Cover

Markus Bundi

Wirklichkeit im Nachsitzen

Ein Essay zur Ästhetik in Franz Tumlers Spätwerk

Je länger ich schrieb, desto deutlicher wurde mir, dass man mithilfe von ein paar Sätzen imstande war, eine Wirklichkeit zu konstruieren, und dass man diese zwei Sekunden später wieder zerstören konnte, als wäre nichts geschehen. Als wäre nichts passiert. Oder doch nicht? Blieb doch etwas zurück? War es nicht so, dass sich mit jedem Satz, den man schrieb, auch wenn man ihn gleich darauf wieder durchstrich, ausradierte, ein Sediment niederließ, das einem den Blick auf die Dinge um eine Nuance veränderte, um einen Ton anders einfärbte.

Sepp Mall
aus dem Roman Berliner Zimmer

Vorbemerkung

In einem Interview, das Johann Holzner, langjähriger Leiter des Brenner-Archivs in Innsbruck und der Experte in Sachen Franz Tumler, der Neuen Südtiroler Tageszeitung (26. März 2014) gab, antwortete er auf die Frage nach „moralischen Kategorien“ im Zusammenhang mit Tumlers Verhalten während des Zweiten Weltkrieges und danach: „Was Tumler in den Jahren 1939 bis 1940 geschrieben hat, kann und soll nicht verteidigt werden. Er selber hat es später ja auch nicht getan. Aber das kann doch kein Grund sein, auch seine späteren Werke nicht zu lesen. Wir haben uns angewöhnt, Tumler nur in Hinsicht auf dieses Thema zu lesen: Wie setzt er sich vom Nationalsozialismus ab? Aber man kann seine Werke unter ganz anderen Gesichtspunkten lesen, zum Beispiel als Liebesromane oder als Beziehungsgeschichten. Junge Leute tun das auch.“

Ich steige mit diesem Zitat aus mehreren Gründen in den Essay ein: Zum einen hat die folgende Untersuchung, die sich mit dem Spätwerk von Franz Tumler auseinandersetzt, nichts mit seiner Nazi-Vergangenheit zu tun, zum andern aber erschiene es mir als falsch, diesen dunklen Fleck in der Biografie des Autors zu verschweigen. Ohne Frage zeitigt dieser Makel für die Rezeption von Tumlers Werk bis heute seine Folgen. Wer nach in Gymnasien gängigen Literaturgeschichten greift, sucht in der Regel vergeblich nach dem Südtiroler Autor. Die Einträge in größeren Lexika sind, wenn es denn welche zu Franz Tumler gibt, zum Teil verwirrend oder gar befremdlich.1 Sei es aus einer kruden Sympathie heraus, oder sei es aus Unwissenheit; die einen Autoren verschweigen Tumlers Parteinahme für die Nazis (und seinen Wunsch nach Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich), andere sehen ihn gar als Opfer, das ideologisch instrumentalisiert wurde. Wie die divergierenden Einschätzungen auch ausfallen, sie scheinen (fast) jede Lektüre seiner Texte von vorneweg einzutrüben, bis heute.

Freilich, auch für Franz Tumler, 1912 in Gries bei Bozen geboren und in Linz aufgewachsen, brach nach dem Zweiten Weltkrieg eine Zeit der Neuorientierung an, und ich meine, er stehe für ein herausragendes Beispiel der sogenannten „Trümmerliteratur“. Die Schwierigkeiten zu ermessen, die ein als NS-Autor Gebrandmarkter in den ersten Jahren nach dem Krieg zu gewärtigen hatte, maße ich mir allerdings nicht an. Das Wenige aber lässt sich aus heutiger Sicht mit Sicherheit sagen: Tumler war nicht der einzige Autor, der mit einer belasteten Vergangenheit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts aufbrach, und er war auch nicht der Einzige, der in einer zweiten Karriere bemerkenswerte literarische Texte veröffentlichte.2

Franz Tumlers Werk – es umfasst über dreißig Bücher – lässt sich wohl sinnvoll in fünf Phasen unterteilen. Der Beginn, der sich vornehmlich am Überraschungserfolg seines Erstlings, der Erzählung Das Tal von Lausa und Duron (1935), festmachen lässt3; seine Zeit als Blut-und-Boden-Dichter während des NS-Regimes, die Neuorientierung nach dem Zweiten Weltkrieg bis Ende der 1950er-Jahre, die Umsetzung eines eigenen ästhetischen Programms bis zu seinem Schlaganfall, den er 1973 erlitt; und schließlich die letzte Phase, in der nur noch kleine Texte und einzelne Gedichte entstanden sind. – Ich mag solche Einteilungen, solange sie einer ersten Orientierung dienen; denn scharfe Grenzen lassen sich eigentlich, wenn es um das Werk eines Schriftstellers geht, nicht ziehen.

So besehen fiele die Phase der Neuorientierung als die mit Abstand produktivste aus (denn in dieser Zeit entsteht zirka ein Drittel von Tumlers Gesamtwerk), und vieles spricht dafür, hierzu eine weitere Unterteilung vorzunehmen, denn Tumlers vielleicht poetischste Erzählung Der Mantel (1959) zeichnet sich durch eine ganz andere Erzählweise aus4, als wir sie zum Beispiel noch im seitenmächtigen Roman Ein Schloß in Österreich (1953) vorfinden.5

Zwei Aspekte lassen sich in dieser Phase der Neuorientierung leicht nachweisen: Zum einen war Franz Tumler von einer tiefgreifenden Sprachkrise erfasst, die kennzeichnend war für die Trümmerliteratur, in seinem Fall aber weit über die „Stunde Null“ hinausging und bis zum Beginn der 1960er-Jahre anhielt, zum andern gehörte der gebürtige Südtiroler ganz gewiss zu jener Fraktion Autoren, die immer zunächst Leser waren – sich also nicht nur umschaute, sondern die Werke anderer studierte.6 Welche Werke in jener Zeit auf Tumler einwirkten, was davon in seinen eigenen Texten einen Niederschlag fand, lässt sich teilweise ganz gut nachweisen, doch vergessen wir nicht, dass die Zeit um 1960 herum literaturgeschichtlich eine der innovativsten des 20. Jahrhunderts war, und dies nicht nur mit Blick auf den deutschsprachigen Raum. Und Tumler, dessen Hauptwohnsitz ab 1954 West-Berlin war (ab 1959 war er auch Mitglied der Berliner Akademie der Künste), befand sich quasi mittendrin.7

Wenn ich im Folgenden mein Augenmerk auf Franz Tumlers eigenständiges ästhetisches Programm richte, so untersuche ich Texte, die sich – wie es darzulegen gilt – einer Eigenständigkeit verdanken, wie sie sich der Schriftsteller über die Jahre der Neuorientierung hinweg erarbeitet hat. In diesen Texten – von Nachprüfung eines Abschieds (1961) bis hin zu Gründe für Abwesenheit (1974) – offenbart sich eine Erzählhaltung, deren oberste Maxime es ist, Empfindungen der Wirklichkeit entsprechend wiederzugeben. Das klingt im ersten Moment wenig spektakulär, doch Tumlers Erzählweise (und die damit einhergehende Erzählanlage) verweisen auf eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Dilemma, dass Empfindungen nicht sogleich vom Verstand abschließend zu interpretieren sind und sich einer Verbalisierung eigentlich immer zunächst entziehen. Zwar rekurriert ein Erzählen (welches immer ein nachträgliches In-Worte-Fassen ist) zwangsläufig auf vergangene Wahrnehmungen, doch das zu Transponierende, in Worte zu Fassende, meint nicht diese zu einem früheren Zeitpunkt sinnlich erfahrene Oberfläche; vielmehr geht es Tumler darum, die Empfindung, die sich zum Zeitpunkt der Wahrnehmung einstellte, in Worte zu fassen – wenngleich dies letzten Endes nur annäherungsweise möglich ist. Fraglos berührt er damit auch sprachphilosophische und erkenntnistheoretische Fragen, denen ich meinerseits nachspüren werde, darauf setzend allerdings, den „Vorgang“, von dem Tumler des Öfteren spricht, nicht durch allzu viel Theorie und entsprechende Fachtermini weiter zu verschleiern, sondern diesen nachvollziehbar zu erläutern.

Die Hauptschwierigkeit im Nacherzählen liegt darin, dass Empfindungen im „Augenblick“ (eines von Tumlers meistverwendeten Wörtern) alles andere als klar sind, viel häufiger sind diese diffus, in einer Dichte und Vielschichtigkeit gegeben, dass der Verstand im selben Augenblick gar nicht in der Lage ist, all diese Empfindungen zu verarbeiten, geschweige denn ein Handeln zu veranlassen. Die Verarbeitung geschieht also, wenn überhaupt, in der „Nachprüfung“, was für Tumler mit der „Aufschreibung“ geschieht. Im Schreibend-Erinnern etabliert sich dann mitunter ein Bewusstsein, das nicht zuletzt die Differenz zwischen Empfindung und Verhalten im damaligen Moment offenlegt und Wirklichkeit im Nachsitzen konstituiert.

Daraus lässt sich auch die Erzählanlage ableiten und erklären, die Tumler für die im Blick stehenden Texte gewählt hat: Protagonist ist ein Ich, das aus einer zeitlichen Distanz heraus Erlebtes nachzuempfinden (ver)sucht. Weil die Nachprüfung (durchaus zu verstehen als Versuch, wenigstens nachträglich zu verstehen) zentral ist, steht das nacherzählende Ich genauso als Figur im Zentrum des Textes wie auch das(selbe) Ich in der Vergangenheit, dessen Geschichte erzählt wird: Erzählzeit und Handlungszeit geraten also gewollt und notwendig von vorneweg in eine Wechselwirkung. Der Schreibprozess als solches wird von Tumler mehrfach thematisiert; technisch gesprochen handelt es sich um ein gedoppeltes transzendentales Vorgehen: Die Überbrückung von Empfindung zu Verhalten, die im Augenblick der Situation nicht, ungenügend oder nur fragmentarisch zu leisten war, wird nun sprachlich ergründet. Der wesentliche Unterschied bei der Aufschreibung ist der, dass dafür Zeit vorhanden ist. In andern Worten: Es ist das sprachliche Empfinden im Nachhinein, eine Ästhetik, die dem ursprünglichen nonverbalen Empfinden so nahe wie möglich kommen soll, durchaus im Sinne einer nachgereichten Wahrhaftigkeit.

Die Erzählanlage wiederum bedingt eine komplexe, recht eigentlich virtuos zu nennende Erzählweise. Denn die inszenierte Wechselwirkung von Erzählzeit und Handlungszeit bleibt nur solange als Spannungsfeld erhalten, wie die Differenz zwischen erlebter Situation damals und sprachlicher Aufschreibung erkennbar bleibt. So kann der Sprachduktus – berichtend, schildernd, beschreibend –, der Leserinnen und Leser in die Geschichte eintauchen lässt, nicht derselbe sein wie jener, der nachempfindend und reflektierend eine erweiterte Sicht ins Spiel bringt. Korrekturen, Uminterpretationen oder gar Rechtfertigungen sind nur solange interessant, wie man als mitdenkender und mitfühlender Leser auch um die Ursache, die ursprünglichen Gedanken und Interpretationen, weiß.

Es sind nicht zuletzt die Widerstände, die zwischen Ursituation und Nachbetrachtung aufscheinen, die – technisch gesprochen – eine Form von „Rückkopplungseffekten“ erzeugen, welche den Reiz der Lektüre der späten Texte Tumlers ausmachen, indem Gesprochenes oder auch nur Gedachtes von damals im Nacherzählen eine andere Färbung, zuweilen gar eine andere Schlagseite bekommt.

Einsteigen will ich in diesen Essay mit einer genaueren Betrachtung der Erzählung Gründe für Abwesenheit, die erstmals im Sammelband Landschaften und Erzählungen (1974) abgedruckt wurde. Dieser Text ist deshalb von herausragendem Interesse, weil er quasi die (utopische) Umkehr des über viele Jahre erarbeiteten Prozesses vorschlägt, der Protagonist also die Zukunft vorwegnehmend die Aufschreibung vornimmt, nach der sich dann sein Leben textgetreu abspielen soll.

Wirklichkeit im Nachsitzen

Im Verlauf einer intensiven Lektürephase, während der ich schon wusste, dass ich diesen Essay würde schreiben wollen, ist mir nicht zuletzt wegen der auftretenden Rückkopplungseffekte aufgegangen, die Untersuchung hier nicht der Chronologie der Veröffentlichungen entsprechend mit Nachprüfung eines Abschieds (1961) zu beginnen, sondern mit dem letzten von Franz Tumlers längeren Prosatexten dieser Phase, also mit der Erzählung Gründe für Abwesenheit (1974).

Auslöser für diesen Essay aber war die Lektüre des Romans Pia Faller (1973), die in mir eine Unruhe bewirkte, wie sie nur die Literatur zu verursachen vermag, die ich bei jedem Text, den ich zu lesen beginne, mir erhoffe, die sich aber nur selten einstellt. Womöglich setze ich mich nicht zuletzt deshalb immer wieder schreibend mit literarischen Texten auseinander, um diese Unruhe genauer zu ergründen (oder auch nur weiter auszukosten). Sie entspringt, so glaube ich, einer Mischung aus Faszination und Nichtverstehen. Irgendwie werden durch das Lesen solcher Texte meine Erwartungen gesprengt, ich werde aus der Reserve gelockt, bin dann – ich bitte den Ausdruck zu entschuldigen – auf beste Weise angefixt. Im anhaltenden Staunen wurde mir nach und nach klar, dass sich in Pia Faller eine Erzählinstanz einzuholen versucht, und ich begann zurückzublättern, nahm die Fährten Tumlers auf, bald erkennend, dass der Kosmos dieses Schriftstellers riesig ist und wohl niemals ganz zu ergründen sein wird – und genau genommen gilt diese Einsicht allein schon für den Roman Aufschreibung aus Trient (1965).

Wenngleich das Werk Franz Tumlers ein wenig in Vergessenheit geraten ist, so hat sich doch ein akademischer Kreis in den vergangenen Jahren wieder intensiv mit den Texten Tumlers auseinandergesetzt, und dies vornehmlich mit unverstelltem Blick. Davon habe ich profitiert, doch kann und will ich mich nur bedingt in diesen literaturwissenschaftlichen Kontext einreihen, fühle mich im Herantasten des Lesers noch immer zu sehr zu Hause, sodass ich mir mehr als einen Versuch – eben einen Essay – nicht zutraue. Dennoch glaube ich, ist dem inszenierten Einholmanöver im Erzählen und insbesondere dem utopischen Überholen, wie es Tumler in Gründe für Abwesenheit zur Darstellung bringt, noch nicht die Aufmerksamkeit geschenkt worden, die dieses ästhetische Programm verdient. So oder so: Diese Manöver zu beleuchten, das ist das Ziel dieses Essays.

Mit dem Begriff „Rückkopplungseffekte“ bezeichne ich das spezifische Erzählen Tumlers, das sein eigenes ästhetisches Verfahren für das Spätwerk ausmacht – als die letzte Konsequenz eines jahrelangen Nachsitzens. Erste Indizien dieser Ästhetik lassen sich fraglos schon früh erkennen, und für eine breiter angelegte Untersuchung sollte man den Roman Der Ausführende (1937) als Erstes genauer unter die Lupe nehmen.

Wenn ich hier erst der Nachprüfung eines Abschieds besondere Aufmerksamkeit schenke, dann tue ich das nicht, weil ich die früheren Texte Tumlers für uninteressant hielte (allen Tumler-Einsteigern empfehle ich die davor erschienene Erzählung Der Mantel), sondern weil es für mein Vorhaben jeden Rahmen sprengen würde.

Nebenbei: Die Seitenangaben folgen, wo immer dies möglich ist, den Neuausgaben im Haymon Verlag, die seit 2011 in loser Folge erscheinen.

Empfinden und Erzählen

Beginnen wir nüchtern und theoretisch, darauf setzend, dass das Lesen der Texte Franz Tumlers danach ein reines Vergnügen sein wird. Ich setze also ein mit einem Grundsatz („Von der Logik überhaupt“) aus der Erkenntnistheorie Immanuel Kants, mit einem Auszug aus der Kritik der reinen Vernunft (1781/1787, B76): „Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen).“ – Ein erstes Indiz für die Stimmigkeit dieser Aussage aus der Sicht Tumlers dürfte bereits der Titel des 1974 herausgegebenen Sammelbands liefern: Landschaften und Erzählungen.8 – Als Frage gefasst, ließe sich der Titel etwa so übersetzen: Wie findet sinnlich Erfahrbares in Sprache?

Das scheint zunächst einmal weit hergeholt, gleichwohl dürfte die Erkenntnis Kants das Fundament für zwei entscheidende Wendungen in der Philosophie – oder der Geisteswissenschaften des 20. Jahrhunderts schlechthin – gewesen sein: Zum einen für den linguistic turn, der eingeleitet durch Bertrand Russell und George Edward Moore in den Schriften von Ludwig Wittgenstein seinen (vorläufigen) Höhepunkt fand, zum andern lässt sich ein perceptual turn diagnostizieren, ausgelöst durch die Phänomenologie Edmund Husserls, an welcher sich in der Folge Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre, Wilhelm Schapp, Maurice Merleau-Ponty und andere abarbeiteten.

So sehr uns die Realität beschäftigt, also das, was ist, was wahr ist, so wenig gelingt es uns, „Sachverhalte“ eins zu eins in Sprache zu fassen. Wenngleich ich Wittgensteins Philosophie allzu sehr verkürze, so dürfte seine (spätere) Erkenntnis – „Sprache ist ihr Gebrauch“ – letztlich auch für Tumler und sein ästhetisches Programm maßgebend gewesen sein; ein Gebrauch allerdings, wie man ihn sich skrupulöser kaum vorstellen kann.

Wo ist der Anfang? Oder konkreter (und subjektiv): Wo fange ich an? – Es sind zwei Antworten, die Franz Tumler bei seinem Erzählen begleitet haben dürften. Die eine stammt aus Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus (1921) und lautet: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ (Satz 5.6) – Die andere findet sich im Vorwort zu Merleau-Pontys Hauptwerk Phänomenologie der Wahrnehmung [org. 1945]: „Die Welt ist das, was ich wahrnehme.“9 – Daraus ergeben sich Folgefragen: Wie lassen sich die Grenzen der Sprache ausloten? Und: Was nehme ich im Augenblick wahr und was davon bleibt? Es ist nichts weniger als die Kombination der beiden Fragen, die Tumler in seiner Antwort, in seiner Aufschreibung, zu bündeln versuchte: Im Rückgriff auf Erlebtes entsteht ein Text, eine Erzählung. Das In-Worte-Fassen schafft – in Rückkopplungen – ein Gewahrwerden, eine Geschichte, die so nicht (oder eben nur in Fragmenten) stattgefunden hat. Das aktive Nach-Denken, das sich erinnernd, nachempfindend und erfindend im Schreiben einstellt, etabliert eine neue Ordnung, eine Plausibilität, die das ursprünglich Erlebte beziehungsweise Gegebene erst begreifbar macht.

Wie findet sinnlich Erfahrenes in Sprache? – Die Anstrengungen und Umwege, die dafür nötig sind, sind beträchtlich. Tumler geht es um ein wahrhaftes Erzählen, das im Idealfall das, was geschieht (was geschehen ist), wahrhaftig zum Ausdruck bringt. In der Erzählung Nachprüfung eines Abschieds, der ich mich im folgenden Kapitel näher zuwenden werde, äußert der Ich-Erzähler einmal die Sehnsucht nach dem Ideal einer Eins-zu-eins-Abbildung:

Eines Tages werde ich wieder so erzählen können wie jemand, der über die Straße geht: jetzt ist er herüben, jetzt ist er drüben, und ein Schritt kommt nach dem andern. Ich muß nur vorsichtig sein und mich gedulden. Mir geht es noch so wie der blinden Person, daß ich die Richtungen verwechsle.

Nachprüfung eines Abschieds, S. 57

Über den Begriff „Wahrheit“ in Tumlers Ästhetik wird noch gesondert zu verhandeln sein. So viel vorneweg: Es handelt sich bei diesem Vorsatz gewiss nicht um einen naiven Anspruch, von dem der Autor glaubte, dass er einzulösen wäre, vielmehr trieb Tumler ein asymptotisches Verfahren an, ein Erzählen, das diesem Anspruch auf Authentizität des Erlebten möglichst nahezukommen suchte. In der zitierten Passage steckt schon die Unmöglichkeit, Erzählen und Ereignis zur Deckungsgleichheit zu bringen. Die Nachprüfung ist ein Nacherzählen, wie es literarischem Erzählen grundsätzlich inhärent ist – sowohl das Präsens als auch das Wörtchen „jetzt“, wie es der Autor gedoppelt verwendet, offenbaren sich als Stilmittel, als Instrument zur Inszenierung einer vermeintlichen Gegenwart, als die Wiedergabe von Ereignissen. Streng genommen aber ist jeder Augenblick trotz aller Vergegenwärtigung unwiederbringlich.

Aus dieser Perspektive liest sich Tumlers letzte längere Erzählung Gründe für Abwesenheit in der Tat wie der dramatische Höhe- oder gar Wendepunkt.

Gründe für Abwesenheit

Jeder kennt die schönen Prospekte, die von den Reisebüros ausgegeben werden und aus denen man sich unter anderem auch über Gesellschaftsreisen unterrichten kann; man erfährt, wie die Route geplant ist, wie weit die Entfernungen sind, von Ort zu Ort, von Quartier zu Quartier, und überdies bekommt man eine Einteilung für den Verlauf eines jeden Reisetages; da sind bestimmte Dinge festgesetzt, anderes ist zur Wahl gestellt, manches kann nach eigenem Belieben mit Unternehmung und Begegnung ausgefüllt werden; man hat, liest man einen solchen Prospekt, den Verlauf der Tage in Umrissen vor sich und darf sich der Hoffnung hingeben, daß nun auch alles wirklich so eintrifft, wie es geplant und gedruckt ist.

Mit einem solchen Prospekt in der Hand kam eines Tages Herr N., ein Beamter und Junggeselle von vierzig Jahren, nach Hause; er las die genauen Angaben und entschloß sich, an dieser Gesellschaftsreise teilzunehmen. Es war eine größere Reise über drei Wochen hin; sie verlief, wie es der nützliche Prospekt anzeigte, und in der Zeit gewöhnte sich N. so sehr daran, mit einer schon fertigen Einteilung, in der alles verzeichnet und deutlich ablesbar war, zu leben, daß er auch nach seiner Rückkehr zu Hause von dieser Gewohnheit nicht lassen wollte. So kam er dazu, daß er an den ersten beiden Sonntagen, die er wieder daheim war, am Abend die Tage der kommenden Woche einer Aufschreibung unterzog, und er verspürte dabei eine gewisse Befriedigung, als habe er sie damit schon fixiert und könne über ihren Verlauf gebieten. Er blieb bei dieser Einrichtung und fuhr mit ihr auch gut, solange er, nach dem Vorbild des Prospektes, auch immer ein paar Partien offen ließ. Allmählich aber bekam er immer mehr Lust an diesen zeitvertreibenden Notizen – denn das waren sie: sie vertrieben ihm die gewöhnliche wirkliche Zeit zugunsten einer bloß eingebildeten, von ihm willkürlich angenommenen – so daß er bei kleinen Unstimmigkeiten und Abweichungen, wenn etwas anders eingetroffen war, als er es bestimmt hatte, einfach dazu überging, diese Abweichung nicht zur Kenntnis zu nehmen, beispielsweise einem unerwarteten Besucher, den zu empfangen er genötigt gewesen war, beim Abschied zu erklären, er betrachte seinen Besuch als nicht existent; oder etwa, wenn es ihm selber eingefallen war, am Abend noch einmal frische Luft zu schöpfen, ohne daß er die planmäßig festgelegt hatte, während seines Spazierganges seine Bekannten nicht zu grüßen und, darüber zur Rede gestellt, unter Berufung auf seinen Zettel nachzuweisen, daß er mit der Person, die spazieren gegangen sei, nichts zu tun haben könne.

Das Befremden seiner Bekannten störte ihn dabei nicht, aber bald gab es für ihn Schwierigkeiten anderer Art, zunächst so, daß er zuweilen wegen bestimmter, nicht wegzuleugnender Ereignisse gezwungen war, einen Vorgriff zu tun, eine Art Zeitverschiebung vorzunehmen, indem er eine Sache, die er zwar erlebt hatte, von der er aber dann feststellen mußte, daß der Zeitpunkt ihres – in seinen Augen nun eher scheinbaren – Stattfindens auf seinem Plan schon besetzt war, auf einen anderen Tag verlegte.

abwesend