto litt wohl wieder einmal unter einem Anfall heftigen Heimwehs. Hinrichtungen, im Norden, in Vossis Revier gar?

„Tut mir leid, Chef, ich gebe nur weiter, was mir die Kollegin der Polizia Cormons gesagt hat – und die war ziemlich aus dem Häuschen.“

Bruno kannte die Polizistin, die einzige Frau des dortigen Kommandos. Eine gewisse Rita Jurinec. Eine selten gute Kraft. Falls sie wirklich aus dem Häuschen war, musste Ungewöhnliches vorgefallen sein. Denn leicht war diese Rita nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen.

„Hol mich ab“, sagte der Commissario.

Die Piazza war voll von Neugierigen. Polizia und Carabinieri teilten sich die Aufgabe, sie vom eigentlichen Tatort zurückzudrängen. Der Commissario erkannte Rita Jurinec und ging auf sie zu, während Roberto den Lancia so parkte, dass er mit den Fahrzeugen der Carabinieri, der Polizia, der Ambulanz und dem Wagen des Gerichtsmediziners eine Wagenburg um die Mariensäule bildete, in deren Lücken sich ein paar Gemeindebedienstete gegen die Gaffer stemmten. „Morgen, Rita, was gibt’s?“

„Ah, Commissario, gut, dass du da bist. Das Opfer war gegen die Mariensäule gebunden, als sich der Lkw entlud. Es lebte noch, als die Rettung kam, ist aber vor ein paar Minuten gestorben, wie mir der Medico sagte.“

Erst jetzt sah der Commissario die Leiche und stellte sein Wahrnehmungsvermögen von freundlich auf dienstlich. Er registrierte: Leiche, eindeutig männlich, blauer Pyjama mit grauen Längsstreifen, um sie herum Felsbrocken, darauf ebenfalls Blutspuren. Die Leiche lag auf einer Decke, der Aufschrift nach Teil der Ausstattung des Ambulanzwagens, Decke blutverschmiert. Rechte Gesichtsseite sowie Schulter stark blutverschmiert, Haar blond, Gesicht zerschmettert, Alter aufgrund der Verletzungen schwer einschätzbar.

„Kennen wir unseren Kunden?“

Rita schüttelte verneinend den Kopf.

Der Commissario wandte sich einem eleganten Mittvierziger zu, der neben der Leiche kniete und das Schienbein des Toten studierte. Es war Dottore Stefano Lamberti, unter Freunden Stipe, für Stefan in der slawischen Sprachfamilie des Balkans. „Hallo, Stipe. Was wissen wir schon?“

„Wenn ich mir seine Hände anschaue, ist er kein Tourist, keiner aus der Stadt, sondern ein Arbeiter oder Bauer.“

Vossi sah keinen Grund, ihn bei seinem Studium am Objekt weiter zu stören. Die Todeszeit war bekannt, die Todesursache offensichtlich, also wandte er sich Roberto und Rita zu: „Ihr sucht bitte nach Augenzeugen. Jemand muss den Lastwagen hierhergefahren haben, jemand muss den Mann an die Mariensäule gebunden haben, jemand muss den Lkw entleert und an die 100 müssen das gesehen haben. Also bringt mir so rasch wie möglich brauchbare Zeugen.“

Sein Blick fiel auf das Caffè Astra: „Rita, du kennst hier die Leute. Mach den Besitzer dieses Lokals ausfindig, weck ihn auf. Er muss aufsperren und uns seine Bude als vorläufiges Einsatzzentrum zur Verfügung stellen.“

„Ich kenn die Pächterin, sie steht da drüben. Sie ist sicher für alles zu haben, was ihr Geschäft fördert.“

Wenig später lieferte Roberto einen ersten Zwischenbericht. Als Angehöriger der technisch versierten Generation der Jugend hatte er herausgefunden, dass die Hebebühne des Lkws per Funk ferngesteuert worden war. Eine Kamera auf einem Stativ abseits der Marienstatue wurde sichergestellt. Sie hatte dem Täter die visuelle Kontrolle ermöglicht. Der habe irgendwo aus sicherer Entfernung bei seiner Gräueltat Regie geführt und die Ausführung jedes gefunkten Befehls überwachen können. Für Roberto sah die ganze Apparatur nach Armeebestand aus.

Vossi war beeindruckt. Da erkannte er unter den Uniformierten den leitenden Capitano der Carabinieri, Giuseppe Scappo. „Guten Morgen, Giuseppe. Gut, dass ihr so zahlreich erschienen seid. Bitte sag deinen Leuten, alles, was zwischen den Steinen zu finden ist, muss für eine spätere Auswertung gesammelt werden. Alles, jeder Zigarettenstummel, jeder Zahnstocher. Falls wo hingespuckt wurde, Spucke sichern und so weiter.“

„Okay, Bruno. Das Ganze schaut nach einer Riesenschweinerei aus. Was meinst du, soll ich Verstärkung anfordern? Ich könnte bei der Dienststelle in Palmanova betteln.“

„Mach das, Giuseppe. Zähl die Fenster, die auf die Piazza schauen, dann weißt du ungefähr, wie viele Zeugen zu befragen sind.“ Bei diesen Worten zeigte er auf das Ambiente von Häusern, die die Piazza umrundeten, und gewahrte, dass Rita ihm zuwinkte: „Wir können schon in das Caffè, die Wirtin hat für uns aufgesperrt.“

„Astra“ stand in einer kühn geschwungenen Schrift über Tür und Fenster des kleinen Lokals. Offensichtlich hatte die Wirtin ein paar amerikanische Krimis gesehen. Denn auf einen großen Bogen Papier hatte sie mit schwarzem Filzstift „Crime Scene, Solo Polizia“ geschrieben und damit das einzige Schaufenster ihres Etablissements verklebt. Vossi trat mit einem freundlichen Gruß und herzlichen Dankeschön für die Bereitstellung eines Arbeitsrefugiums ein. Kaum hatte er sich der jungen blonden Wirtin vorgestellt, erschien Roberto mit einer Frau von etwa 30 im Schlepptau: „Commissario, diese Signora sollten Sie anhören. Sie hat alles mit angesehen.“

„Maria Gambetti“, sagte die Signora im Schlepptau schüchtern. „Ich wohne hier, in diesem Haus, zweiter Stock, Tür zwölf.“

„Und haben was gesehen?“

„Die Glocken vom Dom haben mich geweckt. Das war ärgerlich, denn nach einer Petition der Bürger beim Rathaus dürfen sie vor sieben Uhr nicht läuten.“

„Nochmals, Signora: Wie spät war es genau, als Sie von den Glocken geweckt wurden?“

„Der Wecker auf meinem Nachttisch zeigte 20 Minuten nach fünf.“

„Und das wissen Sie genau?“

„Ganz sicher. Allerdings ist er um zehn Minuten vorgestellt, noch aus der Zeit, als mein Mann Arbeit hatte.“

„Aha, Ihr Mann. Wo war der zu dieser Zeit?“

„In seinem Bett.“

„Und er hat die Glocken vom Dom nicht gehört?“

„Genau weiß ich das nicht. Um diese Zeit brummt er höchstens. Darum geht ja unser Wecker gewohnheitsmäßig vor. Wenn ihm nicht die Zeiger drohen, bewegt er sich nicht.“

„Es haben Sie also die Glocken geweckt. Was taten Sie dann?“

„Geweckt wurde ich eigentlich nicht vom Läuten der Glocken, sondern von einem Summen.“

„Von einem Summen?“

„Ja. So, als ob irgendwo einer dieser Tonverstärker, wie er bei den Rockkonzerten auf der Piazza verwendet wird, ganz laut gestellt wäre. Erst danach begannen die Glocken zu läuten.“

„Sind Sie da ganz sicher, denn das ist sehr wichtig, Signora Gambetti?“

„Commissario, wenn Sie hier wohnen und jeden Sommer vier bis fünf Auftritte dieser Bands miterleben müssen, sind Sie in diesen Dingen Experte.“

„Und Sie mögen diese Art Musik nicht.“

„Es geht gar nicht um die Musik, sondern um die Lautstärke. Die ist so, dass ich oben im zweiten Stock bei geschlossenen Fenstern und mit Ohropax kein Auge schließen kann. Und für so etwas zahlt die Jugend auch noch Eintritt. Doch vielleicht hat mein Mann recht, wenn er sagt, ich sei für so etwas schon zu alt.“

Commissario Vossi schätzte ihre Jahresringe auf 30 bis 35, sagte etwas vom schönsten Lebensalter und dass sie wohl zu dem Typ Frauen gehöre, die mit jedem Jahr schöner würden. Das nahm sie nicht ungeprüft zur Kenntnis. Da der Commissario aber ihrem Blick standhielt und seine Miene so ernst blieb, als hätte er eben die Quadratwurzel aus 144 gezogen, kam sie zu der Erkenntnis: Ein schrecklich sympathischer Mensch, dieser Commissario.

Der fragte weiter: „Eines noch, Signora, Sie sagten ja, nach so vielen Konzerten auf der Piazza würde man zum Experten. Wie erklären Sie sich also dieses Summen?“

„Moment, Commissario … Es läuteten gar nicht unsere Glocken! Erst jetzt fällt mir das auf.“

„Wollen Sie damit sagen, es läuteten Glocken vom Turm des Doms, aber nicht die Glocken des Doms? Das ergibt doch keinen Sinn!“

„Doch, Commissario. Unsere Glocken haben einen höheren Ton, dies aber war ein volles Schwingen in einer viel tieferen Lage.“

„Wie können Sie da so sicher sein?“

„Ich singe seit meiner Firmung im Kirchenchor.“

„Ach, Sie sind Sängerin.“

„Ich wollte nicht behaupten, Sängerin zu sein. Bloß, dass ich im Kirchenchor singe. Seit meiner Schulzeit.“

„Und wie erklären Sie sich das Ganze, Signora?“

„Es läuteten bestimmt nicht unsere Glocken. Nach den sieben Jahren, die ich hier wohne, klingen sie mir fast so vertraut wie die Stimme meiner Mutter. Die von heute frühmorgens waren um eine halbe Oktave tiefer.“

Maria Gambetti zog eine Falte über die Stirn und dachte konzentriert nach. Vossi sagte keinen Ton, fixierte sie bloß in der Hoffnung, sie würde weiterreden, was sie nach einiger Bedenkzeit auch tat: „Ich habe nur eine Erklärung. Das schreckliche Läuten kam über einen Verstärker von einem Tonband, einer Schallplatte oder einer CD. Das erklärt das Brummen und das fremde Geläute. So muss es gewesen sein.“

„Und während all dieser Zeit war – abgesehen von dem Opfer an der Säule – kein einziger Mensch bei dem Laster?“

„Absolut niemand.“

„Und der Mann an der Säule schien die ganze Zeit ohne Bewusstsein?“

„Die ganze Zeit. Als er aber die Steine auf sich zukommen sah, bewegte er sich. Oh Gott, es war furchtbar, das hilflos mit ansehen zu müssen.“

„Es muss bestimmt ganz schrecklich für Sie gewesen sein, Signora. Ich muss aber dennoch weiterfragen. Denn jede Ihrer Beobachtungen kann uns helfen, das Verbrechen aufzuklären. Also: Ist Ihnen sonst etwas an dem Mann an der Säule aufgefallen?“

„Er hatte ein rotes Tuch auf. Oder war es gar Blut? Ich hatte ja meine Brille nicht auf.“

Die Frau war ziemlich mitgenommen. Vossi wollte sie nicht überstrapazieren und gönnte ihr eine Pause: „Das werden wir feststellen, Signora. Wir können uns über all das auch noch etwas später unterhalten.“

Der Capitano der Carabinieri klopfte an die Tür des Lokals und steckte seinen Kopf herein.

„Bruno, ich habe die Verstärkung, kann ich sonst irgendwie helfen?“

„Ja bitte, Giuseppe. Gib mir fürs Erste einen Mann, der hier als ständige Anlaufstelle präsent ist, und veranlasse den Mesner, uns die Tür zum Turm aufzusperren. Ich muss hinauf ins Geläut.“

„Viel Glück, Bruno, laut Tourismusbüro sind es 402 Stufen.“

Vossi stöhnte deutlich vernehmbar und erkundigte sich nach den Männern der Spurensuche.

„Schon da. Drei Mann, eben vorgefahren.“

„Na, dann wollen wir mal.“

4

Mittlerweile war es knapp vor neun Uhr. Die Sonne hatte die Piazza voll ins Visier genommen und heizte den Tatort auf. Noch immer standen die Menschentrauben vor den Absperrungen der Carabinieri. Der Lokalaugenschein in der Glockenstube hatte ergeben, dass ein oder mehrere Unbekannte einen Verstärker und Lautsprecher installiert hatten. Diese Gerätschaften entfesselten das fremde Glockenläuten über dem Umland. Der ganze Aufwand war wohl nötig geworden, weil das Geläut auf dem Turm von der Kirche aus elektrisch zu steuern war und diese dank des Eichenportals aus dem 19. Jahrhundert uneinnehmbar geblieben war. Schleierhaft aber blieb, was der Aufwand des Glockenläutens zu dem archaischen Ritual der Steinigung zu bedeuten hatte, warum das Sturmläuten als Begleitmusik des Verbrechens dem Täter oder den Tätern so wichtig war. Doch darüber wollte sich Vossi später den Kopf zerbrechen. Zufrieden stellte er fest, dass die Männer und Frauen in den weißen Anzügen der Spusi wirklich jeden Stein an der Mariensäule zweimal umdrehten. Hingegen konnten Roberto und Rita nur bedauernd berichten, dass es noch keine Spuren zum Fahrzeughalter des Lkws gab. Was Vossi wunderte. Er war davon ausgegangen, dass er irgendwann nach sieben Uhr vermisst werden würde. Zum Beispiel von einem Bauunternehmer. So ein Arbeitstier von Fahrzeug musste doch auf einer Baustelle fehlen. Schließlich war es schon nach neun.

Vor dem Caffè Astra spendete ein Kastanienbaum ein wenig Schatten. Dort hatte sich inzwischen auch allerlei Volk gesammelt. Darunter wohl die Stammgäste des Lokals. Die Aufforderungen der Carabinieri, weiterzugehen, fruchteten wenig. Das verhalf Vossi zu einer Idee. Er stellte sich auf die obere Stufe der Terrasse des Lokals und rief in die Menge: „Hört, Freunde! Geht doch hinüber zur Absperrung und schaut euch den Toten an. Vielleicht erkennt ihn wer und kann uns so weiterhelfen.“ Sofort setzte Bewegung ein. Rita und Roberto allerdings sahen ihn ziemlich perplex an. Deshalb erklärte er ihnen: „Ich bin ja ganz bei euch. Eine höchst ungewöhnliche Maßgabe. Sie könnte aber unsere Arbeit ungemein beschleunigen.“

Im Caffè Astra wollte Vossi den Gerichtsmediziner nach seinen ersten Erkenntnissen befragen. Dort ging es familiär zu. Alle Anzeichen sprachen dafür, dass nicht nur der Capitano, sondern auch der Forensiker Lamberti mit der Wirtin vertraut waren. Trotz offizieller Sperre als „Crime Scene“ konnte sie sich nicht über schlechten Geschäftsgang beschweren. Im Gegenteil, in dem Caffè ging es zu wie im sprichwörtlichen Taubenschlag. Die Hausparteien nutzten ihren Heimvorteil und kamen vom Stiegenhaus durch die Hintertür, um möglichst viel von dem aufzuschnappen, was Carabinieri durch die Vordertür ihrem Capitano zutrugen.

„Irgendetwas Besonderes, Stipe?“, fragte er den Dottore in gedämpftem Ton.

„Ja. Der Tote hat einen Schnitt und Schrammen über seine Schienbeine, die bestimmt nicht von der Steinlawine stammen.“

„Will heißen?“

„Also, mir erzählt sich das so: Der Mann hatte einen Autounfall. Das heißt, eigentlich einen Fußgängerunfall. Ein Wagen hat ihn angefahren, Tempo circa vierzig. Es muss ein Pkw gewesen sein, vermutlich mit einer Stoßstange aus schwarzem Hartplastik.“

„Kam er dabei ums Leben oder wurde er von den Felsbrocken vom Lkw erschlagen?“

„Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Beides ist möglich. Sehr wahrscheinlich ist, dass ihm die Felsbrocken den Thorax zerquetschten. Daran kann er erstickt sein. Oder einer der Steine hat ihn so schwer getroffen, dass ein tödliches Schädel-Hirntrauma die Folge war. Das alles erfährst du noch.“

„Gibt es irgendwelche Lackreste, die wir später als Beweis gebrauchen könnten?“

„Mit freiem Auge war nichts zu sehen. Sollten wir in der Gerichtsmedizin etwas finden, bekommst du es gerahmt auf den Tisch.“

„Was meinst du, ein Täter?“

„Ich meine, ja. Das Opfer lag mit Sicherheit schon auf dem Lkw, als der Täter hier vorfuhr. Dann stieg er aus, zog ihn vom Wagen herunter und hängte ihn mit einem Strick unter den beiden Schultern auf dem Gestänge für den Blumenkorb an der Säule auf.“

„Das heißt, das Opfer war zumindest bewusstlos, wenn nicht schon tot, als der Täter mit der Steinigung begann.“

„Zumindest bewusstlos. Ob sich das Opfer gewehrt hat, als ihm der Strick umgebunden wurde, wird sich noch zeigen. Wenn ja, hat er den Täter im Kampf sicherlich gekratzt und gebissen. Dann finden wir Hautpartikel von ihm.“

Die unersetzliche Rita keuchte herein:

„Bruno, du hattest recht. Am Anfang dachte ich, was für eine absonderliche Idee, das Opfer den Gaffern zur Besichtigung freizugeben, aber es hat sich gelohnt. Das Opfer heißt Rudolfo Schnabel, ein Bauer. Sein Hof liegt etwas außerhalb von Staranzano.“

„Welches Staranzano?“

„Das bei Ronchi.“

„Also, Roberto, auf nach Staranzano. Lass uns Gas geben.“

Während Roberto, der junge Kriminalassistent aus dem sonnigen Süden, der ihm zur Ausbildung beigestellt worden war, den Dienstlancia in Richtung Staranzano lenkte, zog Vossi eine Zwischenbilanz. Er überdachte die Diskussionen in den Medien über Moslems, die neuerdings die Städte Italiens mit Integrationsverweigerung auf eine harte Probe stellten und in Syrien bis vor kurzem noch alles niedermähten oder gar köpften, was sich ihrem neuen Kalifat in den Weg stellte. Eindeutig hatten sie es im vorliegenden Fall mit einer Art Steinigung zu tun. Bei den Juden und Moslems wurde sie Ehebrechern angedroht. Aber wurden nicht nur Frauen für Ehebruch gesteinigt? Hier jedoch war das Opfer ein Mann. War es nicht bis vor wenigen Jahrzehnten im italienischen Süden Brauch gewesen, dass der gehörnte Ehemann einem Rivalen den Garaus machte? Aber da war man zivilisiert, man griff zum Messer. Was da aber an der Mariensäule geschehen war, war eindeutig biblisch archaisch oder in Mode gekommener Islamismus.

Sie passierten ein Straßenschild mit der Aufschrift Staranzano und durchquerten ein winziges Dorf. Vor einem Bauernhof mit einem schmucken Landhaus gleich daneben sagte die Computerstimme des Navis „Ziel erreicht“.

Die Tür zum Haus stand halb offen, dennoch schien das Anwesen völlig verlassen zu sein. Jedenfalls blieben die Rufe Vossis unbeantwortet. Sie wiederholten ihre Hallo-Rufe und betraten das Haus. Die Treppe nach oben ließen sie links liegen und gingen durch die nur angelehnte Tür in das Wohnzimmer. Menschenleer. In der Küche brannte das Deckenlicht. Der Commissario zog sich die Gummihandschuhe über, drehte das Licht ab und ermahnte Roberto, ebenfalls Handschuhe überzuziehen. Auf dem Ofen stand ein elektrisch betriebener Wasserkessel, voll mit Wasser, kaltem Wasser. Die Küchenvitrine stand offen, eine Lücke zwischen Kaffeepackung, Kakaopackung und Keksdose ließ darauf schließen, dass da die Teedose hingehörte, die geöffnet auf dem Tisch stand.

Bei so viel Ordnung in den Küchenregalen lag nahe, dass es zu Signore Schnabel und diesem Hof eine Frau geben musste. Vossis Handy schlug an. Rita war am Apparat und berichtete:

„Schnabel ist Witwer. Seine Frau ist vor sechs Jahren auf der Umfahrung mit dem Traktor auf dem Heimweg gewesen, als ein Lkw auf sie auffuhr. Sie starb noch am Unfallort. Seither führt ihm die Nachbarin, eine Signora Rosa Salta, den Haushalt. Sie liegt aber zurzeit im Krankenhaus von Monfalcone. Sie hat vor zwei Tagen einen Kreislaufkollaps erlitten.“

Vossi und Roberto stöberten noch in Schubladen nach Fotos, steckten einige ein und sahen sich draußen am Hof um. Auffällig waren Reifenspuren, die unübersehbar in der Kiesspreu des Bodens ihre Furchen zogen.

„Da hat sich jemand wenig Mühe gegeben, unentdeckt zu bleiben. Hoffentlich zu wenig. Sag den Spusis, dass ich alles, was über die Reifen herauszufinden ist, wissen muss.“

Danach ging es ab in Richtung Monfalcone. Die Landschaft hatte sich geändert. Hügel und Weinstöcke waren zurückgeblieben, die Welt präsentierte sich als Obst- und Gemüsegarten. Dementsprechend wurden rechts und links der Straße die Früchte der Jahreszeit angeboten: Pfirsiche, Sommeräpfel, Zitronen, Melonen und – wie der Commissario erfreut feststellte – auch Kirschen. Er kam regelrecht ins Schwärmen: „Kirschen waren einmal das rote Gold hier, als dies alles noch des Kaisers Kirschgarten war. Du musst nämlich wissen: Bevor auf den Hügeln hier Weinbau betrieben wurde, wuchsen überall Kirschbäume. Mein Großvater hat mir erzählt, dass Ende März, zur Zeit der Kirschblüte, alles weiß von der Blütenpracht war. Es hätte jedes Mal ausgesehen, als wäre der Winter zurückgekehrt. Und die Kirschen galten als die besten weltweit. Im Juni sammelten sich die Bauern aus der Umgebung, um auf der Piazza ihre Ware feilzubieten. Dabei galten strenge Regeln. Die Körbe waren abgedeckt und keine einzige Kirsche durfte vor dem Signal des Marktleiters verkauft werden. So sollte verhindert werden, dass sich ein Bauer über einen frühen Zuschlag einen Preisvorteil sichern konnte. Die Käufer kamen aus Wien, Warschau, Moskau und Sankt Petersburg. Jüdische Händler, so zahlreich, dass es zur Hochsaison sogar eine improvisierte Synagoge gab. Übrigens, in der Via Dante in Cormons siehst du heute noch die Ringe in der Mauer für die Maultiere. Doch als mit 1918 das Ende der k. u. k. Monarchie kam, gehörte alles Land hier plötzlich zu Italien. Die Italiener aber hatten ihre eigenen Kirschgärten. Die Bauern von Cormons standen also plötzlich vor dem Nichts und es brauchte Jahrzehnte, bis sich der hiesige Wein seinen Ruf aufgebaut hatte und die Kirschen ersetzen konnte.“

Die beiden ließen üppige Maisfelder hinter sich und von einer Minute auf die andere roch es nach Meer. Das Licht hatte sich verändert. Man ahnte die Nähe der Lagune von Grado.

Das Krankenhaus von Monfalcone war ein Neubau von strengem Äußeren. Ein kurzes Gespräch mit dem diensthabenden Arzt hatte gezeigt, dass Signora Salta mit Verdacht auf Kreislaufprobleme eingeliefert worden war und die Untersuchung einen Gehirntumor zu Tage gebracht hatte. Eine Operation sei unumgänglich.

Hatten die zwei Herren der Mordkommission eine rundliche Pasta-Oma mit fettgepolstertem Gesicht und roten Wangen als Haushälterin von Signore Schnabel erwartet, so saß ihnen im Krankenbett eine drahtige Vierzigjährige gegenüber. Kein Hinweis auf die Schwere ihrer Erkrankung.