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Michael Krüger

Das Irrenhaus

Roman

„Wahrheit ist das, was an der Geschichte

vorbeigeht und was die Geschichte nicht merkt.“

Leo Schestow, Von der zweiten Dimension des Denkens

„Ich kannte einen, der wollte wohl aus sich heraus, aber das gedieh nicht. Im Versuch, umgänglich zu sein, wurde er schief, verstummte wieder. Doch ­dazwischen geschah manches, dem man merkwürdig ansah, wie es lebendig sein wollte und doch immer anders wurde.“

Ernst Bloch, Die unmittelbare Langeweile

1

Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich mich mit Hingabe langweilen. Ich habe in den vergangenen zwanzig Jahren alles Spekulative zur Langeweile gelesen, von den antiken Griechen bis zu Heidegger, ihn sogar mehrere Male, herrlich und nie übertroffen in seiner Klarheit und sauertöpfischen Pedanterie. Aber es ist etwas anderes, sich theoretisch mit Langeweile zu beschäftigen, als sich ihr auszusetzen. Kann man sich zur Langeweile entschließen? Ein Leergelassensein von der Welt, das wollte ich erreichen.

Ich hatte den Eindruck, das Leben sei mir zu nahe gekommen, unsichtbar zwar, aber doch bedrängend. Ich sollte mich ständig äußern, entscheiden, einen geraden Weg einschlagen. Ich sollte sagen, wer ich war und wer ich eines Tages sein wollte. Aber es war mir vollkommen unmöglich, eine Antwort auf die immer unangenehmer werdenden Fragen zu geben. Ich war weder besonders schlau, noch hatte ich starke Meinungen, kaum feste Überzeugungen und fast keinen Glauben, nur ein flüchtiges Staunen darüber, wie rasch und unkompliziert sich andere Menschen den Launen anpassen, die auf geheimnisvolle Weise in die Welt treten, sie eine Weile beherrschen und dann wie von selbst wieder verschwinden. Manchmal, wenn ich aus dem Fenster starrte, kam ich zu der nicht besonders bemerkenswerten Ansicht, zu neunzig Prozent aus Routine zu bestehen; diese Routine hielt mich am Leben. Und die restlichen zehn Prozent? Ich war mir nicht sicher, ob diese zehn Prozent an einem Spiel teilnahmen, dessen Spielregeln ich nicht kannte, oder ob ich über sie als Werkzeug der Lebensordnung, meines Lebens, verfügen konnte. Mit anderen Worten, mit jedem Tag, den ich auf der Welt war, nahm meine Unsicherheit zu. Von einer irgendwie fest umrissenen Identität konnte bei mir nicht die Rede sein; ich besaß nicht einmal den Ehrgeiz, eine zu haben.

Ich fand es immer unerträglicher, mit dem Bus oder mit der U-Bahn zu fahren und den Menschen in die Augen zu blicken. Sogar das Einkaufen im Supermarkt gleich gegenüber fiel mir schwer. Wenn ich mit meinem Einkaufskorb in einer Schlange stehen musste und gezwungen war, schrittweise vorzurücken, immer meinen Vordermann oder eine Vorderfrau im Blick, wenn ich in die fremden Körbe schauen musste, auf die trostlosen fettarmen Joghurts, auf Kekse und Zigaretten und Deodorantflaschen, stellte ich mir zwangsläufig das Leben dieser Menschen vor und wurde sofort von einem Schwindel ergriffen, von einem so überwältigenden Lebensentzug, dass ich oft genug meinen Korb einfach in das nächste Fach stellte und fluchtartig den Laden verließ. Es kam mir nichts mehr zu Hilfe, meine innere Sehkraft versagte, es blieb nur der leere Blick, dem es nicht gelingen wollte, in einer größeren Tiefe Halt zu finden. Es war bestürzend, an der sogenannten Fleischtheke zu stehen und auf die blassen Hühnerschenkel zu glotzen; und es war lebensvergiftend, zwischen fünfzig verschiedenen Haarwaschmitteln wählen zu sollen. Der Moment der Intensität, den andere verspürten, wenn sie einkaufen gingen, shoppen, war in mir zu einem Klumpen geronnen, der mir den Atem nahm. Es sprach nichts zu meinen Gunsten, das war die einzige Einsicht, zu der ich mich umstandslos bekennen konnte. Aber ich war doch noch am Leben und wollte unbedingt am Leben bleiben!

Ich stellte mir vor, dass die Langeweile, die ich mir verordnet hatte, mich wieder stärken würde, um halbwegs aufrecht durch die Straßen gehen zu können. Ja, ich wollte, wie man so schön leichtfertig sagt, mein Leben ändern, indem ich zunächst einmal alle falsche Vitalität, alles stumpfsinnige Mitmachen aus meinem Körper austreiben wollte. Keine Arbeit, keine Verpflichtung, keine Verantwortung, das war mein Minimalprogramm. Natürlich ist es nicht möglich, sein Leben wirklich zu ändern, so wie es unmöglich ist, aus der Hölle einen Garten Eden zu machen. Aber ich wollte es wenigstens versuchen. Ich hatte mich mein ganzes bisheriges Berufsleben lang immer gründlich gelangweilt, aber das war etwas anderes; jetzt wollte ich die prinzipielle oder existenzielle Langeweile erfahren, das reine Am-Leben-Sein und sonst nichts.

Seit mir dank der Großzügigkeit des deutschen Erbrechts von der Tante einer Tante kürzlich ein Haus überschrieben worden war und ich nun von den Mieteinnahmen von sechzehn Parteien lebte, ohne selber Miete zahlen zu müssen, konnte ich es mir leisten, über so unklare philosophische Tatbestände wie Lange­weile nachzudenken. Natürlich ist der Fragenkatalog, den ich während der ausgiebigen Lektüren angefertigt habe, lang und einschüchternd. Das ist immer so bei den grundlegenden Dingen des Lebens: Hat man alles Erreichbare über das Böse oder das Schöne oder das Glück studiert und alle Wiederholungen eliminiert, bleiben ein paar Seiten handfestes Material übrig, aus dem man, wenn man dazu in der Lage ist, etwas Neues formen kann. Das war bei der Langeweile (und auch bei Heideggers Vorlesung über die Langeweile) nicht anders. Hat man letzthin irgendetwas Neues über den Menschen erfahren? Zu einer Definition dieser fundamentalen Daseinsleere wird es, das ist gewiss, in naher Zukunft nicht kommen, dazu fehlte den optimistischen Philosophen der Mut, weshalb ich mich umso intensiver mit der praktischen Erfahrung von Langeweile beschäftigen konnte.

Ich tat nichts. Jedenfalls nichts, was als Tat gewürdigt werden konnte, als Lebensbeschäftigung oder auch nur als sinnvolle Tätigkeit.

Die Mieteinnahmen wurden von einer Hausgesellschaft mit sehr beschränkter Haftung eingezogen und nach Abzügen an mich überwiesen, für Reparaturen war ein Hausmeister zuständig, der im Winter auch für die Beseitigung des Schnees sorgte. Meine Stellung als Archivar in einem Zeitungsverlag hatte ich sofort gekündigt, als mir die frohe Botschaft übermittelt worden war, dass die Tante meiner Tante, in Ermangelung eigener Nachkommen, ausgerechnet mir ihr Haus vererbt hatte. Ich hatte diese Frau – die in Grünwald bei München zwischen Fußballern und windigen Geldspekulanten ein zweifelhaftes Leben führte, das schon häufig Gegenstand übler Kommentare in der Klatschpresse gewesen war – nie in meinem Leben gesehen; oder eben nur auf Fotos, auf denen sie im Kreise ebendieser Fußballer, Moderatoren und Moderatorinnen und sogenannter Schauspieler auf einem Boot auf einem deutschen See oder auf dem Meer vor Marbella oder einem ähnlichen Ort abgebildet war. Meine Tante hatte mir diese Fotos gezeigt, ich selber wäre nie auf die Idee gekommen, mir freiwillig so etwas anzuschauen. Natürlich hatte die Tante meiner Tante das Geld für ihr liederliches Leben nicht selber verdient, sondern es war ihr, nach dem bis heute ungeklärten Tod ihres Gatten, eines im ganzen Land gefürchteten Immobilienmaklers, gewissermaßen in den Schoß gefallen. Der Mann war eines Winterabends nackt in seinem leeren Swimmingpool gefunden worden, nur mit Handschellen bekleidet, in seinen Armen sein Hund, der eigentlich hätte eingeschläfert werden sollen, weil er kurz vor seinem zu frühen Tod ein kleines Mädchen mehr oder weniger verunstaltet hatte. Warum der Hund nicht sofort nach der Attacke auf das Mädchen – das übrigens Cordula hieß, dieser Name hat sich mir eingebrannt – eingeschläfert worden war, beschäftigte über Wochen die weniger seriösen Zeitungen, ebenso wie die Frage, warum der Immobilienmakler, der schon vor seinem Ableben immer nur der Immobilien-­Hai genannt wurde, nicht längst hinter Gittern saß, wo er nach übereinstimmender Meinung, auch der ­seriösen Zeitungen, hingehörte. Tatsächlich war es ein Rätsel, wie der Sohn eines Fahrradladenbesitzers aus Giesing es geschafft hatte, ganze Straßenzüge in der Innenstadt sich unter den Nagel zu reißen und obendrein noch Aktienpakete an allen möglichen Medienunternehmen aufzukaufen, von anderen hellen und dunklen Geschäften abgesehen. Zum Ärger einiger Journalisten hatte er seine Doktorarbeit über Schumpeter offenbar selber geschrieben; aber unmittelbar nach Abschluss seiner Studien muss in ihm etwas aufgebrochen sein, jedenfalls ließ er plötzlich ein anderes Leben zu, das dann seinen Charakter bestimmte. Es war sein Ehrgeiz, alles zu verwirklichen, wozu er fähig war, auch wenn ihm dieser Ehrgeiz einen frühen Tod beschert hatte. Warum und wie dieser gewaltige und zu Gewalt neigende Ehrgeiz in ihm ausgebrochen war, darüber durfte, wie meine Tante behauptete, nicht nachgedacht werden, weil es „den Kern der Sache“ betraf. Auf jeden Fall gab es Gerüchte, dass einige seiner ebenso starken Konkurrenten sich mit ihm in einem Spiel auf Leben und Tod gemessen hatten. Und da es um riesige Bebauungsflächen am östlichen Stadtrand ging, war von Bestechungen in einem Ausmaß die Rede, die einen Mord als folgerichtige Begleiterscheinung aussehen ließen. Das Foto des mit Handschellen gefesselten nackten Mannes, der in seiner letzten Minute seinen Hund umarmt, hatte sich in meinem Kopf verhakt. Es blieb von ihm übrig. Das Labyrinth seiner dunklen Geschäfte verfiel langsam, die Erzählungen über seinen märchenhaften Aufstieg gerieten ins Stocken, plötzlich war er nur noch einer von denen, die es geschafft hatten, und dann gefallen war. Am Ende der nackte Mann mit dem Hund, ein innigeres Bild ließ sich kaum denken.

Ein Bild, das durch nichts ersetzt werden konnte.

Wie der schon aussieht!, hatte meine Tante immer wieder ausgerufen, wenn das feiste Gesicht des Hais in der Zeitung abgebildet war, mit den ekligen langen fettigen Haaren, die sich auf dem Hemdkragen wellten. Das ist nicht Fett, sondern Gel, belehrte ich bei solchen Gelegenheiten meine Tante, er hat sich eingegelt oder vergelt. Irgendwie fand ich es übertrieben, wenn meine Tante über den von Gel geradezu überschütteten Mann ihrer Tante so einseitig abwertend sprach, weil man ja nie wissen konnte, ob man sich nicht eines Tages in prekärer Lage an den Hai würde wenden müssen. Immobilien waren knapp und teuer, und meine Arbeit als Archivar war mehr als gefährdet, weil das Internet große Teile meiner Arbeit überflüssig gemacht hatte – was sich Gott sei Dank nur noch nicht bis in die Verlagsspitze hinaufgesprochen hatte. Ich hatte mir früher manchmal vorgestellt, Pressesprecher in einem der Medienunternehmen des Hais zu werden, in einer der Fernsehproduktionsanstalten, die für ihre miserablen Programme berühmt waren und deshalb vor allem von unserer Staatsführung geliebt wurden. Seine herzlichen Beziehungen zu Politikern waren bekannt.

Immer unterstes Niveau, war seine Devise: Bibel, Kreuzzüge, Bismarck, Drittes Reich, aber bitte immer auf niedrigstem Niveau.

Die Arbeit im Zeitungsarchiv war ja mehr oder weniger abgeschlossen, was noch zu erledigen war, wurde elektronisch eingespeist und verlinkt. Es kam vor, dass ich wochenlang keinen Redakteur in meinem Büro empfangen durfte und eigentlich nur noch beschäftigt war, wenn etwas ganz Eiliges nachgeschaut werden musste. Der Anschlag auf das Oktoberfest – ­alles raussuchen! Aber in der Hauptsache las ich Bücher zur Zeitungsgeschichte oder eben die Doktorarbeit des Hais über Schumpeter, der übrigens als Unternehmer nicht so viel Glück hatte wie der Hai. Als Praktiker hatte der geniale Theoretiker versagt.

Warum die Tante meiner Tante sehr viel jünger war als meine Tante, war nicht mehr schlüssig nachzuvollziehen, weil beide Tanten unter mysteriösen Umständen kurz hintereinander begraben werden mussten, nebeneinander, und sowohl das Geheimnis ihres Tantenseins wie das Geheimnis der Übereignung des Mietshauses auf mich mit ins Grab genommen haben. Meine Tante, die auch schon bessere Tage gesehen hatte und sich zuletzt als Kunstpädagogin in den gehobenen Kreisen durchschlug, wusste etwas Nachteiliges über ihre Tante, und als sie ahnte, dass sie sterben musste, hat sie ihre jüngere Tante ganz einfach erpresst.

Hoffentlich ist dieser miese Charakterzug nicht im Erbgut verankert.

Aber warum war ich der Nutznießer dieser Erpressung? Ich konnte nicht einmal sagen – was vor dem Notar peinlich genug war –, in welchem Tantenverhältnis meine Tante Sonja zu mir stand. Ich wusste nur, dass sie von der Seite meiner Mutter in mein Leben gerutscht war. Damals war sie mit einem Versicherungsvertreter verheiratet, Onkel Hans, der sich als versierter Versicherungsbetrüger einen Namen gemacht hatte, so dass sie ihr Haus, ebenfalls in Grünwald, hergeben mussten und nie mehr auf die Beine kamen. Onkel Hans, ein gutmütiger, pausbäckiger Westfale, dessen oberste Lebensweisheit lautete: Man muss auch mal Fünfe grade sein lassen, nahm sich dann das Leben, er erhängte sich an einem Dachbalken. Meine Tante schob das ganze Unglück ihres Lebens auf Onkel Hans. Manchmal saß sie, übernächtigt, mit tränenden Augen, im Morgenrock am Frühstückstisch, die Hände neben dem Teller wie Besteck, und klagte diesen Versager an, diesen vermaledeiten Faulpelz, der einzig und allein an Geld geglaubt hatte und angeblich wusste, wie man es beschaffen ­konnte. Die Last der Erinnerung und die Last der bösen Worte, die sie ausstieß, ließen nach kurzer Zeit ihren Kopf sinken, so dass am Hals über der Wirbelsäule ihr ­Tattoo zum Vorschein kam, eine Fledermaus mit weit ausgebreiteten Flügeln, und da die Tante am Ende ihrer Tiraden gegen den Onkel immer zu weinen begann, sah ich die auf der Stelle hüpfende Fledermaus und war immer wieder fasziniert. Kaum hatte das Elend sie gebeugt, erschien der Blutsauger.

Ich zog, aus Kostengründen und weil mir nichts Besseres einfiel, mit Tante Sonja zusammen. Wir lebten in ihrer Zweizimmerwohnung in Schwabing, doch als die kunstpädagogischen Sitzungen zunahmen, war es nicht mehr zu rechtfertigen, dass ich, selbst als sogenanntes Familienmitglied, mich immer in der Küche aufhielt und sozusagen indirekter Zeuge der Unterweisungen wurde. Umso mehr, als einige Damen und Herren aus den besseren Kreisen sich vor allem nachts kunstpädagogisch beraten ließen und Wert darauf legten, mit Tante Sonja allein zu sein.

Unter den Augen der Kinder des Hais aus drei vergangenen Ehen – allesamt Menschen, die sich gerne für Klatschblätter fotografieren ließen und als Beruf Model oder TV-Produzent angaben – wurde mir dann das Schmuckstück in bester Lage zugesprochen, während die Kinder mit Immobilien auf Mallorca und Ibiza vorlieb nehmen mussten oder sogar lediglich mit einer Yacht abgespeist wurden, was zu heftigen Protesten führte. Ich kannte diese Menschen nicht und verspürte auch keine Neigung, sie kennenzulernen, obwohl von ihrer Seite aus durchaus eindeutige Signale ausgesandt wurden. Warum sollte ich sie treffen? Eines der Mädchen aus einer früheren Ehe des Hais hatte Asthma und hing die ganze peinliche Zeremonie über an ihrer Spraydose, die selber ein seltsam asthmatisches Geräusch machte; ein anderes Mädchen hatte sich kürzlich bei einem in der Presse lang und breit diskutierten Streit mit ihrem neuen Freund im Beisein ihres alten Geliebten im Gesicht verbrüht und war mit einer Art Turban erschienen. Die Jungen dagegen hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Hai, bullige Typen, aber keiner von ihnen sah so aus, als hätte er schon einmal den Namen Schumpeter gehört. Sie sahen eher so aus, als hätten sie sich darauf verlassen, dass der Vater noch eine Weile lebt und das Vermögen ordentlich vergrößert, so dass sie eines fernen Tages, mit Mitte fünfzig, das Ganze erben würden, um es gut verkaufen zu können. Seelisch schien keiner belastet zu sein, nur die Länge der Verlesung des Testaments machte ihnen zu schaffen und der in ihren erstaunten Augen geringe Wert des Erbes: Da arbeitet unser Vater unter Einsatz aller legalen und illegalen Mittel sein ganzes Leben lang, um uns ein sorgloses Leben zu ermöglichen, und am Ende bleiben, nach Abzug aller Steuern, nicht einmal hundert Millionen übrig, die noch dazu erst in Jahren flüssig zu machen sind.

Warum die Tante der Tante das Testament geändert hatte und ich, der vollkommen Fremde in dieser Gesellschaft, nun dieses Mietshaus der Familie erben sollte, wollte ihnen schon gar nicht in den Kopf. Während der Notar mit der eintönigsten Stimme der Welt das Testament verlas, klopfte er mit dem Daumen der linken Hand, an dem er eigenartigerweise einen dicken Goldring trug, im Rhythmus des Sprechens auf den Schreibtisch, von dem nach und nach eine dicke Staubschicht aufstieg, die zitternd über der Tisch­platte stand.

Ich hatte nach Erledigung aller Formalitäten so schnell wie möglich das Haus übernommen, war in eine freie Wohnung im vierten Stock eingezogen, verzichtete auf ein Namensschild an der Tür und ließ auf dem Briefkasten nur Initialen anbringen, um meine Anonymität zu wahren. Ich kannte keinen im Haus, keinen im Viertel. Ich war Hausbesitzer ohne soziale Verpflichtungen.

In meiner Familie, soweit ich sie kannte, reichte der Ehrgeiz nicht aus, selber ein Mietshaus zu erwerben. Manche hatten es zu einer Eigentumswohnung gebracht oder zu einem Schrebergartenhäuschen – zu einer Laube –, und von einem Onkel war manchmal die Rede gewesen, der in einem Außenbezirk von Göttingen ein Haus erworben haben sollte, allerdings hatte keiner in der Verwandtschaft das Haus je gesehen. Aus Neid wurde aus dem Onkel sehr schnell ein entfernter Verwandter, dann ein sehr entfernter Verwandter, der das Geld für das Haus sicher aus trüben Quellen gefischt hatte.

Ich war also der Erste in der Familie, dem ein großes Haus gehörte. Aber es gehörte mir noch nicht, ich hatte aus guten Gründen noch nicht von ihm Besitz ergriffen. Ich zog in meine neue Wohnung und las. Bestimmte Sätze, die ich mir merken wollte, schrieb ich auf kleine Zettel, die ich überall in der Wohnung anbrachte. „Was wir tun können, hängt nicht von uns ab, aber von uns hängt es ab, dass wir es tun. Die Freiheit nur erklärt den Misserfolg“, dieser Spruch hing gleich neben der Eingangstür, den Namen seines Verfassers habe ich vergessen.

Neben meinen philosophischen Lektüren quer durch die Jahrhunderte und die Denkschulen hörte ich noch Musik. Seltsam, für welche Musik man sein Leben geben würde, wenn man nicht unter Druck steht! Ich entdeckte den finnischen Komponisten Jean Sibelius für mich, dessen schwermütiges, pathetisches Melos meine Wohnung und mein Herz füllte.

Es gab wohl nur wenige Menschen auf der Welt, die sich diesen Luxus leisten konnten, Bücher, Musik, Nichtstun. Ich fühlte eine tiefe Dankbarkeit meinem Leben gegenüber.

2

Ich war nicht mehr der, der ich einmal gewesen war. Die Sorge hatte sich aus meinem Leben entfernt, still und leise, eine sorgenlose Zeit begann. Die wenigen Dinge, die ich aus meinem kleinen Apartment in die große Altbauwohnung transportiert hatte, standen verloren herum, als müssten sie sich erst an die neue Raumordnung gewöhnen. In einem der sechs Zimmer stand nun der Küchentisch mit zwei Stühlen aus Plastik; in einem anderen hatten meine Bücher, zu Haufen geschichtet, Platz zum Atmen. Gewöhnlich hielt ich mich in der Küche auf, auch hier gab es einen uralten Tisch und drei Stühle. Mein Vormieter, ein Schriftsteller, von dem noch die Rede sein wird, hatte die Küchentür aus den Angeln gehoben und als Arbeitsplatz benutzt. Statt einer Tür gab es jetzt einen farbigen Perlenvorhang, der so schmutzig war, dass er auch als Fliegenfalle durchgehen konnte. Es gab keine Zeit mehr, keine Sorge. Manchmal blieb ich bis zum Nachmittag auf meinem Bett liegen, mit nichts beschäftigt, und genoss die Langeweile, die sich wie ein dicker Filz in der Wohnung ausbreitete. Natürlich fragte ich mich schon in den ersten Tagen des Nichtstuns, wie lange ich diesen Zustand wohl aushalten würde, wann das Glücksgefühl, nicht gebraucht und nicht benutzt zu werden, umschlagen würde in die nackte Angst, wann das Alleinsein mich an- und auffressen würde. Der „große Brunnen des Schweigens“, den ich mit Musik füllen wollte, dehnte sich in allen Zimmern aus, bald würde es keinen Platz mehr geben für ein Gespräch. Aber es gab keinen Gesprächspartner. Es gab Tage, an denen ich kein Wort wechselte. An denen ich ausschließlich mit mir selber sprach.

Da ich keinen Nachsendeantrag gestellt hatte, bekam ich – außer den viel zu vielen Briefen und Päckchen an meinen Vormieter – keine Post mehr, auch das Telefon blieb, bis auf gelegentliche Versuche, mein Nichtstun zu unterbrechen, still. Die Zeit der Klagen über meinen Beruf, über das lausige Geld, das mir die Zeitung bezahlte, über die Enge meines Zimmers, die verpassten Möglichkeiten – alles vorbei.

Schon nach wenigen Wochen mit meiner neuen Lebensart konnte ich mir kaum noch vorstellen, einmal anders gelebt zu haben. Ich war selber verblüfft, wie schnell eine bestimmte Lebensform durch eine vollkommen andere ersetzt werden konnte. Der merkwürdige Zwang, ein guter Mensch müsse um sieben Uhr aufstehen, um gegen acht in seinem Büro zu erscheinen, fiel wie ein böser Zauber von mir ab. Keine Gespräche mehr über das Fernsehprogramm, über sportliche Betätigungen, über Urlaubsziele und ihre Verfehlung. Kein Wort mehr über richtige Ernährung, über die Vorzüge des Fahrradfahrens, ausreichende Bewegung. Keine Klagen mehr über verspätete Züge, nicht gestreute Straßen, die Smartphone-Generation, den ständig wechselnden Chefredakteur und die angepasste Arbeitnehmervertretung. Alles, was mein Leben ausgemacht hatte, kam plötzlich nicht mehr zur Sprache. Es war nicht mehr mein Leben.

Früher hatte ich Städtereisen gebucht, um Frauen kennenzulernen. Ich war mit dreißig älteren Herrschaften durch Dresden gezogen und hatte die Wunderwerke von Semper bestaunt oder in Hamburg den Hafen. Wie groß die Containerschiffe heute sind, hatte eine Dame gerufen, als wir an einem großen Containerschiff vorbeifuhren. Und überall tote Menschen drin. Ich war sogar nach Minsk gefahren, nach Kiew und nach Lwiw, aber dort fand ich es noch beklemmender als zu Hause. Ich wollte es mit Istanbul und der Elfenbeinküste versuchen, war aber in meinem alten Leben nicht mehr dazu gekommen. Ich hatte mit meiner Reisegruppe in Dresden keine Erfahrungen für mein Leben gemacht, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass einer aus der Gruppe eine existenzielle Erfahrung im Hamburger Hafen ­gemacht hatte. Wahrscheinlich muss man Hafenarbeiter sein oder doch der Sohn oder wenigstens Enkel eines Hafenarbeiters, um den Hamburger Hafen mit seinen großen Containerschiffen richtig genießen zu können. Der einzige Ertrag meiner preiswerten Wochenendstädte­reisen war, wenn man so sagen darf, dass ich eine der im Bus sich besonders aufdringlich aufführenden Damen nach der Rückkehr zum Essen ausführen musste, um mir dann wie ein verspätetes Echo noch einmal anhören zu müssen, wie großartig der Semper gewesen sei in Dresden und wie eigentümlich groß die Containerschiffe im Hamburger Hafen. Ich selber wurde nie eingeladen.

Ich war glücklich, dieses Leben nicht mehr führen zu müssen.

Ich war dankbar dafür, nicht mehr ins Büro gehen zu müssen.

Aber noch dankbarer war ich dafür, mich nicht mehr beteiligen zu müssen.

Manchmal ging ich bei einem Italiener um die Ecke einen Teller Spaghetti Carbonara essen und kaufte dem pakistanischen Zeitungsmann die Zeitungen ab, die ich dann durchblätterte. Mord und Totschlag, Folter und Korruption, Kriege und Flüchtlingsströme, schlechte Mozart-Aufführungen und miserable Ausstellungen moderner Malerei, ungenügende Fahrradwege und überall Stau. Es war erstaunlich, wie viele Worte es für das Böse gab, und noch erstaunlicher, dass die Welt überhaupt noch existierte. Von Aufklärung und Vernunft wurde nur noch gesprochen, weil sie fehlten. Überall Schmutz. Und nichts ist schmutziger als verkleidete Sauberkeit.

Eigentlich bestand die Zeitung nur noch aus der Darstellung und Interpretation des Bösen, sogar die früher bösefreien Seiten wie der Sport und die Bildung trieften nur so von Häme, übler Nachrede und Vorwürfen: Alle Sportler waren gedopt, und alle Bildungspolitiker waren bestochen oder hatten ihre Doktorarbeiten abgeschrieben oder illegal ihre Frauen beschäftigt oder – das schlimmste Übel – eine neue Schulreform beschlossen. Wer unvoreingenommen eine Zeitung las, musste zu der Einsicht kommen, dass die Welt nicht mehr zu retten war. Über jeder zaghaft positiven Notiz stieg ein Gewitter auf, eine Flutwelle, eine von Blitzen durchzuckte Dürreperiode, und wo die Natur schon zu schwach war, um sich noch zu wehren, schlugen Menschen alles in Stücke, was von ihnen zeugen sollte. Man durfte, ohne als Vereinfacher bezichtigt zu werden, die Welt als verloren bezeichnen.

Eines Tages, sagte ich zu dem italienischen Wirt, der mir manchmal Gesellschaft leistete, wird die Welt sich schütteln und die Menschen abwerfen, dann ist Schluss mit der Zivilisation. Der Wirt lachte. Immer bleibt einer übrig, sagte er, und der will seine ­Spaghetti und ein Glas Wein haben, also muss es einen zweiten geben, der sie ihm bringt, und ein dritter muss abwaschen. Und wo zwei oder drei zusammenstehen, gibt es auch eine Frau, und dann fängt alles von vorne an. Er hatte, als Sizilianer, ein Urvertrauen in die Beständigkeit der Welt, und jede Bosheit, die in der Zeitung breitgetreten wurde, war ihm der Beweis dafür, dass es weitergehen würde. Wenn ich sagte: Donnerwetter, die Polkappen schmelzen, dann war er der Ansicht, dass man das Wasser in die Sahara pumpen solle, und wenn das halbe Australien in einem Feuersturm unterging, behauptete er, das sei fabelhaft für das ökologische Gleichgewicht. Kriege waren gut für die Nachkriegszeit, Katastrophen machten wachsam und die Kultur insgesamt wurde seiner Meinung nach überschätzt. Und die Vernunft? Ich bitte Sie, sagte er dann müde, wer glaubt noch an die Vernunft, wenn er ohne sie einen Vorteil hat.

Und der Tod?, fragte ich ihn. Darüber reden wir später, sagte er und brachte einen Grappa „aufs Haus“.