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Kurt Lanthaler

Herzsprung

Ein Tschonnie-Tschenett-Roman
Mit einem Glossar im Anhang

 

 

 

Der vorliegende Text folgt der Ausgabe von 1995

Personen und Handlung dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen bzw. mit tatsächlichen Zuständen und Vorkommnissen waren nicht immer gänzlich zu vermeiden.

 

 

 

An Stelle des verabredeten Essens,
für Thomas Strittmatter

 

 

 

Irgendwann um vier Uhr morgens hatte ich meinen Entschluß gefaßt. Nachdem ich stundenlang auf dem Bett gesessen und ins Leere gestarrt hatte. Etwas lief falsch. Etwas war außer Kontrolle. Wo ich auftauchte, gab es innerhalb kürzester Zeit Tote. Dafür mußte es einen Grund geben.

Von heute aus gesehen ist diese Sicherheit, die mich im April des Jahres 1992 offensichtlich so plötzlich und alles plattwalzend wie eine Staublawine überrollt hat, eine äußerst trügerische Angelegenheit. Im Nachhinein denke ich, ich hätte einiges von dem, was zu erzählen ist, vermeiden können, wenn ich auf den hundsgemeinen Hausverstand gehört hätte. Nur: Damals war ich ein paar Jahre jünger. Entsprechend dümmer. Und vor allem: Damals hatte ich noch nicht erfahren, wie wenig es dazu braucht, einen Menschen ums Eck zu bringen. Zwei Bankkonten, ein halbwegs weißer Hemdkragen, eine Satellitenverbindung und eine Gewinnspanne, die um Zehntelpunkte über dem liegt, was sie Verlust nennen. Das reicht. Ich hatte es nicht glauben wollen. Und war dann mit meiner vorlauten Nase ziemlich unsanft darauf gestoßen worden.

Inhalt

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Glossar

Zum Autor

1

So schwer war ich schon lang nicht mehr auf meine Zugmaschine gekommen. Der Boden ließ mich nicht los, die Maschine nicht an sich ran.

»Tschenett«, sagte ich, »Tschenett, fahr. Was soll dich aufhalten?«

2

Berta hatte wieder einmal ihr letztes Unterhemd verschenkt. Na ja, das vorletzte.

Die gute Berta. Wer es nicht besser wußte, hätte glauben können, sie ließe sich von so einem Tunichtgut wie mir sang- und klanglos über einen ihrer Bartische ziehen. War gar nicht so. War ganz anders.

Eigentlich hatte ich ein Essen ausgeben wollen. Für Berta, die siebenundsechzigjährige Chefin und alleinige Arbeitskraft in dieser nicht ganz legalen Bar im hintersten Pflerschtal. Und für Totò, der mit Anfang dreißig ein paar Jahre jünger war als ich, dafür aber ein Bulle, einer von der Polizia di Stato.

Ein Essen ausgeben, das hieß bei mir nicht, mit einer dieser Plastikkarten herumfuchteln, bezahlt der Alte schreien und den Kellner treten, wo er nur zu treten ist. Ein Essen ausgeben hieß: auftischen. Kochen. Mir half es, meine Nerven unter Kontrolle zu behalten, und die anderen hatten es bis jetzt noch immer überstanden.

Und deswegen, und weil ich nicht wußte, ob es mir besonders mies oder besonders gut ging, hatte ich ein Essen ausgegeben. Ohne vorher bei meiner Bank nachzufragen, was die davon hielt.

Weshalb es soweit gekommen war, daß Berta nicht nur ihren Ruhetag auf den Dienstag verschoben und Küche und Bar zur Verfügung gestellt hatte. Sie hatte auch noch einen guten Teil der notwendigen Einkäufe bezahlt.

»Dafür spül ich ab«, hatte ich zu ihr gesagt, als sie mir die hunderttausend Lire in die Hand gedrückt hatte.

»Ja«, hatte sie gesagt.

»Und das Geld schick ich dir von unterwegs. Sobald ich eine Fuhre kassiert hab.«

»Jaja.«

Mir war irgendwie knieweich geworden.

»Ist’s dir nicht recht, Berta?«

»Doch, doch. Geh schon«, hatte sie gesagt, mich vor die Tür geschoben, nach einem Besen gegriffen und die drei Stufen vor der Bar langsam und gründlich gekehrt.

Ich war ein paar Schritte weiter stehengeblieben. Auf Halbweg zu der Zugmaschine.

»Wenn ich’s dir sag«, hatte Berta nach einer Weile gesagt. »Geh schon. Zu kochen hast ja auch noch, wenn rechtzeitig fertig werden willst. Damit rechtzeitig fahren kannst.«

Drei Stunden später hatte ich zwei Kartons voll Zeug eingekauft, drei Weiße getrunken, Berta einen Kuß auf die Stirn gegeben und mich an den Herd gestellt. Eigentlich war Rico an allem Schuld gewesen.

In Montegaldella, einer Autobahnraststätte nördlich von Mantova, war ich auf einen alten Bekannten gestoßen. Wir hatten uns einen Extracaffè genehmigt und waren ins Reden gekommen. Was alles passiert war, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Was nicht passiert war. Was hätte passieren können.

Mir war’s nicht unrecht, mein Fahrtenschreiber wußte ziemlich genau, daß ich längst schon eine Pause hätte einlegen müssen. Wenn es nur nach den Gesetzen gegangen wäre. Aber von solchen Pausen hat der Chef nix, der Fahrer nicht allzuviel, und dem Rest der Welt war’s eigentlich egal.

Freddy, der im Zivilleben Rico hieß, erzählte mir von Frau und Kindern, dann von Nebenfrau und Nebenkindern, von seinen zwei mastini und dem neuen LKW, den er sich angeschafft hatte. Und von dem er mindestens ebenso begeistert wie von seinen Kindern war. Was mich etwas nachdenklich stimmte. Ich hatte das Teil schließlich gesehen, als er es eingeparkt hatte. Ein uralter Fiat, Siebeneinhalbtonner, drei Lagen Lack, vier Lagen Rost.

Aber Freddy liebte seinen LKW. Und Rico liebte seine Frauen und seine Kinder. Und Pferde. Die hatte er zur Zeit geladen. In Hälften und Vierteln.

»Bona roba«, sagte er, »allerfeinstes Maremma-Fleisch.«

Hatte Zeigefinger auf Daumen gepreßt, quergelegt, vor seinem Mund von links nach rechts gezogen, und dabei pfeifend Luft eingesogen.

Eine Viertelstunde später und nachdem wir uns durch die Hälften gezwängt hatten, zog er ein Messer, deutete damit auf eines der Fleischteile und sagte: »Puledro.«

So war ich zu meinem Fohlen gekommen und Berta zu ihrem Kopfschütteln.

»Nein«, sagte sie, als sie erfahren hatte, was am Abend auf den Tisch kommen sollte. »Eß ich dir nicht. Kannst mir’s kleinweis eingeben. Ich eß es dir nicht. Fohlen. Mein Lebtag nicht.«

»Zuerst muß ich’s eh kochen«, sagte ich.

»Tschenett …«, sagte Berta.

Jetzt wurde es ernst. Wenn sie mir schon so hochoffiziell kam.

»Tschenett«, sagte Berta, »warum tust du das?«

»Was?« sagte ich und hoffte auf Gnade und darauf, mich dumm stellen zu dürfen.

»Das Gekoche«, sagte Berta und gab keine Gnade. »Willst wieder weg, ja? Hält’s dich nicht mehr?«

Bertas Fragerei kam mir einfach zu früh. Viel zu früh. Ich wußte es selbst noch nicht. Zeitweise. Zeitweise wieder schon.

Berta drehte sich auf der Stelle um. Und ging.

»Die Hennen«, sagte sie.

Und damit stand ich da.

Ich machte mich übers Gemüse her. Karotten, Zucchini und Spinat mußten gesäubert werden. Das dauerte. Aber Totò hatte eh erst um sieben Uhr Dienstschluß, und ich brauchte Zeit zum Nachdenken.

Rico hatte mir auf der Autobahnraststätte die Fohlenschnitzel in die Hand gedrückt. Wir hatten uns noch einmal kurz und heftig umarmt und waren weitergefahren, jeder in seine Richtung.

Für mich hatte das geheißen: Mit einer Ladung Billigchianti nach Kiefersfelden. Dort war ich meinen Hänger an die Deutsche Bundesbahn losgeworden und auf den Brenner zurückgekehrt. Immer mit dem Fohlen auf dem Beifahrersitz.

Und als ich dann in der Tür meiner Wohnung im Haus Waldfrieden in Maria Trens stand, mir das Chaos, das sich dahinter ausbreitete, angesehen hatte, als dann auch noch Colonnello Amorino Paganotto, der Haschischhundestaffelführer bei der Guardia di Finanza war und insofern mein Nachbar, als er einen Stock unter mir wohnte, dieser Colonnello, in dessen Wohnung ich vor ein paar Monaten ein hochnotpeinliches Verhör durch einen durchgeknallten Spezialbullen aus Bozen über mich ergehen hatte lassen müssen, nachdem man mich aus einer Bar entführt hatte, in der ich mich mit einer Rothaarigen aus dem Hohen Norden über Candalostias Tequila-Importe hergemacht hatte, als dann also dieser Colonnello hinter mir auftauchte und etwas von riscaldamento und Heizkostenabrechnung sagte, und: Da war es mir zuviel geworden.

Da konnte Freund Totò zehnmal im Stock über mir wohnen und die Geister der Ordnungshüter, die durchs Haus flatterten, bändigen wollen.

Mir war’s zuviel geworden. Ich hatte dem Colonnello wortlos die Tür vor der Nase zugeknallt, hatte mich dann an sie gelehnt und mich langsam zu Boden gleiten lassen. War da gesessen, mit meinem Fohlen in der Hand, die längste Zeit. Ich mußte weg hier.

Die Gemüseputzerei wurde langsam anstrengend. Ich legte eine kleine Verschnaufpause ein, öffnete eine Flasche von dem Rotwein, den ich für den Abend besorgt hatte und verkostete ihn erst einmal.

»Na, Tschenett, wenn der noch ein wenig Luft gekriegt hat und der Rest auch so anständig wird, dann hast dich nicht lumpen lassen«, sagte ich.

Ich ließ das Gemüse erstmal abseits liegen und machte mich über das Fohlen her.

Es war schon dunkel geworden, als ich mich wieder auf den Weg gemacht hatte.

Von der Autobahn auf der anderen Talseite, einen knappen Kilometer entfernt, waren die Kollegen zu hören. Fuhren nach Norden, fuhren nach Süden. Tag und Nacht, immer und immer wieder. Rauf und runter. Die Mautstelle und das LKW-Terminal strahlten im Licht der Scheinwerfer rosa vor sich hin, der Himmel über dem Talboden leuchtete dunkel mit.

Morgen Vormittag würde ich mit meiner Zugmaschine auf das LKW-Terminal fahren und dann mit vollem Hänger einen Abstecher nach Verona machen. Verona. Ein Katzensprung.

»Weit hast es gebracht, Tschenett. Sterzing–Verona. An einem Tag! Schwanz, schlappiger«, hatte ich gesagt, war auf die Zugmaschine gestiegen und zu Candalostia nach Sterzing gefahren.

Mehr war eben zur Zeit nicht im Angebot. Wenn ich ehrlich war, mochte das auch daran liegen, daß ich regelmäßig mit den diversen Chefs Streit bekam. Was, unter uns gesagt, auch an mir liegen konnte. Auf einen in Haus Waldfrieden in Maria Trens residierenden Aushilfs-LKW-Fahrer und gewesenen Nordmeerfischer schien die Welt eben nicht zu warten.

»Na Tschenett, alter Seebär, einmal Kielholen?« hatte Candalostia gesagt, kaum war ich in seiner ebenso kleinen wie verraucht verruchten Bar Gigi aufgetaucht.

»Einmal Kielholen«, hatte ich gesagt und mich leise stöhnend an den Pudel gelehnt. »Oder, weißt du was: ‘n halbes Mal.«

»Und das geht?«

»In meinem Fall schon«, hatte ich gesagt.

Candalostia hatte sich zufrieden gegeben und mir einen doppelten Schwarzgebrannten eingeschenkt.

Kielholen hieß für Candalostia, daß sich der Tschenett abfüllen wollte. Seit ich ihm vor ein paar Wochen erklärt hatte, was die alte christliche Seefahrt, der ich ein knappes Jahrzehnt lang treu gedient hatte, darunter verstanden hatte.

»So einmal richtig ums Schiff herum?« hatte Candalostia gesagt.

»Eher einmal unterm Rumpf durchgezogen, übern Kiel eben«, hatte ich versucht, ihm zu erklären.

Ganz hatte er es nicht verstanden. War eben eine ausgewachsene Landratte. Konnte ja nicht jeder Vollmatrose sein. Hier in den Bergen schon gar nicht.

»Noch einen, denk ich«, hatte ich zu Candalostia gesagt und hielt ihm das Glas vors Gesicht.

»Aye, aye, Käpt’n.«

»Laß das«, sagte ich.

»Ein bißchen was hab ich mit dir ja schon erlebt«, sagte Candalostia, »aber: Was ist es diesmal?«

»Weiß nicht«, sagte ich.

»Nicht schon wieder die Weiber, oder?«

»Eher nicht.«

Ich wußte nicht einmal, was das war, Weiber. War zu lange her. Eine Woche, eineinhalb.

»Nein«, sagte ich. »Definitiv nicht.«

»Dann ist es ernst«, sagte Candalostia.

Bei Totò hatte noch Licht gebrannt. Er hatte auf meine Einladung mit Beherrschung reagiert.

»Gibt es einen besonderen Anlaß für das Essen?« hatte er gesagt, »c’è qualcosa da festeggiare?«

»Eigentlich nicht«, hatte ich gesagt, »nur so.«

Totò sah mich zweifelnd an.

»Nur so. Evvabbene. Wenn du meinst. Quando?«

»Übermorgen Abend«, hatte ich gesagt.

Ich hatte mir die Zugmaschine geschnappt und Berta besucht. Und sie in ihrem kleinen Hühnerstall gefunden.

»Heute keine Kunden?« hatte ich sie gefragt.

»Die ersten sind schon wieder weg, die nächsten werden erst kurz vor dem Mittagessen auf einen Weißen kommen. Weißt ja, wie’s ist«, hatte sie gesagt und sich beim Ausmisten nicht drausbringen lassen.

Bertas Stammkunden waren Bauern von den umliegenden Berghöfen und ein paar LKW-Fahrer und Arbeiter, die beim Tunnelbau in Pflersch beschäftigt waren. Mehr war hier nicht los. Bertas privater, höchst inoffizieller Ausschank von Weißund Rotwein aus der Doppelliterflasche sicherte ihr auf ihre alten Tage zusammen mit den Hennen und einer kleinen Rente, die immer kleiner wurde, das Überleben. Mehr wollte und brauchte sie nicht.

Das kleine, zwischen Felsen, Straße, Bach und wieder Felsen eingeklemmte Haus, das ihr Bruder, kurz bevor man ihn aus Versehen in das Fundament eines Liftpfeilers eingegossen hatte, Ziegel für Ziegel selbst aufgemauert hatte, reichte ihr dreimal. Vom Platz her. In den ebenerdigen Raum hatte Berta ein paar Stühle und zwei Tische gestellt. Und seither war das ihre Bar.

Ich war Stammgast. Seit ich vor ein paar Jahren hier hängengeblieben war, auf einer meiner Nordsüdrouten.

War ewig lange her, daß ich in dieser Gegend aufgewachsen war, das Studium der alten Sprachen an einem verstaubten Gymnasium schon nach kürzestem Widerstreben zur Beruhigung aller Beteiligten aufgegeben, eine Lehre als Sargkranzschleifenbeschrifter abgebrochen hatte. Und in die Nordmeerfischerei geflüchtet war.

Da hatte es mich herumgetrieben, bis ich vor etwa zehn Jahren auf die Straße und in die Zugmaschinen gewechselt war. Und dann von Deutschland so sehr genug hatte, daß es mich wieder nach Italien zurück verschlagen hatte. In seine nördlichste Provinz, knapp hinterm Brenner. Da, wo eh jeder LKW vorbei mußte.

Bertas Bar war mein Zufluchtsort. Etwas abseits der Großen Route, noch nicht einmal einen halben Liter Diesel weit von der Autobahn weg, still und ruhig bis auf das Rauschen des Wildbaches und das Flüstern des Windes in den alten, schiefgewachsenen Bäumen, die sich mit Müh und Not an den Felsen hinter dem Hühnerstall gekrallt hatten.

Fast fünf Jahre lang hatte ich mich jetzt zwischen meinen Touren immer wieder hierher zurückgezogen. Und eine Zeitlang hatte es mir gutgetan.

»Bist am Nachdenken?« hatte Berta mir dazwischen gefunkt.

»Nachdenken? Nicht richtig«, hatte ich gesagt. »Ich glaub, ich kann das gar nicht.«

»Dann solltest du’s aber lernen, bei deinem Alter.«

»Was ist mit meinem Alter?«

»Das wird so langsam ernst, hoff ich«, hatte Berta gesagt und mir ihre beste Legehenne in die Hand gedrückt.

Ich hatte verstanden. Auch wenn sie es höchstwahrscheinlich gar nicht beabsichtigt hatte.

Aber ich und mein Unernst waren der Grund dafür gewesen, daß man ihr vor ein paar Monaten sämtliche Hennen, zwölf waren es gewesen, in ihrem besten Lebensalter, bei lebendigem Leibe und fein säuberlich an die Hennenstallwand genagelt hatte. Feine Herren aus dem Investmentgewerbe und ihre Handlanger fürs Grobe. Ich hatte mir das nie vergessen können. Daß ich Berta, meine Berta, mit hineingeritten hatte. Hinterher hatte ich unter den Pflerer Bauern eine Sammlung veranstaltet, die Berta wieder ein halbes Dutzend ordentliche Legehennen und einen Hahn, den man hierzulande Gigger nannte, in den Stall gebracht hatte. Es war das Mindeste, was ich hatte tun können.

Und immer noch bei weitem nicht genug. Berta hatte wochenlang kaum ein Wort reden können vor Schmerz.

Sie hatte recht. Es war eine grausige, absurde, unmenschliche Schlachterei gewesen.

Und jetzt hatte sie mir wieder ihre beste Legehenne anvertraut.

»Ernst …«, hatte ich gesagt, »Berta, ich weiß nicht, ob das so gut ist.«

»Wer weiß das schon«, hatte Berta gesagt, »aber es wird trotzdem Zeit. Glaub’s mir.«

Und als ich ihr dann die Legehenne wieder zurückgegeben und wissen wollte, ob sie eventuell ihr Lokal für das Essen zur Verfügung stellen würde, hatte sie der Henne ein paarmal übers Gefieder gestrichen, bevor sie antwortete.

»Von mir aus«, hatte sie gesagt. »Brauch ich ein paar Tage nix zu kochen. Machst ja eh immer viel zu viel.«

So war das gekommen mit dem Essen.

Und so kam es, daß ich jetzt wieder vor dem Gemüse stand und es in passende Teile zerlegte. Die dünnen Zucchini in Streifen geschält und zweizentimeterlang geviertelt. Die Karotten in halbzentimeterdicke Scheiben, der Spinat säuberlich geschwänzt und ganz im Blatt, die Zitronenmelisse feingehackt, die kleinen Kartoffeln ungeschält und geviertelt.

Ich machte mich an die Einlage für die Suppe. Klopfte die Kalbsmilz an Vorder- und Rückseite ein paarmal leicht ab, schnitt sie quer durch und schabte sie dann mit einem Löffel vorsichtig aus. Rührte ein Stück Butter und zwei Eidotter schaumig und gab dann langsam die Milz, Petersilie, Majoran, etwas Zitronenschale, Salz und Pfeffer dazu. Dann machte ich mich an das Eiklar. Steifgeschlagen zog ich es langsam unter die Milzmasse.

In Scheiben geschnittene Semmeln bekamen einen halben Zentimeter dick Milz aufgestrichen, drauf kam eine zweite Semmelscheibe. Der Rest war schnell getan: Die Doppeldecker mußten in heißem Öl schwimmend nur mehr kurz angebraten und dann in schmale Streifen geschnitten werden. Und die Suppeneinlage war fertig.

Wenn eine Suppe, wie man sagt, Leben retten kann, dann sind anständige Suppeneinlagen dazu da, das glücklich gerettete Leben zu verschönern. Auf beides war ich jetzt vorbereitet.

Ich war im Zeitplan. Wischte meine Hände an Bertas karierter Küchenschürze ab und setzte mich auf die Treppe vor der Bar.

Berta schien noch bei ihren Hennen zu sein.

Inzwischen war es schon dämmerig geworden, der Pflerer Bach polterte und rauschte noch lauter als sonst. Das erste Schmelzwasser. Weiter oben lag meterhoch Schnee, aber auf den Hangwiesen taleinwärts taute es schon. Für dieses Jahr schien der Winter vorbei zu sein, hier unten im Tal. Wobei das nichts weiter als eine vage Hoffnung war. Ich hatte hier schon mitten im August Schnee erlebt.

Geh, Tschenett, dachte ich. Verlaß die Gegend, verlaß die Leute. Hast der Berta nur Unglück und Tod gebracht und sonst nichts. Hau ab, bevor es wieder zu spät ist.

Auf dem Tribulaun leuchtete ein Schneefeld im letzten Sonnenlicht auf. Dort oben, in der Südostwand, hatte Berta vor einigen Jahrzehnten ihren Verlobten an den Tourismus verloren. Er war Kleinbauer und Bergführer gewesen, und mit einem Touristen, einem Herrischen, wie Berta das nannte, erst ins Seil und dann bis zum Wandfuß gefallen.

»Die Wirtin nicht da?«

Ich war etwas erschrocken. Aus dem Dämmerlicht war plötzlich einer aufgetaucht und hatte mich angeredet, noch bevor ich ihn gesehen hatte. Mußte einer der alten Bauern aus der Gegend sein. Allerdings keiner von Bertas fleißigsten Stammgästen.

»Woll«, sagte ich, »schon. Im Hennenstall.«

»Aha«, sagte er und rührte sich nicht.

Los, Tschenett.

»Wenn’s wegen einem Glasl ist, das kann ich auch ausschenken«, sagte ich.

»Gut«, sagte der Alte und kam mir hinterher.

Alles was gut und recht war. Nur weil ich bei Berta ein Abendessen inszenierte, konnte ich ihre Kunden noch lang nicht trocken auf der Straße stehen lassen. Berta sperrte keinen aus.

Als er den ersten Schluck getan hatte, sah der Alte skeptisch ins Glas hinein.

»Kann mir nicht helfen«, sagte er, »heutzutage riecht der mir immer so, als ob da zur Hälften welscher Wein drin wär«, sagte er. »Früher«, sagte er, »wie die Kellereien noch in die Panzelen geliefert haben, war der anders. Tirolerischer halt.«

»Mehr Schwefel als heut«, sagte ich, »das auf jeden Fall.«

»Der Schwefel tut keinem nichts«, sagte der Alte, »der Welsche schon. Das ist einmal gwiß.«

Ich schenkte ihm nach.

»Einfach schreien, wenn’s noch ein Glas sein soll«, sagte ich dann, »ich muß noch in die Küche.«

Ich warf gerade das Gemüse in die Pfanne, als Berta hereinkam.

»Jetzt hast den Kalmsteiner in der Bar sitzen«, sagte sie.

»Er hat ein Glas gewollt«, sagte ich, »und ich hab’s ihm gegeben. Zwei, eigentlich.«

»Inzwischen hat er sich die Doppelliterflasche geholt. Nur daß es weißt«, sagte Berta.

»Und?«

»Der trinkt nur alle heiligen Zeiten einmal. Aber dann trinkt er. Hat nie einen Rausch, aber immer einen Tulljöh.«

»Dann kriegt er eben heut seinen Tulljöh. Und ein Stück Fohlenschnitzel«, sagte ich. »Wer ist der überhaupt, der mit seinem welschen Wein?«

»Hat er dir das auch schon versucht einzureden«, sagte Berta. »Der ist, wie soll ich sagen, in Pension. Seit ziemlich einer Zeit schon. Hat ihm nicht gutgetan.«

»Weil …?« sagte ich.

»Weil er keine richtige Arbeit mehr hat. Deswegen ist er eigen geworden.«

Berta mußte man wieder einmal die Würmer aus der Nase ziehen. Kam nicht allzuoft vor, aber wenn, dann war’s ein harter Fall.

»Was hat er gemacht?«

»Schmuggler«, sagte Berta, »der war einer von den hauptberuflichen Schmugglern. Sein Leben lang. Rindvieh, Sacharin, Tabak, Zigaretten, Feuersteine, alles, was haben wolltest. Immer übern Obernberg. Zwischendrin hat er den Bauern ausgeholfen.«

»Ist jetzt nix mehr mit dem Geschäft, oder?« sagte ich.

»Lang schon nicht mehr. Unabhängig davon, ob’s die Füß tun würden.«

»Weil …?«

Mit weil konnte man Berta noch am ehesten aus der Reserve locken.

»Weil«, sagte sie prompt, und nahm mir den Kochlöffel aus der Hand, von dem es langsam zu Boden tropfte, »weil in den Sechzigerjahren mit den Sprengereien hier in der Gegend, mit den Bombenanschlägen, mit dem ganzen Zeug halt, plötzlich oben auf dem Obernberg alle eineinhalb Meter ein Soldat, ein Carabiniere, einer von der Polizei oder ein Finanzer gestanden hat. Und in den Gasthäusern jeder zweite ein Spitzel. Da war nicht einmal für den Kalmsteiner mehr ein Durchkommen.«

»Und seither …?«

»Seither sagt er, daß der Wein nicht mehr schmeckt, weil sie unseren Kalterersee mit Welschem verschneiden. Kannst ihm nicht bös sein. Von einem Tag auf den anderen ohne Arbeit.«

»Wär mir gleich«, sagte ich.

»Dir ist’s gleich«, sagte Berta. »Das meiste, was die letzte Zeit gearbeitet hast, war halbtagweis. Zweimal die Woche. Ist ja kein Arbeiten, für einen ausgewachsenen Menschen.«

»Recht hast, Berta«, sagte ich.

Sie sah mich erstaunt an.

»Und wie recht hast.«

Eine dreiviertel Stunde später kam Totò. Ich küßte ihn links und rechts ab, nahm ihn am Arm und brachte ihn zu Berta und dem alten Schmuggler in die Bar.

»Ihr müßt mich eine halbe Stunde allein werkeln lassen«, sagte ich, »sonst wird das nix. In einer Viertelstunde kommst, Totò, und ich sag dir, was gedeckt werden soll.«

Totò, mein Polizeifreund, sprang aus seinem Stuhl hoch, brachte die Hand an die Stirn und schrie: »Sissignore!«

»Riposo«, sagte ich. »Stehen Sie bequem.«

3

»E sì«, sagte Totò nach dem vierten Löffel Milzschnittensuppe, »e sì.« Und machte ein Gesicht, als hätte er heute am Brenner die Madonna weinen gesehen, anstatt den ganzen Tag Touristen durchzuwinken. »E sì. Sarà un mascalzone, il nostro amico, ma questa Milzschnittensuppe … So schlecht kann ein Mensch gar nicht sein, der so was kocht.«

»Das müßtest du eigentlich besser wissen, amico«, sagte ich. »Reicht ja, wenn in euren Computer schaust, nicht?«

Und lächelte ihn breit an. Er schmunzelte elegant zurück.

»Da lassen sie mich eh nicht ran. Ich habe den falschen Umgang. Dich, zum Beispiel. Mit so einem wie dir …«

»… ist die Bullenkarriere im Arsch«, sagte ich und löffelte. »Falls du je eine gemacht hättest.«

»Spero di no«, sagte Totò, »ich hoffe nicht.«

Ich schickte ihm einen Kuß quer übern Tisch.

»Hmm«, sagte der Kalmsteiner und dann, nach einer Weile: »Sind die zwei Mander immer so?«

Berta sah uns kurz an. Und fing dann an zu lachen. Wir lachten mit.

»Ja, Kalmsteiner«, sagte sie, »die sind immer so.«

»Willst trotzdem ein Stück Roß essen, Kalmsteiner?« sagte ich.

Er schob sich seinen Hut etwas tiefer in den Nacken.

»Stück Roß …«, sagte er. »Wie bei die Welschen.«

»Was ist?« sagte ich.

»Da muß es einem Tiroler schon richtig dreckig gehen. Daß er ein Roß ißt. Oder er ist keiner. Oder ein Welscher«, sagte der Kalmsteiner. Langsam, Wort für Wort, Satz für Satz. Dann tat er einen Schnaufer. »Wieso nicht«, sagte er, »ist lang genug her, daß ich das letzte gegessen hab.«

»Eben«, sagte ich, stand auf und verschwand in der Küche. Einer mußte ja dafür sorgen, daß das Fohlen in die Pfanne kam.

»Und wo hast du es her?« sagte Totò und schob sich ein Stück von dem Schnitzel in den Mund.

»Ist eine lange Geschichte«, sagte ich. »Auf jeden Fall: von unten herauf, italienisch, auf Umwegen.«

»Sag ich’s ja, welsches Zeug«, sagte der Kalmsteiner. »Was wird ein gstandener Tiroler auch ein Roß essen.«

»Dann bist eh nur du und die Berta in der Straf«, sagte ich. »Der da und ich, wir sind keine Tiroler, gstandene schon gar nicht. Sagen die Gstandenen.«

Totò seufzte zustimmend.

»E sì«, sagte er. »Nix Tiroler, nix gstanden, nixe gutte.«

»Wann fahrst denn jetzt?« sagte Berta, mitten in unser Gejuxe hinein.

»Morgen«, sagte ich.

»Und wann kommst wieder?«

Da war sie, die Frage, auf die ich gewartet hatte. Ließ nicht locker, meine Berta. Ich strich mir noch eine Messerspitze Melissenbutter auf das Fohlenschnitzel.

»Wenn ich’s wüßte, Berta …«

Berta legte ihr Besteck auf das Teller und schob es zur Seite. Mehr als eine Ecke hatte sie dem Fohlen nicht abgeschnitten.

»Hast schon genug?« sagte ich.

»Und wie. Mehr als genug«, sagte Berta.

Und dann war’s geschehen.

Wir saßen da, keiner sagte ein Wort. Berta starrte vor sich hin, Totò griff öfter zum Glas als zur Gabel, und mir fiel nichts ein.

Nichts, was ich hätte sagen können. Nichts, was Berta erklärt hätte, wieso ich unbedingt weg mußte. Und nichts, was ihr die Ahnung genommen hätte, ich würde für immer gehen. Totò war ins Sinnieren gekommen. Ihm mußte ich vielleicht weniger erklären. Aber dadurch wurde auch nichts einfacher.

Der Pflerer Bach war plötzlich so laut geworden, als würde er quer durch Bertas Bar fließen.

»Wenn’s eh nicht aufißt«, sagte der Kalmsteiner und holte sich Bertas Schnitzel vom Teller, »nehm ich’s mir.« Und schnitt drauflos und kaute fröhlich und unverdrossen weiter. »Wird zwar ein welsches Zeug sein«, sagte er, zwischen einem Bissen und dem anderen, »aber schmecken tut’s.«

Berta nickte nur.

»Vielleicht«, sagte der Kalmsteiner, »wenn der Ferdl damals, in der Gletscherspalten unten, ein so ein Schnitzel mitgehabt hätt, vielleicht wär ihm einiges erspart geblieben.«

»Gletscherspalte?« sagte ich, froh, daß es etwas zu reden gab.

Der Kalmsteiner hatte mich nicht gehört.

»Hat er lang und schwer büßen müssen«, sagte er, »daß er nicht für das halbe Jahr ins Gefängnis wollte. Und daß er mir geholfen hat. Obwohl’s keiner von ihm verlangt hat. Hast ihn ja gekannt, den Ferdl, nicht, Berta, zu Lebzeiten?«

Berta nickte wieder nur.

Der Kalmsteiner rückte sich noch einmal seinen Hut zurecht. Als ob er, nach all den Jahren, immer noch nicht die richtige Stelle gefunden hätte auf seinem Kopf für den Hut. Dann schenkte er sich aus der Doppelliterflasche nach. Ich hatte ihn nicht dazu überreden können, auf unseren Wein umzusteigen.

»Das mit dem Ferdl«, sagte er dann, »ist eine Geschichte, von der ihr Jungen noch etwas lernen könnt.«

Und dabei schaute er mich und Totò einen Augenblick lang an und schien gleichzeitig darüber nachzudenken, ob wir es wert waren, daß er sie uns erzählte. Ob es einen Sinn hatte. Oder ob es verschossenes Pulver war.

Dann gab er sich einen Ruck. Und schob sich den Hut wieder in den Nacken. Je weiter hinten der Hut zu sitzen kam, um so neckischer sah der Kalmsteiner aus.

»Mit dem Ferdl bin ich schon in die Dreißigerjahr übers Joch«, sagte der Kalmsteiner und ließ sich Zeit beim Erzählen. »Da war ich ein Bub und er ein paar Jahre älter. Unter fünfzig Kilo pro Kopf sind wir nie gegangen. Das Tragen waren wir gewohnt, von klein auf. Arbeit gab’s keine, gehabt haben wir nichts, da war Schmuggeln das einzige, was einen weitergebracht hat. Mein Vater war schon gestorben, bei uns gab’s zu essen, was ich ins Haus gebracht hab. Da ist man bald ausgwachsen. Mit den zwei Geiß und den paar Hennen hätt uns die Mutter nie durchfüttern können. Bei sechs Kindern. Und ich der älteste. Mit meine vierzehn Jahr.

Sind wir eben übers Joch gegangen, der Ferdl und ich. Und haben herein geschmuggelt, und hinaus. Was halt gefragt war.

Danach haben die Deutschen den Ferdl einberufen wollen zur Wehrmacht, und der Ferdl hat gesagt: Die Wehrmacht kriegt mich nicht, und ist auf den Berg hinauf und hat sich da versteckt, jahrelang, und die Wehrmacht hat ihn nicht gekriegt.

Und wie der Krieg vorbei war und er’s überlebt hat, obwohl sie ihn gesucht haben talein talaus, damit sie ihn derschießen können, den Deserteur, hat er gesagt: Jetzt weiß ich, hat er gesagt, wem trauen kannst von deine Freund, und wem nicht. Zweimal hat ihn einer verraten gehabt, halb aus Not und halb, weil’s ein Fanatischer war, und jedesmal ist ihnen der Ferdl noch ausgepfitscht. Als ob er’s gerochen hätt, wenn sie ihm aufgepaßt haben. Und ich war zuerst zu jung für die Wehrmacht, und dann haben sie mich vergessen.«

»Die Deutschen«, sagte ich, »und vergessen …«

»Muß sein«, sagte der Kalmsteiner, »muß sein. Anders kann ich’s mir nicht erklären. Und gründlich, wie die Deutschen sind, haben sie mich auch gründlich vergessen. Ich hab nix dagegen gehabt. Überhaupt nix. Mich hat’s nie in die Welt hinaus gezogen. Nach Norwegen nicht, nach Kreta nicht, nach Jugoslawien nicht und nach Rußland nicht. Ich bin keiner, der unbedingt weg muß von hier. War ich damals schon nicht. Die Ausrede hätt ich nicht gehabt.

Dann war der Krieg vorbei, und die Zeit, wo mich der eine oder andere einen Feigling geheißen hat, war auch vorbei, und ein paar von denen sind zusammen mit den anderen in Rußland und auf Kreta geblieben. Und die zurückgekommen sind ins Dorf, haben gemeint, dem Ferdl und mir die Schuld geben zu müssen, daß sie den Krieg verloren haben. Aber da haben wir nur mehr gelacht. Weil wenn der Mensch einmal die Einsicht verloren hat, findet er sie so leicht nicht mehr. Ist schon wahr. Tut sich keiner leicht, zuzugeben, daß er einen Blödsinn gemacht hat.«

Das nächste Mal mußt ein paar Tropfen Rosmarinöl auf die Kartoffel tun beim Abbraten, dachte ich mir, ein paar Tropfen hätte es vertragen. Totò war mit dem Essen eben fertig geworden und nickte mir anerkennend zu.

Der Kalmsteiner ist dafür, daß er hoch Siebzig ist, noch richtig gut beinander, dachte ich mir. Der könnte einem noch fast sympathisch werden, der alte wehrmachtsvergessene Schmuggler.

»Die ersten paar Jahre nach dem Krieg hat sich der Ferdl noch zurückgehalten mit dem Schmuggel«, sagte der Kalmsteiner, nachdem er sich nachgeschenkt hatte, »weil’s ihn auf der Liste hatten, unsere Leut, weil er Speck gestohlen haben soll mit vorgehaltener Pistole. Als ob er ein Verbrecher gewesen wäre, haben sie getan. Nur weil er versucht hat, zu Kriegszeiten in die Berg zu überleben.

Hat’s ein paar Jahre nicht einfach gehabt, der Ferdl. Die früher die Hundertprozentigen gewesen waren, hatten auf einmal wieder etwas zu sagen, als ob nix gewesen wär. Und auf einmal war so einer wie der Ferdl der Verbrecher. Und da war er sich nicht sicher, ob sie ihn nicht an die Italiener verpfiffen hätten, wenn er geschmuggelt hätt. Wußte ja jeder genau, wer übers Joch geht und wann und wo.

Arbeit hat er keine gekriegt. Außer als Wegmacher bei die Italiener. Da war’s überhaupt aus. Weil das ein Unsriger nicht zu tun hat, haben sie gesagt, das muß so ums Fünfzigerjahr herum gewesen sein, und wenn wir zusammen ins Gasthaus sind, haben wir beide nichts bekommen. Beim Unterwirt auf jeden Fall nicht. Kann ich dir auch nicht helfen, wenn mein Geld nicht willst, hat der Ferdl zum Wirt gesagt und gelacht, wo sonst hinter jeder Lire her bist wie der Teufl hinter der armen Seel. Und der Unterwirt hat ihm Prügel versprochen. Das schau ich mir an, hat der Ferdl gesagt, mit einer Hand, mit der linken, wenn willst, schau ich mir das an, die rechte hinten festgebunden, wenn dich traust. Dreimal wär er’s ihm gewesen, mit der linken. Zwei Wochen später hat ihm der Unterwirt von ein paar Burschen in der Nacht aufpassen lassen. Der Ferdl hat eingesteckt und ausgeteilt. Ist sich halbehalbe ausgegangen, hat er am nächsten Tag gesagt, so gesehen hat der Unterwirt den größeren Schaden. In der Woche, wo sie gratis bei ihm trinken können, die Burschen, machen sie ihm den halben Keller leer. Bei seinem Geiz …«

Berta saß jetzt wieder ganz entspannt da und lachte still in sich hinein. Der Sohn vom Unterwirt, heut auch schon ein erwachsener Mensch, war der einzige gewesen, der etwas dagegen gehabt hatte, daß sie ihre Bar aufmachen hatte wollen. Aber Berta hatte einen Fürsprecher gehabt. »Mehr in der Gemeinde, als im Himmel, Gottseidank«, sagte sie.

»Mir sind die Geschäfte recht gut gegangen, damals«, sagte der Kalmsteiner. »Mit zweimal übers Joch Gehen hab ich das verdient, was ein anderer in zehn Tagen Arbeit nicht bekommen hat. Und so hab ich dem Ferdl aushelfen können.«

Der Kalmsteiner war ein langsamer und regelmäßiger Trinker, wenn einmal. Lang würde es nicht mehr dauern, und ich mußte ihm eine zweite Doppelliterflasche spendieren. Bei seiner Art, Geschichten zu erzählen, war das noch lang kein Schaden.

»Und dann, so fünfundfünfzig herum, ist es ruhiger geworden. Die Leut hatten mit dem Geldverdienen genug zu tun, und die Sache mit dem Ferdl ist vergessen gewesen.

Ab da sind wir dann wieder zu zweit unterwegs gewesen. Waren gute Jahre. Und die Finanzer hatten kaum eine Chance, uns zu erwischen. Die kannten sich hier nicht aus, am Berg oben schon gar nicht, waren die Kälte nicht gewöhnt, die Steilheit auch nicht, die Wetter und den Nebel, und hatten Heimweh nach Süditalien. Da mußten sie schon verdammt viel Glück haben, auch nur einen Rockzipfel von uns zu sehen. Hatten sie meistens nicht.

Bis auf das eine Mal. Da muß uns der Herrgott ganz verlassen haben. Der Herrgott oder sonst einer. Aber ganz und gar.

Wir sind bei Nacht herüber, mit Sacharin, Zigaretten und Tabak, aufgepackt wie die Muli. Wie immer halt. Vielleicht waren wir mit dem Kopf schon daheim, oder übermütig geworden, weil’s immer gut gegangen ist. Vielleicht hat uns einer verraten, oder vielleicht haben die Finanzer einfach nur mehr Glück als das bißl Verstand gehabt, kann leicht sein.

Auf jeden Fall: Wir kommen oben beim Joch am Eck heraus, fast Nacht ist es schon gewesen, wir stehen grad den einen Augenblick lang, um ein bißchen zu verschnaufen, da springt’s von rundherum zwischen die Felsen heraus: Drei Finanzer, Gewehre im Anschlag, und schreien uns ganz aufgeregt an, und fuchteln und wachteln, als ob wir sie gleich umbringen würden. Auf den Boden haben wir uns legen müssen, Gesicht nach unten. War eine kalte Sach, weil noch ziemlich Schnee gelegen ist, und dann haben sie uns die eisernen Handschellen angelegt und die Ketten. Weil’s spät war, haben sie sich nicht mehr recht viel weiter getraut und sind mit uns hinüber zu der Schwarzwand-Hütten, da war vor dem Krieg eine Schutzhütte, heut ist auch wieder eine. Damals haben sie die Finanzer konfisziert gehabt, damit sie einen Unterschlupf haben, wenn ihnen das Wetter zu schlecht geworden ist.

Sind wir also da hin, der Ferdl und ich in Ketten, die Finanzer Gewehr im Anschlag, einer vor uns, zwei hinter uns. Ein Weg von einer Stunde war’s, quer übers Kar und die Schneefelder, für die Finanzer, die nicht besonders trittsicher waren, eine einzige Strappelei. Wie wir angekommen sind, war es ihnen anzumerken, daß sie richtig froh waren. Uns haben sie auf den Boden in eine Ecke gesetzt und an den Pfosten gekettet, dann haben sie gegessen und sich auf die Ofenbank gelegt. Und dann war bald Ruhe. Außer daß einer von ihnen zuerst geschnarcht und dann im Schlaf geredet hat. Irgendetwas Sizilianisches, was wir nicht verstanden haben. Dann hat der Ferdl zu flüstern angefangen. Jetzt haben mich die Deutschen nie gekriegt, dann seh ich nicht ein, daß ich mich von den Welschen soll fangen lassen, hat er gesagt und hat an den Handschellen herum gemacht und sich gewunden und gedreht, langsam und so, daß die Finanzer nicht aufwachen.

Mit einer Hand war er schon heraußen, so dünne Arm hat er gehabt, mit der zweiten fast, da wird einer von den Finanzern wach, weil er im Schlaf aufgeschrien hat, und schaut sich um und der Ferdl zieht noch einmal in der Handschelle und der Finanzer sieht das und springt auf und der Ferdl auch und ist dann schneller bei dem Eispickel als der Finanzer bei seinem Gewehr und da hat er ihm den Eispickel ein paarmal über den Schädel gegeben, bis sich der Finanzer nicht mehr gerührt hat. Und die anderen sind wach geworden und haben sich nicht gerührt, und der Ferdl hat das Gewehr schon in der Hand gehalten.

Das war alles eins, das ging so schnell, daß ich’s kaum gemerkt hab, wie’s gegangen ist. Jetzt ist’s eh schon, wie’s ist, hat der Ferdl gesagt und sich die Schlüssel für meine Handschellen geben lassen. Und dann hab ich die anderen Gewehre eingesammelt und die Eispickel und ihre Bergschuhe. Und der Ferdl hat bravi zu ihnen gesagt, und dann sind wir gegangen mit unseren Rucksäcken und dem ganzen anderen Zeug, und draußen war noch Nacht.«

»Der Ferdl …«, sagte Berta.

»Hat ihn sein Lebtag lang nicht in Ruh gelassen, daß er den Finanzer erschlagen hat«, sagte der Kalmsteiner. »Noch in seinem Zustand hat es ihm leidgetan.«

Berta schien verstanden zu haben, was der Kalmsteiner mit Zustand gemeint hatte. Ich nicht.

»Und weiter …?« sagte ich.

»Weiter?« sagte der Kalmsteiner. »Weiter ist bald erzählt. Wir sind los, haben ein paar hundert Meter später denen ihre Bergschuhe liegen lassen und die Gewehre, grad so, daß sie sie suchen müssen, aber nicht zu lang.

Der Ferdl hat die ganze Zeit immer Was hätt ich tun sollen? gesagt, bis ich dreingefahren bin und gesagt habe, er soll aufhören, und daß er eh recht gehabt hat. Recht nicht, hat er gesagt, aber ich hab mich von den einen nicht fangen lassen, dann kann ich mich von den anderen auch nicht derwischen lassen. Ich geh nicht ins Gefängnis. Das hat gedauert, bis ich ihn beruhigt gekriegt habe und dann haben wir gemerkt, daß es bei Nacht keinen Sinn hat, über den Gletscher zu gehen.

Das mit den Gletschern ist eine besondere Sache. Da ist das so, daß die sich bewegen und nicht du dich. Da muß man schon bei Tag Obacht geben. Bei Nacht ist’s unmöglich. Da schluckt er dich, der Gletscher.

Da haben wir uns auf unsere Rucksäcke gesetzt, wie wir weit genug weg waren von der Hütte, und ohne ein Wort zu sagen gewartet, daß es Tag wird. Eine längere Nacht hab ich mein Lebtag lang nicht gehabt. Die hat nicht mehr aufgehört.