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Gesichter der Geschichte

Schicksale aus Tirol 1914–1918

Michael Forcher | Bernhard Mertelseder

Gesichter der Geschichte

Schicksale aus Tirol 1914–1918

Mit Beiträgen von

Thomas Albrich

Gunda Barth-Scalmani

Martin Kofler

Gertrud Margesin

Manfred Schwarz

Brigitte Strauß

Anita Thaler

Johann Walser

Sigrid Wisthaler

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www.haymonverlag.at

ISBN 978-3-7099-3645-0

Anton Trixl – Tiroler Archiv für photographische Dokumentation und Kunst (TAP)

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

Liest man in den Geschichtsbüchern über den Ersten Weltkrieg, so erfährt man vieles über Militärbündnisse, Truppenstärken und Kriegsschauplätze. Viele Zahlen untermauern die Schrecken des Krieges, der insgesamt 17 Millionen Menschenleben gefordert hat – allein in Tirol waren über 30.000 Tote zu beklagen.

Was man in den Geschichtsbüchern selten nachlesen kann, sind die Einzelschicksale, die sich auf den Schlachtfeldern, aber auch in der Heimat ereignet haben. Denn ein Krieg betrifft nicht nur die Soldaten, die an der Front kämpfen, sondern auch ihre Familien zuhause, die ohne ihren Vater, Bruder oder Sohn zurechtkommen müssen. Der Krieg betrifft jene, die als Verräter denunziert und gefangengenommen werden, oder auch jene, die sich aus Nächstenliebe in dieser schweren Zeit für andere einsetzen.

Genau diese persönlichen Geschichten wurden für das Buch »Gesichter der Geschichte. Schicksale aus Tirol 1914–1918« von Michael Forcher und Bernhard Mertelseder zusammengetragen und erzählt. Sie geben – wie es der Buchtitel schon impliziert – dem Ersten Weltkrieg ein Gesicht.

Wir sind es unseren nachfolgenden Generationen schuldig, die Schrecken des Krieges nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Denn nur das Wissen um unsere Geschichte, die im Ersten Weltkrieg eine traurige Zäsur erfahren hat, hält zukünftige Generationen davon ab, dieselben Fehler noch einmal zu begehen.

Ich gratuliere den Autoren zu ihren detailgenau und professionell recherchierten Darstellungen der Einzelschicksale, die im Buch nachzulesen sind. Den Leserinnen und Lesern wünsche ich interessante Stunden beim Eintauchen in unsere Vergangenheit.

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Günther Platter

Landeshauptmann von Tirol

Michael Forcher und Bernhard Mertelseder sind gemeinsame Herausgeber dieses Werks.

Als Autor zeichnet Bernhard Mertelseder zudem für die Kapitel Nino Schumacher, Peter Widmann, Feldpater Ortner und Leopoldine Zucht und das Schlusskapitel über die Bedeutung von Selbstzeugnissen verantwortlich, Michael Forcher schrieb alle übrigen nicht namentlich gezeichneten Kapitel sowie die Zwischentexte auf den Seiten I, II, III, IV, V, VI, VII, VIII, IX und X.

Kapitel von anderen Autorinnen und Autoren:

Thomas Albrich Josef Albrich

Gunda Barth-Scalmani Erwin Simbriger,

Geschwister Gspan und

Virginia Brunner

Martin Kofler Josef Oberhauser

Gertrud Margesin Maria Hölbling

Manfred Schwarz Josef Tribus

Brigitte Strauß David Haller

Anita Thaler Fritz Steiner

Johann Walser Josef Kofler

Ludwig Brugger

Sigrid Wisthaler Anna Egarter

Inhalt

Mosaiksteine und Miniaturen des Ersten Weltkriegs

Ein paar Dinge vorausgeschickt

Kriegsbeginn und Kampfgeschehen in Galizien und Serbien

Von der Schneiderwerkstatt aufs Schlachtfeld

Paul Ingruber fällt im ersten Gefecht in Galizien

»Ich verfluchte Gott und 72 den Teufel ...«

Giovanni Pederzolli und seine aufwühlenden Kriegserinnerungen

»Für den nächsten Tag ist wieder Sturm befohlen«

Peter Paul Greinhofer und sein Tagebuch vom Einsatz in Galizien

Des Kaiserjägers letzter Gruß aus Turkestan

Anton Walser, seine bittere Klagen über die Vorgesetzten und seine Kriegsgefangenschaft

Vom Kaisermanöver nach Belgrad

Erwin Simbriger – als Reserveoffizier verwundet in Galizien, gefallen in Serbien

Der Angriff Italiens, die Standschützen und das deutsche Alpenkorps

»Kamerad, warum du schießen auf mich?«

Gabriel Forcher und der Mythos vom Krieg der Kinder

Brot und Eier als Dank für die Soldaten am Karnischen Kamm

Burgl Sint, ihr Einsatz für die Heimat und wie unglücklich sie zu Tode kam

Der Herr Professor erstürmt den Gipfel

Vinzenz Goller und das denkmalwürdige Unternehmen des Kirchenmusikers als Standschützenhauptmann

»… so geht es bei uns zu !«

Johann Wille und sein Tagebuch aus der Zeit seines Einsatzes als Standschütze

Die Italienfront nach der Rückkehr der regulären Einheiten

Der gewundene Weg eines Kaiserschützen vom Pfeifendeckel zum Fähnrich

Erich Mayr und sein aufschlussreiches Tagebuch

»Den letzten Kampf wert .«

Eduard Reut-Nicolussi und der versuchte Missbrauch des Kaiserjägermythos durch die NS-Propaganda

»... dass ihm der Krieg nichts anhaben kann.«

Nino Schumacher – von der Schulbank in den Krieg

Der Dragoner als Bergführer an der Ortlerfront

Franz Haller und sein Kampf mit Eis und Schnee

Kriegsgefangenschaft in Russland, Serbien und Italien und russische Gefangene in Tirol

»Carasò Talianscki – Bravi Italiani«

Pietro Carraro »Ava« erzählt von seiner Gefangenschaft in Russland

»Nur vom Essen sind alle Sinne beseelt«

Matthias Ladurner-Parthanes und seine italienische Kriegsgefangenschaft

Wenn der älteste Sohn freiwillig in Sibirien bleibt ...

David Haller und welche Folgen seine Entscheidung für die Familie am heimatlichen Hof hatte

»Wer nicht bettelte, raubte und stahl, konnte nicht überleben«

Peter Widmann als Kriegsgefangener in Serbien, Sardinien und Frankreich

»Die armen Gefangenen hungern …«

Filomena Moroder, die russischen Bahnarbeiter in Gröden und das Warten auf die Rückkehr ihres Sohnes aus Sibirien

»Mit Fridel musst Du fein sein …«

Anna Paris und ihr Verhältnis zum russischen Kriegsgefangenen Josef Pekarew

Einsatz und Fronterfahrung der anderen Art

»… als ob der Himmel eingestürzt wäre.«

Fritz Weber und das Panzerwerk Verle

Aus der Tiefe des Meeres gerettet

Ferdinand Vranc und seine »Karriere« bei der Marine

Als Fernmelder in der Stadt des Goldes und der Abendsonne

Artur Nikodem und der Kriegseinsatz des Malers im Orient

Des Fortifikations-Werkmeisters besondere Leistung

Anton Trixl und sein fotografisches Erbe

»Wir haben hier nur marode Ross …«

Josef Albrich, ein Trainsoldat mit dem Mut zu offenen Worten in seiner Feldpost

Die Betreuung von Verwundeten und Kranken

Weihnachten wird »schwere, blutige Tage bringen«

Fritz Steiner und die Briefe des Regimentsarztes von der Dolomitenfront

Schwesterlicher Liebesdienst im fernen Krakau

Luise Wachtler pflegt ihren verwundeten Bruder

Wenn die strapazierten Nerven versagen

Josef Wiedemayr und seine psychische Erkrankung

»… und salbte die Stirn des Helden.«

Feldpater Matthias Ortner an der Front und als Faktor der Erinnerungskultur

Zum Verlassen der Heimat gezwungen: Evakuierung und Flüchtlingselend

»Heiliger Himmel, was müssen wir noch erdulden!«

Giuseppina Filippi Manfredi und ihre Evakuierung nach Böhmen

Es geschah um die Mittagszeit

Olimpia Dall’Oglio und ihre Evakuierung nach Süditalien

Der Stubenofen als unsicheres Versteck

Anna Egarter flieht mit acht Kindern aus Sexten nach Kitzbühel

Ein Land unter der Diktatur des Militärs

Das Leben im Lager Katzenau

Enrico Unterveger und sein fotografisches »Tagebuch«

Der Bürgermeister von Trient muss ins Gefängnis

Vittorio Zippel, seine Konfinierung und der Prozess gegen ihn

Wie es einem Politiker ergeht, der sich zu beschweren wagt

Landtagsabgeordneter Karl Niedrist, sein Landesverweis und seine Brandrede im Reichsrat

»Wein her oder ich schieße Sie nieder!«

Leopoldine Zucht und ihr Tod während eines Zechgelages von Offizieren

Der Alltag zu Hause

Die missglückte Rettung der großen Glocke

Josef Kofler – ein Pfarrer an der Heimatfront und sein auf die Probe gestellter Patriotismus

Seilbahnen und Marmelade

Luis Zuegg baut fürs Militär Seilbahnen und stellt als Unternehmer erfolgreich die Produktion um

»Grüße und küsse mir auch die Kinder …«

Franz, Josef und Mathilde Gspan und das Fürsorgewesen im Krieg

»Was kann man im dritten Kriegsjahr kochen?«

Virginia Brunner und ihr Engagement für die Tiroler Hausfrauen

»Wie hat es die Rosali mit die Hühner?«

Maria Hölbling und ihre Erinnerung an einen Bauernhof ohne Männer

Kriegsende und Bewältigung des Traumas

»Nun sah der Pöbel, daß Ernst gemacht wurde«

Josef Tribus und sein Bemühen, bei Kriegsende in Lana Plünderungen zu verhindern

Auf der Alm als »Wilderer« gefallen

Ludwig Brugger griff im Kampf gegen den Hunger zur Selbsthilfe und wurde erschossen

Des Weltkriegs Leid von der Seele geschnitzt

Josef Oberhauser und sein Ehrenmal für die gefallenen Brüder und alle Opfer dieser »sinnlosen Menschenschlachterei«

Wie ein Soldat aus dem Sudetenland im Krieg sein Glück fand

Giovanni Kliment bleibt im Trentino und pflegt einen der schönsten Soldatenfriedhöfe

»Mir geht es gut, was ich auch von euch hoffe …«

Die Bedeutung von Selbstzeugnissen für das Verständnis des Ersten Weltkriegs

Anhang

Die Co-Autorinnen und Co-Autoren

Mosaiksteine und Miniaturen des Ersten Weltkriegs

Ein paar Dinge vorausgeschickt

Wie kann man die Ungeheuerlichkeit eines Weltkriegs begreifen, wie kann man verstehen, was über 30.000 Tote bedeuten, die allein Tirol zu beklagen hatte? Was sagen uns Zahlen und Fakten in den Geschichtsbüchern, all die Namen an den Kriegerdenkmälern, die Sterbebildchen der Museen und Sammler? Vielleicht können wir mehr damit anfangen, wenn wir Zahlen und Daten mit den Fotos der Menschen verbinden, die dahinterstehen, wenn wir ihnen in die Augen schauen können und uns zugleich ihre Geschichte, ihr individuelles Schicksal erzählen lassen. Aus vielen Gesichtern bekommt der Krieg ein Gesicht.

Diese Gedanken standen dem vorliegenden Buch Pate. Es geht auf den folgenden Seiten nicht darum, über die Gründe und Hintergründe des Krieges zu informieren, seine Ursachen zu diskutieren; auch der Kriegsverlauf soll nur am Rande und sozusagen als »roter Faden« eine Rolle spielen. Es geht vielmehr um Einzelschicksale, um solche, wie es sie dutzendfach, hundertfach gegeben hat, aber auch um solche, die Ausnahmen bilden, die ganz ungewöhnlich verlaufen sind. Wann immer möglich, lassen wir Menschen selbst erzählen, indem wir aus ihren Tagebüchern, aus ihren Briefen zitieren oder aus ihren aufgeschriebenen Erinnerungen. Bereits die Lektüre von wenigen solchen »Selbstzeugnissen« lässt erkennen, dass wir mit dieser Art von Quellen den Menschen in der Geschichte näher sind als in anderen schriftlichen Hinterlassenschaften. Sie ermöglichen einen Einblick in ihre Gedankenwelt, in ihre Probleme und Bedürfnisse, gleich ob sie an der Front waren, im Gefangenenlager oder am männerlosen Hof im Hinterland, am Herd einer verwitweten Mutter, im Büro eines unter dem Druck der Militärherrschaft ohnmächtig gewordenen Politikers.

Wie ganz allgemein in der Geschichtsschreibung, so lässt sich auch im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg kein einheitliches Bild entwerfen, das allen Aspekten gerecht wird. Die Zeitgenossen hatten unterschiedliche Erfahrungen, ihre Einschätzungen und Wahrnehmungen können – auch wenn sie sich auf dasselbe geografische Gebiet im selben Zeitabschnitt beziehen – diametral entgegengesetzt sein. Ein Abbild der Gesellschaft, auch einer Kriegsgesellschaft, ist naturgemäß heterogen. Das zeigt dieser Band deutlich.

Den Ersten Weltkrieg anhand von Einzelschicksalen zu erzählen, wie wir es versuchen, zielt daher zum einen darauf ab, die unterschiedlichen Erfahrungen sichtbar zu machen, zum anderen darauf, Einzelpersonen der Anonymität des Kollektivs zu entreißen. In den hier erzählten Geschichten ist daher selten zu erfahren, wie der Krieg war, sondern wie er erlebt wurde! Die Episoden bleiben Momentaufnahmen, Mosaiksteine und Miniaturen aus der Zeit, als die Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs Europa, die Welt und unsere Gesellschaft, aber eben auch die Lebensläufe vieler einzelner Menschen erschütterte und veränderte.

So mögen diese »Gesichter der Geschichte« den unmittelbaren Blick freigeben auf das Leben und Sterben von Soldaten und Zivilpersonen in jenen Schreckensjahren, aber auch und nicht zuletzt den verzweifelten Mut und die unerschütterliche Opferbereitschaft ehren, mit der unsere Vorfahren ihr jeweils unterschiedliches, doch von derselben Katastrophe geprägtes schweres Schicksal bewältigt haben.

Ein paar Dinge seien vorausgeschickt: Die Zitate aus Selbstzeugnissen sind buchstabengetreu mit allen orthographischen und grammatikalischen Fehlern transkribiert. Nur Satzzeichen sind zum besseren Verständnis fallweise ergänzt, was wieder (nach einem Punkt) einen Eingriff in die Groß- und Kleinschreibung zur Folge hatte. Desgleichen sind Abkürzungen in der Regel ausgeschrieben. Dies gilt für Auszüge aus handschriftlichen Originalquellen, die eigens für dieses Buch transkribiert wurden. Bei Zitaten aus (manchmal bearbeiteten) Druckausgaben ist dies im Anhang vermerkt.

Ein zweiter Hinweis ist notwendig: Die Auswahl der dargestellten Personen und ihrer Schicksale im Zusammenhang mit dem Krieg ist zwar so erfolgt, dass sie möglichst aus allen Teilen des Landes einschließlich Welschtirol kommen und die wichtigsten Themenkreise von der Front bis ins Hinterland thematisieren: Die authentische Schilderung des Kampfgeschehens war uns genauso wichtig wie das Erleben von Gefangenschaft und Flucht, die Eingriffe des Militärs ins zivile Leben und in die Politik, die Not und der Hunger von Frauen und Kindern und andere Problemfelder. Dennoch mussten einige Facetten offenbleiben, weil es zum Konzept dieses Buches gehört, ein Schicksal nicht nur zu erzählen und die jeweilige Person erzählen zu lassen, sondern auch ihr Gesicht zu zeigen, um ihr in die Augen schauen zu können. Wo dies nicht möglich war, mussten wir verzichten. Vielleicht hilft dieses Buch, weitere Gesichter der Geschichte zu entdecken.

Als Herausgeber und Hauptautoren bedanken wir uns bei allen, die beim Zustandekommen dieses Buches geholfen haben – sie werden im Anhang noch einzeln erwähnt –, in erster Linie den Kolleginnen und Kollegen, die uns auf erzählenswerte und erzählbare Einzelschicksale aufmerksam gemacht haben oder selbst Text und Bilder für ein Kapitel beigesteuert haben. Nicht zuletzt gehört unser Dank dem Landeshauptmann von Tirol, Günther Platter, der diese exemplarische Sammlung von Einzelschicksalen aus allen Teilen des alten Tirol, also auch aus dem Trentino, anregte, förderte und zu einem Teil der offiziellen Gedenkveranstaltung des Bundeslandes Tirol im Mai 2015 machte. Eine große Ehre für ein kleines Buch.

Michael Forcher

Bernhard Mertelseder

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Nach dem Schlachtenort »Uhnów«, wo Paul Ingruber am 28. August 1914 gefallen ist, benannte Albin Egger-Lienz sein symbolstarkes Schlachtengemälde, das den Kaiserjägern gewidmet ist.

[ I ]

Kriegsbeginn und Kampfgeschehen in Galizien und Serbien

Am Dienstag, 28. Juli 1914, war überall in Tirol das kaiserliche Manifest »An meine Völker« mit der Kriegserklärung an Serbien angeschlagen. Nach Bekanntwerden der allgemeinen Mobilmachung am 31. Juli und 1. August strömten die Wehrpflichtigen vom 21. bis zum 32. Lebensjahr zu den Sammelpunkten ihrer Einheiten, hauptsächlich waren das die Regimenter der Kaiserjäger und der Landesschützen. Die älteren Jahrgänge (32 bis 42 Jahre) hatten sich beim Landsturm zu melden. An die 45.000 Tiroler wurden in den ersten Augusttagen aus dem Zivilleben gerissen und an die russische Front geschickt. Der überall in Europa ausgebrochene Rauschzustand nationaler Begeisterung schwappte auch über Tirol. Dieses sogenannte »Augusterlebnis« war ein Phänomen der Städte, am Land ist davon wenig zu spüren. Auch war es eine Begeisterung der Massen. In privaten Äußerungen drängen sich Sorgen und Ängste in den Vordergrund.

Was die Tiroler in Galizien erwartete, war tatsächlich die Hölle. Eine ehrgeizige Anfangsoffensive brachte zwar einige kleine Siege, forderte jedoch derart große Opfer an Menschen und Material, dass sie in Niederlagen und im Rückzug bis nach Krakau und auf die Pässe der Karpaten endete. Nach harten Winterkämpfen konnte im Mai 1915 eine großangelegte Offensive mit deutscher Hilfe die Russen auf ihr eigenes Territorium zurückdrängen.

Wie gegen Russland nach ersten kleinen Siegen das große Desaster folgte, gingen auch die eroberten Gebiete Serbiens mit der Hauptstadt Belgrad schon im Dezember 1914 wieder verloren. Erst im Herbst 1915 gelang – nachdem auch Bulgarien den Serben den Krieg erklärt hatte – der so leicht geglaubte Sieg über den Balkanstaat. Die k.u.k. Armee hatte die erbitterte Gegenwehr der Serben mit Repressalien gegen die Zivilbevölkerung beantwortet.

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Sterbebildchen des Schneidermeisters Paul Ingruber

Von der Schneiderwerkstatt aufs Schlachtfeld

Paul Ingruber fällt im ersten Gefecht in Galizien

Paul Ingruber gehórte zu den ersten Tirolern, die im Ersten Weltkrieg ihr Leben lassen mussten. Er fiel am 28. August bei Uhnów in Galizien, nahe der russischen Grenze, wo das 1. Tiroler Kaiserjägerregiment, die Flanke der Hauptmacht absichernd, seine Feuertaufe erlebte. Über Gebühr feierte die Tiroler Presse diesen Erfolg an einer Nebenfront. Als »schönen Sieg« bejubelte ihn auch noch die spätere österreichische Militärhistorie, obwohl Hauptmann Karl von Raschen in seinem 1935 erschienenen Buch »Die Einser-Kaiserjäger im Feldzug gegen Russland 1914 –1915« zugibt, dass sich am Abend »am Platz der eroberten 16 Geschütze« um die Fahne und den Regimentskommandanten »kaum tausend Mann« eingefunden haben. Das heißt nichts anderes, als dass mehrere tausend Mann verwundet oder gefallen oder vermisst waren. »Mit entblößtem Haupte, Gott dem Allmächtigen für den schönen Sieg dankend«, schreibt Raschen in seinem fast zynisch klingenden Rückblick, »gedenkt jeder seiner lieben Kameraden, die durch ihren Heldentod zu diesem schönen Erfolg beigetragen haben.«

Paul Ingruber wurde das Opfer einer veralteten Taktik des sturen Vorwärtsstürmens, als ganze Bataillone von ehrgeizigen Kommandanten ohne vorbereitendes Feuer eigener Feldgeschütze und ohne ausreichende Deckung rücksichtslos ins feindliche Feuer getrieben wurden. Uhnów war der Ort, nach dem Egger-Lienz sein erstes Schlachtengemälde benannte, das er den Kaiserjägern widmete und das trotz seiner über den Anlass hinausgehenden Symbolkraft auf realistische Details nicht verzichtet.

Ein knappes Jahr vor Kriegsausbruch war der junge Schneidermeister Paul Ingruber von seinem elterlichen Hof in Schlaiten bei Lienz nach St. Lorenzen im Pustertal gezogen, um dort eine Werkstatt zu eröffnen. Der ältere Bruder Josef, ebenfalls gelernter Schneider, hatte sich ihm angeschlossen. Schwester Antonia half den beiden beim Einrichten und führte vorerst den Haushalt, der jüngere Bruder folgte ebenfalls und wurde in St. Lorenzen Gehilfe bei einem Sattler.

Pauls Vater Ignaz, Witwer seit der Geburt des letzten Kindes im Jahr 1911, heiratete 1913 noch einmal, übergab den Hof dem ältesten Sohn Anton und übersiedelte nach Innsbruck, wo er eine Stelle beim Bauernbund annahm, an dessen Gründung er beteiligt gewesen war. Er fühlte sich aber nicht wohl in der Landeshauptstadt und erreichte bald nach Kriegsbeginn, dass ihm Bauernbundobmann Josef Schraffl die Möglichkeit bot, bei der Bauernsparkasse in Lienz zu arbeiten.

Den Kriegsausbruch Ende Juli 1914 erlebte Ignaz Ingruber auf dem Weg nach Lienz, wo er sich von seinen Söhnen verabschieden konnte. In seinen nach dem Krieg niedergeschriebenen Erinnerungen schildert er die Szene: »Am 31. Juli (Samstag) frühmorgens kam ich nach St. Lorenzen, wo ich zwei meiner Söhne, den Josef und den Paul, mit einer Reihe dortiger Kameraden bereits abmarschbereit fand. War das hin und hin eine Aufregung! Vom Arbeiten keine Rede; dafür aber Weinen, Fluchen und daneben ›Gott erhalte …‹ und dgl. Schwer kam es auch meinen Söhnen an, ihr aufblühendes Geschäft mit Warenlager im Stich zu lassen und einer gefahrvollen Zukunft entgegen zu gehen. Nur die Hoffnung, dass der Tanz in wenigen Monaten vorbei sein werde sowie das unerbittliche ›Muss‹, half ihnen über die schweren Abschiedsstunden hinweg. Obwohl ich diese Hoffnung nicht teilen konnte und ebenso wie viele andere Eltern fürchtete, dieselben vielleicht heute zum letzten Male heil und gesund zu sehen, musste ich ihnen dennoch Mut zusprechen, wenn auch mein Herz vor Wehe zerspringen wollte.«

Ein Monat später dann die schreckliche Nachricht: »Anfangs September erhielt ich schon zwei Feldpostkarten mit der Mitteilung, dass mein lieber Sohn Paul auf dem Schlachtfelde bei Unov [Uhnów], Galizien, an den Folgen eines Halsschusses verblutet sei, während der Seppl aus einem Wiener Spitale schrieb, dass er verwundet dort liege. Diese Nachrichten erschütterten mein Gemüt noch mehr, obwohl ich vorher glaubte, dass meine Aufregung bereits den Höhepunkt erreicht haben müsse und ich auf einen solchen Ausgang stets gefasst war.« Seppl überlebte und wurde mit einem Streifschuss am Kopf nach mehreren Zwischenstationen in das zu einem Notlazarett umgewandelte Institut der Englischen Fräulein in Brixen eingeliefert, wie der Vater nach Wochen erfuhr. Nach dem Krieg führte er das Schneidergeschäft in St. Lorenzen weiter.

Paul aber sollte nicht der einzige Sohn sein, den Ignaz Ingruber im Ersten Weltkrieg verlor. Zwei Monate vor Kriegsende, am 4. September 1918 verstarb der 24-jährige Hubert im Feldlazarett von Caldonazzo an den Folgen einer schweren Verwundung. Nur ein Jahr älter war Matthias, der die italienische Gefangenschaft nicht überlebte. Er starb im April 1919 im Lager von Mira bei Venedig. Alois, der ebenfalls einrücken musste, überstand alle Gefahren und Entbehrungen. Der älteste Sohn Anton war – nicht als Hofübernehmer, sondern als »Postablageführer« – nach damals üblicher Diktion »vom Militärdienst dauernd enthoben«. Auch der Vater sah sich 1915 plötzlich beim Militär, als es zur Einberufung der Standschützen kam. In seinen Erinnerungen lässt Ignaz Ingruber durchblicken, dass er davon alles andere als begeistert war. »Auch ich musste gehen, obwohl ich seit mehr als dreißig Jahren auf keine Scheibe mehr gezielt hatte und gar nicht wusste, dass ich jemals immatrikuliert war.« Tatsächlich hatte er sich früher einmal beim Schießstand St. Johann im Walde einschreiben lassen und wurde nun zum Bataillon Lienz einberufen, wo er sogleich dem Stab zugeteilt wurde.

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Die Familie Ingruber vom Gruberhof in Schlaiten (1912/13). Hintere Reihe von links: Alois, Hubert (gefallen 1918), Josef, Paul (gefallen 1914), Matthias (gestorben in Gefangenschaft 1919) und Alfred. Vater Ignaz (Mitte) rückte im Mai 1915 zu den Standschützen ein.

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Giovanni Pederzolli, Porträt aus der Vorkriegszeit

»Ich verfluchte Gott und den Teufel ...«

Giovanni Pederzolli und seine aufwühlenden Kriegserinnerungen

Er war nur ein Tischler, allerdings nicht ein ganz gewöhnlicher, denn er war auch »lucidatore di mobili«, also ein Möbelpolierer, ein Kunsttischler könnte man sagen. Giovanni Pederzolli, 1879 in Sacco geboren, heute ein Stadtteil von Rovereto, schrieb auch Gedichte und hinterließ eine der beeindruckendsten Beschreibungen des Krieges in Galizien. Sie ist nicht bruchstückhaft in einem Tagebuch festgehalten, aber auch nicht rückblickend Jahre danach entstanden. Das Erzähltalent Pederzolli brachte den ersten Teil bereits ein Jahr nach seiner schweren Verwundung und Gefangennahme in einem Spital in Nischni Nowgorod noch ganz unter dem Eindruck des Geschehens zu Papier und beendete die Niederschrift im November 1916 im Lazarett der Wiener Stiftskaserne. Eine zentrale Stelle daraus: »Die Russen flohen. Die nicht rechtzeitig davonkamen, nahmen wir gefangen. Es war höchste Zeit. Es fehlte wenig und wir wären zu erschöpft dazu gewesen. Als endlich alles vorbei war, schaute ich über das Schlachtfeld. Mein Gott, welches Blutbad! Die Toten in seltsamen Stellungen übereinandergehäuft, die Verwundeten röchelten um Hilfe, wir alle voller Blut wie die Schlächter, über allem jetzt eine Stille, die nach so viel Lärm umso drückender war. Ich sah die Toten und Verwundeten, hob die Hände und floh wie ein Wahnsinniger, nur weg von diesem verfluchten Bild, die Gedanken bei den vielen unverschuldeten Opfern und bei Gott, der diese Grausamkeit zulässt. Es kam mir wie ein Wunder vor, dass Bennoni und ich heil geblieben waren, ausgerechnet wir beide. Aber warum gerade wir zwei und die anderen zehn von unseren Freunden tot oder schwer verwundet. Ausgerechnet wir zwei! Warum? Ich verfluchte Gott und den Teufel, verfluchte alles, und ich dankte Gott nicht, dass er mich errettet hatte. Ich war zu aufgebracht. Aber warum sollte ich Ihm auch danken, Ihm, der ein solches Gemetzel an armen Unschuldigen zuließ.«

Giovanni Pederzolli hatte sich als Wehrpflichtiger sofort nach Bekanntgabe der Mobilmachung bei seinem Kaiserjägerregiment in Trient gemeldet, war aber nicht unter den ersten, die nach Galizien geschickt wurden. Seinem leichtsinnigen Temperament schreibt er es später zu, dass er sich in angetrunkenem Zustand auf eine Rauferei mit einem Unteroffizier und einem Offizier einließ, die beiden bedrohte und beschimpfte, und das Vaterland gleich noch dazu. Dass ihn deshalb ein Militärgericht im Castello del Buon-consiglio zu vier Monaten schwerem Kerker verurteile, betrachtete Pederzolli »als wahrhaft mildes Urteil in jenen Zeiten des Krieges«. Noch dazu begnadigte ihn der General schon nach neun Tagen und schickte ihn zurück zur Truppe.

Wieder bei seiner Einheit, erkrankte Pederzolli und brauchte Monate, bis er wieder einsatzbereit war. So wurde er erst am 2. Mai 1915 mit einem Marschbataillon nach Galizien einwaggoniert. Dort setzt seine Niederschrift ein. Es sind die Tage nach der siegreich geschlagenen Durchbruchschlacht von Gorlice-Tarnów. Immer wieder kommt es bei der Verfolgung der Russen zu blutigen Kämpfen; einmal Rückzug, dann erneuter Angriff. Nahkampf mit Bajonetten.

Pederzolli erzählt von Hunger und Durst, die sie zu erleiden hatten, weil der Train nicht rasch genug folgen konnte. Schlimmer noch als der Hunger sei der Durst gewesen. Und der wurde ihm schließlich zum Verhängnis. Es war am 7. Juli 1915. Seit drei Uhr morgens war die Hölle los. Artillerieduelle über die Köpfe der Kaiserjäger hinweg, die in ihren für die Nacht gegrabenen Löchern steckten. Ein wolkenloser Tag. »Die Sonne brannte auf unsere Köpfe, der Durst fraß uns auf. [] Der Mund voll Dreck, die Augen vom Staub und Rauch fast blind, und der Magen leer seit drei Tagen. Gegen 8 war es nicht mehr auszuhalten.« Da rief der Kommandant Pederzolli zu sich und befahl ihm nicht, sondern bat ihn (»Wenn Du Dich nicht imstande fühlst dazu, dann bleib«), mit ein paar Freiwilligen im nahen Dorf Wasser zu holen. Dazu mussten sie unter russischem Feuer ungefähr 600 Schritte über freies Gelände laufen, bis ihnen ein kleiner Wald und dann das Dorf Schutz boten. »Wenn ein Offizier bittet, statt zu befehlen, gilt das Leben nichts mehr für mich.« Zu fünft liefen sie um Wasser und um ihr Leben. Zwei schafften es nicht, drei kamen im Wald an und erreichten das Dorf, füllten so viele Flaschen mit Wasser, wie sie tragen konnten, und machten sich auf den Weg zurück. Wieder im Wald angekommen, lag das freie Gelände davor derart unter Feuer, dass an ein Durchkommen nicht zu denken war. Was tun? Da sahen sie die eigene Kompanie in überstürzter Flucht, verfolgt von den Russen. »Wenn wir nicht hinüber zur Kompanie kommen, geht’s in die Gefangenschaft. Ein Hügel lag zwischen uns und nahm uns die Sicht auf einen guten Teil des Schlachtfeldes. Wer weiß, dachte ich, wenn wir da hinauf kommen, müssten wir die Fliehenden erreichen. Vorwärts, schrie ich. In zehn Minuten waren wir auf dem höchsten Punkt. Großer Gott! Was für ein Schauspiel bot sich unseren Augen. Voll Entsetzen sah ich es: Der Hang auf der anderen Seite war bedeckt mit Verwundeten und Leichen. Im Hintergrund sah man die Unseren Hals über Kopf davonrennen, und die Russen, mindestens vierfach überlegen, folgten in Schussweite. Ich sah herum: Russen, überall Russen. Wir waren umzingelt. Was ich jetzt tat, war Wahnsinn. [] Ich nahm alle Munition, die mir noch geblieben war, und schoss wie ein Wahnsinniger. [] Plötzlich, ich kann es mir selbst nicht erklären, verspürte ich einen Schlag gegen den Kopf, der wie von innen kam. Ich fiel wie vom Blitz getroffen. Jetzt bin ich tot, dachte ich. Ich wartete, doch der Sensenmann ließ sich zu lange Zeit. Ich öffnete die Augen. Sah uns. Ich war also weder tot noch blind. Nur der Kopf tat höllisch weh. Ich versuchte, ihn mit der Hand abzutasten. Bis zur Nase herunter war ich unverletzt. Ich suchte den Mund. Großer Gott! Es war ein Klumpen aus Fleisch und Brocken von Knochen; die ganze rechte Kinnlade hing herab, und aus dem schrecklichen Riss quoll das Blut in Wellen. Das Kinn lag auf der rechten Schulter. Gut zwanzig Zähne lagen verstreut über die Wiese, zusammen mit Knochen, Zahnfleisch und Kieferstücken. Ich versuchte aufzustehen, aber auch die rechte Schulter war unbrauchbar. Das verfluchte Schrapnell hat mir nicht nur den halben Mund weggerissen, sondern auch die Schulter zermalmt.« Es war ein hünenhafter russischer Soldat, der Giovanni Pederzolli das Leben rettete, indem er ihn verband und unter dem Feuer der Kanonen vom Hügel hinunter an eine sichere Stelle trug. Danach holte er Pederzollis Kameraden, rief die Sanitäter und verschwand. »Ich sah den guten Russen nie wieder.« Pederzolli war dem Tode näher als dem Leben, als man ihn ins nächste russische Feldspital brachte.

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Giovanni Pederzolli (links) als Kaiserjäger zusammen mit einem namentlich nicht bekannten Kameraden

»Hier begann mein wahrer Kreuzweg.« Er bestand aus grässlichen Schmerzen in überfüllten Lazaretten, auf endlos langen Fahrten kreuz und quer durch Russland bis nach Sibirien, während er nur durch ein Röhrchen oder mit kleinen Löffelchen Schluck für Schluck mühsam ernährt werden konnte, und aus mehreren Operationen, deren erste in Minsk ein russischer und ein österreichischer Arzt gemeinsam vornahmen. Im Zuge einer Austauschvereinbarung über verwundete Kriegsgefangene wurde Giovanni Pederzolli im Juni 1916 zusammen mit vielen Leidensgenossen ins neutrale Schweden überstellt und von dort über Deutschland und quer durch Böhmen nach Wien, wo er ins Reservespital der Stiftskaserne eingeliefert wurde. Die Schmerzen, die er 24 Stunden am Tag zu erdulden hatte, waren schier unvorstellbar, schreibt Pederzolli.

Überwältigend aber auch die Freude, seine Mutter im Flüchtlingslager Mitterndorf bei Wien besuchen zu dürfen. Seit der Evakuierung von Rovereto im Mai 1915 musste sie dort in einer der vielen Baracken ihr Leben fristen. Auch seine Frau hatte damals die zum Kriegsgebiet gewordene Heimat verlassen müssen und hatte Budweis in Böhmen als Aufenthaltsort zugewiesen bekommen. Jetzt konnten die Eheleute mehrmals beisammen sein, mehrere Tage in Wien und ganze vier Wochen in Budweis. Maria Pederzolli übersiedelte später zu ihrer Schwiegermutter ins Lager von Mitterndorf, das näher bei Wien lag.

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Giovanni Pederzolli im Spital von Rovereto (wahrscheinlich 1924)

Giovanni Pederzolli musste sich in Wien zwei schwierigen Operationen unterziehen. Nach dem Krieg versuchte man in Rovereto noch einmal, durch eine Operation eine Verbesserung seiner eingeschränkten Lebensqualität zu erreichen. Im dortigen Krankenhaus bekam er Besuch von einem Mönch, der ihm die Kommunion spenden und davor die Beichte abnehmen wollte. »Warum? Etwa um Vergebung dafür zu bitten, dass ihn dieser Mördergott dem Wahnsinn der Mächtigen ausgeliefert hat? Der Pater sagte: Denke, denke darüber nach.« Und in einer neuen Zeile lässt Giovanni Pederzolli einen der späteren Nachträge zu den Erinnerungen mit den Worten enden: »Ich denke nach, leider.«

Er blieb Invalide und starb 1945 in Rovereto.

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Peter Paul Greinhofer in der Krieger kapelle am Friedhof seines Heimat dorfes Schlaiten. Ein anderes Foto von ihm ist nicht erhalten.

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Vermerk auf der Titelseite des Tagebuches: »Sollte ich fallen bitte dieses Büchlein meiner Frau Antonia Greinhofer Innsbruck Tirol Mentlgasse 14, I. Stock zu senden wird bezahlt werden.«

»Für den nächsten Tag ist wieder Sturm befohlen «

Peter Paul Greinhofer und sein Tagebuch vom Einsatz in Galizien

»Um 3 Uhr früh sammeln zum Sturm. Die Russen schießen rasend, auch einige Maschinengewehre sind dort. Noch im Wald empfängt uns ein Kugelregen, kaum aus dem Walde heraus gehts hurra gegen die Drahtverhaue. In einer Viertel Stunde ist alles vorüber. Unsere Kompanie liegt todt und verwundet vor den Drahthindernissen. Von 260 Mann sammeln sich bis abends noch 52 Mann. Ich und 9 andere von meinem Zug hingen 200 Schritte vor dem Draht in einem Loch gesund und gedeckt, aber unsere Artillerie beschießt uns selbst, also entweder zurück in den Wald oder hier sterben. Wir entschließen uns zurück zu laufen, einer probierts, kaum ist er aus der Deckung, ist er auch schon todt. So geht es fort. Von allen 9 kommen 4 zurück – die anderen todt. Das war ein trauriges Sammeln abends. Für den nächsten Tag ist wieder Sturm befohlen, es ist alles umsonst.«

Diesen Bericht vom 3. Mai 1915, dem 2. Tag der Offensive von Gorlice-Tarnów zur Wiedereroberung Galiziens, schrieb der Tiroler Soldat Peter Paul Greinhofer in sein Tagebuch. Der 35-jährige Bierführer aus Innsbruck stammte von einer Bauernfamilie in Schlaiten bei Lienz, mit der er noch in ständigem Kontakt stand, was auch der Grund dafür ist, dass einige seiner Feldpostkarten und vor allem das Notizbüchlein mit seinen Aufzeichnungen erhalten geblieben sind. Aus ihnen spricht das unmittelbare Erleben ohne den Versuch späterer literarischer Überhöhung. Eine solche ist schon deshalb nicht erfolgt, weil Peter Paul Greinhofer zwei Monate später, zwischen dem 4. und 7. Juli 1915, während der zweiten Isonzoschlacht gefallen ist.

Wann Greinhofer aus seiner engeren Heimat wegzog und in Innsbruck eine Familie gründete, ist nicht überliefert. Nach Familientradition hat den Entschluss die einige Jahre ältere Schwester Anna ausgelöst, die in Innsbruck verheiratet war. Auch der neun Jahre jüngere Bruder Nikolaus hatte zu Beginn des Ersten Weltkriegs den elterlichen Kaspererhof schon verlassen und in Lienz eine Familie gegründet. Hoferbe war der älteste Bruder Alois, von 1911 bis 1919 und noch einmal von 1923 bis 1925 war er Gemeindevorsteher bzw. Bürgermeister von Schlaiten.

Während Nikolaus schon zu Beginn des Krieges zu den Waffen musste und als Angehöriger des 8. Gebirgsartillerieregiments, dessen Sitz Brixen war, nach Galizien geschickt wurde, erhielt Peter Paul erst im Frühjahr 1915 den Stellungsbefehl und wurde mit dem IX. Marschbataillon des 4. Kaiserjägerregiments in Mezzo-corona einwaggoniert. Über Franzensfeste-Lienz-Marburg-Budapest ging es nach Miskolz, wo Peter Paul vergeblich hoffte, seinen Bruder Nikolaus zu treffen, und am 19. April eine Karte nach Hause schrieb. Weiter ging es langsam und mit vielen Pausen nach Kaschau (heute Košice, Slowakei), der letzten Stadt vor den Karpatenpässen. Wohl wegen der in den Bergen tobenden Kämpfe und der Überlastung der Bahnverbindung nach Galizien wegen des verstärkten Nachschubs, mussten die Berge zu Fuß überwunden werden. Nach zwei Tagen war der erste Ort in Galizien erreicht, doch »um 1/2 9 abends noch todtmüder Abmarsch in die Feuerstellung unter fortwährend Kanonendonner. Um 10 Uhr die Nachtstellung bezogen auf freiem Felde ohne Manasch [Menage] oder Kaffee. Um 3 Uhr früh dann wieder zurück in ein galizisches Nest Blechnaca. Das Wetter sehr schön immer. Welche Lust Soldat zu sein.«

So wie Peter Paul Greinhofer offenbar seinen sarkastischen Humor nicht verlor, blieb ihm auch das Empfinden für landschaftliche und musikalische Schönheit erhalten. Am 23. April notiert er im Tagebuch: »Abends beziehe ich die erste Feldwache kaum 150 Schritte vom Feinde. Eine wunderschöne Mondnacht ist es, hell glänzen die Sterne. Die Karpath. Hügel und Kuppen schimmern. Aus der Stellung uns gegenüber ertönen leise heimliche Weisen von 2 Schauspielern [?] mit Klarinett und Flügelhorn geblasen. Um 2 Uhr nachts auf einmal fernes Gewehrfeuer, das immer näher kommt. Dann beginnen die Kanonen ihr Konzert.«

Am 25. April werden die Kaiserjäger abgelöst, ein paar Tage später erreichen sie die Feuerstellung am Dunajec. Auf dem ganzen Marsch dorthin »begegnen uns deutsche Regimenter und deutsche Artillerie, das 1. und 2. deutsche Garde-Regiment samt Stab und allem. Alles stramme Leute gut genährt, kriegen mehr zu essen als wir und weniger tragen.« Die Bewunderung für den deutschen Bündnispartner, der sich mit starken Kräften an der bevorstehenden Offensive beteiligt, ist offensichtlich. »Flieger kreisen immerfort«, beobachtet Greinhofer, auch das ein Indiz für deutsche Hilfe, denn die k.u.k. Armee verfügt damals nur über ganz wenige »Flugapparate«, die zur Beobachtung der feindlichen Stellungen und des Nachschubs eingesetzt werden. Für den 30. April steht im Tagebuch: »Schon beginnt wieder das Artillerie-Feuer, ein schöner Tag, aber etwas abgekühlt durch das Gerücht, das wir in ein paar Tagen die uns gegenüber befindliche russische Stellung stürmen müssen! Das wird furchtbar werden. Ob ich noch zurückkommen werde? Wenn nicht, so lebet wohl Frau und Kind, Geschwister und Tiroler Berge. Ich hoffe das Beste.«

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Die Greinhofer-Familie vom Kaspererhof in Schlaiten im Jahr 1915. Dritter von rechts der Bauer Alois Greinhofer (links von ihm mit dem Poppele seine Frau), ganz rechts der in die Stadt Lienz gezogene und 1914 eingerückte Bruder Nikolaus, offenbar auf Heimaturlaub, und seine städtisch gekleidete Frau Elise, geborene Ganzer

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Zeichnung in Greinhofers Tagebuch, abgesondert von den fortlaufenden Eintragungen auf Seite 52. Darüber steht: »Die berühmte Höhe 419 am Dunajec südlich von Tarnow, die von den Tiroler Kaiserjägern am 2. und 3. Mai 1915 erstürmt wurde und beinahe die ganzen Jäger aufgerieben hat.«

»1. Mai Höhe 419 – Ein wunderschöner Tag bricht an. Im Nordosten geht ein Gehöft in Flammen auf, wir haben auf die Nachtwache Ruhe. Ich glaube es ist die Ruhe vor dem Sturm, glaube, dass es heute zum Stürmen kommt. Das wird ein harter Angriff werden. Die Russen sind furchtbar verschanzt und verdrahtet, wird wenn es glückt viel Menschenleben kosten. Ich bin ganz ruhig und hoffe heil und gesund zurück zu kommen und hat Gott es anders bestimmt, so wird es auch recht sein. Nur Frau und Kind sind zu bedauern. Aber Gott wird sie nicht verlassen. Es wäre so schön hier, wenn dieser furchtbare Krieg nicht wäre. Also Glück auf.«

»2. Mai Höhe 419 – Das war ein furchtbarer Tag, den werde ich nicht gleich vergessen. Gestern abends hieß es auf einmal zum Abmarsch u. Sturm bereit. Um 6 Uhr Abmarsch. Kaum sind wir aus dem Schützengraben heraus, so empfangen uns schon die Russen mit Pulver Feuer. Glücklich kommen wir in den schützenden Wald. Nun geht es langsam vorwärts und gleich geht der Tanz los. Wir rücken vor bis uns rundum Feuer empfängt. Hier vergraben wir uns und erwarten den Tag, der um 3 Uhr mit einem furchtbaren Kanonendonner eröffnet wird. Die Artillerie schießt rasend.

Um 10 Uhr sind wir auf Sturmweite an die feindliche Stellung herangekommen. Um 12 Uhr der erste Sturm – rechter und linker Flügel, alles umsonst – schon sind viele Tote bei uns und Verwundete. Wir ziehen uns in den Wald zurück, stark beschossen von den Russen und unserer Artillerie – viele Tote.«

Es folgt im Tagebuch die eingangs wiedergegebene Schilderung der Kämpfe vom 3. Mai um die »Höhe 419«. Sie konnte schließlich genommen werden, erlangte jedoch wegen der kaum vorstellbaren Verlustziffern traurige Berühmtheit. Greinhofer hat weiter hinten in seinem Büchlein eine genaue Skizze der russischen und der eigenen Stellungen angefertigt und daran anschließend noch einmal einige Bemerkungen zu den Kämpfen dort geschrieben: »Besonders die Geschosse der Motorgeschütze [gemeint sind Maschinengewehre, auf der Skizze eingezeichnet als Doppellinie mit den kleinen Kreisen] verursachen ein solches Geheul, das es zum wahnsinnig werden ist und die Explosion einen solchen Schlag, das der ganze Boden zittert wie bei einem Erdbeben.«

In den Tagen um den 23. Mai liest man in Peter Paul Greinhofers Tagebuch mehrmals vom Wunsch der inzwischen siegreich über den Fluss San hinaus vorgerückten Tiroler Soldaten, zur Verteidigung der von Italien angegriffenen Heimat eingesetzt zu werden. Am 7. Juni berichtet Greinhofer von einem »Gerücht, das wir nach Tirol kommen sollen«. Wenige Tage später endet das Tagebuch abrupt. Über den Transport an die neue Front im Süden, der erst Wochen später erfolgte und als Ziel nicht Tirol, sondern die Gegend um Triest hatte, stehen nur mehr ein paar, wegen der Zensur verschlüsselte Zeilen in einer am 31. Juli 1915 abgestempelten Feldpostkarte an Bruder Alois in Schlaiten. Sie trägt außerdem den lapidaren handschriftlichen Vermerk: »Vom 1. bis 4. an der Isonzofront gefallen«.

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