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Herbert Dutzler

Der Mann in der Mauer

Eine Kriminalgeschichte

Der Mann in der Mauer

Er blickte über das milchige Wasser des Sees zur Staumauer hinüber. Sie ragte hoch über die Wasseroberfläche hinaus. Auf der dem See zugewandten Seite war bereits ein kleiner, ovaler Fleck von der Mittagssonne beschienen. Vorsichtig lehnte er sich auf die kalte Steinbrüstung vor ihm, die noch im Schatten lag. Fast vierzig Jahre war es jetzt her, dass er selbst dort gestanden war, auf der Krone der Mauer, und mit hunderten anderen dafür gesorgt hatte, dass der Beton reichlich und schnell immer an die richtige Stelle floss. Vierzig Jahre.

Drei Jahre lang hatte er hier heroben noch gearbeitet, nach dem Bau. In der Staumauer. Manchmal hatte er auf den täglichen Kontrollgängen durch die Tunnels das Gefühl gehabt, der Jakob läge direkt über ihm, oder neben ihm, in der Mauer.

Später war er fast jedes Jahr einmal hier heraufgekommen. Aber diesmal, das hatte er sich fest vorgenommen, würde es das letzte Mal sein. „Photo?“ Eine Japanerin hielt ihm ihre Kamera hin. Es konnte auch eine Chinesin sein. Er schüttelte den Kopf. „Kaun i net!“, antwortete er. Die Japanerin warf ihren beiden Freundinnen fast verzweifelte Blicke zu. Die hatten sich schon kichernd an der Mauer postiert, die die Gedenkstätte für die beim Bau der Kölnbreinsperre verunglückten Arbeiter umgab.

Jakob Unterlugegger. Der siebzehnte Name auf der Tafel. Er setzte sich auf eine Bank und starrte auf die Felswand, die die Namen der 24 Unglücklichen trug, die nie mehr ins Tal zurückgekehrt waren. Er seufzte. Es war ja alles nur wegen der Kathi passiert. Die mit den dunklen, langen Haaren, die so von der Seite her lächeln konnte und so wunderschöne, große braune Augen hatte. Nur wegen der Kathi waren sie in Streit geraten, sonst wäre das alles nicht passiert, damals.

Tanzen waren sie gewesen. Damals hatten die Jungen noch getanzt. Der Jakob und die Kathi und er, sie waren wieder einmal zu dritt gewesen. Keine gute Zahl, drei, wenn man tanzen geht. „Tanz mit mir!“, hat er sie vom Sessel gezogen, ein wenig grob vielleicht. Aber sie hat sich nicht gewehrt. Nur irgendwie hat er es gespürt, an der Art, wie sie den Arm auf seine Schulter legte und wie sie, nur ein klein wenig, zurückwich, wenn er sie an sich drückte. Da hat er es gespürt, dass er vielleicht der von den dreien war, der hier einer zu viel war. Aber gesagt hat sie nichts, die Kathi.

Draußen vor dem Wirtshaus, in der Dunkelheit, da hat sie sich sogar von ihm küssen lassen. Der Jakob ist schon längst bei der Schank gestanden und hat mit den anderen Burschen einen Schnaps nach dem anderen geleert. Aber wieder hat er gespürt, dass sie ihn halt einfach hat machen lassen. Aus Mitleid, vielleicht, ohne dass es sie irgendwie interessiert hätte. Er hat ihr gesagt, dass er sie liebe und dass er sie auf der Stelle heiraten würde, wenn er das Geld dazu hätte. Da hat sie nur gelacht. Aber so gelacht, dass er gemerkt hat, dass sie ihn gar nicht ernst nahm. Dann, beim Heimgehen, hat er es an den Schatten, die die Straßenlaternen auf den Boden geworfen haben, ganz deutlich gesehen: Zwischen ihr und dem Jakob kam kein Lichtstrahl durch. Zwischen ihr und ihm, da war ein Lichtstreifen, so breit wie eine Hand.

Sie lacht heute noch immer so wie damals, die Kathi. Aber hoffentlich nicht mehr lange.