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Titel

Folke Tegetthoff

Alles Liebe!

Alle Liebesmärchen von Folke Tegetthoff

Widmung

Für Margarethe,

weil ich aus ihrer Liebe geboren wurde.

Astrid,

weil sie immer noch die Quelle meines Liebesmärchens ist.

Tessa, Sophie, Kira und Floris,

weil sie die Materialisation unserer Liebe sind ...

Inhalt

Vorwort: Von der Liebe und dem Märchen

Ich wollte dir von meinem Baum erzählen

Dreizehn

Nacktes Märchen

Die ganze Welt im Fingerhut

Der König der Käfige

Die Reise der Feen mit Seàn Palmer nach Irland

Sehnsucht

Till erzählt eine Geschichte

Ich wollte dir vom Streicheln erzählen

Das Märchen von der Unzufriedenheit

Erbse, Tisch und König

Das Wunderding

Vom Zauber der Geige

Ich wollte dir von meinem Bussi erzählen

Wie der Zauberer das Schicksal verzaubert ...

Märchenkind

Der Löwe

Die Krone des Schlangenkönigs

Waldliebe

Wie die Tauben nach Malta kamen

Die Wanderschaft

Das Märchen vom treuen Mann

Mein Baum

Das Apfelmädchen

Der Atem

Gottes Bäume

Gunila

Wie die Liebe gerettet wurde

Wie der Zauberer die Liebe verzaubert ...

Der Prinz

Das Flugzeug

Die goldene Ente

Der lange Weg

Liebe:Venus:Rot

Folke Tegetthoff

Zum Autor

Vorwort
Von der Liebe und dem Märchen

Um Liebesmärchen zu schreiben, muss man verliebt sein, das heißt, wenn man verliebt ist, kommen Liebesmärchen wie von alleine ...

Aber natürlich gestaltet sich der Weg zu der Gewissheit, die Liebe gefunden zu haben, als ein langer Prozess, der sich in dem Augenblick, wo man meint, diese Gewissheit erlangt zu haben, auf einen Augenschlag verkürzt: Alles erscheint mit einem Mal so selbstverständlich wie das Aufgehen der Sonne am Morgen, Zeit und Raum sind aufgelöst und die Unendlichkeit wird in einem langen Blick durchmessen.

Mein Weg dorthin begann schon während meines Jahres auf Ibiza. Ich kam in Kontakt mit der Idee der Synchronizität. Vereinfacht erklärt besagt diese Lehre, dass es den Begriff des „Zufalles“, wie er üblicherweise definiert ist, nämlich als „von keiner menschlichen Beeinflussung verursachtes Zusammentreffen von Ereignissen“, nicht gibt.

Vielmehr, so die Theorie, sei ein jeder unserer Augenblicke als Teil eines Gesamtablaufes, den wir „Leben“ nennen, zu sehen, stehe folglich ein jeder dieser Augenblicke in enger Symbiose mit anderen, die sich finden, bündeln, verknüpfen und zu den Ereignissen führen, die wir „schicksalhaft“ und „zufällig“ nennen, Bezeichnungen, mit denen wir uns Liebe und Tod, Glück und Unglück zu erklären versuchen.

Das Hier und Jetzt ist das (vorläufige) Ziel von solch verknüpften Ereignissen, die eine nicht genauer definierte Zeit zurückliegen, und ist gleichzeitig auch der Beginn eines Weges, dessen weiteres (vorläufiges) Ziel ebenfalls noch im Dunkeln liegt, ein Ziel, das irgendwann eintritt und entweder „schicksalhafte Momente“ ergibt, oder weiter durch die Unendlichkeit rast, so lange, bis es auf seine weitere Bestimmung trifft.

Mir schien diese Idee faszinierend. Weniger des Gedankens einer „höheren Macht“ wegen, die alles lenken und leiten solle, als vielmehr weil die konsequente Umsetzung und Weiterführung nicht mehr und nicht weniger bedeuten musste, dass jeder Augenblick, jedes Zusammentreffen von Ereignissen, jede Begegnung eine Wichtigkeit enthält, deren Tragweite und Auswirkung irgendwann, morgen oder erst in 20 Jahren, erkennbar wird. Es existierte folglich kein „unwichtig“ mehr, keine Respektlosigkeit, keine Unachtsamkeit Menschen oder Handlungen gegenüber, alles und jedes müsste bewusst wahrgenommen werden, denn – es könnte eine entscheidende Rolle in meinem Lebensschauspiel spielen.

Ich wurde geradezu gefesselt von dem Gedanken, mich in einen Zustand höchster Sensibilität zu versetzen, in dem es mir möglich sein sollte, Wegkreuzungen, Augenblicke bewusst und gezielt wahrzunehmen.

Als ersten Schritt postulierte ich, dass nach der Theorie der Synchronizität irgendwo auf diesem Planeten das Gegenstück zu mir, der Mensch, mit dem zusammen ich eine Lebensbalance bilden könne, existiert. Und es weiter klar war, dass ich IHR irgendwann, irgendwo begegnen müsse. Um diesen Augenblick zu erkennen, dachte ich weiter, wäre es unabdinglich und erforderlich, diese höchste Stufe an Sensibilität zu erreichen und zu erhalten, um jederzeit vorbereitet zu sein.

Meine feste Überzeugung war es, dass ich, um in diesen Zustand zu gelangen, völlig zölibatär und rein leben müsse. Was ich wahrhaftig umsetzte: Von Ende 1977, als ich mit dieser Idee zum ersten Mal in Berührung kam, bis Mai 1980, also für mehr als drei Jahre, hatte ich keinerlei körperliche Kontakte mit Frauen – wohl Bekanntschaften, doch weil ich dabei nie dieses überzeugte Gefühl, das ich für mich selbst definiert hatte, verspürte, wusste ich auch jedes Mal sofort, dass es noch nicht der richtige Augenblick sein könne.

Bis zu diesem Tag im Mai 1980 ...

Ich bin seit über 18 Monaten wieder in Graz, meine ersten beiden Bücher („Der schöne Drache“ und „13 und 1“) und meine Arbeit als Märchenerzähler sind so erfolgreich, dass ich bereits beachtlich gut vom Märchen leben kann. An jenem Tag treffe ich mich im Gastgarten eines Restaurants mit einem bekannten Illustrator, der mir anbietet, mit mir gemeinsam ein Buch zu machen. Er zeigt mir seine Arbeiten, erzählt von seinem bisherigen Schaffen, ich höre aufmerksam zu. Plötzlich betritt ein – wie es den Anschein hat – Pärchen den Garten, mein Blick erfasst diese wunderschöne junge Frau, der Illustrator redet und redet, ich unterbreche ihn mit einer Handbewegung und sage, wie in plötzliche Trance versunken, mehr zu mir selbst als zu ihm: „Das ist die Frau, die ich heiraten werde.“

Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen, aber weiß in dieser Sekunde, dass der Augenblick, auf den ich drei Jahre lang hingearbeitet habe, gekommen ist: SIE ist mein Gegenstück!

Ich treibe diese Sicherheit, dieses hundertprozentige Bewusstsein noch auf die Spitze, indem ich augenblicklich den Entschluss fasse, nichts aktiv zu unternehmen, um an sie „heranzukommen“. Ich würde sie nicht ansprechen, würde nicht versuchen, ihren Namen und Adresse ausfindig zu machen: Ich wollte das Schicksal nicht „herbeiflirten“.

Fast eine Stunde sitze ich regungslos da, aus weiter Ferne höre ich jemanden, der von Zeichnungen und Büchern spricht, während meine Gedanken eine Zukunft zu ordnen versuchen. Hier und jetzt, weiß ich, wird sich alles entscheiden: nicht nur ob ich jemals heiraten würde, vor allem auch ob die Theorie, die ich drei lange Jahre geübt hatte, zu einer Praxis fähig wäre, die mein weiteres Leben mitbestimmen würde.

Nach einer Stunde steht das Pärchen auf, doch statt direkt den Weg zum Ausgang zu nehmen, nimmt die junge Frau einen Umweg durch den ganzen Garten, um an meinem Tisch vorbeizukommen, bleibt stehen und fragt mich: „Kennen wir uns nicht?“ Und was antworte ich völlig ruhig und gefasst?! „Nein, ich glaube nicht.“

Die Arme verlässt mit ihrem noch ärmeren Verehrer mit schnellen Schritten das Lokal und wie ich heute weiß, dachte sie damals dasselbe wie ich: Was für ein Idiot!

Einige Tage nach diesem Erlebnis fahre ich nach München, um dort mit einer Freundin und Illustratorin, Hanna Stauffenberg, ein neues Buchprojekt zu beginnen („Und eines Tages war es nicht mehr so wie immer“, erschienen 1981).

Ich durchlebe die schrecklichsten neun Wochen meines Lebens: Gegen mich selbst gerichtete Vorwurfsattacken wegen meines wahrlich idiotischen Verhaltens wechseln sich ab mit tiefer Niedergeschlagenheit. Das Wissen, IHR begegnet zu sein, und nur einer Idee, einer Theorie wegen nicht zugegriffen zu haben, noch dazu, wo sie mir ja sogar die Hand entgegengestreckt hatte, treibt mich fast in den Wahnsinn.

Am 2. Juli erreicht mich ein Brief, nachgesandt von meiner Mutter, eine Einladung zur Hochzeit von Freunden in Graz.

Am 12. Juli fahre ich frühmorgens in München los, um rechtzeitig um elf Uhr vor der Basilika zu Mariatrost den Einzug des Hochzeitspaares mitzuerleben.

Zehn Minuten nach elf springe ich aus dem Auto, renne zum Eingangstor und krache dort mit einem Mädchen zusammen, das auch zu spät dran ist ...

Die junge Frau kannte Elisabeth und Max, das Brautpaar, gar nicht – ihr Bruder war Max’ Studienkollege und hatte, da er verhindert gewesen war, seine Schwester gebeten, doch von Klagenfurt, wo sie lebte, nach Graz zu der Hochzeit zu fahren. Eigentlich war ihr der ganze Aufwand für jemanden, den sie nicht einmal kannte, zu mühsam gewesen, aber im letzten Augenblick hatte sie sich dann doch entschieden ...

... und krache dort mit einem Mädchen zusammen, das auch zu spät dran ist: das Mädchen aus dem Restaurant vor neun Wochen!!!

Am 13. 11. 1982 heiraten wir.

So fuhr ich, unfassbar verliebt, im Februar 1981 in die Provence, um auf dem Landsitz einer Freundin, Mas Laval, ein neues Buch zu schreiben. Natürlich wurden es „Liebesmärchen“, das erste, das ich schrieb, war die „Einsamkeit“, das letzte der „Olivenbaum“.

Als mich Astrid Ende Mai besuchen kam, lag das Manuskript von „Wie ein Geschenk auf flacher Hand“ (Titel der ersten vier Ausgaben) als Geschenk auf dem Tisch. Wie in kitschigen Dreigroschenromanen beschrieben, saßen wir am ersten Abend vor dem großen offenen Kamin und ich las die Märchen vor. Wir saßen da und weinten beide vor Glück. Weinten und spürten, dass mit diesem Buch wieder eine dieser Wegkreuzungen, derer wir noch so vielen begegnen sollten, erreicht war.

Von Mas Laval fuhr ich im Juli direkt nach Stuttgart zum Spectrum Verlag, der mich mit meinen drei ersten, selbst produzierten Büchern (inzwischen hatte ich noch „Die Schlabberschlops“ veröffentlicht) auf der Buchmesse in Bologna entdeckt hatte. Wir wollten die bevorstehende Neuauflage des „Schönen Drachen“ besprechen. Eher beiläufig (ich wollte es noch überarbeiten) erwähnte ich das neue Manuskript, Ulli Höfker, der Verleger, gab es gleich an seine Frau, die als Cheflektorin arbeitete, weiter. Sie verschwand damit im Nebenzimmer, um es durchzublättern.

Nach einer Stunde kam sie zurück, legte das Manuskript vor ihren Mann auf den Tisch und sagte nur: „Wann können wir dieses Buch frühestens auf den Markt bringen?“

Das Unglaubliche geschah: Die „Liebesmärchen“ erschienen exakt drei Monate nach diesem Treffen im September 1981 und wurden mein erster großer Bestseller (bis 2010: 21 Auflagen und rund 400.000 verkaufte Exemplare)!

Erstmals sind nun alle Märchen, die ich in 30 Jahren, von 1980 bis 2010, zum Thema „Liebe“ geschrieben habe, in einem Band versammelt. Und jedes dieser Märchen ist eine Hommage an die Liebe, die wir nach 30 Jahren noch immer erleben dürfen ...

Ich wollte dir von meinem Baum erzählen

Aber vielleicht hast du es auch schon gehört? Es ist ja seit Wochen Thema Nummer eins in der ganzen Gegend. Die Vögel sitzen in den Dachcafés und zwitschern darüber, die Zwerge wussten es natürlich als Erstes und der Uhu soll die ganze Sache schon vor einem Jahr vorausgesagt haben.

Ich muss zugeben, mir war gar nichts aufgefallen. Erst als die Schmetterlinge augenzwinkernd meinten, das Grün seiner Blätter wäre doch auffallend grün, die Blüten würden gar so duften und die Äpfel hätten dieses Jahr Herzform. „Herzform, verstehst du endlich!?!“

Ich verstand gar nichts.

„Herrgott, er ist verliebt, unser Baum!“, kicherten die Elfen und schlugen ganz aufgeregt mit ihren Flügeln. – Das war allerdings eine Überraschung. Es hatte niemand mehr damit gerechnet, den Baum noch unter die Haube zu bringen. Er war ja auch nicht mehr der Jüngste, obwohl er die besten Früchte weit und breit trug. „Und“, fragte ich neugierig, „mit wem ... na ja, ihr wisst schon ...“

Alle sagten, ich solle ihn mir genau ansehen, dann würde ich es schon erraten. Und da fiel es mir auch auf: Er war so schön wie nie zuvor, seine Äpfel hingen wie Juwelen im sauber frisierten Blätterkopf. Den Bräutigam konnte ich jedoch nirgends entdecken. Da nahm mich der Boskabauter bei der Hand, führte mich ein paar Meter ins hohe Gras, blieb an einer lichten Stelle stehen und bog die Halme ein bisschen zurück: Da wuchs ... ein winzig kleines Apfelbäumchen, hatte gerade drei Blättchen auf seinen zwei Zweigen! „Ich verstehe“, meinte ich lächelnd und spürte den Wind, der stolz sein Kind wiegte. Ich sah zum Baum hinüber, der ein bisschen rot geworden war – na ja, sie waren noch nicht verheiratet. Aber da nun alle vom „großen Geheimnis“ wussten, blieb dem Baum und dem Wind nichts anderes übrig, als vor den Traualtar zu treten. Mann, wurde das eine Hochzeit, da blieb einem der Atem weg!

Tja, für manche „Geheimnisse“ gibt’s eben kein Versteck!

Dreizehn

„Wie“, so dachte sich der Schafhirte, dessen Leben arm und dennoch in die reichsten Farben des Glücks getaucht war, „wie nur kann ich dies Märchen wahr werden lassen ...“

Ja, es war ein Märchen, in das er unversehens geschleudert worden war:

21 – Der Bursche zählt Schafe vor sich hin – aber nicht um Schlaf zu finden, sondern um mit jeder Zahl berauscht sein Glück zu mehren.

22 – Da plötzlich stolziert durch das friedliche Bild eine Erscheinung, feengleich, engelshaft, erster Sonnenstrahl am Meeresstrand.

23 – Die Erscheinung lächelt und augenblicklich ist’s dem armen Jungen, als würde er in einem bunten See versinken.

24 – Die Erscheinung wirft ihm einen Blick zu, der ihn augenblicklich fesselt und ihn wieder unverzüglich aus der bunten Tiefe holt, in der er vor einer Sekunde noch zu versinken drohte.

25 – Seit unsagbar langen vier Sekunden ist sie nun in seinem Leben und er spürt in ihrem Lächeln eine seltsame Traurigkeit und er fühlt in ihrem Blick eine Frage ...

26 – ... die er ihr gerade beantworten will, doch sind inzwischen schon fünf Schritte getan, fünf Schritte, die reichen, das Mädchen wieder aus seinem Bild verschwinden zu lassen.

27, 28 – „Hab ich geträumt?“, fragt sich der Bursche.

29 – Hört er eine Stimme wie aus weiter Ferne rufen: Komm morgen auf das Schloss und bitte den König um die Hand der Prinzessin!

34 – 13 Sekunden sind vergangen und sein Leben ist ein anderes, unversehens geschleudert in ein Märchen ...

Was kümmert einen Burschen, der seine Schafe liebt und für jeden Augenblick seines Lebens das Glück zu hüten scheint, was sich in der fernen Stadt abspielt. Doch aufgeweckt durch die Sekunden, die ihm wie ein Traum erschienen, hört er es nun: vom König und seiner Not. Die Not bereitet ihm die Tochter. Die Prinzessin. Zwar gesegnet mit allem, was die Zauberstäbe der Feen und Boskabauter zu vollbringen vermochten – Schönheit, Klugheit und dank Gottes Gnaden auch manch Schatzkistchen –, doch was nützt dies alles, wenn das Kind einfach nicht glücklich sein kann.

Alle Wesen des Märchenreiches waren damals an die Wiege geeilt, die Prinzessin – wie es sich gehört – mit ihrem Sternenglitzer zu umhüllen. Einzig die Glücksfee war nicht erschienen.

Die hatte sich – immer schon engagiert in sozialen Fragen – geweigert, nur des hohen Standes wegen einem Kind ewiges Glück zu zaubern. Stattdessen hatte sie beschlossen, in einen armseligen Stall einzukehren, in der gerade eine Magd ihren neugeborenen Jungen glücklich in den Armen wiegte.

Und nun werdet ihr dies wahrlich Märchenhafte schon erahnen: Der Junge – richtig – war der wunderhübsche Schafhirt’, dessen Leben von diesem Tag an in die reichsten Farben des Glücks getaucht sein sollte ...

Zurück zur Not des Königs. Schnell in Erfahrung gebracht, weiß der Bursche, wie der König seit geraumer Zeit versucht, seine Not zu lindern: „Hiermit wird kundgetan, dass derjenige die Prinzessin zur Frau erhält, der es vollbringt, ihr, und somit mir und somit uns, wahres Glück zu schenken!“

Um den sowieso schon komplizierten königlichen Tagesablauf nicht noch mehr zu belasten, wurde weiters festgelegt, dass ab sofort täglich (außer Sonn- und Feiertag) von 20 bis 24 Uhr die Prinzessin für Versuche, ihr höchstes Glück zu schenken, zur Verfügung stehe.

Von nun an ging es rund in der Stadt und im Palast! Gezählte 751 Männer und acht Frauen (!) hatten es bislang versucht – vergebens. Sie hatten sich mit Kutschen voller Gold und Hosen voller Kraft beworben. Hatten Glück in Versen beschrieben und in Liedern besungen. Es kamen von Schönheit Geküsste und von Hässlichkeit Geschlagene.

759 waren hoffnungsvoll erschienen und 759 waren nach Mitternacht entmutigt davongeschlichen: keine Spur von Glückseligkeit auf dem Antlitz der Prinzessin ...

„Wie“, so denkt sich der Schafhirte, während diese gestrigen 13 Sekunden wie ein rot pulsierender Planet auf einer Umlaufbahn um sein Hirn kreisen, „wie nur kann ich dies Märchen wahr werden lassen ...“

So sitzt er zwischen seinen Schafen und zählt, als – noch nie zuvor passiert während der Arbeit – ihm mit einem Male ist, als würde er hinüberwandern in das Reich der Träume: Als Erstes kommt – klar, völlig natürlich, seltsam, wenn es anders wär – die Prinzessin – nackt – dahergehopst und verschlingt ihren warmen, wunderschönen Purpurkörper mit dem seinen.

Aber dieses Bild wird jäh zerrissen, als mit einem Mal von links etwas heranschwebt: ein hauchdünnes, wie aus feinstem Sternenglitzer gewebtes Gewand, in dem ein Wesen steckt, daran besteht kein Zweifel, das ebenfalls mit allen guten Gaben Gottes ausgestattet ist. „Welch Glück“, denkt sich der Bursche, der sich ja immer noch in einem Traume wähnt.

„Es ist kein Traum“, hört er jetzt das Wesen flöten, während es sich – schwerelos – auf seinem Schoß niederlässt und ihn sanft mit seinen Armen – unspürbar – umschlingt.

„Vor 23 Jahren warst du auserkoren, das Zauberlicht des Glücks zu empfangen. Nun bin ich gesandt, dieses Märchen, das längst begonnen hat, zu vollenden und es damit wahr werden zu lassen!“

Der Schafhirte starrt verdutzt, kein Wort hat er verstanden, sieht zu, wie sich zeitlupig langsam nun ein Arm des Zauberwesens in sanften Kreisen über ihm bewegt und ein feiner Regen, wie Millionen von Sternschnuppen, sich über ihn ergießt.

Nur einen Lidschlag später, mit einem leisen „Ping“, ist die Gestalt verschwunden, verflogen, verflüchtigt wie Morgentau im Herbst. Und als erwachte er aus einem jahrelangen Traum, weiß der Bursche plötzlich alles: sieht strahlend klare Bilder. Hört Stimmen, die sein Inneres wie sphärische Musik durchdringen.

Es ist der 760. Tag der Brautwerbung. Um 19 Uhr 58 erscheint im Schloss des Königs ein wohl gekleideter, junger Bursche.

(Wenn ihr euch nun fragt, wie ein Schafhirte rucki-zucki zu solch edlen Kleidern kommt, so bedenkt, dass die gesamte Märchengesellschaft nun dem Geheiß der Glücksfee folgt. Folglich auch die Weber und Schneider des ganz besonderen Stoffes aus „Des Kaisers neue Kleider“. Nur allzu gern waren sie bereit gewesen, dem Helden dieses Märchens ein Kleidungsstück zu verpassen, dem nichts und niemand zu widerstehen imstande sein würde ...)

Keinem der 49 versammelten, wartenden, schon leicht genervten Freier wäre auch nur der Gedanke gekommen, den Neuankömmling daran zu hindern, an der Warteschlange vorbei an das Eingangstor zur Audienzhalle zu eilen, um dort heftig klopfend Einlass zu begehren.

Auch keiner der sonst gestrengen Wärter wagt das Wort an ihn zu richten. Mit tiefer Verbeugung, als wäre er schon König, gewähren sie ihm unverzüglich Eintritt.

Selbst der König, der, gelangweilt und verärgert ob der nervtötenden Prozedur, seiner Tochter das vorenthaltene Glück zu bescheren, lustlos im Thronstuhl lungert, fährt hoch, als er den Jüngling erspäht, der mit sicherem Schritt, als wolle er nicht nur die Prinzessin, sondern die ganze Welt erobern, nun auf ihn zukommt.

„Wir haben auf dich gewartet“, hört sich der Regent sagen, völlig erstaunt, verwirrt, wie dieser Satz auf seine Lippen kommt. „Doch bedenke, bis Mitternacht muss meine Tochter eine andere sein!“

Die Augen der Prinzessin haben sich zu schmalen Sehschlitzen verengt: Ihre Erinnerung beginnt, ein stark pulsierendes SOS zu senden, den Burschen kennt sie, ihm hatte sie doch vor zwei Tagen eines ihrer raren Lächeln, einen ihrer seltenen Blicke geschenkt. Schon versucht ein Glücksgefühl, ein unwirklich kleines, zu ihrem Herzen vorzudringen, als die grauen Bilder der letzten 759 Tage aufmarschieren, unbarmherzig ihre Pflicht erfüllen und der Prinzessin eine Antwort diktieren: „Wenn es sein muss“ – und sie lässt sich vom Schafhirt aus dem Thronsaal führen.

„Alles bereit“, ruft die Glücksfee ihren Kollegen aus dem Reich der Märchen zu. „Nun wollen wir beweisen, dass das Märchen lebt und Teil der Wirklichkeit der Menschen ist!“

Das Paar tritt aus dem Schloss und tritt geradewegs in die für es inszenierte Geschichte ...

„Bin ich schon dran?!“, fragt der Mond, den man aus sei-nem Halbschlaf holen musste, denn ein volles pralles Silberlicht ist für Liebesszenen unentbehrlich. Und mit dem ersten Strahlen erklingt auch schon sein unvergleichlich unhörbares Lied, gleich einem Netz, gewoben aus tausend kitschig schönen Bildern, das die beiden gefangen nehmen und sie vor die glücksgedeckte Tafel wirbeln wird.

Die glücksgedeckte Tafel, an der schon alle Platz genommen haben: die vermeintlich bösen Stiefmütter, Edel-männer, Zauberwesen, die endlich aus ihren Rollen schlüpfen und ihr wahres Antlitz zeigen dürfen. Hans, der sofort bereit war, seinen allergrößten Schatz für dieses Spiel zu teilen. Und inmitten dieser irrwitzig schönen Szenerie: die Glücksfee.

„Komm“, schenkt sie der Prinzessin Mut und Gewissheit, „nun ist auch für dich der Augenblick gekommen, an der glücksgedeckten Tafel Platz zu nehmen.“

Doch weil die Glücksfee weiß, dass nur Selbstgeschmiedetes länger als einen Hoffnungsschimmer währt, ruft sie der Prinzessin zu: „Welche der dreimal dreizehn Zahlen ist der Schlüssel zum Schloss der Tür, hinter der du alles finden wirst, wonach du dich schon immer sehntest?!“

Die Prinzessin, bereits gefangen von dem Burschen, dem Mond, dem ganzen Märchenspiel, bereits entfacht in ihr das bisher unbekannte Feuer des Glücks, die Prinzessin weiß die Antwort, doch ihr vergangenes Leben hat noch nicht aufgegeben, flüstert ihr heimtückisch ins Ohr, diese Zahl, an die sie denkt, sei die Zahl des Verderbens, flüstert ihr ins Ohr, sie solle doch die brave Zwei oder die liebe Acht erwählen, doch nicht ...

DREIZEHN!“, ruft die Prinzessin und mit diesem Ruf scheinen alle Fesseln durchbrochen, scheint das Kind befreit vom Fluch.

„Nun denn“, lacht die Glücksfee, „du hast gewählt!“ Holt die Kugel hervor, die die Macht hat, über Glück oder Unglück zu entscheiden.

Gebannt verfolgen alle Augen die Kugel, wie sie mit den Zahlen spielt, kokett nahezu innehält, als hätte sie sich schon entschieden, um dann doch noch ihren Weg fortzusetzen. Nun hat es den Anschein, als würde die Bewegung endgültig zum Stillstand kommen, schon spürt, hört, sieht man diesen atemlosen Augenblick.

Aber – da erbebt die Kugel noch einmal durch eine Kraft, die aus dem Nichts aufzutauchen scheint, und kommt ... auf der Dreizehn zur Ruhe!

Der Schrei des Jubels wechselt mit dem Moment erschrockenen Schweigens, denn zeitgleich mit dem Ruhen der Kugel zeigt der Finger der Zeit mahnend auf die Zwölf – erinnert an des Königs Worte: Beim letzten Glockenschlag muss die Prinzessin ein Schoßkind des Glückes sein.

Entrissen dem glücksträumenden Rasen, in dem sie schon fast – einen Augenlidschlag entfernt – versunken wäre, wird sie von den Mächten der Obrigkeit und des Gehorsams in die Wirklichkeit zurückgeworfen – wäre die Kugel doch einen Augenlidschlag früher in das Haus der Dreizehn gefallen.

Dem Ruf des Unglücks folgend, läuft die Prinzessin aus dem Spiel des Märchens. Verloren. Verloren.

Nur noch zwei Schritte trennen sie von dem Tor, das zurück in die Welt der letzten 22 Jahre führt. Doch das Märchen wäre kein Märchen, würd’ es sich so schnell geschlagen geben: „Cinderella!“, ruft, schreit, fleht die Glücksfee.

Und wahrhaftig: Die Erinnerung an dieses Märchen hält einen Atemzug lang die Zeit an, Cinderella erreicht das Mädchen – die Treppe, der Schuh, der Blick, ER – alles wie damals – und hüllt es in die warme Decke der wahr gewordenen Wunder und gibt damit dem Kind, was es hat entbehren müssen: das Glück in seine Hand.

Glück: Ob es das Schweben eines Vogels über Meereswellen ist. Bilder, gemalt von den Klängen sphärischer Musik. Oder das Näherrücken und das Atemspüren im Augenblick reiner Liebe. Glück.

Als Schafhirte und Prinzessin durch das Eingangstor in die Audienzhalle treten, müssen weder König noch Hofstaat nach der Erfüllung der Aufgabe fragen. Ein jeder sieht, spürt, erkennt: Hier ist ein Märchen wahr geworden ...

Nacktes Märchen

Es geschah während eines königlichen Empfanges: Plötzlich und ohne Vorwarnung sprang die Prinzessin, wohlgebaut und wunderhübsch, von ihrem Stuhl, riss sich alle Kleider vom Leib und verschwand, nackt, wie man es von Prinzessinnen gar nicht kennt, unter den Tisch. Dies allein würde schon reichen, um Märchen genannt zu werden. Doch es kam viel schlimmer ...

Die Prinzessin weigerte sich, unter dem Tisch hervorzukommen. Und das letzte, was sie an menschlichen Lauten von sich gab, war: „Ich bin ein Huhn und bleibe so lange in meinem Stall, bis ich ein Ei gelegt habe.“ Von diesem Moment an hörte man im königlichen Prunksaal nur noch lautes Gackern. Staatsbankette mussten abgesagt werden. Die klügsten Köpfe des Landes, Doktoren, Psychologen, Minister, traten zusammen und diskutierten wochenlang das Problem. Aber sie standen vor einem Rätsel.

König und Königin waren verzweifelt. Ja, es war sogar schon von einer Abdankung des Königs die Rede.

Da tauchte eines Tages ein Bursche im Schloss auf, der von der nackten Prinzessin unter dem Tisch im Prunksaal gehört hatte. „Lasst mich nur machen“, sagte er sehr gelassen, und was blieb dem armen Königspaar anderes übrig, als den jungen, wunderschönen und natürlich mittellosen Schafhirten sein Glück versuchen zu lassen.

Verfolgt von hundert gelehrten Augen betrat der Jüngling den Saal und näherte sich dem Tischstall. Hundert gelehrte Augen weiteten sich entsetzt, als sie beobachteten, wie sich der Hirte all seiner Kleider entledigte und nackt, wie man es von einem Schafhirten sehr wohl kennt, und mit einem lauten „Kikeriki“ ebenfalls unter dem Tisch verschwand.

Stunden später flüsterte die Prinzessin ihrem Schafhirten ins Ohr: „Das Ei wäre gelegt. Was hältst du davon, wenn wir zum Brüten nach Florida fliegen?!“

Das fand der Schafhirte eine wirklich fabelhafte Idee.

Als sie nach rund einem Jahr wieder in das Königreich zurückgekehrt waren, ward dem König und der Königin ein wunderschöner Enkelhahn geboren!

Die ganze Welt im Fingerhut

Eines Tages kam ein Bäckerbursche völlig durcheinander in die Backstube und rief: „Ich bin soeben dem schönsten Mädchen der Welt begegnet!“ „Oho“, lachten die anderen Bäckerburschen. „Wie heißt sie? Wo wohnt sie? Und was treibt sie so den ganzen Tag?“

„Ach, was soll ihr Name. Ich kenne ihre Augen! Kenne ihre Stimme! Das reicht!“

Am nächsten Morgen kam der Bäckerbursche völlig durcheinander in die Backstube und rief: „Seid froh, dass ihr mich noch lebendig seht, es hätte auch anders kommen können.“ Die Freunde rücken näher, verstehen nicht. „Ich habe sie wieder gesehen. Als ich ihr meine Liebe gestehen will, stürzen vier, fünf, sechs Soldaten herbei, prügeln auf mich ein und brüllen, wie ich es wagen könne, der Prinzessin nahe zu treten.“

„Die Prinzessin!“, ruft der Bäckerchor. „Aber sag, wie kommt es, dass du hier bist und nicht im Kerker schmachtest?!“

„Sie lächelte mich an und sagte: ‚Komm morgen auf das Schloss und trage meinem Vater dein Begehren vor.‘“Viele Stunden sitzen sie zusammen und überlegen, bis der Bäckerbursche endlich eine Lösung weiß. –

Der König kennt die Launen seiner Tochter und sieht gelangweilt auf den Mehlwurm. „Du weißt doch sicher“, beginnt er seine Rede, „was verlangt wird von denen, die Prinzessinnen begehren.“ „Ich nehme an, die üblichen drei Aufgaben“, sagt der freche Bursche und gähnt dabei.

„Das Gähnen wird dir noch vergehen, die Aufgaben werden dich dein Leben kosten!“ – Der König fährt schon ein bisschen aus dem Hermelin ... „Gern schenke ich Eurer Tochter mein Leben, nachdem ich Eure Bitten erfüllt habe. Was soll ich tun?“ Der König schäumt, die Prinzessin jubelt, und der schweigende Hofstaat grinst ... „Thema: Drachenkopf. Aber nicht einen, sondern sieben. Hast du gehört: sieben! Bis morgen früh. Und: Sie müssen frisch sein.“ Ich wusste es ja, denkt sich der Bursche, Könige sind einfallslos. Kein Wunder, dass die Drachen ausgestorben sind. Aber – wenn sie ausgestorben sind, wo krieg’ ich dann meine Köpfe her?! Zum König aber sagt er: „Reizvolle Aufgabe. Bis morgen früh!“ Und zur Prinzessin: „Nur noch Stunden trennen uns. Ich spüre schon deinen Atem auf meinen Lippen!“ Ein gebrülltes, königliches „Hinaus“ weht den Bäckerburschen zurück auf die Straße und von dort geradewegs zu seinen Freunden in die Backstube.

„Ich bringe sieben Drachenköpfe“, poltert es um sechs Uhr morgens durch das Schloss. Und an das Bett des schlafbemützten Königs bringt der Bäckerbursche sieben Drachenköpfe, frisch, duftend, gerade aus dem Rohr genommen, goldbraun und wunderhübsch anzusehen.

„Wie? Was?!“, ruft der König. „Köpfe aus Brot?“

„Ich habe Euch das gebracht, was Ihr von einem Mehlwurm erwarten könnt. Außerdem habt Ihr nichts anderes verlangt.“ Der König will schon sein Zepter auf den Kopf des zukünftigen Schwiegersohnes sausen lassen, als die Prinzessin ruft: „„Vater, endlich Drachenköpfe, mit denen sich was Nützliches beginnen lässt.“ Und sie beißt in das Gebäck, dass es nur so kracht. „Na warte, Bürschchen“, röchelt der König. „Die zweite Aufgabe wird dir nicht mehr so leicht von der Hand gehen! Vierundzwanzig Stunden gebe ich dir Zeit, dieses Rätsel zu lösen. Was ist besser als Gott, schlimmer als der Teufel, und wenn man es isst, stirbt man!“ Wieder eilt der Bäckerbursch in seinen Laden, und viele Stunden sitzen sie zusammen und überlegen, und wieder gibt es am nächsten Morgen kein Brot, und darüber werden die Leute auf der Straße langsam ärgerlich. Es ist zwei Stunden vor Ablauf der Frist, als der Meister brüllt: „Potz Blitz! Deine Liebesgeschichte bringt uns alle noch um unsere Arbeit. Nichts erledigt. Stunden versessen für nichts!“ Der Liebesbäcker hört das letzte Wort seines Meisters, sieht es mit einem Mal durch den Raum schweben, direkt auf sich zu. Und plötzlich springt er hoch und brüllt und tobt und stürzt aus dem Laden. Der König lungert siegessicher auf seinem Thron, als der Bäckerjunge in den Thronsaal schlendert. „Nun mein Freund, kommst du, dir die Schlüssel zum Kerker abzuholen?!“

„Daraus wird nichts. Nichts wird mich aufhalten, Eure Tochter in die Arme zu schließen. Nichts.“ „Was soll die freche Rede“, fährt der König hoch. „Die Antwort, rasch!“ „Nichts!“ „Nun reicht es mir aber, Soldaten, führt ihn endlich ab!“ „ Die Soldaten haben ihn schon in sicherem Griff, als der Bursche ruft: „Hört Ihr schlecht, Majestät. Ich sagte doch schon: nichts! Das ist die Antwort!“ Der König wird leichenblass, sinkt in sich zusammen, und von weitem hört er schon die Hochzeitsglocken dröhnen. Nun liegt mein Schicksal und das meines Landes in der dritten Aufgabe, denkt der König still vor sich hin. Und laut sagt er: „Ich will dir Schonung zugestehen vor der letzten und schwierigsten Aufgabe. Du wirst sie morgen zur Bearbeitung erhalten.“ Natürlich weiß jeder, dass er die Zeit nutzen muss, um seine Tochter nicht endgültig an einen Mehlsack zu verlieren. Mit tiefen Ringen unter den Augen betritt der König am nächsten Morgen den Thronsaal. Nun ist er wieder der alte, starke, mächtige, und verkündet: „Bursche! Kurz und bündig. Klipp und klar. Bringe mir die ganze Welt im Fingerhut!“ Während sich die Diener um die Prinzessin kümmern, die ohnmächtig vom Thron gerutscht war, eilt der Bäckerbursche zurück in den Laden. Dort warten schon die Freunde.

Ja, Freunde sind sie geworden, auch der Meister ist jetzt einer von ihnen.

Als sie jedoch die Aufgabe hören, sinken sie zu einem Haufen Elend zusammen. „Dieser Königkerl verlangt, was einfach nicht zu schaffen ist“, schreit der Meister in solcher Wut, dass die letzten wenigen Kunden, die noch kommen, fluchtartig das Geschäft verlassen. Der Bäckerbursche schleicht hinaus, unter die Menschen, vielleicht hält die Liebe für ihn die Antwort irgendwo bereit. Da sieht er plötzlich in einer Gasse eine Menge Leute, große und kleine, in einem Kreis zusammenstehen. Er streckt den Hals, stellt sich auf die Zehenspitzen, und dann sieht er, was dort vor sich geht: Ein Geschichtenerzähler steht an einer Ecke und erzählt. Und hält dabei etwas in seiner Hand. Als der Bäckerbursche sieht, was sich da zwischen den Fingern des Erzählers dreht, schießt es glutheiß durch seinen Körper. Der Bäckerbursche betritt den Thronsaal in der schneeweißen Tracht der Bäcker. Hinter ihm die Freunde, allen voran der Meister. „Respekt“, flüstert der König seiner Tochter zu, „er teilt den Schmerz mit seinesgleichen. Das erste Mal, dass mir an ihm etwas gefällt.“ Der Bäckerbursche fühlt sich stark und mächtig wie noch nie zuvor in seinem Leben. Was, so denkt der König, der dies spürt, und kalter Schweiß erscheint auf seiner Stirn, hat das zu bedeuten? Und eine schreckliche Ahnung schleicht sich durch den königlichen Körper, als er sieht, wie der Bäckerbursche einen Schritt zur Seite tritt und seine Freunde es ihm gleichtun und mit einem Mal der Mann, der Geschichtenerzähler von der Gasse, in der Mitte steht.

Nun haben sich die Augen des Königs zu schmalen Sehschlitzen verengt. Was hat dieser Mann mit der un-lösbaren Aufgabe zu tun?

Und plötzlich haben die königlichen Augen etwas an der rechten Hand des Fremden entdeckt – einen Fingerhut. Der Mann geht nun langsam auf den König zu, und als er vor ihm steht, zieht er den Fingerhut von seinem Finger und beginnt langsam, ihn zu drehen.

„Die ganze Welt steckt in diesem Fingerhut!“ Und mit diesen sieben Worten hat er bereits sein Netz aus feinen Fäden über alle Menschen im Saal geworfen.

Außer über den König, der ein letztes Mal brüllen wird: „Das musst du mir erst beweisen!“ „Sobald Ihr, mein König, bereit seid, werde ich damit beginnen.“ Der König setzt sich, und der Erzähler beginnt.

Genau neununddreißig Tage wird es dauern, unterbrochen nur von Mahlzeiten und von dem, was auch Monarchen wieder von sich geben müssen, dann wird der König, ein anderer Mensch geworden, die Hand seiner Tochter in die des Bäckerburschen legen. Der König aber wird, nun gefangen von den feinen Fäden, niemals mehr aufhören, den Geschichten des Erzählers zu lauschen ...