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Wilfried Steiner

DIE ANATOMIE DER TRÄUME

Roman

Wir machen aber von dem Länderreichtum des Ich viel zu kleine oder enge Messungen, wenn wir das ungeheure Reich des Unbewußten, dieses wahre innere Afrika, auslassen.

Jean Paul, Selina, 1823

Die Psychoanalyse erfand die Moderne. Diese Leute haben die Welt in die Luft gesprengt.

David Cronenberg

EINS

Das Wichtigste an einem Buch ist ein guter letzter Satz.

Freuds Bilder zwingen uns, die Unausweichlichkeit des Todes zu sehen, das Aberwitzige jedes Fluchtversuchs vor ihm; und doch zeigen sie, dass wir im Moment der nutzlosen Rebellion gegen ihn so voller Leben sind wie niemals sonst: Im Augenblick des Aufbegehrens gegen den Tod, scheint Freud zu sagen, sind wir gleichzeitig am lächerlichsten und am schönsten.

Nicht schlecht, fand ich. Obwohl es genau genommen zwei Sätze waren. Ich klappte das Buch zu, schloss die Augen und strich mit der Hand über den Buchrücken. Es war ein Essay über Lucian Freud, verfasst von der Kunsthistorikerin Maia Schütz, die sich vor ein paar Jahren auch als Malerin einen Namen gemacht hatte. Mit ihrer ersten Ausstellung war sie gleich in die oberste Liga der Wiener Kunstszene aufgestiegen.

Eigentlich sollte ich mich ja mit Lucians Großvater befassen, aber mein Eifer hielt sich in Grenzen. Jede Ablenkung war mir willkommen. Das mochte daran liegen, dass ich mich für das Werk Sigmund Freuds nie richtig erwärmen hatte können. Es war mir immer ein wenig eindimensional erschienen. Außerdem hatte ich eine Abneigung gegen geschlossene Welterklärungssysteme. Am meisten aber machte mir die Vorstellung zu schaffen, wer von unseren Schauspielern Freud auf der Bühne verkörpern sollte. Kramer? Nein, der hatte zwar noch immer gelegentlich große Momente, aber sein Textgedächtnis war für eine komplizierte Hauptrolle mittlerweile zu schwach. Grabowski? War nach dem Hamlet-Debakel mit der litauischen Regisseurin in eine Krise gerutscht und hatte in der letzten Produktion meist schon bei den Vormittagsproben nach Schnaps gerochen. Fehringer hatte ihm jetzt den König Lear anvertraut. Offenbar hoffte er, dass Grabowski mithilfe einer großen Aufgabe aus der Krise herausfinden und ihn aus Dankbarkeit mit einigen grandiosen Szenen beschenken würde. Es war eine Art letzte Chance für Grabowski, aber nur wenige im Haus glaubten, dass er sie nützen würde.

Also kam für Freud nur einer von den Jüngeren in Frage. Ich sah schwitzende Maskenbildnerinnen, aufgeklebte graue Bärte und mich schauderte.

Eingebrockt hatte mir das Ganze Fehringer mit seinem „untrüglichen Instinkt für Theatererfolge“. Das hatte er selbst über sich gesagt, und ein Kritiker hatte es dann nachgebetet. Meiner bescheidenen Meinung nach hatte Fehringer wenig Ahnung von Theater. Vom Massengeschmack verstand er etwas, zugegeben, und seine Auslastungszahlen waren eindrucksvoll. Einen guten Satz von einem schlechten zu unterscheiden war jedoch nicht seine Stärke. Seine zuvorkommende und etwas servile Art war bei Kulturpolitikern sehr beliebt. Er mochte das Heitere, die leichte Muse, das allgemein Verständliche. Er hatte ein sonniges Gemüt, war aber trotzdem keine Leuchte. Eine seiner Eigenschaften war mir allerdings unangenehmer als alle anderen: Er war mein Chef.

Das Handy läutete, Renate wollte wissen, wie es mir ging. Gut, sagte ich, gutgut. Schön, sagte Renate. Es gibt viele Arten von Scheidungen. Manchmal, bei den wöchentlichen Routinetelefonaten, ertappte ich mich dabei, die einvernehmliche Variante für die schlechteste zu halten. Aber wenn sich in der Theaterkantine die Schauspieler abartige Details über ihre Rosenkriege erzählten, war ich wieder ganz zufrieden. Zumindest für ein paar Tage.

Nicht, dass es mich über die Maßen aufwühlte, einmal in der Woche von meiner Exfrau angerufen und nach meinem Befinden gefragt zu werden. Man musste sich ja noch etwas zu sagen haben nach zwanzig Jahren, auch wenn alle Leidenschaften so fern schienen, dass ich mir manchmal nicht sicher war, ob sie je existiert hatten. Vielleicht war es die Seelenlosigkeit unserer Gespräche, die mich so melancholisch werden ließ. Schließlich hatten auch wir einmal alles voneinander gewollt. Große Gefühle, auf Dauer. Wir hatten uns geschworen, dass wir alles tun würden, um nicht zu enden wie andere Ehepaare. Und jetzt waren unsere Bekundungen von Anteilnahme am Leben des anderen umwölkt von der Gewissheit des Gescheitertseins. Was uns blieb, war nur eine kalte Traurigkeit. Alles Mühen ist vergeblich, die Zeit gewinnt immer.

Ich stellte das schmale Buch von Maia Schütz ins Regal zurück und setzte mich an den Schreibtisch. Da lag er, der Roman, an dem ich in den nächsten Wochen nicht vorbeikommen würde, ob ich wollte oder nicht. Er hieß Das Jahrhundert der Seele oder Die Schlacht um die Träume. Auf dem Umschlag war eine Fotomontage zu sehen, die Sigmund Freud umringt von Leuten zeigte, die mir bekannt vorkamen. Wenn man dem Inhaltsverzeichnis traute, hätte das Buch eher Das Jahrhundert der Psychoanalyse heißen müssen, doch das war den Verkaufsstrategen des Verlags wohl zu sperrig gewesen. Anscheinend ging es um die Begegnungen Freuds mit Menschen aus der Sphäre der Kunst. Wie Fehringer das auf die Bühne stellen wollte, war mir ein Rätsel. Eine Serie von Dialogen in einer Blackbox? Im leeren Raum von Peter Brook, den er so gern zitierte? Oder mit einer gigantischen Couch als Bühnenbild?

Die Autorin hieß Irene Augustin, und der Klappentext verriet, dass sie mit einem Roman über die Liebe Georg Trakls zu seiner Schwester Grete berühmt geworden war. Leider gab es kein Foto. Es hätte mich beruhigt, ein sympathisches Gesicht zu sehen. Schließlich musste ich mit dieser Person zusammenarbeiten. Gleichgültig, ob ich Fehringers Idee begnadet oder bescheuert fand. Die Erarbeitung der Dialogfassung blieb in jeden Fall an mir hängen.

Das Los des Dramaturgen ist ein bitteres.

ZWEI

Am nächsten Morgen öffnete Fehringer mit Schwung die Tür zu meinem Büro und fragte: „Und?“ Vermutlich ging er davon aus, dass ich mich dem Sog des Romans nicht hatte entziehen können und das Werk in einer einzigen schlaflosen Nacht mit klopfendem Herzen zu Ende gelesen hatte.

„Das Inhaltsverzeichnis macht neugierig“, sagte ich.

Der Intendant ließ sich mit einem Seufzer in den Stuhl fallen, der meinem Schreibtisch gegenüberstand.

„Es interessiert Sie schon wieder nicht, Pinetti, oder?“, fragte er. „Manchmal frage ich mich, was Sie überhaupt interessiert. Außer Ihren abgehobenen Lieblingsdramatikern, die uns die Leute in Scharen davontreiben würden.“

Was ich an Fehringer schätzte, war, dass er trotz der vielen Jahre gemeinsamen Schaffens bei einem distanzierten „Sie“ geblieben war. Aber vielleicht wartete er ja seit Ewigkeiten, dass ich ihm das Du-Wort anbot. Immerhin war ich um fünf Jahre älter als er.

„Das sehen Sie falsch“, sagte ich. „Ich kann dem Thema durchaus etwas abgewinnen. Ich frage mich nur, wie es funktionieren soll, daraus einen Theaterabend zu machen.“

„Das lassen Sie ruhig die Sorge des Regisseurs sein“, sagte Fehringer. „Sie schreiben die Dialoge, den Rest macht Happel.“

Aha. Also Happel, Fehringers Spezialist für dramatisierte Romane. Er kam in unserem Haus oft zum Zug, denn Fehringer war – ein wenig verspätet, aber dann umso hartnäckiger – dem Trend gefolgt, das Dickicht der Prosa-Neuerscheinungen nach quotenträchtigen Titeln zu durchforsten, statt neue Stücke junger Theaterautoren zu spielen. Er hatte eine Affäre mit der Chefin einer großen Buchhandelskette, die ihm regelmäßig aktuelle Verkaufszahlen lieferte, so war er immer „am Puls der Zeit“, wie er das nannte. Happels letzte Arbeit war die Inszenierung eines Kriminalromans, der im Wiener Rotlichtmilieu spielte. Kramer gab den alternden Kommissar, die Steinmayr mit mehreren Schichten Schminke die Nutte mit Herz und Wiesinger, einer unserer vielversprechenden Jungen, den ausgefuchsten, aber liebenswerten Strizzi. Bei der Premierenfeier fehlte ich, ich war plötzlich krank geworden. Die Kritiken waren durchwachsen, aber das Publikum stürmte das Theater.

„Eine gute Idee“, sagte ich. „Wenn einer das kann, dann Happel.“

Fehringer war anzumerken, dass er sich nicht sicher war, ob ich das ironisch meinte. So saßen wir uns wie so oft schweigend gegenüber, er musterte mich und ich musterte ihn.

Fehringer war fünfundvierzig, und er sah aus wie fünfundvierzig. Was er mit seinem durchtrainierten Körper und seinem stets braun gebrannten Gesicht an Jugendlichkeit gewann, verlor er wieder durch seinen eigentümlichen Bart, eine Mischung aus Schnurrbart und Backenbart, der an ihm wie ein Fremdkörper wirkte und farblich zwischen gelb und grau oszillierte – je nach Lichteinfall. Seine Brille hatte eine altmodische Fassung, sie verlieh ihm die Aura eines Professors und einen Hauch von Seriosität. Ich hatte den Verdacht, dass er Fensterglas verwendete. Beweise hatte ich allerdings keine.

Fehringer erhob sich und ging zur Tür. Im Rahmen drehte er sich noch einmal um, zwinkerte mir zu und sagte verschwörerisch: „Übrigens, Frau Augustin freut sich schon sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Ich weiß nicht, ob es dem Zufall unterworfen ist oder eine tiefere Bedeutung hat, was man bei der Begegnung mit einem Menschen als Erstes wahrnimmt.

Irene Augustin hatte mich nach Linz beordert, wo sie erstaunlicherweise lebte. Ich hatte von ihrer Wirkungsstätte mehr Glamour erwartet, Paris oder Hamburg oder zumindest Berlin. Sie saß unter einem Sonnenschirm in einem Café, das den ebenfalls wenig schillernden Namen Meier trug, auf einem Platz, der auch noch Pfarrplatz hieß, und las wie verabredet den Standard. Sie hatte sich geweigert, ein Foto zu schicken.

Was mir an ihr sofort auffiel, waren ihre leicht abstehenden Ohren. Darüber pinselförmige rote Haarbüschchen. Eine Luchsin.

„Hallo“, sagte ich und streckte ihr die Hand entgegen, „Sie müssen Irene Augustin sein.“

„Hallo“, sagte sie und ergriff meine Hand mit festem Druck, „freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Pinetti. Klaus hat mir schon viel von Ihnen erzählt.“

Klaus war Fehringer, und das war kein guter Einstieg.

„Sicher nur das Beste“, sagte ich und setzte mich auf einen Plastikstuhl Irene gegenüber. „Sie kennen ihn gut?“

„Gut genug“, sagte Irene und lächelte. Ihr Gesicht war übersät von Sommersprossen, ihre Nase hatte etwas Griechisches. Unter ihren Stirnfransen leuchteten Augen in einem ungewöhnlich hellen Grün. Ich suchte ein Wort für ihren Gesichtsausdruck. Spitzbübisch, fiel mir ein, schalkhaft und verschmitzt.

„Und Sie glauben tatsächlich“, fragte sie und neigte den Kopf, „dass man meinen Roman dramatisieren kann?“ Diese Frage erwischte mich auf dem falschen Fuß. Keineswegs, hätte ich antworten sollen, der Einzige, der das glaubt, ist Fehringer. Aber irgendwo in mir spürte ich den Impuls zu lügen. Ich wollte sie nicht enttäuschen. Vor allem wollte ich sie nicht von mir enttäuschen. Und wer weiß, vielleicht war es ja machbar. Ich hatte ja bisher nur das Inhaltsverzeichnis gelesen.

„Schwierig wird es schon“, sagte ich.

Irene schlug die Beine übereinander, wippte mit dem Fuß und sah mir in die Augen.

„Eher unmöglich“, sagte sie. „Eigentlich wollte ich Klaus die Idee ausreden, aber er hat mich überzeugt, dass Sie das können.“

Der Kellner kam und stellte einen bunten Cocktail mit Strohhalm vor Irene auf den Tisch. Ich bestellte einen doppelten Calvados. Zur Sicherheit.

Irene grinste und beugte sich ein wenig nach vorn. „Verzeihen Sie meine Neugier, aber ich muss wissen, was Sie von meinem Buch halten.“

Jetzt spürte ich einen Schweißtropfen von meiner Stirn über den Nasenrücken rinnen. „Ich finde es wunderbar“, stammelte ich, „ja wirklich, ganz ausgezeichnet …“

„Aha“, sagte sie enttäuscht. „Keine Einwände?“

„Naja“, sagte ich mutig, „der zweite Titel ist mir ein wenig zu martialisch.“

„Oh“, machte Irene, „Sie sind wohl sehr sensibel?“

„Bei Worten schon“, sagte ich schnell. Und dann, in die Pause hinein, „Kennen Sie eigentlich unsere Schauspieler?“

„Klar“, sagte Irene ernst. „Ich habe erst vor Kurzem an Ihrem Haus den Hamlet gesehen.“

„Ausgerechnet!“, entfuhr es mir.

Irene musste lachen. „Aber Peter Grabowsky war doch sehr überzeugend als Hamlet. Nur vielleicht ein bisschen zu alt. Andererseits war Ophelia ja auch nicht mehr die Jüngste. Mir war nur nicht ganz klar, warum Hamlet am Ende überlebt und mit der Leiche von Ophelia schläft.“

„Dabei war das noch die beste Idee“, sagte ich finster.

„Sie sind zu streng“, sagte Irene und zupfte den Saum ihres Rockes zurecht. Ihre Knie blieben trotzdem sichtbar. „Wissen Sie eigentlich, was Freud über Hamlet sagt?“

Wusste ich es? Wusste ich es nicht? Es war eine Fangfrage, so viel war klar. Aber mein Handlungsspielraum war eingeschränkt, denn ich hatte keine Ahnung. König Ödipus hätte ich gerade noch hingekriegt, aber Hamlet?

„Nicht genau“, sagte ich endlich.

Irene saugte an ihrem Strohhalm. „Das habe ich mir gedacht. Ich verrate es Ihnen: Hamlet kann seinen Onkel nicht beseitigen, weil der genau das getan hat, was Hamlet selbst will. Er hat seinen Vater getötet und mit seiner Mutter geschlafen. Das wollte der kleine Hamlet auch: seinen Vater töten und mit seiner Mutter schlafen. Er kämpft also gegen den Mann, der ihm die Realisierung seiner verdrängten Kinderwünsche vorlebt. Kein Wunder, dass er da zaudert.“

„Interessant“, sagte ich schwach. Endlich kam der Kellner und brachte mir meinen Calvados. Irene betrachtete mich eine Weile, bevor sie sagte: „Steht in meinem Buch. Gleich am Anfang. Sie haben es gar nicht gelesen, stimmt’s?“

Ich wurde rot bis unter die Haarwurzeln. Meine Ohren mussten weithin sichtbar sein, glühende Fanale der Scham.

„Naja“, sagte ich. „Es tut mir leid, aber …“

„Dann bin ich ja beruhigt“, unterbrach sie mich. „Ich habe mir schon Sorgen über Ihre Urteilsfähigkeit gemacht.“ Sie lachte laut auf, es war ein warmes Lachen, großzügig bedeckte es die Blöße, die ich mir gegeben hatte. Ich fühlte mich erleichtert und nahm mir vor, mit der Lektüre noch am selben Abend zu beginnen. Oder besser: schon im Zug zurück nach Wien.

„Ich gebe Ihnen eine Woche Gnadenfrist“, sagte Irene mit gespielter Strenge.

„Danke“, sagte ich ergeben.

Irene schwieg und betrachtete mich mit einem sardonischen Lächeln. Sie musste mich für einen Möchtegernintellektuellen halten mit meinem schwarzen Rollkragenpullover und den ausgewaschenen Jeans. Uniformiert, mittelmäßig und faul. Ich fuhr mit einem Finger unter den Kragen. Er war feucht und kratzte an meinem Hals. Es war eindeutig zu warm für einen Märznachmittag. Höchste Zeit, mich wieder auf sicheres Terrain zu begeben. Außerdem musste ich Irene von diesem sinnlosen Treffen erlösen. Ein schneller Abgang war das Ehrenhafteste, was ich diesem Tag noch abtrotzen konnte.

„Ich werde mich jetzt verabschieden“, sagte ich feierlich. „Und Sie erst wieder belästigen, wenn ich Ihr Buch gelesen habe.“

„Nur nichts überstürzen“, sagte Irene. „Wenn Sie schon mal in Linz sind, kommen Sie mir ohne einen Spaziergang an der Donau nicht davon.“

Wir überquerten eine mehrspurige Straße und standen vor einem ausladenden Gebäude, dessen Glasfassade in einem schrillen Pink leuchtete.

„Das Lentos“, sagte Irene. „Unser Kunstmuseum.“

„Bunt“, sagte ich.

„Mögen Sie keine Farben außer Schwarz?“

„Schwarz ist keine Farbe“, sagte ich. Es klang belehrend und ich schämte mich schon wieder.

„Sie sind schon als Dramaturg auf die Welt gekommen, stimmt’s?“

Über eine Böschung spazierten wir zum Fluss hinunter. Ein frischer Wind blies uns in die Gesichter, Irenes Haare flatterten hinter ihr her wie Revolutionsfahnen, ihre Wangen glühten. Die Nähe des Wassers schien sie zu beseelen. Vielleicht war sie ja eine dieser Nixen, die für einen Mann an Land gekommen waren und es dann bitter bereuten. Wenigstens war es für sie nicht letal ausgegangen.

Ich schob die Ärmel meines Pullovers hoch, mir war immer noch zu heiß. Ein großes Ausflugsschiff legte an. Auf dem Oberdeck standen mehrere Reihen grüner Liegestühle. Ein paar waren schon von mutigen Sonnenanbetern in Badekleidung besetzt.

„Ödet es Sie nicht manchmal an, immer nur Werke von anderen zu bearbeiten? Wollten Sie nie etwas Eigenes schaffen?“

Es war mir klar, dass ich jetzt nicht die Wahrheit sagen durfte.

„Nein. Diesen Ehrgeiz hatte ich nie. Dafür fehlt mir die Begabung.“

Irene blieb stehen und schaute mich an. In ihrer Iris zuckten kleine hellgrüne Blitze.

„Das glaube ich Ihnen nicht“, sagte sie.

„Welchen Grund hätte ich, Sie anzulügen?“

„Ich vermute, Sie haben eine narzisstische Kränkung erfahren und wollen nicht daran rühren.“

Jetzt musste ich tief Luft holen. „Freud scheint Sie nicht loszulassen.“

„Wie sollte er auch? Ich lebe von ihm.“

„Schön, dass sich Ihr Buch so gut verkauft“, sagte ich.

„Ich dachte nicht, dass Sie sich für Auflagen interessieren. Klaus sagt, Sie sind ein rettungsloser Idealist, der Zahlen für Teufelswerk hält.“

„So. Sagt er das. Na dann wird es schon stimmen.“

Irene setzte sich auf eine Bank und klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich. „Kommen Sie, Pinetti, lassen Sie uns ein wenig in die Strömung schauen. Das wird Ihre Laune verbessern.“

„Mit meiner Laune ist alles in Ordnung“, sagte ich grimmig. „Ich kann es nur nicht leiden, wenn Fehringer seine fragwürdige Meinung über mich herumposaunt.“

„Tut mir leid, wenn ich diesen Eindruck erweckt habe. Klaus hat das sicher nicht abwertend gemeint. Er hält große Stücke auf Sie.“

„Ach ja?“

„Ja. Sonst würden wir jetzt nicht hier sitzen.“

Ich versuchte es mit dem Blick in die Strömung. Ein mächtiges Frachtschiff glitt vorbei, ruhig, geradezu majestätisch in der Frühlingssonne, aber in mir rumorte es weiter. Fehringer spielte für meinen Geschmack eine viel zu große Rolle in diesem Gespräch. Es war, als säßen wir zu dritt auf der Bank. Irene schien mein Unbehagen nicht weiter zu kümmern. Ihr Blick folgte dem Frachter, dann drehte sie sich zu mir.

„Wie kommen Sie eigentlich zu Ihrem Familiennamen?“

„Mein Großvater war Sizilianer“, erklärte ich, erfreut über den Themenwechsel. „Er hat sich in eine Wienerin verliebt. Sie haben in der Karlskirche geheiratet.“

„Und waren glücklich bis ans Ende ihrer Tage.“

„Nicht ganz. Als meine Großmutter mit meinem Vater schwanger war, hat sich der Sizilianer aus dem Staub gemacht. Das Einzige, was von ihm blieb, war sein Name.“

Für einen Augenblick legte Irene ihre Hand auf meinen Arm. Die Bäume, die zwischen uns und dem Ufer standen, erzitterten in einer plötzlichen Windböe. Die Blätter schimmerten im Licht, als wären sie von Wassertropfen übersät. Oder von giftig lockenden Sekretbläschen. Die trügerische Schönheit des Sonnentaus. Jedes fürwitzige Insekt, das an ihm kleben bleibt, wird bei lebendigem Leibe verdaut. Mitsamt seinen Flügeln.

„Sie haben ja eine Gänsehaut“, sagte Irene. „Ist Ihnen kalt?“

Erst als wir auf dem Rückweg wieder am Kunstmuseum vorbeikamen, fiel mir der Spruch auf, mit dem für die laufende Ausstellung geworben wurde: You never know what will happen next.

Im Zug gelang es mir nicht, mich auf das Buch zu konzentrieren – zu verwirrt war ich noch. Doch nachts im Bett begann ich zu lesen.

DREI

Irene Augustin: Das Jahrhundert der Seele, Kapitel 3

Lou Andreas-Salomé, eine der schillerndsten Frauengestalten des 20. Jahrhunderts, Dichterin, Analytikerin, Muse, Intellektuelle, ist es zu verdanken, dass sich Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud am 8. September 1913 in München kennenlernten. Andreas-Salomé hatte auf Einladung Freuds von Oktober 1912 bis April 1913 an den Sitzungen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung teilgenommen und war mit Rilke eng befreundet. Erstaunlich ist das Umfeld der Begegnung: Auf Lous Wunsch besuchte Rilke den IV. Psychoanalytischen Kongress im Hotel Bayerischer Hof – ausgerechnet jene legendäre Tagung, auf der der Bruch zwischen Freud und dem Schweizer Psychoanalytiker C. G. Jung für alle Zeiten besiegelt wurde. Die Differenzen hatten allerdings schon Jahre zuvor begonnen. Jung missfiel Freuds Betonung der Sexualität, Freud hingegen konnte sich mit Jungs Mystizismus und der religiösen Grundierung seiner Schriften nicht anfreunden. Es störte ihn, dass ausgerechnet sein Lieblingsschüler den Libido-Begriff „mit pastoraler Gelehrsamkeit“ einer Revision unterzog und so Gefahr lief, wegen „ein paar kultureller Obertöne“ die „urgewaltige Triebmelodie“ zu überhören. „Versprechen Sie mir“, hatte er zu Jung gesagt, „nie die Sexualtheorie aufzugeben. Das ist das Allerwesentlichste. Sehen Sie, wir müssen daraus ein Dogma machen, ein unerschütterliches Bollwerk gegen die schwarze Schlammflut des Okkultismus.“ Dieser Appell hatte Jungs Zweifel nur weiter geschürt. Verwandle man eine Hypothese in ein Dogma, so Jung, dann stünde die gesamte Lehre auf tönernen Füßen und sei selbst okkult und mystisch.

Die einst so innige Freundschaft war mehr und mehr erbitterter Gegnerschaft gewichen. Darüber hinaus hatte Jung mit einer Patientin eine Affäre angefangen – ein Verstoß gegen die Grundregeln der Analyse und eine harte Probe für die Geduld ihres Gründers.

In ihrem Tagebuch erinnert sich Lou an die aufgeheizte Stimmung zwischen den Streitparteien: „Auf dem Kongreß saßen die Zürcher an einem Tisch für sich, dem Freudtisch gegenüber. Man kann mit einem Wort sagen, was deren Verhalten zu Freud charakterisiert; nicht daß Jung von ihm abweicht, sondern daß er so tut, als müsse er grade durch diese Abweichungen Freud und dessen Sache retten. Indem Freud sich dagegen wehrt, wird der Spieß nun so herumgedreht, als könne er keine wissenschaftliche Toleranz üben, sei dogmatisch etc.“

Das Ende der Tagung beschrieb Freud ein Jahr später mit dem trockenen Satz: „Man schied voneinander ohne das Bedürfnis, sich wiederzusehen.“

Als Lou am zweiten Kongresstag mit Rilke auftauchte, waren die meisten der Vorträge bereits gehalten worden. Rilke ließ sich „im Freudwinkel nieder“. Der Beginn der Begegnung war vielversprechend: „Ich freute mich“, schreibt Lou, „Rainer zu Freud zu bringen, und sie gefielen sich, und wir blieben noch zusammen, auch abends bis sehr spät nachts.“

Was in Lous Worten wie der Anfang einer Freundschaft klang, fand seltsamerweise keine Fortsetzung. In Rilkes Briefen finden sich kaum Hinweise auf das Treffen mit Freud, zwar berichtet er über seine Anwesenheit beim Münchner Kongress, aber andere Teilnehmer hatten ihn offensichtlich stärker beeindruckt, etwa ein holländischer Dichter oder der schwedische Arzt Poul Bjerre. Nur in einem Brief an die Schauspielerin Hedwig Reinhard erwähnt er beiläufig, dass er im Bayerischen Hof „fast neben Freud“ gesessen war.

Erst im Dezember 1915 saßen Rilke und Freud wieder an einem Tisch. Der Dichter war im November bei einer Musterung in München für wehrtauglich erklärt worden und hatte einen Stellungsbefehl erhalten. Um der Einberufung zu entrinnen, versuchte er, ins Wiener Kriegsarchiv versetzt zu werden. Diese Bemühungen führten ihn nach Wien, und am 20. Dezember nahm er eine Einladung Freuds zum Mittagessen an. Trotz der Verzweiflung, in die der bevorstehende Kriegseinsatz ihn gestürzt hatte, war er, wie Freud seinem ungarischen Kollegen Sándor Ferenczi berichtet, „ein reizender Gesellschafter“. Noch zehn Jahre später sollte sich Freud daran erinnern, wie Rilke die ganze Familie „durch seine Konversation und seine Erzählungen entzückt“ hatte.

Doch auch diese Begegnung blieb ohne Folgen. Obwohl Rilke von Sigmund Freud geschätzt und von seinem Sohn Ernst und seiner Tochter Anna verehrt wurde, brach der Kontakt ab. Freud war konsterniert deswegen. „Rilke war nicht dazu zu bewegen, uns noch ein zweites Mal zu besuchen“, schreibt er an Lou Andreas-Salomé, „obwohl der erste vor seiner Einrückung so warm ausgefallen ist.“ Das Ausmaß der Kränkung zeigt sich in einem zweiten Brief an Lou vom 27. Juli 1916, in dem der Ton bitterer wird. Rilke, schreibt Freud, „hat uns in Wien deutlich genug zu erkennen gegeben, dass kein ‚ewiger Bund mit ihm zu flechten‘ ist. So herzlich er bei seinem Besuch war, es ist nicht gelungen, ihn zu einem zweiten zu bewegen.“

Soweit die Fakten. Das Geheimnis von Rilkes Affront – den er höchstwahrscheinlich als solchen erkannt hat – ist bis heute nicht gänzlich gelöst. Doch dass Rilkes Verhalten nicht auf Antipathie oder Gleichgültigkeit gegenüber Freud zurückzuführen ist, erschließt sich aus Briefen an verschiedene Freundinnen. Was ihn anzog und abstieß, womit er rang, ohne je zu einer Lösung zu kommen, war die Psychoanalyse selbst. „Vier Jahre genau sind’s her“, schrieb er schon 1910 an Magda von Hattingberg, „da erfuhr ich zuerst von der Psychoanalyse, durch einen näheren Freund, dem diese Disziplin in ganz andere Tätigkeiten hinein unvermuthet und umstürzend aufgegangen war … Während der letzten schweren Jahre stand ich dann wirklich zwei oder dreimal vor dem Entschlusse einer Analyse … Zuletzt im Herbst 1912 wars fast eine Wahl: Analyse oder Reise nach Spanien. Du weißt, ich wählte die Reise.“

Der Freund war Victor Emil von Gebsattel, Philosoph und Kunsthistoriker, der eine Praxis als Laienanalytiker eröffnet hatte. Der Grund für Rilkes Überlegungen, selbst eine Analyse zu beginnen, war, wie Gebsattel sagt, „das Darniederliegen seiner Produktion“ während der Arbeit am Roman Malte Laurids Brigge. Dazu kamen heftige Depressionen, Phobien und andere seelische Schmerzen aller Art. Hin- und hergerissen zwischen der Hoffnung auf Linderung und der Angst, die eigenen Abgründe und „Verschüttungen“ durch diesen Prozess bloßzulegen, konnte er sich über Jahre hinweg nicht zu einer Entscheidung durchringen.

Doch der Kern dieser Ambivalenz lag woanders. Rilke spürte, was andere Künstler noch ein ganzes Jahrhundert hindurch beschäftigen sollte, nämlich die Gefährdung der schöpferischen Kraft durch die Therapie. Denn was wäre, wenn die Heilung nicht nur die seelische Pein, sondern auch die Kreativität zum Verschwinden bringen würde? War nicht das Leiden die Quelle künstlerischer Produktion? Rilke wusste, dass sein Freund Gebsattel „sich bereitfände, die ganze Ausgrabung zu leisten“ – aber wenn nun, nachdem die untersten Schichten zutage gefördert worden waren, erinnert und durchgearbeitet, wie Freud es nannte, kein Rätsel mehr bliebe, dessen poetische Ergründung sich lohnte? Wenn sich mit den Gespenstern der Vergangenheit auch die befeuernden Geister der Gegenwart in Luft auflösten?

Rilke diskutierte die Frage mit verschiedenen Freunden – vor allem aber mit Lou. Paradoxerweise war es gerade sie, die glühende Verehrerin Freuds und Absolventin einer psychoanalytischen Ausbildung, die dem Dichter am vehementesten davon abriet, sich einer Analyse zu unterziehen. Sie war überzeugt, dass eine Therapie Rilkes seine poetischen Fähigkeiten schwächen oder gar zum Erliegen bringen würde. Und der Dichter hörte auf sie. Er sagte Gebsattel ab.

„So viel, wie ich mich kenne“, schrieb er ihm, „scheint mir sicher, daß, wenn man mir meine Teufel austriebe, auch meinen Engeln ein kleiner (sagen wir) Schrecken geschähe, – und fühlen Sie – gerade darauf darf ich es auf keinen Fall ankommen lassen.“

Noch viele Jahre später war Lou stolz darauf, sich „mit Kabale“ gegen eine Behandlung Rilkes gewandt zu haben, während Anna Freud, die Rilkes Gedichte so sehr liebte, gewiss war, dass „ihm eine Analyse hätte helfen und seine Schaffenskraft eher beflügeln als hemmen können“. Rilke ging das Risiko nicht ein, verzichtete auf eine Therapie und pflegte, um seine Engel zu retten, seine Teufel bis in den Tod.

VIER

Was mich sofort nach der Lektüre der ersten Kapitel beschäftigte, hatte weder mit dem Stil noch mit den Inhalten zu tun. Es war der schnöde Gedanke: Dieses Buch kann kein Bestseller sein. Zu wenig entsprach es den Anforderungen des allgemeinen Unterhaltungswahns. Selbst die Bezeichnung Roman war, gelinde gesagt, vermessen.

Obwohl mir Fehringer das nicht zutraute, konnte ich durchaus in Zahlen denken. Nur war bei mir keine Wertung damit verknüpft. Und eine Buchhändlerin meines Vertrauens hatte ich auch. Dann war aber auch schon Schluss mit den Gemeinsamkeiten. Mit Katharina Czerny verband mich nur eine Freundschaft.

Am nächsten Morgen rief ich sie an.

„Hallo Katharina, hier Pinetti. Ich hätte eine Frage zu Irene Augustins neuem Roman.“

„Das Jahrhundert der Seele? Ein wunderbares Buch, ich kann es dir wärmstens ans Herz …“

„Jaja, vielen Dank. Ich möchte nur wissen: Verkauft es sich?“

Am anderen Ende der Leitung herrschte einen Moment lang Stille.

„Konrad, bist du krank? Seit wann interessiert dich denn der profane Massengeschmack?“

„Nun sag schon.“

„Naja, wie soll ich es ausdrücken? Sagen wir so: Es liegt ziemlich schwer in den Regalen. Tonnenschwer, um genau zu sein. Aber wir tun alles, um das zu ändern.“

„Viel Glück dabei. Und besten Dank.“

Ich hatte mich also nicht getäuscht. Anfangs empfand ich eine kleine, schäbige Genugtuung. So großartig, wie sie tat, konnte Irene offensichtlich nicht von Freud leben. Aber der nächste Gedanke war schon weniger erbaulich. Wenn das Jahrhundert der Seele ein Ladenhüter war, warum wollte Fehringer dann, dass ich es dramatisierte? Es war auszuschließen, dass ihm die Verkaufszahlen nicht bekannt waren. Also hatte er dieses Mal ein anderes Motiv als den schnellen Erfolg. Und dieses Motiv konnte nur mit Irene zusammenhängen. Nicht mit ihrem Buch, mit ihrer Person. Es war offensichtlich: Irene hatte eine Affäre mit Fehringer. Deswegen tat er ihr den Gefallen, ihr Buch auf die Bühne zu bringen.

Dass diese Einsicht ein flaues Gefühl in meiner Magengegend auslöste, überraschte mich selbst. Was war schon passiert? Ich hatte mich zwei, drei Stunden lang mit einer schönen, klugen Frau gut unterhalten. So etwas geschieht andauernd. Vielleicht nicht mir, aber sicher den meisten. Es war harmlos. Es versprach nichts. Ein alltägliches Aneinanderstreifen, mit dem es keine besondere Bewandtnis hatte. Gut, ihre Knie waren außergewöhnlich. Ihr Witz, ihre Großzügigkeit. Aber es war töricht anzunehmen, sie hätte unserer Begegnung irgendeine Bedeutung beigemessen, die über das bloß Berufliche hinausging. Nur weil sie sich für meinen Namen interessiert hatte. Und einmal kurz ihre Hand auf meinen Arm gelegt hatte.

Es war also hoch an der Zeit, dass ich mich wie ein erwachsener, lebenstüchtiger Mensch verhielt. Ich würde in den kommenden Wochen mit einer Frau zusammenarbeiten, die die Geliebte meines Chefs war. Ich würde mich wie ein Gentleman benehmen und ihr nicht erzählen, dass ihr Klaus nebenbei noch ein Verhältnis mit einer Buchhändlerin hatte. Sachlich und gelassen würde ich mit Irene ans Werk gehen, und nach Beendigung der Arbeit würden sich unsere Wege für immer trennen.

FÜNF

Unser Haus trug den schönen Namen Wiener Publikumstheater, verfügte über 400 Sitzplätze und lag damit etwa in der Mitte zwischen den etablierten, anspruchsvollen kleineren Bühnen wie dem Theater Drachengasse oder dem Schauspielhaus und den Theatertankern Josefstadt, Volkstheater oder Burg. Die Philosophie von Fehringers Spielplänen war ebenso schlicht wie erfolgreich. Neben Bearbeitungen aktueller Romane vor allem österreichischer Autoren und gelegentlichen, meiner Ansicht nach viel zu seltenen Uraufführungen junger Dramatiker setzte der Intendant auf Klassiker,. deren Inszenierungen je nachdem, was gerade en vogue war, zahm und dem Original verpflichtet oder wild und regietheateraffin ausfielen. Goethe und Shakespeare fehlten in keiner Saison, ich hatte schon Clavigos in historischen Kostümen stundenlang deklamierend über die Bühne stapfen sehen – aber auch Sommernachtsträume erlebt, in denen zur Begleitung einer Punkband entfesselte, spärlich bekleidete Eleven wild durcheinanderschreiend unter Plastikbäumen Kopulationen simulierten. Aber was Fehringer auch anstellte – die Leute kamen ins Theater.

„Erfolg“, pflegte Fehringer zu sagen, „ist nicht per se ein Makel. Leere Vorstellungen sind nicht automatisch ein Zeichen für hohe Qualität. Da werden Sie mir doch beipflichten, Pinetti.“ Da werden Sie mir doch beipflichten war Fehringers Lieblingsphrase in Diskussionen. Mit der Zeit hatte ich verlernt „oh nein!“ zu sagen und begnügte mich damit, den Kopf beim Nicken ein wenig schiefzulegen.

Am Tag nach meinem ersten Gespräch mit Irene Augustin begannen im Haus die Proben von König Lear. Lange hatte ich mit Fehringer über die Übersetzung gestritten. Am Ende entschieden wir uns für die Fassung von Frank Günther. Mit einem kleinen Zusatz: Für die Umformulierungen einiger allzu flapsiger Passagen war ich zuständig. Wenn Lears Tochter Regan zu ihrem Vater bei Shakespeare „Good Sir, no more“ sagt, und in Günthers Übertragung „Sir, bester, Schluss“ stand, durfte ich eingreifen.

Üblicherweise war ich bei Proben dabei. Oft auch bei Nachbesprechungen. Und informellen Treffen in der Kantine. Ich weiß nicht mehr, wann es begonnen hatte, aber irgendwie war ich in eine seltsame Rolle hineingewachsen, die eher therapeutische oder krankenpflegerische Züge besaß als etwas mit der Arbeit eines Dramaturgen zu tun zu haben. Mich hatte der gefährliche Ruf ereilt, ein geduldiger Zuhörer zu sein. Mit der Zeit war ich zu einer Art Florence Nightingale für verwundete Schauspielerseelen geworden. Alle Versuche, das Schwesternkostüm wieder loszuwerden, waren kläglich gescheitert. Irgendwann hatte ich aufgegeben. Unerschütterlich saß ich allabendlich auf den Brettern der Theaterkantine, die zuweilen erbebten, als würden direkt unter ihnen zwei gewaltige Erdplatten aneinanderstoßen. Bei Fehringer hatte mir das den Spitznamen alte Klagemauer eingebracht.

Als Regisseur für den Lear hatte Fehringer Armin Grothe engagiert, einen jungen Wilden aus Berlin, der gerade für Peymann Die Gewehre der Frau Carrar inszeniert hatte, ein zu Unrecht in Vergessenheit geratenes Brecht-Stück über den spanischen Bürgerkrieg. Er hatte damit heftige Kontroversen ausgelöst, weil er die Handlung in die Gegenwart verlegt und die Kämpfer der Internationalen Brigaden als eine Art neue RAF gegen das verbrecherische Großkapital dargestellt hatte. Fehringer war Politik egal, aber der Wirbel, der von der Inszenierung ausgelöst worden war, hatte seine innere Rechenmaschine in Gang gesetzt.

Grothe hatte den Intendanten bei der ersten Besprechung davon überzeugt, dass es ein geniales Konzept sei, die komplette Parallelhandlung im Lear zu streichen. Die Geschichte von Gloucester und seinen Söhnen Edmund und Edward sei nur eine unnötige Doppelung der Erzählung von Lear und seinen drei Töchtern. Durch sie würde die Hauptaussage des Stückes nur verwässert. Außerdem sei die berüchtigte Schreckensszene, die Blendung Gloucesters auf offener Bühne, ein Zugeständnis an den blutrünstigen Geschmack des Globe-Publikums und führe nirgendwohin. Fehringer war schnell Feuer und Flamme für diese Idee, auch wenn ihn weniger ihre Stringenz als ihre Auswirkungen beeindruckten. Er begriff sofort, dass ein halbierter Lear in seinem Theater erstens Aufsehen erregen würde und zweitens leichter zu besetzen war. Dass ich davon wenig hielt, kümmerte ihn nicht. Was er fürchtete, war einzig der Protest seiner Schauspieler.

Doch die erste Lear-Probe war ziemlich glimpflich verlaufen. Grothes Argument, dass die Reduktion der Szenen für jeden einzelnen mehr Präsenz auf der Bühne bedeutete, wurde vom Ensemble wohlwollend aufgenommen. Grabowski hatte, an eine riesige Mineralwasserflasche geklammert, den Ausführungen des Regisseurs, der halb so alt war wie er, kommentarlos gelauscht. Nur die Steinmayr, unsere erfahrene Cordelia, war kurz nervös geworden, als Grothe durchblicken ließ, die berühmte Aufrichtigkeit der dritten Lear-Tochter als eine Form von Autismus interpretieren zu wollen.

Ich fand diesen Ansatz gar nicht so weit hergeholt. Cordelias Weigerung, ihrem Vater, den sie doch so sehr liebte, auch nur ein einziges zärtliches Wort zu schenken, war mir immer befremdlich erschienen – als stünde ihre Gefühlswelt in keinem Kontakt zur Welt der anderen. Wenn Lear seine drei Töchter um sich schart, um ihnen zu gleichen Teilen sein Reich zu überantworten und dafür als Gegenleistung wohlgedrechselte Liebesbekundungen erwartet, muss Cordelia ja nicht in den sprachlichen Bombast ihrer Schwestern Regan und Goneril verfallen. Es genügt, wenn sie in wenigen, warmen Worten die Liebe zu ihrem Vater bekennt. Aber was sagt sie? „I love your Majesty / According to my bond; no more no less.” Das klingt unnötig kalt und pflichtbewusst. Auch als Lear, seinen Ohren nicht trauend, sie zweimal auffordert, ihre Rede zu überdenken, erwidert sie nur: „Mein teurer Lord, / Sie zeugten, nährten, liebten mich: nun, ich / Erwidre solche Pflichten, wie man soll, / Gehorche, liebe und verehr sie sehr.“ Warum sagt sie nicht einfach etwas wie „Ich bin nicht der Mensch, der sein Herz auf der Zunge trägt wie meine Schwestern, aber meine Liebe zu Ihnen ist deshalb nicht von geringerem Wert“?

Ich war schon vor dem Ende der Nachbesprechung in die Kantine gegangen und wartete dort auf die Schauspieler. Noch war nur der Technikertisch besetzt. Das Erste, was ich wahrnahm, als sich eine Viertelstunde später die Tür öffnete, war ein feuerroter Schal, Grabowskis Markenzeichen. Er trug ihn zu jeder Jahreszeit, come rain or come shine, drinnen und draußen, und böse Zungen behaupteten, er würde ihn auch im Bett nicht ablegen. An seinem Arm hing Gerda Steinmayr, wie immer perfekt geschminkt und für eine Probe zu elegant gekleidet. Es gab niemanden, der ihr nicht bestätigte, dass sie jünger aussah, als sie war. Ihr tatsächliches Alter war eines der bestgehüteten Geheimnisse des Theaters. Wann immer sie eine Rolle bekam, für die sie – sogar an ihren imaginären Jahren gemessen – zu alt war, packte sie ein fiebriger Ehrgeiz und sie spielte sämtliche Trümpfe ihres Talents aus, als könnte sie, wenn sie nur alle Energien wachrief, die in ihrem filigranen Körper schlummerten, die Gesetze der Vergänglichkeit außer Kraft setzen.

Fehringer wusste das zu schätzen und hätte sie einmal sogar als Gretchen besetzt, doch der Regisseur hatte sich so vehement dagegen gesträubt, dass er schließlich davon absah.

Als mich die Steinmayr erblickte, winkte sie mir zu, als stünde sie an Bord eines Schiffes und wäre soeben von einer langen Reise zurückgekehrt. Sie zog Grabowski an meinen Tisch und setzte sich. Bevor ich noch „Hallo, Gerda“ sagen konnte, legte sie los.

„Das ist das Verrückteste, was ich je gehört habe“, sagte sie. „Die aufrichtige, tapfere Cordelia als geisteskrank hinzustellen – was bildet der sich eigentlich ein? Glaubt, er kann uns die Welt neu erklären, nur weil ihm in Berlin ein paar Käseblätter Honig ums Maul geschmiert haben? Nicht mit mir!“

„Aber Gerda“, sagte Grabowski beschwichtigend, „er will doch nur einen neuen Ansatz für die Rolle finden, und so dumm fand ich es gar nicht, was er –“

„Neuer Ansatz, wenn ich das schon höre“, schnaubte die Steinmayr. „Shakespeare muss nicht neu erfunden werden, schon gar nicht von so einem Milchgesicht.“

In diesem Moment betrat Armin Grothe die Kantine. Ich war mir nicht sicher, ob er den letzten Satz noch gehört hatte. Er nickte uns zu, ging an unserem Tisch vorbei und setzte sich zu den Technikern. Offenbar wollte er von Anfang an demonstrieren, dass sein Platz an der Seite des Proletariats war. Die arbeitende Klasse unseres Hauses wusste diese Geste allerdings nicht sofort zu schätzen. Das bis dahin schon recht fröhlich gewordene Gespräch verstummte, eine Zeit lang hörte man nur noch einzelne, verhaltene Sätze. Grothe ließ sich davon nicht beirren. In freundlichem Tonfall plauderte er weiter vor sich hin. Bald ertönte erstes Gelächter. Als er bei Nina eine Tischrunde bestellte, war das Eis gebrochen.

Nina war die Befehlshaberin unseres Schattenreiches. Sie stammte aus Prag und war eigentlich Filmregisseurin. Die Liebe hatte sie nach Wien verschlagen, als sie dreißig war, doch der Mann ihrer Träume, ein Schauspieler und stadtbekannter Schwerenöter, verlor rasch das Interesse an ihr.

Nina trug ihre schwarzen Haare stets hochgesteckt, liebte extravagante Kleider und verlieh der Kantine einen Anflug von Noblesse. Sie war unbestechlich und unerbittlich. Wer ihre Gunst genoss, konnte sich glücklich schätzen. Wer sie verlor, war arm dran. Fehringer, der sich nur bei hohen Anlässen in der Kantine blicken ließ, hatte sie einmal verspielt, als er, mitten im Trubel einer Premierenfeier, seinem Hamburger Ehrengast, einem Theaterkritiker der ZEIT, eine bevorzugte Behandlung angedeihen lassen wollte. Die herrische Geste, mit der er Nina an seinen Tisch kommandierte, beantwortete sie mit einem Kuss, hingehaucht auf ihren ausgestreckten Mittelfinger. Fehringer und sein Gast brachen bald auf.

Als Nina jetzt dem Regisseur und seinen revolutionären Subjekten die Getränke servierte, sagte Grabowski leise: „Scheinheilige Verbrüderung.“ Dann legte er seine Hand auf den Arm der Steinmayr. Er verehrte sie schon lange, sie aber hatte ihn bisher nicht erhört. So blieb ihm nichts anderes übrig, als die Rolle des fürsorglichen väterlichen Freundes zu spielen.

„Du musst das entspannter sehen, Gerda. Er ist ein junger Mann, er muss noch vieles ausprobieren.“

„Aber nicht an mir. Ich bin kein Kaninchen.“

„Wir müssen dem Nachwuchs eine Chance geben“, sagte ich halbherzig.

„Und wenn es nun blanker Unsinn ist, was er von sich gibt, der Nachwuchs? Muss ich dann trotzdem seine Windeln wechseln?“

„Ich sehe den Lear ja auch anders als Grothe“, sagte Grabowski.

„Ach ja? Lass hören.“

„Eigentlich“, sagte Grabowski träumerisch und strich mit der Hand über sein spärliches Haar, „sind ja Goneril und Regan die wahren Heldinnen. Sie widersetzen sich der patriarchalischen Ordnung, treffen unabhängige Entscheidungen und leben nach ihrer eigenen Fasson. Wenn auch ethisch nicht ganz einwandfrei. Cordelia hingegen unterwirft sich, sie will eine brave Tochter sein – und was hat sie davon?“

„Sag bloß, du bist Feminist“, sagte die Steinmayr. „Wie reizend. Ich entdecke neue Seiten an dir. Oder stehst du einfach mehr auf die Gruber und die Kempinger? Ich fürchte, da beißt du auf Granit.“

Grabowski seufzte. „Du solltest auf dein Niveau achten“, sagte er kühl.

Ruth Gruber und Charlotte Kempinger, Goneril und Regan, erschienen wie auf Stichwort in der Kantine. Sie traten fast immer paarweise auf, nannten sich selbst Die Unzertrennlichen und straften diejenigen, die ihnen eine Liaison nachsagten, mit gelassener Verachtung. Sie kannten sich seit Jahrzehnten, beide hatten die Ernst-Busch-Schule absolviert und an kleineren Berliner Theatern begonnen. Als Ruth Gruber nach ihren ersten Erfolgen von Fehringer umworben wurde, stellte sie die Bedingung: nicht ohne Charlotte. Fehringer gab nach, und die Theaterwelt gab ihm recht. Die beiden hatten von allen unseren Akteuren sicher die dickste Pressemappe mit Lobeshymnen.

Sie grüßten uns höflich und verzogen sich an ihren angestammten Platz. Nur wenn die Stimmung schon sehr ausgelassen war, wagte es jemand, sich zu ihnen zu setzen. Armin Grothe erhob sich von seinem Tisch, und einen Augenblick lang sah es aus, als wäre er so verwegen, sich den Unzertrennlichen zu nähern und den inneren Löwinnenkreis zu durchbrechen. Doch im letzten Moment drehte er ab und kam zu uns.

„Darf ich?“, fragte er und griff nach einem Stuhl. Als ich nickte, saß er schon. Er trug ein T-Shirt der Goldenen Zitronen, auf seinem Rücken konnte man die Konzerttermine der vergangenen Tournee nachlesen.

„War doch eine schöne erste Probe, oder?“

„Ihr König Lear findet, Sie sollten sich mehr auf Goneril und Regan konzentrieren.“ Die Steinmayr hatte heute wirklich keinen guten Tag.

„Ach“, sagte Grothe schnell, „in welcher Hinsicht?“

Grabowskis Hände bewegten sich, als würden sie ein knapp über der Tischplatte schwebendes Luftwesen erwürgen.

„Ich finde nur“, sagte er, „dass man es sich zu leicht macht, wenn man sie nur als Inbegriff des Bösen liest.“

„Mit dieser Meinung sind Sie nicht allein“, sagte Grothe. „Sie kennen doch sicher den Lear-Film von Peter Brook?“

„Nein“, sagte die Steinmayr, „ich sehe mir vor einer Premiere nie an, was die anderen gemacht haben. Da wird man ja verrückt.“

Grothe lachte. Sein blonder Bürstenschnitt hatte etwas Rekrutenhaftes, aber seine Gesichtszüge waren weich, fast feminin. Seinen Augen sah man den Wunsch an, durch jede Mauer zu blicken, wie fest gefügt sie auch sein mochte.