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Reinhard Kleindl

Baumgartner und
die Brandstifter

Kriminalroman

Reinhard Kleindl

Baumgartner und die Brandstifter

Samstag, 11 Uhr 10

Normalerweise achtete Alfons Riedl nie auf die offene Landschaft zwischen Spielfeld und Wildon.

In diesem Abschnitt nickte er oft ein vom beruhi­genden Schütteln und Rattern des Zuges. Im Zug schlief er so gut wie sonst nirgends, oft nur zwanzig Minuten, aber es war ein leichter, erholsamer Schlaf, der ihm guttat.

Alfons Riedl kannte die Bahnstrecken um Graz gut. Er war jede von ihnen etliche Male gefahren und schlief inzwischen immer an denselben Stellen ein, wenn der Zug über das Land fuhr. Das Land war ihm egal, dort gab es nichts zu sehen. Es waren die Stadtränder, die ihn interessierten. Die Schrebergärten, die verwahrlosten Hinterhöfe. Wo man so schön hinter die Fassaden blicken konnte und sah, wie die Welt wirklich aussah.

Diese Sicht der Dinge hatte er sich als Bankdirektor angeeignet. Die Fähigkeit, hinter die Fassade zu blicken. Er war vielen Männern in feinen Jacketts gegenübergesessen, die Geld von der Bank gewollt hatten, für dieses oder jenes. Manche von ihnen hatten fünfzigtausend Euro Spielschulden, andere eine auf den ersten Blick krude Geschäftsidee, die sich schon nach drei Jahren in pures Gold verwandelte. Zwei Typen, kaum voneinander zu unterscheiden. Er hatte es lernen müssen, hatte Meisterschaft darin entwickelt.

Seither war er die Fassaden leid, die Werbungen, die bunten Plakate, das Halbwissen aus den Zeitungen. So hatte er nach seiner Pensionierung, als ihm allein in seiner Wohnung langweilig geworden war, das Zugfahren entdeckt.

Jeden Samstag fuhr er hinaus, seit nun fast fünf Jahren, heute wieder einmal nach Süden: In der Früh nach Maribor, dort am Ufer der Drau einen Kaffee trinken, und danach wieder zurück nach Graz; auch in einer Hitzewelle wie dieser, wo kaum noch jemand freiwillig vor die Tür ging. Er hatte sich extra eine leichte, weiße Leinenhose gekauft, wie sie ältere italienische Männer manchmal trugen. Um den Kaffee ging es nicht, den hätte er auch woanders trinken können. Der Kaffee war nur die Ausrede für die Zugfahrt.

Eigentlich waren seine Augenlider schon schwer und fielen immer wieder zu. Dass er dennoch genauer hinsah, lag nur an dem Mann, der quer über ein Feld ging. Riedl fragte sich, welchen Grund es dafür gab. Der Zug fuhr hier sehr langsam, und weil der Bahndamm erhöht war, hatte Riedl einen guten Blick auf die Landschaft. Der Mann war kein Bauer, sondern gekleidet wie ein Städter, in Jeans und einem karierten Hemd. Er war definitiv kein Jogger und schien keine Eile zu haben – warum er über das Feld ging und nicht herum, war nicht ersichtlich. Entschlossen setzte er einen Fuß vor den anderen, mit unergründlichem Gesicht.

Der Rauch hatte eigentlich gar nichts mit dem Gehenden zu tun, das erkannte Riedl gleich. Der Mann ging in eine Richtung, die dazu überhaupt nicht passte. Es war einfach nur ein Zufall, doch so war er wach genug gewesen, auch den Rauch zu bemerken: eine Säule, die in den Himmel wuchs, braun und grau und manchmal fast schwarz. Langsam näherte sich der Zug, und nun konnte er auch die Quelle des Rauchs erkennen: ein Bauernhaus. Flammen waren keine zu sehen, aber überraschend viel Qualm. Er stieg schnell auf und verlor sich erst in großer Höhe.

Riedl sah, wie in der Ferne ein Feuerwehrauto auftauchte. Es fuhr über das offene Land und näherte sich mit Blaulicht dem Haus, winzig unter dem wolkenlosen Himmel. Eine Sirene war im Zugabteil nicht zu hören. Aus Riedls Perspektive schien es fast gemächlich zu fahren. Ob das an der Entfernung lag oder an der Fahrtrichtung des Zuges, konnte er nicht sagen. Jedenfalls sah der Wagen, klein und lautlos, wie ein Spielzeug aus. Der Szene fehlte jeglicher Ernst.

Nun drang der Rauch bereits aus mehreren Fenstern; aus einem schlugen plötzlich Flammen. Menschen sah er keine. Die Feuerwehr kommt ein paar Minuten zu spät, dachte er. Der Schaden wird beträchtlich sein.

Es war sicher niemand zu Hause, dachte er. Samstags waren die Bauern auf den Märkten.

Da wurde ihm von einem Moment auf den anderen bang, und er wandte den Blick ab. Während dieser Fahrt konnte er nicht mehr einschlafen und kam müde in Graz an.

Als er am nächsten Tag die Zeitung vom Gang in die Wohnung holte, wartete er nicht einmal, bis der Kaffee fertig durchgelaufen war, sondern blätterte sie gleich durch, bis er die Meldung über den Brand gefunden hatte.

Den Mann auf dem Feld hatte er zu diesem Zeitpunkt längst vergessen.

11 Uhr 30

Michael Egger war ein glücklicher Mann.

Er stand allein vor der Kirche, etwas abseits von den anderen, an den Stamm einer Buche gelehnt und starrte vor sich hin. Das grüne Gilet seines Steireranzugs rieb an der Rinde und wurde schmutzig, doch das war ihm egal, ebenso wie die Schweißflecken unter den Achseln des weißen Hemdes. Der Schatten tat ihm gut, alles andere kümmerte ihn nicht. Egger sah zu, wie sein Sohn mit der Braut für den Fotografen posierte. Die junge Frau dirigierte den schwarz gekleideten Mann mit der Kamera, der ganz erbärmlich schwitzte und dabei nichts von seiner Professionalität einbüßte. Max dagegen wirkte wieder einmal etwas verloren und wagte nicht, sie zu stören. Die Hochzeitsgesellschaft, junge Verwandte in Dirndlkleidern und kurzen Lederhosen, nahm es wahr und man machte sich darüber lustig.

Egger seufzte bei sich. Der Hof war in guten Händen. Eine neue Generation war bereit, die Herausforderung anzunehmen.

Das war nicht immer so klar gewesen. Es hatte dunkle Jahre gegeben, Zeiten großer Zweifel. All das war nun vorbei. Sie konnten es hinter sich lassen, nach vorne blicken.

»Na, Großbauer, wie geht’s dir? Stehst da allein in der Ecke!«

Friederike schmiegte sich an ihn. Er hatte sie nicht kommen gehört. Sie schien rührselig zu werden, ließ sich anstecken vom Glück ihres Sohnes. Egger legte seinen Arm um sie und lächelte nur.

»Bist du stolz?«, fragte sie.

»Stolzer kann man nicht sein«, antwortete er.

»Und du freust dich?«

Er sah sie an. »Was glaubst du denn?«

»Ich frage ja nur«, rechtfertigte sie sich, »stehst da ganz allein und grübelst. Ich will nur wissen, ob alles in Ordnung ist.«

»Schade, dass die Oma nicht da sein kann«, sagte er.

»Ja, das ist es. Aber der Doktor wird es schon wissen. Das lange Sitzen in der Kirche, das wär nichts gewesen für sie.«

»Sie hat immer wieder den Teufel an die Wand gemalt, dass alles schlechter wird. Es hätte ihr gutgetan.«

Friederike schien nachdenklich.

»Und wenn wir noch einen Sprung zu ihr fahren vor dem Essen? Schicken wir die anderen einfach voraus.«

Egger lachte und sah seine Frau an.

»Ihr habt wochenlang jede Kleinigkeit geplant und euch den Kopf zerbrochen, wie ihr es machen wollt. Seitenweise Listen habt ihr geschrieben, alles auf die Minute genau. Und jetzt auf einmal willst du das Protokoll ändern?«

Friederike boxte ihn vorwurfsvoll in die Seite.

»Nur ganz kurz, für die Oma«, sagte sie. »Sie würde sich freuen, oder?«

»Und wie.«

»Es ist eine gute Idee, oder?«

»Eine großartige Idee«, sagte er.

»Gut, dann werd ich mal die Brautleute fragen«, sagte sie und küsste ihn auf die Wange.

Egger blieb unter seinem Baum stehen und sah zu, wie die beiden Frauen die Details besprachen. Sein Sohn stand daneben, schien nicht gefragt zu werden. Schließlich winkte ihn Friederike herbei, und er musste schweren Herzens seinen Schattenplatz aufgeben.

Man erklärte der Hochzeitsgesellschaft, dass alle schon zum Gasthaus fahren konnten. Die Brautleute würden nachkommen.

Eine Stunde später saßen knapp hundert hungrige Hochzeitsgäste an einer liebevoll gedeckten Tafel mit fächerförmig gefalteten Servietten und warteten. Manche bestellten gerade das zweite Bier, andere wurden unruhig. Man zögerte mit dem Essen. Noch immer keine Spur von den Brautleuten.

Es war die Tante, Eggers Schwester, die den Anruf bekam. Sie sagte kaum etwas, nickte nur, doch die Veränderung in ihrem Gesicht ließ alle verstummen.

»Ja, ist gut. Ich sag es ihnen.«

Sie legte auf, holte tief Luft und sagte den anderen, dass die Brautleute nicht mehr kommen würden. Dass etwas passiert war.

12 Uhr 50

Gregor Wolf hatte Schnupfen. Bei dieser Hitze, was für eine Ironie.

Am Dienstag hatte er noch befürchtet, Mittwoch nicht zur Arbeit kommen zu können. Es begann immer mit wunden Schleimhäuten in der Nase und einer allgemeinen Trägheit. Erst ein paar Tage später folgte das Schnäuzen, und manchmal kam Fieber dazu. Meist konnte er schon bei den ersten Symptomen sagen, wie schlimm es werden würde.

Letztes Wochenende waren sie nach der Radtour noch etwas trinken gegangen. Draußen vor dem Lokal war nichts mehr frei gewesen, deshalb hatten sie sich in den klimatisierten Innenraum gesetzt. Das war ein Fehler gewesen, er hatte es gleich bemerkt. Diesmal war er sich sicher gewesen, dass Fieber kommen würde. Doch er hatte gleich Aspirin genommen und sich am Montagabend bei der Apotheke etwas für die Nase geholt. Er wollte nicht einsehen, dass er gerade jetzt krank werden sollte, wo es beruflich so gut lief. So einfach ließ er sich seine gute Laune nicht verderben.

Als er diesen Vormittag ins Landeskriminalamt gekommen war, hatte er vorsorglich eine große Packung Taschentücher in seiner Aktentasche mit dabei gehabt und gleich den kleinen roten Wasserkocher aufgefüllt. Er war fest entschlossen, das durchzustehen.

Wolf war allein in der Kanzlei. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und warf einen Blick auf das gelbe Post-it vom Vortag. Es enthielt eine Liste von unerledigten Dingen, gestern Abend hatte er beschlossen, früher Schluss zu machen – eine von vielen kleinen Annehmlichkeiten, wenn man selbst der Chef war. Das Arbeiten am Samstag machte ihm nichts aus. Krank, wie er war, konnte er sowieso keinen Sport machen. Die anderen hatten ihn zu einer weiteren Radtour bei dem schönen Wetter überreden wollen, doch er war klug genug gewesen, ihnen abzusagen. So hatte er gestern früh ins Bett gehen können und konnte heute in Ruhe die vielen Kleinigkeiten erledigen.

Er warf einen Blick auf den Wasserkocher, der schon leise gurgelte, und beschloss, mit Punkt fünf auf seiner Liste zu beginnen. Der Bericht für den Staatsanwalt über die Handgreiflichkeit im türkischen Restaurant Kervan am Griesplatz war schon lang überfällig. Als er sich gerade mit dem Tee an den Schreibtisch setzte, kam der Anruf. Nicht auf dem Festnetztelefon der Kanzlei, sondern auf seinem Mobiltelefon. Er sah, dass die Nummer vom Journaldienst auf dem Display aufleuchtete, stellte die Tasse schnell ab und nahm das Gespräch an.

Die Dame berichtete ihm knapp, was passiert war. Er erklärte, dass er heute sowieso arbeite. Stefan Wilszek sei auch schon auf dem Weg, meinte sie, dann beendeten sie das Gespräch.

Wolf stand auf und nahm abermals das Mobiltelefon in die Hand. Er rief Caroline Meier an und schilderte ihr die Lage. Sie bot an, auch zu kommen, doch er erklärte ihr, dass sie gern zu Hause bleiben konnte. »Bist du sicher?«, fragte sie. Hinter ihr hörte er Stimmengewirr. Er versprach, sich abends noch einmal zu melden. Womöglich mussten sie morgen, Sonntag, eine Besprechung ansetzen. Danach rief er Rainer Swoboda an und bat ihn, auch zu dem Bauernhof zu kommen. »Warum fragst du nicht Caroline?«, wollte Swoboda wissen, der keinerlei Interesse zu haben schien, sein Wochenende zu opfern. »Sie kann heute nicht«, erklärte Wolf. »Und ich brauche vielleicht Hilfe.«

Er ließ Swoboda nicht mehr zu Wort kommen und legte auf. Er stand auf, füllte das restliche heiße Wasser aus dem Kocher in eine Thermoskanne und hängte einen Teebeutel hinein, bevor er sie zuschraubte und unter den Arm klemmte. Er trank seine Tasse in einem Zug leer und stellte sie auf Baumgartners Schreibtisch, wo noch zwei weitere ungewaschene Tassen standen.

13 Uhr 30

Als Gregor Wolf die Autotür öffnete, roch er trotz der geschwollenen Nase gleich, dass es gebrannt hatte. Er dachte unwillkürlich an die Ostern in seiner Kindheit, die Feuer, den Schinken.

Wolf befand sich auf einem Hof, der aus drei Gebäuden bestand: einem Wirtschaftsgebäude mit großen Garagentoren, einem mit gewelltem Eternit verkleideten Bau, der offenbar einmal ein Stall gewesen war, und einem zweistöckigen Wohnhaus mit Balkonen aus dunkel gebeiztem Holz, aus dessen von großen Rußflecken umgebenen Fenstern dünner, grauer Rauch aufstieg. Der Dachstuhl war in der Mitte eingestürzt. Vor dem Haus lag dampfendes, verkohltes Gerümpel. Er erkannte ein Tischbein, ein Telefonkabel und die Reste eines gepolsterten Sitzmöbels. Der geschwärzte Bezug war an manchen Stellen aufgeplatzt, und weißes Futter quoll heraus. Abgesehen davon sah der Hof ungewöhnlich aufgeräumt aus. Der Rasen vor dem Haus war frisch gemäht, und in einem alten hölzernen Karren standen Blumenkisten mit frischen, roten Blüten. Ein Löschwagen der Feuerwehr stand vor dem Haus, die Feuerwehrleute rollten gerade die Schläuche ein. Der Brand war gelöscht.

Neben dem großen Feuerwehrauto parkten ein Rettungsauto und ein Streifenwagen, beide mit eingeschaltetem Blaulicht. Die Sanitäter standen neben ihrem Fahrzeug, zwei hatten die Hände verschränkt, einer rauchte. Hier gab es nichts mehr für sie zu tun. Etwas abseits vom Haus parkten ein alter Mercedes und weiter hinten noch zwei Pkw.

Einer der beiden Beamten stand neben einem kräftigen Mann im Steireranzug, der irgendwie gebückt aussah, und schrieb etwas auf. Der andere ging gerade zum Streifenwagen, als er Wolf entdeckte und ihm zunickte. Sie kannten sich nicht, aber er schien den Dienstwagen des Landeskriminalamts erkannt zu haben. Er kam auf Wolf zu, und sie gaben sich die Hand.

»Planner.«

»Wolf. Ist das Opfer –«

»Kunigunde Egger.«

Wolf nickte. »Ist sie –«

»Noch im Haus, ja«, ergänzte Planner.

»Mein Kollege von der Tatortgruppe ist schon drin, nehme ich an?«

»Ja, er ist mit den Brandermittlern reingegangen. Sieht nicht schön aus, wenn Sie es genau wissen wollen.«

Wolf nickte abermals.

»Bitte schicken Sie mir einen von den Brandermittlern her. Ich würde gern hineingehen.«

»Ist gut«, sagte der Beamte und wandte sich ab.

Gregor Wolf ging zu dem anderen Polizisten. Er vermutete, dass der Mann im grau-grünen Anzug ein Angehöriger des Opfers war.

»Grüß Gott«, sagte Wolf und stellte sich vor. Sie gaben sich die Hand.

»Michael Egger«, sagte der fremde Mann müde. »Ich bin der Sohn.«

»Tut mir leid«, antwortete Wolf. Egger nickte. Er wirkte ungewöhnlich gefasst, dachte Wolf. Nicht traurig, eher erschöpft, als wäre jegliche Kraft aus ihm gewichen. Ähnliches hatte er schon erlebt. Die Leute reagierten sehr unterschiedlich auf solche Katastrophen. Manche verloren sämtliche Hemmungen, ließen sich gehen, doch andere litten still und wurden dabei überraschend aktiv. Leute wie Egger schienen sich ihre Trauer für private Stunden aufzusparen.

»Ist es in Ordnung, wenn ich Ihnen ein paar ­Fragen stelle?«

Egger nickte abermals. »Gleich?«, fragte er.

»In ein paar Minuten«, sagte Wolf. »Ich möchte mir vorher noch das Haus ansehen.«

Ein weiteres Auto näherte sich dem Bauernhof – Rainer Swoboda. Ihre Begrüßung war unterkühlt. Wolf sah hinüber zur Eingangstür des Wohnhauses, wo bereits Planner mit einer großen, schlanken Frau in einem weißen Anzug der Spurensicherung wartete. Wolf erkannte Pia Leistner von der Brandermittlungsgruppe. Sie begrüßten sich, ohne sich die Hand zu geben, damit Leistners weiße Handschuhe nicht schmutzig wurden. Wolf und Swoboda betraten das Haus und gingen durch einen engen Korridor, in dem noch das Löschwasser stand und wo es paradoxerweise kühler war als draußen. Die Holzdecke war völlig verkohlt und auch die Tapete geschwärzt. Der scharfe, teerige Geruch brannte Wolf in der Nase. Sie hielten auf eine offene Tür zu, die schief in den Angeln hing. Wolf bemerkte sofort, dass sich der Geruch verändert hatte: wie Fleisch, das auf einem Grill verbrannt war. Wolf schloss kurz die Augen, streifte die angebotenen weißen Fußschoner über und trat einen Schritt in den Raum.

Drinnen war es hell. Wolf sah zum Fenster, dessen Scheibe zerbrochen war. Der Geruch hing dennoch dick im Raum, von einigen Möbeln stieg immer noch dünner Rauch auf. In der Mitte stand ein Bett und darin lag, kaum noch erkennbar, eine menschliche Gestalt, gleich schwarz wie die Bettwäsche, die lichterloh gebrannt haben musste. Daneben das Metallgestell eines Rollstuhls.

Plötzlich tauchte Wilszek auf, der neben dem Bett gekniet war und sich gerade aufrichtete.

»Wolf, auch schon da? Du bist zu früh, das wird diesmal dauern.«

Er wirkte erfrischt, der Urlaub hatte ihm offenbar gutgetan.

Wolf atmete flach. »Irgendetwas Interessantes?«

Wilszek breitete die Arme aus.

»Ungewöhnliches, meinst du? Kann ich nicht sagen. Das musst du Pia und ihr Team fragen. Solange sie nicht fertig ist, bin ich hier nur zu Gast. Ich bin froh, dass sie mich auch drüberschauen lässt.«

Er drehte sich zu der verbrannten Leiche um, mit Bedauern, wie es schien.

»Sie hat es nicht aus dem Bett geschafft. Ich denke, als sie den Rauch bemerkt hat, war es schon zu spät. Das kann sehr schnell gehen, hat Pia gesagt. Wir dürfen hoffen, dass sie das Bewusstsein verloren hat, bevor die Flammen auf das Bett übergegriffen haben.«

»Das will ich genau wissen.«

»Ich weiß. Steger wird dir das sagen können. Aber jetzt gehst du besser. Es gibt sowieso nicht viel zu sehen, und die Kollegen von den Brandermittlern sind nicht so entspannt wie ich, wenn andauernd Leute aus- und eingehen.«

»Schon gut. Eventuell machen wir morgen eine Besprechung, ich geb dir noch Bescheid.«

Wilszek seufzte.

»Habe ich schon befürchtet.«

Wolf sah sich nach Swoboda um und stellte fest, dass dieser ihm nicht gefolgt war. Er nickte Wilszek zu und ging hinaus. Als er Swoboda sah, überlegte er, ihn zurechtzuweisen, doch er ließ es bleiben. Es war nicht nötig, nicht in diesem Fall.

Hier lag offensichtlich kein Verbrechen vor. Sie würden natürlich routinemäßig alle Alternativen ausschließen, aber er stellte sich auf keine großen Überraschungen ein.

»Sieh zu, dass du morgen auf Abruf bereit bist«, sagte er zu Swoboda und ging zu Egger. Er wollte ihm erklären, dass er nun Zeit hatte.

»Ich will sie sehen«, sagte Egger.

Wolf sah ihn an. Er wollte eine Bemerkung über den Zustand der Leiche machen, doch er hielt sich zurück. »Das geht nicht«, sagte er nur.

»Das ist mein Haus«, entgegnete Egger. »Da drin liegt meine Mutter. Ich gehe da jetzt hinein.«

Wolf dachte an das Gespräch, das er später noch mit ihm führen musste.

»Herr Egger, tun Sie sich das nicht an.«

Wolf bemerkte, wie Egger zu dem Mercedes hin­übersah. Da entdeckte er, dass jemand auf dem Beifahrersitz saß: eine Frau im Dirndlkleid, die starr gerade­aus sah.

»Ihre Mutter ist verstorben, Herr Egger. Es tut mir leid. Überlassen Sie das uns. Sie müssen sich jetzt um Ihre Familie kümmern. Sparen Sie sich Ihre Kräfte.«

»Wir haben heute Hochzeit gefeiert«, sagte Egger. »Mein Sohn.«

Da verstand Wolf, warum sie so festlich gekleidet waren, und kurz schnürte es ihm den Hals zu.

»Ich gehe hinein«, erklärte Egger abermals. »Sagen Sie denen, sie sollen mich in mein Haus lassen.«

Egger wandte sich ab und ging in Richtung Tür.

»Warten Sie kurz«, rief Wolf ihm nach. Er holte sein Mobiltelefon hervor und rief Wilszek an. Wolf erklärte ihm die Situation und bat ihn, Egger hineinzuführen. Wilszek klang nicht begeistert, doch der Ton von Wolfs Bitte hatte ihn verstummen lassen. Kurz darauf erschien er an der Tür und holte Egger ab.

Wenige Minuten später erschien Egger wieder. Seine Augen waren gerötet, aber er schien aufrechter zu stehen als vorher.

»Danke«, sagte er.

Als Wolf Michael Egger kurz darauf bei seinem Dienstwagen befragte und dabei Tee aus dem Deckel seiner Thermoskanne schlürfte, wirkte dieser abwesend.

»Sie müssen sich doch erinnern, wann Sie losgefahren sind heute in der Früh. Acht? Neun?«

»Ich glaube acht.«

»Glauben Sie?«

»Meine Frau kann Ihnen das sagen. Oder meine Schwiegertochter.«

Wolf schluckte seinen Ärger hinunter. Der Mann konnte sich überhaupt nicht konzentrieren. Er hatte kleine Augen, als würde er gleich einschlafen. Am besten wäre es wahrscheinlich, wenn er ihn gehen ließ und in den nächsten Tagen aufs Landeskriminalamt holte.

Wolf überlegte.

»Könnte jemand einen Grund gehabt haben, das Haus anzuzünden?«, fragte er nach einer Weile.

Zuerst reagierte Egger überhaupt nicht, bevor er auf einmal hellwach zu sein schien.

»Anzünden? Glauben Sie wirklich –«

»Bitte denken Sie nach. Fällt Ihnen jemand ein?«, setzte Wolf nach.

Eggers Unterlippe begann zu zittern. Er schüttelte den Kopf.

»Es ist unwahrscheinlich«, beruhigte ihn Wolf, als er fand, dass es genug war. »Derzeit deutet nichts darauf hin.«

»Ich möchte jetzt zu meiner Familie«, sagte Egger.

In diesem Haus werdet ihr in nächster Zeit jedenfalls nicht wohnen, dachte Wolf.

»Danke, wir sind fertig für heute. Ich glaube, es wird reichen, wenn wir uns am Montag unterhalten.«

Er sprach ihm noch einmal sein Beileid aus.

14 Uhr 20

Wolf war nachdenklich, als er auf der A9 nach Norden fuhr, schwitzend, weil er nicht wagte, die Klimaanlage einzuschalten.

Bereitwillig ließ er seinen Gedanken freien Lauf, um sich von dem Bild der schwarzen Leiche abzulenken, das immer wieder vor seinen Augen auftauchte.

Er war zufrieden mit sich selbst. Die letzten Wochen waren gut gewesen. Seit er die Leitung der Mordgruppe übernommen hatte, war es ihm gelungen, Ordnung hineinzubringen. Sie hatten einiges aufgearbeitet, was liegen geblieben war. Er hatte das Gefühl, dass die Abläufe nun effektiver waren. Das war viel Arbeit gewesen, aber die Anlaufschwierigkeiten hätten größer sein können, fand er.

Wolf wusste, dass diese Dinge auch Oberst Sukitsch auffielen, und das erfüllte ihn mit Genugtuung. Es tat gut, zu zeigen, dass die Welt nicht zusammenbrach, wenn er nicht da war. Dass manches anders lief, und einiges auch besser.

Wolf schüttelte den Kopf.

Jetzt denke ich schon wieder über ihn nach. Warum eigentlich? Es gibt keinen Grund dafür.

Er musste auf einmal lachen.

Selbst nun, da er weg ist, werde ich ihn nicht los, dachte Wolf, als er von der Autobahn abfuhr. Hartnäckig, wie ein Schnupfen.

18 Uhr

Gregor Wolf wusste nicht, wo er war.

Die Dunkelheit um ihn herum war undurchdringlich. Er wusste, dass etwas nicht stimmte, doch was war das gewesen? Gerade noch war er gelaufen, doch jetzt lag er da und konnte sich nicht bewegen.

Wolf hörte Rascheln. Da wurde ihm klar, dass er selbst es war, der diese Geräusche erzeugte. Es waren seine eigenen Hände, die über die Bettdecke strichen. Da war noch ein anderes Geräusch. Ein gleichmäßiges, vertrautes Brummen. Jemand rief auf seinem Mobiltelefon an. Das Läuten hatte ihn aus dem Schlaf gerissen.

»Ja?«

»Oberinspektor Wolf?«

Er erkannte Pia Leistners Stimme.

»Wolf? Sind Sie da?«

»Äh, ja. Ich bin da. Was gibt es?«

»Ich glaube, es ist am besten, Sie kommen sofort her.«

»Zum Bauernhaus?«

»Ja.«

»Gut, ich komme.«

Schwankend richtete er sich auf und ging zum Fenster, um die Jalousien zu öffnen. Das gleißende Sonnenlicht blendete ihn. Er rieb sich seine verquollenen Augen.

Eigentlich hatte er im Fernsehen ein Leichtathletik-Meeting anschauen wollen, doch nach wenigen Minuten waren seine Lider so schwer geworden, dass er sich ins Schlafzimmer gelegt hatte.

Verdammte Verkühlung, nicht einmal fernsehen konnte man.

Er musste unbedingt duschen, doch Leistners Ton war dringlich gewesen. Kein gutes Zeichen, dachte er.

Wolf ging ins Badezimmer, wo er die Kontaktlinsen wieder einsetzte. Er wechselte das T-Shirt, zog sich die Hose an und machte sich auf den Weg.

18 Uhr 40

Pia Leistner begrüßte ihn und drückte ihm die weißen Überschuhe in die Hand, bevor sie ihn zum Haus führte.

Sie kannten sich seit einigen Jahren, hatten aber nie viel miteinander zu tun gehabt. Zwar hatte auch die Mordgruppe immer wieder bei Großbränden ausrücken müssen, aber die Zusammenarbeit mit den Brandermittlern war in Baumgartners Bereich gefallen. Wolf fragte sich, ob sie ihn als neuen Leiter der Mordgruppe akzeptierte. Ihr Auftreten ihm gegenüber war sachlich. Wolf hatte schon vor längerer Zeit feststellen müssen, dass sie ihm gefiel, auch wenn er sie eigentlich zu groß fand.

»Der Brand wurde um 10 Uhr 50 von einem Autofahrer gemeldet. Er hat Rauch aufsteigen sehen.«

»Ich brauche seine Personalien.«

»Bekommen Sie. Anfangs hatten wir Probleme, den Brandherd zu lokalisieren. Das Einzige, was wir gleich sagen konnten, war, dass der Brand nicht vom Zimmer der alten Dame ausging.«

Wolf reagierte erleichtert auf diese Nachricht.

»Wir stellten fest, dass der Ausgangspunkt das Wohnzimmer war.«

Sie blieben stehen, und Wolf erkannte, dass Pia von dem großen Raum sprach, in dem sie sich befanden. Feucht glänzende, schwarze Oberflächen beherrschten das Bild, auf dem Boden verteilten sich formlose Aschehaufen, aus denen verkohlte Holzreste ragten. Er konnte nicht sagen, welche Möbel hier gestanden waren, nur zu seiner Linken sah er ein Drahtgestell mit Spiralfedern, das von einem Sofa stammen musste.

Vom Mittelpunkt des Eggerschen Familienlebens war nichts mehr übrig.

»Die alten Möbel«, erklärte Leistner. »Das Feuer hat sich sehr schnell ausgebreitet, da war nichts mehr zu machen. Wir dachten zuerst an einen Kabelbrand, sie hatten noch einen Röhrenfernseher und andere veraltete Geräte. Doch das bestätigte sich nicht. Auch für eine chemische Selbstentzündung gibt es keine Anzeichen. Wir sind an dem Punkt angelangt, dass wir keine plausible Erklärung für die Brandursache haben.«

»Außer – «

»Außer einer vorsätzlichen Inbrandsetzung.«

»Der Brand wurde also gelegt.«

»Das habe ich nicht gesagt. Wir können es nicht beweisen. Es gibt nur derzeit keine andere Erklärung.«

Wolf gefiel nicht, was er hörte. Es klang nach Arbeit.

»Wurde Benzin verwendet oder etwas Ähnliches?«

»Sie meinen, ein Brandbeschleuniger? Das lässt sich schwer feststellen, Benzin verbrennt ja vollständig. Allerdings wundert mich, dass das Feuer so schnell auf den ganzen Raum übergegriffen hat. Und sehen Sie, hier!«

Leistner zeigte auf eine Stelle auf dem Parkettboden, die überhaupt nicht verkohlt war, nur an den Rändern hatte der Lack Blasen geschlagen. Wolf hockte sich hin und widerstand der Versuchung, die Stelle zu berühren.

»Wie ist das möglich?«

»Es könnte auf einen flüssigen Brandbeschleuniger hindeuten. Denken Sie an eine Benzinlache, die brennt immer nur an der Oberfläche. Alles, was darunter liegt, bleibt verhältnismäßig kühl.«

»Also doch Benzin?«

»Möglich. Aber noch etwas anderes haben wir gefunden, etwas Eigenartiges.«

Sie nahm einen durchsichtigen Plastiksack in die Hand und hielt ihn Wolf unter die Nase. Darin war etwas Kleines, Rundes.

Gregor Wolf kniff die Augen zusammen.

»Was zum Teufel ist das?«

Bevor er nach Hause fuhr, rief er noch Caroline Meier an, dass sie sich morgen um 9 Uhr zu einer Besprechung treffen mussten.

»War es also kein Unfall?«, fragte Meier.

»Ich erklär dir alles morgen. Kannst du bitte noch den anderen Bescheid sagen? Danke.«

Als er zu Hause war und sich eine Kleinigkeit zum Abendessen kochte, eine seiner vielen Pasta-Variationen, rief ihn ein Freund an und fragte, ob sie noch auf ein Bier gehen wollten. Er sagte ihm ab, erklärte, dass er nicht ganz gesund sei. Was stimmte, aber nur die halbe Wahrheit war. In Wirklichkeit sah er nach wie vor die verkohlte Leiche der alten Frau vor sich, immer wieder, wenn er gerade an etwas anderes dachte und nicht damit rechnete.

Reinhard Kleindl

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© Foto: Jakob Isselstein

Zum Autor

Reinhard Kleindl, geboren 1980 in Graz, studierte Theoretische Physik und veröffentlichte schon früh Kurzgeschichten. Nach Abschluss des Studiums begann er, als freier Wissenschaftsjournalist zu arbeiten, und kam bald darauf mit dem Trendsport „Slackline“ in Kontakt. Inzwischen ist er Profi und realisiert Projekte rund um den Globus, etwa über den Victoria Falls oder auf den Drei Zinnen in Südtirol. Nach seinem Krimidebüt „Gezeichnet“ (HAYMONtb, 2014) ist „Baumgartner und die Brandstifter“ der zweite Fall in der Krimiserie um den Grazer Inspektor.

Impressum

© 2015

HAYMON verlag

Innsbruck-Wien

www.haymonverlag.at

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ISBN 978-3-7099-3653-5

Umschlag- und Buchgestaltung nach Entwürfen von hoeretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Umschlag: Eisele Grafik·Design, München, unter Verwendung von: bigstock.com/asaf eliason

Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Diesen Kriminalroman erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

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Cover: Letzter Applaus

Mitreißend, fesselnd und mysteriös: Chefinspektor Franz Baumgartner, Leiter der Mordgruppe in Graz, rechnet noch in Schilling und glaubt unbeirrbar an das Gute – bis am Mathematikinstitut der Universität eine Reinigungskraft grausam ermordet wird. Neben ihr findet sich eine rätselhafte Botschaft.
Eine Verschwörung? Ein wahnsinniger Einzeltäter? Gemeinsam mit der Profilerin Vera Königshofer versucht Baumgartner, in die Psyche des Mörders einzudringen. Was dabei zum Vorschein kommt, droht den idealistischen Ermittler aus der Bahn zu werfen. Ein fulminant-rasantes Krimidebüt – Gänsehaut garantiert!

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Reinhard Kleindl

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ISBN 978-3-7099-3590-3

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Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Samstag, 11 Uhr 10
11 Uhr 30
12 Uhr 50
13 Uhr 30
14 Uhr 20
18 Uhr
18 Uhr 40
Sonntag, 9 Uhr
9 Uhr 45
10 Uhr
Montag, 8 Uhr
8 Uhr 40
9 Uhr 25
9 Uhr 30
10 Uhr 30
10 Uhr 35
11 Uhr 15
13 Uhr 30
13 Uhr 55
16 Uhr
17 Uhr 20
18 Uhr
20 Uhr 10
Dienstag 7 Uhr 30
8 Uhr 30
8 Uhr 50
12 Uhr
12 Uhr 20
17 Uhr 10
19 Uhr
Mittwoch 8 Uhr 30
8 Uhr 45
9 Uhr 10
10 Uhr
10 Uhr 50
11 Uhr
11 Uhr 45
14 Uhr 15
17 Uhr
18 Uhr 30
19 Uhr 10
20 Uhr 45
21 Uhr
2 Uhr
3 Uhr 25
4 Uhr
Donnerstag, 10 Uhr
10 Uhr 40
10 Uhr 45
11 Uhr 15
11 Uhr 35
11 Uhr 45
11 Uhr 55
12 Uhr 10
13 Uhr 5
13 Uhr 25
14 Uhr 30
14 Uhr 50
15 Uhr 30
15 Uhr 45
18 Uhr
0 Uhr 30
1 Uhr
Freitag, 8 Uhr 25
8 Uhr 40
9 Uhr
9 Uhr 15
9 Uhr 50
11 Uhr
11 Uhr 25
12 Uhr 40
14 Uhr 15
14 Uhr 45
15 Uhr 20
16 Uhr
17 Uhr 10
2 Uhr
Samstag, 8 Uhr
8 Uhr 20
9 Uhr 35
14 Uhr 5
14 Uhr 30
15 Uhr 10
15 Uhr 45
18 Uhr 30
20 Uhr
23 Uhr 45
Sonntag, 8 Uhr
8 Uhr 45
10 Uhr 10
12 Uhr 30
13 Uhr
15 Uhr 5
16 Uhr 40
17 Uhr
Montag, 7 Uhr 30
8 Uhr
8 Uhr 5
8 Uhr 30
8 Uhr 55
10 Uhr 20
11 Uhr
13 Uhr
13 Uhr 30
13 Uhr 55
15 Uhr
15 Uhr 40
17 Uhr
17 Uhr
17 Uhr 10
19 Uhr 30
19 Uhr 45
21 Uhr
Dienstag, 5 Uhr
6 Uhr
6 Uhr 45
7 Uhr
7 Uhr 30
9 Uhr
10 Uhr 10
11 Uhr
11 Uhr 30
13 Uhr 30
13 Uhr 50
14 Uhr
14 Uhr 20
14 Uhr 50
15 Uhr 45
17 Uhr
19 Uhr
Mittwoch, 8 Uhr
8 Uhr 45
9 Uhr 30
11 Uhr
12 Uhr 45
15 Uhr
17 Uhr
Epilog
Mittwoch, 9 Uhr
Mein Dank gilt:
Reinhard Kleindl
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Dienstag 7 Uhr 30

Noch immer hing die angenehme Kühle der Nacht in der Luft, als der Platz vor der großen Treppe des Landeskrankenhauses zum Leben erwachte. Das Grazer LKH war ein ausladender Komplex aus weißen Jugendstilgebäuden, die auf einer Anhöhe über der Stadt standen und von der Straße und der Haltestelle der Straßenbahn aus über eine breite Freitreppe erreichbar waren.

Niemand beachtete den Mann, der am Fuß der Treppe stand und wartete. Menschen gingen an ihm vorbei, Ärztinnen mit weißen Mänteln eilten gedankenverloren zum Krankenhaus hinauf, Schüler betraten die kleine Bäckerei, kamen mit Süßigkeiten in der Hand wieder heraus. Mancher warf auf den Mann in dem eigenartigen Jackett und dem Plastiksackerl, das neben ihm auf dem Boden stand, einen schnellen Blick, doch der Mann hinterließ keinen Eindruck, fast so, als wäre er durchsichtig. Nur ein Schatten, eine Einbildung.

Sie hatten die Pressebilder von vor einem halben Jahr nicht mehr im Kopf. Die lobenden Zeitungsartikel über den hervorragenden Vertreter seiner Zunft. Dabei trug er dasselbe braune Jackett wie immer, dessen Farbe an abgestandenen Milchkaffee erinnerte, das sein Markenzeichen war und von dem man sich fragte, ob so etwas überhaupt noch produziert wurde.

Um kurz vor acht hielt ein Van neben dem Taxistand. Der Mann reagierte zuerst überhaupt nicht. Erst als das Auto hupte, schien er zu erwachen. Eine Hand winkte ihm durch die offene Seitenscheibe zu. Da hob der Mann den Plastiksack auf, ging hinüber und stieg ins Auto.

8 Uhr 30

Antonia Reiter, geborene Baumgartner, sah ihren Cousin über den Kaffeehaustisch hinweg an. Sie hatte die Hände verschränkt und beobachtete, wie er den Teebeutel aus der Hülle befreite und den Deckel von der mehrteiligen weißen Porzellankanne nahm: Die Unterseite war zu einer weiten Tasse geformt, während der Oberteil eine kleine Kanne war. Man konnte alles auseinandernehmen, jedes Kind verstand das System. Doch Franz stellte sich an, als hätte er es zum ersten Mal gesehen. Quälend langsam beugte er sich über die Öffnung der Kanne und sah hinein.

»Du musst das Sackerl da reintun«, erklärte Antonia.

Er schien sie gar nicht wahrzunehmen.

»Komm her«, sagte sie, und nahm ihm den Teebeutel aus der Hand. »So, siehst du? Jetzt musst du fünf Minuten warten.«

Baumgartner lehnte sich zurück.

Was auch passierte, sie würde ihn nicht zu sich mitnehmen. Das kam nicht infrage, schon allein der Kinder wegen. Von Alois gar nicht zu sprechen! Sie stellte sich vor, wie er von der Arbeit nach Hause kam und am Küchentisch diesem Geist gegenübersaß. Wie er versuchte, mit ihm irgendein Gespräch anzufangen.

Franz war nicht ihr Bruder, auch wenn sie für ihn vielleicht das war, was einer Schwester am nächsten kam. Wenn er es nicht schaffte, musste er zurück ins Krankenhaus. Dort gab es Leute, die ihm helfen konnten. Es war nicht ihre Aufgabe.

Sie glaubte nicht, dass er es schaffte, wenn sie ihn so sah.

»Jetzt ist er fertig, glaube ich«, sagte sie.

Er sah kurz zu ihr auf, bevor er sich daranmachte, den Teebeutel herauszuheben und um den Löffel zu wickeln, weil er ihn mit dem Band noch ein wenig auspressen wollte. Sie zwang sich dazu, ihn nicht zu unterbrechen.

»Der Arzt hat gesagt, du willst wieder arbeiten gehen? Glaubst du, das geht schon?«

Franz legte den Teebeutel auf das kleine silberne Tablett, wo sich die dünne Serviette sofort mit der Feuchtigkeit vollsog. Er nickte.

Sie sah ihn nur an. Wie sollte er in diesem Zustand arbeiten? Es war völlig aussichtslos.

»Weißt du, ich verstehe es nicht«, platzte sie heraus. »Du hast doch ein gutes Leben! Erfolgreich bist du, immer in der Zeitung. Hast einen Chef, der sich alles gefallen lässt. Andere würden sich alle zehn Finger abschlecken. Ist das nicht genug?«

Er antwortete nicht.

»Ich verstehe schon, dass dich die Sache mit Isabel belastet, aber man muss irgendwann abschließen, nach vorne schauen. Ich sehe nicht, was daran so schwer sein soll. Schau Werner an, den hast du bei meiner Geburtstagsfeier kennengelernt, erinnerst du dich? Dessen Job haben sie jetzt abgebaut, der muss umsatteln, komplett neu anfangen, in der Steiermark gibt es nichts mehr für ihn. Was soll aus seiner Frau und seinen Kindern werden? Getrunken hat er immer schon gern, und jetzt säuft er nur noch, statt sich etwas anderes zu suchen. Aber den verstehe ich, den hat es schlimm erwischt. Denk doch einmal daran, wie gut es dir geht.«

Franz nickte.

»Ich will ja auch wieder arbeiten«, sagte er.

»Glaubst du wirklich, dass du schon arbeiten kannst?«, entgegnete sie.

Franz Baumgartner hielt inne, ließ den Löffel einen Moment lang über der Tasse schweben, bevor er ihn weglegte.

»Was soll ich sonst tun? Zu Hause herumsitzen?«

Bei mir kannst du nicht bleiben.

Sie verkniff sich im letzten Moment, es auszusprechen.

»Es wird schon gehen«, sagte er, hob die Tasse und nippte daran.

»Ich meine, auch wegen der Tabletten. Sind sie sehr stark?«

»Der Arzt hat gesagt, ich kann arbeiten.«

Antonia Reiter dachte nach.

»Was ist mit deiner Kollegin, wie heißt die noch gleich? Meier. Kann die nicht auf dich schauen?«

Er stellte die Tasse ab.

»Es wird schon gehen. Mach dir keine Sorgen.«

Ein Lachen entkam ihr.

»Keine Sorgen machen«, sagte sie. »Du bist gut.«

Sie seufzte. »Wie du meinst, aber versprich mir, dass du gut auf dich aufpasst! Übernimm dich nicht gleich wieder. Und schau, dass du auf andere Gedanken kommst. Mach mehr Sport! Schwimmen zum Beispiel. Hast du keinen bei der Polizei, der mit dir schwimmen geht?«

Baumgartner sah an ihr vorbei ins Leere.

»Jedenfalls kannst du froh sein, dass du deinen Job noch hast. Alle zehn Finger würde ich mir abschlecken, an deiner Stelle. Wie bist du auf die Idee gekommen, dass du einfach nicht mehr zur Arbeit gehst? Ohne Entschuldigung, ohne irgendwas? Keiner hat dich erreicht. Wo warst du überhaupt?«

»Bring mich jetzt bitte nach Hause«, sagte Baumgartner. »Ich komm schon zurecht.«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

8 Uhr 50

»Hallo allerseits«, sagte Caroline Meier, als sie in die Kanzlei der Mordgruppe kam. Sie lächelte Wolf und Swoboda an, die beide mit großen Augen zurückstarrten. Sie wirkte wie ausgewechselt.

»Was?«, fragte Meier. Dann schien sie zu verstehen. »Sagt bloß, ihr habt es noch nicht gehört?«

»Was gehört?«, fragte Wolf.

»Franz ist wieder aufgetaucht«, erklärte Meier strahlend. »Gegen zehn soll er da sein.«

Wolf schien völlig perplex.

»Weiß Sukitsch davon?«

»Sukitsch hat mich gestern angerufen. Ich war nicht zu Hause, deshalb hab ich es nicht gleich gesehen.«

Aha, und mich hat er nicht angerufen, dachte Wolf

»Um zehn werden wir nicht hier sein«, sagte er. »Wir müssen noch einmal die Nachbarn von Egger befragen. Ich habe gestern etwas Interessantes gefunden.«

»Das hat doch noch Zeit. Erzähl uns einfach, was du gefunden hast, während wir auf ihn warten. In Ordnung?«

Wolf überlegte.

»Geht doch schon mal rüber«, sagte Meier. »Ich mach inzwischen hier sauber.«

Sie ging zu Baumgartners Schreibtisch und begann, die leeren Tassen einzusammeln.

Als Wolf vor der Flipchart stand, wusste er nicht recht, wie er beginnen sollte. Nervös spielte er mit dem Marker in seiner Hand. Er war aufgewühlt. Meier und Swoboda saßen da und sahen ihn erwartungsvoll an.

»Gestern bin ich am Abend noch einmal hergekommen, um mir die gesicherten Spuren aus dem Egger-Haus anzusehen«, begann Wolf. »Dabei habe ich etwas gefunden, das –«

Er stockte.

»Wie soll ich sagen, ich habe jedenfalls das hier gefunden.«

Er legte den Sack mit dem schwarzen Gegenstand auf den Tisch. Es sah aus, als wäre etwas geschmolzen, ein etwa faustgroßer, verschmorter Plastikklumpen, der Blasen geschlagen hatte. Schwarzer und ein wenig weißer Kunststoff, dazu Federn aus Metall.

Meier griff nach dem Sack.

»Und was ist es?«

»Pia konnte es nicht sagen. Wilszek habe ich noch nicht erreicht. Er wollte eigentlich herkommen, aber er ist nochmals zum Egger-Hof gefahren. Ich muss später mit ihm reden.«

Meier nickte abwesend. Auch sie konnte sich offenbar schwer konzentrieren.

»Und was soll damit sein?«, fragte sie nicht ohne Skepsis.

»Der Klumpen wurde direkt neben dem Rest von der Kerze sichergestellt.«

»Aber es ist keine Kerze, oder? Ich meine, das ist Plastik.«

Wolf gefiel der Ton in Meiers Stimme nicht. Was, wenn jemand mit der Kerze etwas verbrannt hat? Etwas Wichtiges? Er zögerte, es auszusprechen, weil er überlegte, wie er seinem Unmut Luft machen konnte. Doch er kam nicht mehr dazu, denn plötzlich ging die Tür auf.

Dort stand, mit seltsam hängenden Schultern, in seinem immer gleichen braunen Jackett, Franz Baumgartner.

Plötzlich war es ganz still. Alle schienen die Luft anzuhalten, bevor ein Raunen durch den Raum ging. Caroline Meier sprang auf und blieb unschlüssig vor ihm stehen. Schließlich gab sie dem Drang nach, ihn zu umarmen. Nun folgten auch die anderen, begrüßten ihn, gaben ihm die Hand.

»Wie geht es dir?«, fragten sie.