Cover

Tanja Paar

Die Unversehrten

Roman

Comes love, nothing can be done.

Billie Holiday

Präludium

„Kann ich ein Glas Wasser, Vio“, sagt sie und ich ergänze „haben“. Aber nur im Stillen. Tausend Mal schon habe ich ihr gesagt, sie soll in ganzen Sätzen reden. Kann ich dieses, kann ich jenes, warum kann sie nicht ein einziges Mal einen Satz zu Ende bringen? Mit der verträumten Nachlässigkeit eines Teenagers schiebt sie sich an mir vorbei an den Wasserhahn. Während ich noch die Hände im warmen Abwaschwasser habe, stellt sie den Hahn auf kalt und stupst mich mit der Hüfte beiseite, um das Glas unter den Strahl zu halten.

Ich zucke zusammen, als sie mich berührt. Sie lehnt sich an mich, nimmt zögernd einen Schluck. Schaut mir ins Gesicht, lässt das Wasser laufen. Ich möchte meine noch nassen Daumen an ihre Kehle drücken, da, wo die Luftröhre hart unter der Haut liegt. Sie ist jetzt schon fast so groß wie ich und hat die brünetten Haare ihres Vaters. Ich richte den Blick krampfhaft auf ihren Scheitel und bewege die Hände im warmen Wasser.

„Was?“, sagt sie. „Was ist?“

Mir bleibt die Luft weg, wenn sie mir so nahe ist. Ein Räuspern steigt mir in die Kehle. Ich möchte sie an den Haaren packen und ins Waschbecken tauchen, das Gesicht unter den Schaum zu den Weingläsern, die ich mechanisch weiterspüle. Sie zersprängen unter ihrem Schädel, den ich nicht aufhören würde hinunterzudrücken, bis sie nicht mehr atmet. Wie lange dauert das? Hätte sie die Kraft, sich aufzubäumen, auszuschlagen, mich zu kratzen, sich meinem Griff zu entwinden?

Wie lange braucht ein dreizehnjähriges Kind, um zu ertrinken? Bei einem achtmonatigen geht es ganz schnell, haben sie gesagt. Der Tauchreflex war schon vorbei, der Kälteschock. Er war bewusstlos, haben sie gesagt, sicher bewusstlos schon vor dem Atemstillstand, haben sie gesagt. Wie er treibt, unter der klaren, dünnen Eisdecke, die den Blick freigibt auf das Strampeln, grüne Schlieren von den Pflanzen am Grund, die sich träge neigen. Wie in Zeitlupe fährt die Kamera mit über dem Eis, bis er aufhört zu zappeln. Aber nein! So war es ja nicht. Kein Eis auf dem Wasser. Nur Erinnerungen an einen Horrorfilm füllen die Leerstelle. Kein Bild dafür.

Wir haben oft darüber gesprochen, wie es war, Martin und ich. Immer wieder hat er angesetzt zu erzählen, er, der sonst immer schweigt, hat angesetzt zu einer Erklärung. Einer Entschuldigung für das Unentschuldbare. Einmal, ganz unwillkürlich, hob ich die Hand zum Schlag, um sie dann erstaunt zu betrachten, so als wäre sie nicht meine, und wieder sinken zu lassen.

„Was ist mit dir?“, wiederholt Christina und schnell drehe ich den Wasserhahn zu. Wie zart sie ist und wie blass. Ich wische die Hand an der Hose ab und streiche ihr über den Kopf.

„Nichts, ich bin nur müde. Hast du schon deine Hausaufgaben gemacht?“

Bologna

Eine Beziehung auf Armlänge. Sie entsprach ihrem Wesen. Ich freue mich, dass du da bist, dachte sie. Aber „da“ mit ausgestrecktem Arm. Ich in Bologna, du in Berlin. Sie hatte sich ein Taxi geleistet, das sich jetzt durch die Via Aristotile Fioravanti in Richtung Bologna Centrale schob. Sie liebte diese Stadt, die sie bald verlassen würde. In einem halben Jahr war ihr Studium an der Johns Hopkins zu Ende. Dann hatte sie die Wahl. Sie müsste sich nur mit Martin auf ein Land einigen.

„Grazie, non ho problemi col bagaglio“, sagte sie zum Taxilenker, der ihr die schmale Ledertasche aus dem Kofferraum heben wollte. Wie immer war sie spät dran. Sie war nicht der Typ, der Stunden vor Abfahrt auf Bahnhöfen herumlungerte. Sie verstand das zwanghaft Überpünktliche nicht. Zeitgerecht war doch pünktlich genug. Sie war gut organisiert und wusste genau, wie viele Minuten sie durch die große Halle zum Bahnsteig brauchte. Zwei Minuten vor Abfahrt saß sie auf ihrem reservierten Platz.

Sie dachte an die wenigen Male, die sie nicht aufeinander zu, sondern miteinander gereist waren. Mit dem Nachtzug nach Budapest. Dieses eine Mal hatte sie ihm das Organisieren der Tickets überlassen. Sie waren in Berlin Ostbahnhof in den Zug gestiegen, fanden ihre Liegeplätze belegt vor – und erfuhren vom Schaffner, dass ihre Fahrkarten für den Vortag gegolten hätten. In diesen Dingen war Martin nachlässig. Beim Lernen für sein Studium der Augenheilkunde war er aber detailversessen. Mindeststudiendauer, jetzt noch die Dissertation und dann Tokio. Oder Santiago.

Wie das sein würde, ihr gemeinsames Leben, dachte sie, während sie die Wolldecke über dem Laken ihres Liegeplatzes faltete. Immerhin ein Vierer- und kein Sechserabteil. In Zukunft ein Job bei irgendeiner internationalen Organisation und nur mehr erste Klasse. Sie würden auch weiterhin viel reisen, allein schon beruflich. Sie zu Konferenzen, er zu Kongressen. Aber endlich ein gemeinsames Zuhause. Ein Ausgangspunkt für Da und Dort. Und das Dazwischen.

Manchmal glaubte sie, dass ihre Beziehung auf einem glücklichen Irrtum beruhte: Er sah in ihr eine Mitwisserin. Dabei war sie gar nicht in der DDR aufgewachsen. Ihr Vater hatte das Land 1960 mit gemischten Gefühlen verlassen. Er hatte eine ausgezeichnete Karriere in Jena vor sich, obwohl er ein Hitlerjunge gewesen war. 1944 als Kind eingezogen, er war also unschuldig, aber immer ein Rassist geblieben. Hans war schon in Boston geboren, sie zehn Jahre später, die Nachzüglerin. Als Teenager hatte sie beschäftigt, ob sie ein geplantes Kind gewesen war oder ein Unfall. Die sexuelle Freiheit der Sechzigerjahre war in Neuengland in seltsamen Schlüsselspielen geendet, ihre Mutter hatte einmal eine Andeutung gemacht.

Vielleicht war ihr Vater gar nicht ihr Vater, hatte sie sich damals vorgestellt. Und ein anderer der versammelten Freunde und Ehemänner hatte den Autoschlüssel ihrer Mutter aus der Zierschale gefischt und war mit ihr in dem weißen Ford Granada Coupé zum Verkehr geschritten. Und sie das Produkt eines Zufalls, eines Spiels, oder eines geplatzten Kondoms.

Die DDR hatte sie nie interessiert und als sie nach Europa kam, war diese schon Geschichte. Trotzdem meinte Martin in ihrem Gesicht ein Erkennen zu sehen, wenn er ihr von seiner Schulzeit erzählte. Er war ein dickes, stilles Kind gewesen, die FDJ-Wehrsportübungen eine Plage. Laufen mit schwerem Gepäck und uralten Gasmasken. Manchmal hielt sie es für Koketterie, so groß und schlank, wie er war. Die Diktatur hatte auch ihren Vater geprägt, das war aber schon die einzige Ähnlichkeit, die sie entdecken konnte. Das sah er anders.

Berlin

Dann eben den nächsten. Die S-Bahn hielt erst an Warschauer Straße und sein Zug ging in zehn Minuten. Zum Glück waren die Verbindungen nach München gut. Er würde trotzdem noch vor Vio ankommen. In aller Ruhe zum Hotel Schwarzer Hirsch fahren und einchecken. Sie bestand darauf, dass sie nicht mehr in der Jugendherberge wohnten wie in den ersten beiden Jahren ihrer Fernbeziehung. Wie er mit so wenig Geld hatte auskommen können, wollte er sich jetzt nicht mehr vorstellen. Und sie, die Professorentochter, hatte immer an Halbe-Halbe festgehalten: „Egal, wie viel wir verdienen, wir teilen uns das.“ Eine sehr amerikanische Vorstellung des Sozialismus, dachte er.

Er spürte den Blick der Frau, der er sich im Abteil achtlos gegenübergesetzt hatte. Erst als er von seinem Buch aufsah, bemerkte er, dass sie jung war. Grüne Augen und blau lackierte Fingernägel, ein Skriptum auf dem Schoß. Er blätterte zurück. Bringt ja jetzt nichts, dachte er. Nicht, ohne nochmals ihre schlanken Waden in der Dreiviertelhose wahrzunehmen. Für einen Moment sah er diese links und rechts auf seinen Hüftknochen aufliegen. Sex war für ihn nur eine Möglichkeit von vielen.

Immer wieder hatte er Vio erklärt, dass es wie Zähneputzen für ihn war, mit einer Frau zu schlafen. Eine angenehme Gewohnheit. Danach fühlte er sich besser, erfrischt. „Wir hatten ja nichts anderes“, sagte er und sie lachte. Er war nicht sicher, ob sie ihn verstand. „Es gab kein Telefon, also schaute man einfach bei den Kumpels vorbei.“ Wenn die Kumpels Frauen waren, ging man schon einmal miteinander ins Bett, einfach so. Kein Kino, kein Shopping. „Gut“, sagte Vio, „aber jetzt gibt es Telefon. Und du bist erwachsen. Und rufst mich schön in Bologna an, wenn du Sehnsucht nach mir hast. Und von Zähneputzen mit anderen will ich nichts wissen.“

Dafür liebte er sie. Sie hielt die Sache damit für erledigt. Ihrer selbst so gewiss, dass andere Frauen um ihn unter ihrer Wahrnehmungsschwelle waren. Bewusst hielt sie den Blick streng auf die gemeinsame Zukunft gerichtet, der sie diszipliniert entgegenfieberte. Nicht bei der Arbeit in Bologna, das wäre der Konzentration abträglich gewesen, sondern nur mit ihm, an ihren gemeinsamen Wochenenden. Es verwunderte ihn, wie verspielt sie da sein konnte. „Was wäre, wenn wir nach Chile gehen, was wenn …“

Er wollte erst einmal seine Dissertation fertig bekommen. Die gemeinsame Zukunft lag ihm seltsam fern, obwohl sie in den letzten vier Jahren so oft darüber gesprochen hatten. Es war für ihn gut so, wie es war. Die Treffen mit ihr intensiv, die wochenlangen Arbeitsphasen dazwischen ebenso, ab und zu eine andere Frau. Er vermied es, die Telefonnummern auszutauschen, war dazu übergegangen, gleich am Anfang zu sagen, er sei verheiratet, noch vor dem Sex. Wenn sie absprang, die Kellnerin in der Bar, die Krankenschwester oder die Bandagistin, dann ergab sich eben eine andere Gelegenheit. Und er nahm die nächste.

Die Bar

Klara war sich sicher gewesen, dass er kommt. Jetzt stand er da. Mit einer anderen. Am Ende der Bar, in der die Premierenfeier stattfand. Verflixt, dachte sie, warum habe ich mich so geziert? Er gefiel ihr, sehr sogar.

Sie hatte Astrid mitgebracht, obwohl sie beim Flirten keine Rückendeckung brauchte. Ungeniert starrte sie über die ganze Länge der Bar zum Kontrabassisten hinüber. Den Blickkontakt nahm allerdings ein anderer auf. Der Brünette in der Mitte fühlte sich angesprochen und lächelte zurück.

Nach zwei Bier, sie hatte die Position an der Bar gewechselt, um deutlicher an dem Brünetten vorbeischauen zu können, bemerkte sie, dass ihre Konkurrentin zur Handtasche griff. Jetzt fiel ihr sein Name wieder ein, Marian! Marian zahlte, ließ der Blonden den Vortritt und verließ das Lokal, ohne sie überhaupt zu bemerken.

Jetzt war sie froh, dass Astrid da war.

„Ich brauch einen Gin Tonic, und du?“

„Nein, morgen Prüfung. Ich geh jetzt.“

Dass sie sie so stehen ließ, war eine kleine Rache unter Freundinnen. Hab ich verdient, dachte Klara, wenn das geklappt hätte mit Marian, hätte ich sie stehen lassen. Sie ging auf die Toilette und warf einen Kontrollblick in den Spiegel: Keine Enttäuschung zu sehen. Sie hatte sich gut im Griff. Jetzt austrinken, gehen, schlafen. Morgen neuer Tag.

Da stand noch immer der Brünette. Lächelte sie an. Sie musste an ihm vorbei am Weg zu ihrem Platz.

„Trinkst du noch was mit mir?“ In der Sekunde, in der sie überlegte, bestellte er schon. Als die Biere vor ihnen standen, sagte er: „Starrst du immer so?“ Sie lächelte an ihm vorbei und sagte nichts. Es gab keinen Grund, den Irrtum aufzuklären.

Sie unterhielten sich gut. Da berührte sie jemand an der Schulter. Marian. Begrüßte sie enthusiastisch, ignorierte den Brünetten. Sie, überrascht, spähte über seine Schulter nach der Blonden. Nirgends.

Sie sprach mit Marian über die Theaterpremiere, bei der er gespielt hatte, die nächste Produktion, das Konzert am Samstag, zu dem er sie einlud. Der Brünette stand noch immer da.

„Deine Freundin ist schon weg?“, fragte Klara.

„Welche Freundin?“, sagte Marian.

„Na, die Frau von vorhin.“

„Ach, das ist eine alte Bekannte. Sie ist nicht aus Berlin. Ich hab sie schnell zur S-Bahn gebracht.“

„Alte Bekannte?“, mischte sich der Brünette in das Gespräch ein. Sie drehte sich zu ihm, schaute ihm direkt ins Gesicht und sagte: „Geh weg.“ Nicht laut, nicht leise. Gerade so, dass er es verstand.

Er nahm seine Tasche. „Ich heiße Martin. Gibst du mir deine Telefonnummer?“

„Sicher nicht“, sagte sie.

„Dann geb ich dir meine“, sagte er.

„Das brauchst du nicht“, sagte sie und wandte sich zu Marian.

München

Spreewälder Gurken! Ein großes Glas hatte Martin mitgeschleppt und streckte es Vio jetzt freudestrahlend entgegen. Sie bestellen Weißwurst in ihrer Stammkneipe beim Viktualienmarkt. Der Kellner machte zwar ein Gesicht, als Violenta das Glas öffnete und eine von den Gurken kostete, sagte aber nichts.

„90. Ich bin auf Seite 90. Jetzt hab ich es bald geschafft. Und den Titel ändere ich noch um auf ‚Die Bedeutung der kortikalen Plastizität für Filling-in-Mechanismen des pathologisch vergrößerten Blinden Fleckes‘“, sagte er.

„Immer musst du über deine Arbeit reden! Keine Details! Hauptsache, du wirst plangemäß fertig und wir können im Sommersemester ins Ausland.“ Sie schälte die Weißwurst, indem sie sie mit dem Messer der Länge nach anritzte und ihr dann die Haut abzog. Martin aß seine mit der Haut.

„Wäre ja Verschwendung“, sagte er.

„Du bist so ein Rüpel“, sagte sie, lächelte aber dabei.

Nach dem Essen schlenderten sie über den Markt. Martin kaufte zwei Kilo Orangen. Er wusste, sie liebte frisch gepressten Orangensaft nach dem Sex. Und so hatten sie es spätestens beim Orangenkauf immer eilig, ins Hotel zu kommen. Praktisch Pawlow’scher Hund, nur vaginal. Er brauchte sie bloß anzusehen über die Tüte mit den Orangen hinweg, die ihm der Verkäufer jetzt reichte, und sie wurde feucht.

Im Hotel Schwarzer Hirsch kannten sie sie schon: „Grüß Gott, Herr Schmidt“, sagte die Rezeptionistin. Auch wenn Violenta die Rechnung bezahlte, jedes zweite Mal, stellte sie sie auf seinen Namen aus, auch wenn Violenta ihr beim ersten Einchecken ihren Pass unter die Nase gehalten hatte, in dem gut lesbar „Wolf“ stand. Seit dem sechsten Mal bekamen sie immer das gleiche Zimmer: die Nummer fünf.

„Die Fünf ist ein Auftrag“, sagte Martin und zog ihr das T-Shirt über den Kopf. Manchmal schafften sie sogar sechs Mal Sex in den drei Tagen. Sie lagen im Bett und er klopfte spielerisch mit seinen Fingern an ihr Kreuzbein, obwohl sie gerade miteinander geschlafen hatten. „Erst die Orangen“, sagte sie.

„Glaubst du, das bleibt so, wenn wir uns jeden Tag sehen?“, fragte sie ihn.

„Hmm“, sagte er: „Im ersten Jahr schon. Aber dann?“

„Deswegen zierst du dich so, dich auf ein Land festzulegen! Du willst gar nicht mit mir leben.“

„Unsinn! Ich hab viel investiert in die Dissertation und will eine richtig gute Stelle.“

„Du hast ja nur Angst, dass dein Englisch nicht gut genug ist.“

„Ich schreibe auf Englisch.“

„Ja, aber reden kannst du nicht.“

„Dafür hab ich ja dich“, sagte er und küsste sie in den Nacken.

„Also Tokio?“, fragte sie.

Die Orangen pressten sie dann mit der Orangenpresse, die Martin immer extra mitbrachte. Sie tranken den Saft in den Zahnputzbechern aus dem Badezimmer. Im Schwarzen Hirsch gab es gläserne. Sie liebten dieses Hotel.

Der Anruf

Das Telefon klingelte. Sie lief den Gang entlang aus der Küche ins Vorzimmer: „Hallo?“

„Hallo, ist da Klara?“

„Wer spricht da?“, fragte sie.

„Martin.“

„Ich kenne keinen Martin.“

„Doch. Der aus der Bar.“

„Welcher?“

„Na dem Elefant, letzten Freitag.“

„Du bist das. Wie kommst du an meine Nummer?“

„Zuhören.“

„Ich hab dir meine Nummer nicht gegeben.“

„Aber du hast gesagt, dass du in den Niederlanden studiert hast. Molekularbiologie. Und wo du arbeitest. Da war es leicht. Na ja, nicht unmöglich.“

„Was willst du?“ Sie versuchte zu verbergen, dass sie verwirrt war. Das war ein Schreck, dass er sie aufgespürt hatte, andererseits fühlte sie sich geschmeichelt.

„Dich treffen.“

„Heute hab ich schon was vor.“

„Dann morgen.“

Als sie zugesagt hatte, wusste sie nicht genau, warum. Sie behielt den Hörer noch einen Moment in der Hand, bevor sie auflegte.

Er war ein guter Gesprächspartner. Gleich bei ihrer ersten Verabredung dauerten die Pausen zwischen den Sätzen nur kurz. Und das Erstaunliche daran: selbst diese Pausen waren ihr nicht unangenehm. Ihr gefiel seine Selbstsicherheit. Schon als er sie um ein zweites Treffen bat, fragte er nicht mehr ob, sondern nur wann. Beim dritten Treffen gingen sie auf eine Party und er stellte sie seinen Freunden vor. Wie selbstverständlich griff er nach ihrer Hand. Das nahm ihr die Entscheidung ab.

Sie traf auch den Kontrabassisten. Aber schon nach sechs Wochen fiel ihr auf, dass sie Martin lieber sah. Als er sie bald darauf fragte, ob sie mit ihm verreisen wolle, sagte sie einfach zu. Erst als sie die Flugbestätigung mit ihrer beider Namen in der Hand hielt, sagte sie zu ihm: „Interessant, so ist das jetzt also.“

Vor der Abreise musste er für ein paar Tage nach München. Sie sahen sich inzwischen täglich, sonst wäre es ihr nicht aufgefallen. „Einmal im Monat“, sagte er, „habe ich da einen Termin an der Uniklinik. Mein Zweitbetreuer sitzt dort.“ Er machte seine Dissertation in Augenheilkunde. Dass er jünger war als sie, störte sie nicht. Sie selbst hatte schon seit zwei Jahren einen fixen Job.

„Wir sind, als ich ein Kind war, immer dieselbe Strecke spazieren gegangen am Wochenende“, erzählte sie Martin. „Das hat mich nicht gestört, im Gegenteil. Ich wusste schon: nach dem steilen Anstieg kommt rechts der Steinbruch, dann die moderne Villa und dann erst geht die asphaltierte Straße in den Waldweg über. Es war immer gleich und doch anders. Im Herbst der dicke Teppich aus Buchenblättern im Hohlweg. Wir konnten uns alles erzählen, ohne Angst, etwas zu versäumen. Und doch habe ich manchmal mitten im Gespräch etwas Neues entdeckt. Jemand hatte einen Besen im Bombentrichter vergessen, ein spielendes Kind vielleicht. Dass manche Familien jedes Wochenende woanders hingefahren sind, habe ich nicht verstanden.“

In Martins Kindheit war nie etwas gleich geblieben, seit die Mutter den Vater verlassen hatte. Es folgten einige Ortswechsel, häufige Schulwechsel und dann das Internat. Klaras und seine Kindheit hätten nicht unterschiedlicher verlaufen können. Doch auch er liebte Buchenwälder und die Bewegung. „Was für ein Glück“, sagte er zu Klara, „dass ich eine getroffen habe, die auch Wanderschuhe hat.“