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Edith Kneifl

Tot bist du mir lieber

Die Drei vom Naschmarkt ermitteln

Für Maria

2.

Es dauerte genau zwei Gläser Prosecco lang, bis Britta Faber begann, uns ihr Herz auszuschütten. Sie sprach sehr schnell, ich kam mit meinen Notizen kaum nach. Zuerst beschrieb sie uns den Mann, der sich René genannt hatte, mit blumigen Worten. Später schreckte sie nicht einmal davor zurück, uns die exakte Größe seines Penis zu verraten. Ich notierte sie sicherheitshalber, man konnte ja nie wissen. Da ich mich bisher nie für Penisgrößen interessiert hatte, fragte ich mich, ob es sich bei 18,5 cm um eine Durchschnittsgröße oder um ein Extralarge-Exemplar handelte. Elvira würde mir diese Frage sicherlich beantworten können – sie war weitaus erfahrener als ich, was das männliche Geschlecht betraf.

„Was hat er für einen Beruf angegeben?“, unterbrach ich meine Klientin schließlich.

„Er ist selbstständig, ist, glaube ich, in der IT-Branche tätig. Sein Job hat mich nicht besonders interessiert, wie Sie sich denken können.“

„Ich nehme an, wir können davon ausgehen, dass dieser René seine privaten und beruflichen Angaben so häufig gewechselt hat wie seine Unterwäsche. Wahrscheinlich hat er unter verschiedenen Namen diverse Online-Profile angelegt.“

„Er ist also Ihrer Meinung nach ein professioneller Betrüger? Eine Art Heiratsschwindler, wie man früher gesagt hätte?“ Ein harter Zug erschien um ihren Mund. Auch die Art, wie sie ihre Hände zu Fäusten ballte, bis die Fingerknöchel weiß hervortraten, verriet, dass sie wütend war. Sehr wütend.

„Das ist anzunehmen. Ist Ihnen irgendetwas Besonderes an ihm aufgefallen?“

„Er konnte zuhören. Das ist eine Seltenheit bei Männern. Und wenn ich es mir recht überlege, war er psychologisch sehr versiert. Ich hatte den Eindruck, dass er mich versteht …“ Ein verträumter Blick. Ein heftiges Zucken um ihren Mund. Ein paar Tränen.

„Ich werde Ihnen Ihr Geld wiederbeschaffen oder das, was davon übrig ist“, beteuerte ich. Und traf mit dieser Bemerkung voll daneben.

„Darum geht’s nicht!“, fauchte sie mich an.

Rasch schenkte Elvira ihr nach.

Britta war aufgestanden und marschierte in meinem Wohnzimmer herum. „Eigentlich müsste man meine Terrasse von Ihrer Wohnung aus sehen können“, sagte sie plötzlich.

Ich nahm den Themenwechsel zum Anlass, ihr endlich ein paar notwendige Fragen zu stellen: Anschrift, Telefonnummer, E-Mail-Adresse …

Ihr Penthaus in der Gumpendorfer Straße ­hatte sich Britta nach der Scheidung von ihrem zweiten Ehe­mann zugelegt. Elvira hatte bereits berichtet, dass Brittas Ex ein stadtbekannter Politiker war. Britta ließ kein gutes Haar an ihm. Trotzdem wurde ich den Eindruck nicht los, dass er gar nicht so übel war. Zumindest hatte er sie anständig versorgt, was man meinem Ex ja nicht nachsagen konnte. Brittas Ehen waren – wie auch meine – kinderlos geblieben. Trotzdem schien ihr zweiter Mann eine Menge Unterhalt zu bezahlen. Zwischen ihren Silikonbrüsten baumelte ein kleiner Brillant­anhänger. Ihre mit Swarovski-Perlen bestickten Ballerinas deuteten ebenfalls nicht auf eine Sozialhilfeempfängerin hin.

Meine erste Klientin war mir nicht sympathisch. Sie schien jedoch finanziell potent zu sein. Und nur das zählte momentan.

„Wie heißt die Partnervermittlungsagentur, über die Sie René kennengelernt haben?“, fragte ich.

Wahre Liebe.“

Ich konnte mich nicht länger beherrschen. Vielleicht war der Prosecco schuld, dieses Sprudelzeugs bekam mir nicht. Verursachte Kopfschmerzen und machte mich schnell betrunken. Jedenfalls lachte ich lauthals los.

Elvira schaute mich böse an, Britta erstarrte.

„Sie halten mich für naiv und leichtgläubig, stimmt’s?“ Ihr trauriger Blick ließ mich sofort verstummen.

„Nein, nein, verzeihen Sie bitte“, beteuerte ich. „Wahre Liebe? Fällt diesen Agenturen denn nichts Originelleres ein?“

„Die meisten haben englische Namen, die klingen cooler, ist aber alles derselbe Mist. Da finde ich so eine Herz-Schmerz-Bezeichnung ehrlicher“, bemühte sich Elvira um Schadensbegrenzung.

„Ich bin leider eine total unromantische Frau“, murmelte ich.

„Glauben Sie, dass Sie ihn finden werden?“, fragte Britta leise.

„Ich denke, ja.“ Mein Selbstbewusstsein war während des kurzen Gesprächs mit meiner ersten Klientin deutlich gestiegen. „Kennen Sie seinen Nachnamen?“

„Er hat sich als René Korda vorgestellt.“

„Haben Sie ein Foto von ihm?“

„Nein, was Fotos betrifft, leidet René unter einer Phobie.“ Britta sah zu Boden, als sie weitersprach: „Er war der einzige Mann, der meine Erwartungen erfüllt hat – zumindest im Bett. All die Männer, die ich vorher im Internet kennengelernt hatte, waren eine herbe Enttäuschung. Sie haben ihre sexuellen Fantasien, mit denen sie mich vorher am Telefon stundenlang erotisiert haben, nie in die Realität umgesetzt. Beim Chatten waren einige von ihnen sehr vielversprechend …“

Trotz Elviras warnendem Blick musste ich wieder grinsen.

„Ich will ihn zurückhaben, egal, was es kostet!“

Hatte ich richtig gehört? „Mein Honorar beträgt zweihundertfünfzig Euro pro Tag – exklusive Spesen“, sagte ich leicht irritiert. „Das Honorar für eine Woche hätte ich gern im Voraus.“

Die Honorarsätze hatten Elvira und ich gestern Abend festgelegt. Dennoch runzelte sie jetzt die Stirn.

„Und bei Erfolg eine Prämie von fün…“, ich sah Elvira an. „Für all meinen Aufwand, von, sagen wir, tau… tausend Euro.“ Meine Stimme klang nicht mehr so fest wie vorhin. „Ich nehme an, dass ich ihn in ein, zwei Wochen, spätestens in drei, ausfindig gemacht haben werde.“

„Können Sie mit Ihrem kaputten Fuß überhaupt etwas unternehmen?“

„Keine Sorge, Recherchen betreibt man heutzutage hauptsächlich im Internet und telefonisch. Ich habe jede Menge Kontakte. Sollten Beobachtungen und sonstige Nachforschungen außer Haus vonnöten sein, habe ich meine Assistenten.“

Ich verriet ihr nicht, dass es sich bei den Assistenten um Elvira und meine Nachbarin Sofia handelte, die noch nichts von dieser Ehre wusste.

„Und deren Tätigkeit verrechnen Sie mir extra?“

Anscheinend war sie nicht so betrunken, wie ich angenommen hatte.

„Selbstverständlich nicht, ihre Dienste sind in den zweihundertfünfzig Euro pro Tag inbegriffen.“

Elvira verdrehte die Augen zur Decke.

Ich beachtete meine geldgierige Mitbewohnerin nicht weiter. Diesen dicken Fisch wollte ich mir auf keinen Fall durch die Lappen gehen lassen.

„Das ist sehr billig“, konnte es sich Elvira nicht verkneifen. „Normalerweise beträgt das Honorar eines Privatdetektivs 100 bis 140 Euro pro Stunde.“

„Sollten Spesen, wie zum Beispiel Taxirechnungen, anfallen, muss ich Ihnen diese sehr wohl verrechnen“, beeilte ich mich einzuwerfen. „Wenn ich selbst jemanden verfolgen würde, müssten Sie die Taxis ja auch bezahlen.“

„Natürlich, ich verstehe“, sagte Britta. „Dann sind wir uns einig. Ich überweise Ihnen das Honorar für eine Woche heute Abend per Telebanking.“

„Mir wäre es in bar lieber, sonst müsste ich Ihnen zusätzlich die Mehrwertsteuer verrechnen.“

„Ich habe nicht so viel Geld bei mir.“

„Unten auf der Linken Wienzeile gibt’s einen Bankomat“, warf Elvira ein. Sie war mir wirklich eine große Hilfe.

„Genügen tausendfünfhundert als Vorschuss für die erste Woche?“

Ich nickte. Hoffte, dass sie nicht das Eurozeichen in meinen Augen blinken sah.

Um Haltung bemüht, erhob sich Britta von meinem durchgesessenen Designer-Sofa, geriet aber ins Wanken, als sie zur Tür ging.

Elvira eilte ihr zu Hilfe. „Ich begleite Sie, dann müssen S’ nicht noch mal die vier Stockwerke hoch …“ Ihr Lächeln war unwiderstehlich.

Kaum hatten die beiden meine Wohnung verlassen, rief ich meine Mutter zurück.

3.

Meine Mutter war eine leidenschaftliche Frau. Nach dem Tod meines Vaters war sie untröstlich gewesen und hatte ihren Schmerz ungeniert ausgelebt, mich regelrecht damit terrorisiert. In ihrem grenzenlosen Egoismus hatte Agnes gar nicht bemerkt, dass ich mindestens so sehr unter dem Verlust meines Vaters litt wie sie.

Er hatte ein kleines Fotostudio in der Webgasse betrieben. Die Lage war nicht schlecht gewesen – nur ein paar Schritte entfernt von der Mariahilfer Straße, Europas größter Einkaufsstraße. Heute machte dort ein Schnitzel-Schnellimbiss ausgezeichnete Umsätze.

Als das Zeitalter der Digitalfotografie hereinbrach, ging es mit dem Geschäft bergab. Zum Glück war mein Vater bereits im Pensionsalter gewesen und hatte rechtzeitig zugesperrt, bevor er Konkurs anmelden musste. Leider hatte er seine Rente nicht lange genießen können, zwei Jahre später war er an einem Herzinfarkt gestorben.

Agnes hatte sich mit dem Geld, das vom Verkauf des Foto-Geschäfts übriggeblieben war, ein Häuschen auf der griechischen Insel Samos zugelegt. Seither hauste sie dort in einer Community österreichischer Pensionisten. Sie hatte Malerei studiert, bevor sie meinen Vater geheiratet hatte, die Malerei aber nach meiner Geburt aufgegeben. Auf Samos hatte sie wieder zu malen begonnen. Clever, wie sie war, verkaufte sie ihre Bilder gar nicht schlecht und arbeitete mittlerweile sogar als Kunsttherapeutin. Mich beglückte sie jedes Jahr zum Geburtstag mit einem ihrer Werke. Ich fand die abstrakten, farbenfrohen Bilder meiner Mutter schlicht und einfach scheußlich und versteckte sie im Abstellraum.

Die 150 Quadratmeter große Wohnung meiner Eltern im Majolikahaus am Naschmarkt hatten Gernot und ich übernommen. Drei Zimmer, ein Kabinett, Küche, Bad und zwei Balkone. Das Wohnzimmer beanspruchte über 40 Quadratmeter, die anderen Räume waren kleiner. Aber selbst das Kabinett, das ich als Dunkelkammer nutzte, hatte zwölf Quadratmeter. Ich hatte den Raum schwarz ausgemalt und das Fenster mit schwarzem Papier zugeklebt. Den Rest nahmen Bad, Klo und eine gemütliche Küche mit einem Esstisch, an dem vier Personen Platz hatten, ein. Ein Balkon mit hübschem Jugendstilgeländer ging auf die Linke Wienzeile hinaus. In der Küche gab es einen winzigen Klopfbalkon, auf dem kaum mehr als zwei Klappsessel Platz fanden.

Eine Wand in meinem geräumigen Vorzimmer war vollgestellt mit Schränken, an der gegenüberliegenden Seite hingen gerahmte Kunstfotos, alle in Schwarz-Weiß. Hauptsächlich Landschaftsbilder, Stadtansichten und Porträts von fremden Menschen. Ich bevorzugte die Schwarz-Weiß-Fotografie, das Spiel mit Licht und Schatten, die Schärfe der Konturen, das Ungeschminkte, Farblose. Die Realität ließ sich so meiner Meinung nach am besten einfangen – man hatte das Gefühl, sie unter Kontrolle zu bekommen, sie zu beherrschen.

Meine Mutter warf mir oft vor, auch im Leben alles schwarz-weiß zu sehen. Die Meinung meiner Mutter interessierte mich jedoch nie wirklich, Agnes schwebte immer in anderen Sphären.

Die Weihnachtsfeiertage pflegte sie jedes Jahr bei uns zu verbringen. Bevor sie anrauschte, holte ich ihre geschmacklosen Bilder aus dem Abstellraum und tauschte meine Schwarz-Weiß-Fotografien gegen sie aus.

Agnes blieb meist nur zwei, drei Wochen. Länger hielt sie es ohne Meer und ihre Freunde nicht aus.

Ich besuchte sie ein- bis zweimal im Jahr auf Samos. Allein. Gernot hasste Fliegen. Meist flog ich an einem der langen Wochenenden im Mai zu ihr, manchmal auch eine Woche im Oktober, wenn es in Wien kalt und nass war, während man auf Samos noch im Meer schwimmen konnte. Ich kannte diese Insel seit meinem vierten Lebensjahr. 1976 hatten meine Eltern zum ersten Mal ihren Urlaub auf Samos verbracht. Agnes hatte sich damals in diese grüne Insel verliebt und war danach fast jeden Sommer mit mir dorthin gefahren, mit oder auch ohne meinen Vater.

Agnes war eine typische Altachtundsechzigerin, rauchte gerne Joints, kleidete sich wie ein Althippie und trug ihr graues Haar schulterlang. Sie hatte mich bei meiner Scheidung vor Gernots Tricks gewarnt. Ich hatte leider nicht auf sie gehört.

Heute hatte sie mir nichts Besonderes mitzuteilen. Sie wollte nur meine Stimme hören.

Ich erzählte ihr bewusst nicht von meinem ersten Fall. Nachdem wir die ungewöhnlichen Temperaturen in Wien und die angenehmen siebenundzwanzig Grad auf Samos ausführlich besprochen hatten, fragte sie mich, ob ich nicht Anfang September zu ihr kommen wollte.

Ich verneinte und wünschte ihr eine gute Nacht.

Die täglichen Telefonate mit meiner Mutter deprimierten mich – jedes Mal musste ich danach an meine beruflichen Misserfolge und an meine gescheiterte Ehe denken.

Da ich auf der Scheidung bestanden hatte, waren gewisse Zugeständnisse meinerseits unabdingbar gewesen. Gernot hatte sich nicht scheiden lassen wollen, ich hatte ihn regelrecht erpresst. Erpressung war weder ihm noch mir fremd, denn damit hatten wir, oder besser gesagt er, ein Vermögen gemacht.

Jahrelang hatte ich für meinen Mann Nachforschungen und Ermittlungen durchgeführt, die nicht ganz astrein gewesen waren, aufgrund derer mein Mann aber seinen Klienten viel Geld erspart oder verschafft hatte. Nach der Trennung von ihm plante ich, mich als Detektivin selbstständig zu machen und eine eigene Detektei zu eröffnen. Vorher musste ich einen Intensivkurs an der Akademie in Krems absolvieren – was natürlich Prüfungen bedeutete. Irgendwann sollte ich meine schreckliche Prüfungsangst in den Griff kriegen.

Ich kannte jede Menge Anwälte, denen ich in Zukunft meine Dienste anbieten wollte. Der Kurs kostete jedoch Geld. Es war anzunehmen, dass Gernot mir das Geld gegeben hätte. Dadurch wäre ich ihm wieder verpflichtet gewesen, und das war das Letzte, was ich wollte.

Wir hatten uns auf eine Unterhaltszahlung ungefähr in der Höhe der Mindestsicherung geeinigt, was ich mittlerweile bereute. Sein Vermögen hatte Gernot nicht mit mir geteilt, sondern sicher in der Schweiz geparkt. Ich hatte darauf verzichtet, mir einen eigenen Anwalt zu nehmen, und alles einvernehmlich mit ihm geregelt. Da er der beste Scheidungsanwalt der Stadt war, hatte ich mir so wenigstens die Anwaltskosten erspart. Wie sich herausstellte, war das ein Riesenfehler, denn ich war nach wie vor von seiner Gunst abhängig.

In den ersten Wochen nach der Scheidung war ich euphorisch, ja fast manisch gewesen. Ich hatte meine neue Freiheit genossen, viel Geld ausgegeben, eine sündhaft teure Foto-Ausrüstung gekauft, eine sechs­wöchige USA-Reise gemacht. Ja, ich hatte sogar Kontakt zu einer Galeristin aufgenommen, die ernsthaftes Interesse an meinen USA-Fotos zeigte.

Anfang Juli war ich beim Joggen am Wienfluss zusammengebrochen. Ich bin seit meiner Jugend eine leidenschaftliche Läuferin, war Wiener Juniorenmeisterin über 1000 Meter und habe an internationalen Leichtathletik-Wettkämpfen teilgenommen. Laufen ist bis heute das wirkungsvollste Antidepressivum für mich. Und gerade, als ich mich besser denn je fühlte, frei und ungebunden und voller aufregender Zukunftspläne, passierte mir dieser Unfall.

Die Dämmerung war über die Stadt hereingebrochen. Ich hatte meine täglichen fünf Kilometer bereits hinter mir. Als ich die Nevillebrücke überquerte, die den fünften mit dem sechsten Bezirk verbindet, rutschte ich aus. Ich hatte das kleine Hundehäufchen nicht gesehen, wahrscheinlich hatte ich von meiner Ausstellung geträumt. Meine Aversion gegen Hunde ist übrigens nach diesem Scheiß-Unfall noch stärker geworden. Da ich nicht mehr aufstehen konnte, rief ich die Rettung. Die Männer vom Arbeitersamariterbund brachten mich ins Unfallkrankenhaus Meidling. Meine Achillessehne war gerissen. An die OP – oder Rekonstruktion, wie die Ärzte es nannten – kann ich mich kaum erinnern. An die Nachwirkungen der Narkose sehr wohl: Als ich aufwachte, fühlte ich mich richtig high.

Gernot besuchte mich am nächsten Tag und erstickte mein Krankenzimmer in Blumen. Ich konnte mich nicht tatkräftig dagegen wehren, aber ich konnte wenigstens den Besuch meiner Mutter vereiteln: Von der Operation erzählte ich ihr erst, nachdem ich längst aus dem Spital entlassen worden war.

Es folgten eine Art Gehgips, ein futuristisch anmutender Spezialschuh, und die unvermeidlichen Krücken. Die Depression war unausweichlich. Ich konnte mich zu keinerlei Aktivitäten aufraffen. Das Einzige, was mir gelang, war, das Angebot meiner Mutter, nach Wien zu kommen, abzuwehren. Im Lügen war ich nicht schlecht. Ich erzählte Agnes, wie rührend sich Gernot um mich kümmerte, und sie blieb, wo sie war. Ihren Schwiegersohn hatte sie von Anfang an nicht leiden können. Sie hielt ihn für einen typischen Aufsteiger und fand ihn ungemein spießig.

Die unerträglich heißen ersten Juliwochen verbrachte ich vor meinem neuen Fernsehapparat. Wenn ich nicht fernschaute, saß ich auf meinem schattigen Klopfbalkon. Beinahe täglich beobachtete ich von dort aus stundenlang das Leben im Hof unter mir. Manchmal wechselte ich abends hinüber auf den größeren Balkon mit Blick auf den Naschmarkt, tagsüber war es mir dort zu heiß, denn bis Mittag knallte die Sonne auf die verflieste Fassade des Majolikahauses.

Der großartige Architekt Otto Wagner hatte das ganze Haus aus hygienischen Überlegungen verfliesen lassen, und die Fassade litt tatsächlich bis heute weniger unter der Umweltverschmutzung als alle anderen Häuserfassaden in Wien. Die hübschen Blumenornamente waren von Alois Ludwig entworfen und von der Firma Wienerberger umgesetzt worden. Am liebsten mochte ich die Seerosen. Auch das Nachbarhaus war ein Prachtbau von Otto Wagner, und die vergoldeten Reliefmedaillons an der Fassade stammten von keinem Geringeren als Koloman Moser.

Ich war ein bisschen stolz darauf, in einem der schönsten Häuser von Wien aufgewachsen zu sein. Seit meinem Unfall war ich außerdem froh, dass Otto Wagner aufgrund seiner eigenen Gehbehinderung so flache Stufen konstruiert hatte. Denn sonst hätte ich es mit meinen Krücken nicht einmal über die Stiege in der ebenfalls von ihm erbauten U-Bahn-Station Kettenbrückengasse geschafft.

Als ich tagelang zuhause festgesessen hatte, leistete mir manchmal meine Nachbarin Sofia Schanda Gesellschaft. Sie ging auch für mich einkaufen und bekochte mich fast täglich.

Die Schandas wohnten erst seit Anfang des Jahres nebenan. Er war bei der Kripo und etwa in meinem Alter, Sofia war ein paar Jahre jünger. Die beiden hatten eine siebzehnjährige Tochter.

Sofia war ebenso wenig gesprächig wie ich, daher erfuhr ich ihre Lebensgeschichte erst nach und nach. Meist beobachteten wir schweigend miteinander das Geschehen in unserem Hinterhof, hin und wieder fotografierte ich die gegenüberliegenden Häuser oder die Kinder, die unten spielten. Hinter unserem Haus gab es eine Sandkiste, eine Rutsche und zwei Bänke für Mütter und Omas. Nicht nur das Geschrei der lieben Kleinen, sondern auch die meist hysterischen Stimmen der Mütter hallten bis zu mir hinauf in den dritten Stock. Ihre Gespräche kreisten immer um die gleichen Themen, das Kochen, die Kinder und wer mit wem ein Techtelmechtel hatte …

Diese Stunden auf meinem Balkon waren damals meine einzige Abwechslung gewesen, erst mit dem Einzug von Elvira waren meine Lebensgeister zurückgekehrt. Plötzlich war Schluss mit Fernsehen und meinem Balkon-Muppet-Dasein.

4.

„Die hätten wir richtig abzocken können“, seufzte Elvira.

Sie ließ sich auf das rote Sofa fallen, warf einen Haufen Hundert-Euro-Scheine auf den Glastisch und grinste mich an.

„Das hat ihr Internet-Lover bereits erledigt.“

„Die ist mindestens eine Mille schwer. Die fünfzigtausend tun ihr nicht wirklich weh.“

„Den Eindruck hatte ich auch. Ich denke, sie ist einsam und hat eigentlich nur mit jemandem reden wollen …“

„Nein, sie will ihn wirklich wiederhaben.“

„Bist du dir sicher?“

„Das hat sie doch vorhin selbst gesagt. Du hörst nie richtig zu, Magdalena, bist ständig mit deinen Gedanken woanders. Übrigens wird sie demnächst fünfundfünfzig, nicht neunundvierzig, wie sie uns gegenüber behauptet hat.“

„Woher weißt du das?“

„Sie hat mir beim Bankomat ihre Tasche zum Halten gegeben. Ich hab mir diskret ihre Karten angeschaut, die hat sie in einem Extra-Etui stecken. Auf ihrem Führerschein steht ein anderes Geburtsdatum als auf ihrem Personalausweis. Anscheinend ist sie 1961 geboren, hat aber auf dem Antragsformular für den Personalausweis aus dem Einser kurzerhand einen Siebener gemacht. Die Lady ist nicht von gestern!“

„Oder sie hat ihre Geburtsurkunde gefälscht?“

„Vielleicht sollte ich dasselbe tun? Ich hab 1970 das Licht der Welt erblickt, 1978 würd viel besser klingen, oder?“

„Das wäre Urkundenfälschung und strafbar.“

„So eine reiche Tussi wie die darf das …“

„Hör auf, Elvira, mach mir lieber einen Kaffee, mir ist fast schlecht von dem blöden Prosecco.“

„Mit dir kann man nicht anständig feiern. Warst du immer so abstinent?“

„Ich kann nichts dafür, dass ich keinen Alkohol vertrage“, sagte ich. Gleichzeitig ärgerte ich mich, weil ich mich, wie so oft, dafür entschuldigte, nicht so regelmäßig zu trinken wie die meisten meiner Freunde und Bekannten.

Ich hatte meinen Laptop auf dem Schoß und mich bereits bei dem Partnerschaftsportal Wahre Liebe eingeloggt.

„Vor- und Nachname von dem Kerl könnten falsch sein. Bei diesen Partnerschaftsbörsen meldet sich kein Mensch mit seinem richtigen Namen an. Hat die Frau Detektivin das bedacht?“, rief Elvira aus der Küche.

„Muss man sich da nicht mit dem richtigen Namen anmelden? Wird das nicht überprüft?“

„Keine Ahnung. Ich war noch nie auf so einer Website.“

„Du enttäuschst mich, ich habe gedacht, du kennst dich mit solchen Sachen aus. Man muss doch bestimmt seine Kreditkartendaten angeben.“

„Das werden wir gleich sehen.“

„Übrigens gibt es Dutzende Partnervermittlungsagenturen im Netz.“

„Meld dich halt bei allen an.“

„Das wird teuer.“

„Macht nichts, fällt alles unter Spesen.“

„Okay, dann registriere ich uns bei all den Partnerschaftsbörsen, die halbwegs niveauvoll klingen, also keine Gratis-Ficks oder Seitensprünge anbieten.“

„So was gibt’s auch?“ Elvira klang interessiert.

„Wir brauchen Brittas Text und den Text von diesem Betrüger, bevor wir den Fragebogen ausfüllen.“

Mit aktivierter Freisprechfunktion rief ich unsere Klientin an.

Ich hörte Britta stöhnen. Nach einer Weile schien sie ihr eigenes Profil und auch das von diesem René Korda endlich gefunden zu haben. „Ich schicke Ihnen beide per Mail“, sagte sie.

Ich gab meinen Laptop Elvira und humpelte auf die Toilette.

„Britta, rassige, attraktive Mittvierzigerin. Einsam und von der Männerwelt enttäuscht. Hoffnungslose Romantikerin …“, las Elvira vor, als ich zurückkam.

„Unter Hobbies hat sie Golf, Theater und Natur angegeben – was immer Letzteres bedeuten mag. ‚Distinguiert und vermögend‘ steht in der nächsten Zeile. In einer anderen Kategorie hat sie ‚kinderlos‘ und ‚geschieden‘ angekreuzt.“

„Wir sollten uns zuerst einen Namen für unseren Auftritt im Netz ausdenken“, sagte ich.

Elvira war für Nadine, ich schlug Sabrina vor.

„Beide Namen klingen irgendwie sexy, findest du nicht?“, fragte Elvira.

„Eher nach Massageinstitut, würde ich sagen. Nein, lass uns einen biederen Namen nehmen. Dem Typ geht es nicht um Sex, sondern um Kohle. Wie wär’s mit Gertrude oder Mathilde?“

„So heißt heute keine Frau mehr.“

„Anna oder Eva – das sind klassische Namen, die sind immer en vogue.“

„Wie wär’s mit Trixi? Klingt irgendwie erotisch und gleichzeitig altmodisch.“

Schließlich einigten wir uns auf Claudia.

Die Fragebögen der diversen Internet-Portale füllten wir gemeinsam aus. Dabei übernahmen wir fast Wort für Wort Brittas Angaben. Bei den Hobbies tauschten wir Golf gegen Tennis und Theater gegen Oper aus. Foto luden wir keines hoch. Wie Britta sich selbst beschrieben hatte, passte entfernt auch auf meine Nachbarin Sofia, obwohl zwischen den beiden Frauen ein Altersunterschied von vierzehn Jahren bestand. Wir beschrieben uns also als „attraktive, schlanke, dunkelhaarige Vierzigerin mit großen braunen Augen, von den Männern enttäuscht …“ Wir rechneten fix damit, dass Sofia, die erst in zwei Wochen ihren vierzigsten Geburtstag feierte, die ersten Dates statt mir absolvieren würde. Sie wusste noch nichts von ihrem Glück, aber Neinsagen fiel ihr extrem schwer, und außerdem war sie, so wie ich, eine begeisterte Krimileserin. Sie ließ auch im Fernsehen keinen Krimi aus. Der Gedanke, bei der Aufklärung eines Verbrechens tatkräftig mithelfen zu können, musste ihr einfach gefallen. Manchmal hatte ich sogar den Verdacht, dass sie ihren Mann nur geheiratet hatte, weil er bei der Polizei war.

Manche Online-Dating-Portale verlangten, dass man eine Art Psychotest machte.

„Ich hasse diesen Psychoscheiß“, sagte Elvira. „In den Frauenzeitschriften überblätter ich das Zeug meistens.“

„Geh, komm, so was ist doch lustig. Wir sollten allerdings aufpassen, dass unsere Antworten in Brittas Sinne sind. Ich mag sie jetzt nicht noch mal anrufen, sie hat vorhin schon ziemlich illuminiert geklungen.“

Da ich mir einbildete, über eine bessere Menschenkenntnis und mehr Empathie zu verfügen als Elvira, beantwortete ich die merkwürdigen Fragen schließlich allein.

„Das hätten wir geschafft“, sagte Elvira danach und öffnete die zweite Flasche Prosecco.

„Ich will nichts mehr.“

„Komm, stell dich nicht so an.“

„Nein danke, mir reicht’s!“

„Du wirst sehen, heute Nacht werden wir die ersten Angebote bekommen.“

„Und du glaubst, dieser René wird sich auch melden?“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Lass uns gleich mal all die Typen näher ansehen, die uns angepriesen werden.“

„Du meinst diejenigen, die zu unserem Profil passen?“

„Genau. Du hast das System schnell kapiert.“

„Danke für das Kompliment.“

„Die meisten Dating-Portale rechnen den Grad der Übereinstimmung in Prozenten aus und nennen das Matching Points. Umso mehr Matching Points man mit jemandem hat, desto größer stehen angeblich die Chancen auf eine glückliche Beziehung.“

„Ich hab gedacht, Gegensätze ziehen sich an.“

„Was weiß ich. Das kann uns auch wurscht sein, wir müssen ja nur diesen René finden. Leider wissen wir nicht, wie er ausschaut.“

„Wir konzentrieren uns auf Profile von Kerlen, die kein Foto von sich veröffentlicht haben, etwa Mitte vierzig sind und eventuell René heißen oder einen ähnlichen Namen angegeben haben. Wenn eines der Profile ungefähr so ausschaut wie das, auf das Britta reagiert hat, schlagen wir zu.“

5.

Elvira und ich hatten die halbe Nacht vor dem PC verbracht. Die Hitze hatte auch nach Mitternacht kaum nachgelassen. Die Luft stand still. Nicht der leiseste Hauch von Wind. Erbarmungslose Hitze tagein, tagaus. Lärm und Abgase waren unter einer hochsommerlichen Dunstglocke gefangen. Die Feinstaubbelastung überstieg längst die Grenzwerte.

An den berüchtigten Hundstagen war die Stadt wie ausgestorben. Jeder, der es sich leisten konnte, war aufs Land oder ans Meer geflüchtet.

Elvira hatte frische Croissants von einem Bäcker am Naschmarkt geholt. Mit Kaffee und Croissants setzten wir uns wieder vor meinen PC.

Am liebsten hätte ich auch meine Nachbarin Sofia gebeten, mit uns diese Armada von Liebeshungrigen durchzugehen. Da ich wusste, dass ihr Mann heute einen dienstfreien Tag hatte, ließ ich sie in Ruhe.

Die Chats im Internet ließen sich bestens an. Bereits am frühen Vormittag waren wir mit fünf Kandidaten in engerem Mail-Kontakt. Drei Männer, deren Profile in etwa Renés Profil entsprachen, hatten wir bei Wahre Liebe, zwei bei Liebling.at entdeckt. Die Matching Points waren nicht berauschend, sie bewegten sich so um die 60 bis 70 Prozent. Aber das konnte uns, wie gesagt, egal sein.

„Der da schaut auch recht passabel aus. Paul, Akademiker, Anfang 50, in Trennung, finanziell desinteressiert …“, sagte Elvira plötzlich. „Wir haben 96 Prozent Übereinstimmung. Ist das nicht sensationell?“

„Das klingt verdächtig.“

„Wieso?“

„Warum muss er extra betonen, dass er keine finanziellen Interessen hat? Der Typ ist bankrott, das sage ich dir. Außerdem wollten wir nur die Kerle herausfischen, von denen es kein Foto gibt.“

„Ein paar Fotos anschauen wird man wohl dürfen. Und wer weiß, vielleicht lernst du auf diesem Weg sogar einen netten Mann kennen?“

„Das Thema Männer ist für mich passé.“

„Das denkt man nach jeder Trennung, und ehe du dich versiehst, hast du wieder Schmetterlinge im Bauch.“

Elviras blumige Ausdrucksweise entlockte mir ein Grinsen. „Oder was anderes.“

„Was meinst du?“

„Einen Säugling oder einen Tripper oder gar Aids.“

„Sei nicht so negativ.“

„Positiv denken ist was für Idioten.“

„Manchmal verstehe ich dich wirklich nicht. Trauerst du etwa immer noch deinem Mann nach?“

Ich sprach nicht gern über mich selbst. Hörte mir lieber die Probleme anderer Leute an, als über meine eigenen zu reden. Außerdem, was ging Elvira meine kaputte Ehe an? Es fehlte gerade, dass ich mich bei ihr über meinen Ex beklagte und ihr erzählte, wie raffiniert er mich über den Tisch gezogen hatte.

„Vielleicht sollte ich lesbisch werden“, sagte ich.

„Dafür steh ich nicht zur Verfügung!“ Elviras entrüsteter Ton brachte mich erst recht zum Lachen.

„Keine Angst, du bist nicht mein Typ!“

„Das will ich hoffen, sonst zieh ich gleich wieder aus.“

„Bloß nicht!“

Obwohl ich diese quirlige Frau gut leiden konnte und viel Verständnis für ihre schwierige Situation hatte, fragte ich mich selbst manchmal, wie lange ich sie als Mitbewohnerin ertragen würde. Doch die Wohnung war viel zu groß für mich allein. Und die dreihundert Euro, auf die Elvira und ich uns geeinigt hatten, brauchte ich dringend, damit waren die monatlichen Betriebskosten gedeckt. Obwohl Gernots Unterhaltszahlungen pünktlich an jedem Ersten des Monats einlangten, war mein Konto ständig überzogen. Mit achthundert Euro im Monat kam man heutzutage nicht weit. Vor kurzem hatte ich sogar überlegt, Gernots Angebot, weiterhin für ihn als Ermittlerin tätig zu sein, also die Drecksarbeit für ihn zu erledigen, anzunehmen. Der Gedanke, ihm dann häufiger zu begegnen, behagte mir jedoch nicht. Ich ging ihm lieber aus dem Weg.

6.

Zwölf Uhr mittags.

„Prost! Auf den Beginn einer wunderbaren Freundschaft!“ Ich stieß mit Elvira und mit meiner Nachbarin Sofia, die sich gerade zu uns gesellt hatte, an, nippte aber nur an meinem Sektglas.

Elvira war in der Früh auf die Mariahilfer Straße geeilt, hatte für Prosecco-Nachschub gesorgt und sich ein Prepaid-Handy sowie ein Tablet zugelegt. „Fällt unter Bürobedarf, kannst du alles von der Steuer abschreiben“, sagte sie.

„Spinnst du? Ich habe kein Gewerbe angemeldet, ich darf ja offiziell noch nicht als Detektivin arbeiten.“

„Dann geb halt ich es in meine Steuer.“

„Sag schon, wie viel hat das Tablet gekostet?“

„Ist doch wurscht, zahlt eh unsere Kundin.“ Sogleich wollte Elvira diversen interessierten Herren schriftlich unsere neue Telefonnummer mitteilen.

„Ist das nicht etwas übereilt?“, fragte Sofia. „Ich finde, wir sollten ein, zwei Tage mit ihnen mailen, bevor wir ihnen unsere Nummer geben.“

„Sie hat recht, wir warten. Lasst uns zuerst auf diesen Bums-Plattformen nachsehen. Womöglich treibt sich der Typ auch dort herum.“ Ich reichte Sofia meinen Laptop und griff nach den Krücken.

„Bleib sitzen. Soll ich dir was holen?“, fragte Sofia.

„Nein, nein, lass nur, ich möchte mich ein bisschen bewegen, halte diese ewige Herumsitzerei nicht mehr aus, bin völlig eingerostet.“ Ich humpelte in die Küche und holte einen Krug Wasser.

„Sind wir drei nicht ein tolles Team? Wir sollten wenigstens einmal auf gute Zusammenarbeit anstoßen“, sagte Elvira. „Ein Prosit auf die Drei vom Naschmarkt!“

„Gebt lieber mal auf unserem tollen Smartphone ‚Finder‘ ein“, sagte ich. „Das habe ich gestern Nacht entdeckt, ist so eine Speed-Dating-Geschichte über eine App. Angeblich findet man dort Leute, die in der Nähe wohnen und an schnellem Sex interessiert sind. Man muss nicht lang und breit ein Profil ausfüllen, sondern kommt ganz schnell mit jemandem in Kontakt.“

„Was es nicht alles gibt.“ Elvira grinste. „Wenn ich also mal nicht allein sein will, muss ich nur diese App nutzen und schon hab ich einen Mann im Bett? Fantastisch!“

„Du hast eh deinen Milan“, sagte ich. Elvira hatte kurz nach einer fatalen Affäre mit ihrem früheren Vermieter in der „Gräfin am Naschmarkt“ einen jungen Serben kennengelernt und sich augenblicklich in ihn verliebt. Die Glückliche glaubte nach wie vor an Liebe auf den ersten Blick.

„Na und? Vielleicht hätte ich manchmal gern ein bisschen Abwechslung?“

„Hej, die schicken ja gleich ihre Fotos“, unterbrach uns Sofia.

Wir waren alle drei schweißgebadet, obwohl Fenster und Balkontüren sperrangelweit offen standen. Der Ventilator auf dem Couchtisch brachte kaum Abkühlung: Das Thermometer zeigte dreißig Grad Raumtemperatur an.

Sofia griff nach einer Zeitschrift und fächelte sich Luft zu. „Seht mal, da tauchen jede Menge Typen auf, und man muss nur von rechts nach links wischen, und schon sind sie wieder weg.“

„René finden wir sicher nicht auf dieser Plattform, er hat sich, laut Britta, geweigert, Fotos von sich ins Internet zu stellen. Lass mich trotzdem mal.“ Elvira griff nach dem Handy.

Sofia gab es nicht her. „Wenn man von links nach rechts über den Bildschirm wischt, bedeutet das ‚Ja‘. Schaut mal, ich habe ein grünes Hakerl von einem Typen bekommen.“

„Was bedeutet das?“, fragte ich.

„Ich kann ihm schreiben.“

„Vergiss es, das ist was für Kids. Unser Mann gibt sich nicht für solche Späßchen her, ihm geht es, wie gesagt, um Geld und nicht um schnellen Sex.“

Sofia hörte mir nicht zu. Ihr schien das Spiel Spaß zu machen.

Elvira und ich hatten sie mittlerweile in unseren Plan eingeweiht, jedoch bisher kein Wort darüber verloren, dass sie den Lockvogel für all diese Liebes- und Sexhungrigen spielen sollte.

Meine Nachbarin war gelernte Buchhändlerin. Sie hatte in einem kleinen Laden in Mariahilf gearbeitet. Seit ihr Chef, ein weltfremder Bücherwurm, zusperren hatte müssen, hatte sie sich nicht mehr ernsthaft um einen Job bemüht. Sie träumte von einer eigenen kleinen Buchhandlung, hätte am liebsten eine Krimi-Buchhandlung in der Gumpendorfer Straße aufgemacht, denn sie war süchtig nach Kriminalromanen. Soviel ich wusste, sah sie sich seit einiger Zeit nach einem leerstehenden erschwinglichen Geschäftslokal dort um.

Sofia besaß eine gewisse Ähnlichkeit mit meinem Vater. Sie träumte ebenfalls am helllichten Tag. Und sie wirkte genauso bescheiden, ja fast unscheinbar wie er. Hinter dieser Fassade verbarg sich in meinen Augen eine kreative, intelligente und gebildete Frau.

Ich kannte die Familiengeschichte meiner Nachbarin. Sie war eine waschechte Wienerin. Allerdings war sie nicht in Mariahilf, sondern in Floridsdorf aufgewachsen. Wir hatten jedoch dieselbe Volksschule besucht. Natürlich nicht dieselbe Klasse – Sofia war vier Jahre jünger als ich. Ihre Eltern hatten einen Obst- und Gemüsestand am Naschmarkt betrieben, den sie vor ein paar Jahren aufgegeben hatten. Sie hatten sich zu alt gefühlt, um mit den neuen Trends auf Wiens bekanntestem Markt Schritt zu halten, wollten weder frisch gepresste Obstsäfte verkaufen noch ein Lokal eröffnen. Doch vom Obst- und Gemüseverkauf allein konnte heutzutage kaum mehr ein Standler überleben. Sofia hatte uns erzählt, dass sie als kleines Kind oft in aller Herrgottsfrüh von ihren Eltern mit in die Stadt hinein genommen worden war. Sie hatte dann in der Kälte warten müssen, bis die Schule begann. Trotzdem war sie eine ausgezeichnete Schülerin gewesen, denn schon als Kind hatte sie sich gerne in die Welt der Bücher geflüchtet. Als sie nach der Matura ihren Eltern mitteilte, dass sie Buchhändlerin werden wollte, waren diese nicht überrascht gewesen. Im letzten Lehrjahr hatte sie den Polizisten Werner kennengelernt. Sie hatte sich in ihn verliebt und war zu ihm in seine Gemeindebauwohnung in der Donaustadt gezogen. Ein paar Jahre später hatte Natalie das Licht der Welt erblickt. Werner war ein schlauer Bursche gewesen, hatte berufsbegleitend studiert und bei der Wiener Kripo Karriere gemacht.

Einerseits hielt der Herr Kriminaloberinspektor nicht viel vom Plan seiner Frau, sich als Buchhändlerin selbstständig zu machen. Ihm war es nur recht, dass sie rund um die Uhr für sein Wohlbefinden sorgte. Andererseits war die neue Wohnung im Majolikahaus, die Sofia sich eingebildet hatte, nicht gerade billig, ein kleiner Nebenverdienst konnte also nicht schaden. Aber er hätte seine Frau lieber in einer Halbtagsstelle bei Thalia gesehen, denn das Risiko, womöglich weitere Schulden machen zu müssen, um eine Menge Provision und Kaution für ein Geschäftslokal in Mariahilf zu bezahlen, wollte er nicht eingehen.

Werner Schanda war kein übler Macho. Ich hatte ihn schon samstags beim Einkaufen am Naschmarkt getroffen. Doch laut Sofia ging ihm zuhause nichts über seine Bequemlichkeit, was bei seinem anstrengenden Job durchaus verständlich war. Die 17-jährige Natalie sorgte dafür, dass er es zuhause weder bequem hatte noch zur Ruhe kam. Sofia hatte mir erzählt, dass ihr Mann mit ihrer pubertierenden Tochter überhaupt nicht mehr zurechtkam. Seine altmodischen Erziehungs­methoden griffen bei Natalie nicht. Im Gegenteil, je mehr Verbote und Strafen er aussprach, desto wilder führte sich das Mädchen auf. Dabei war Natalie eine typische Vater-Tochter. Werner hatte sie, als sie klein war, sehr verwöhnt.

Ich wunderte mich nicht über Natalies Rebellion. Werner war meiner Meinung nach kein sehr aufmerksamer Familienvater. Er vernachlässigte seine Frau und seine Tochter, war so gut wie nie zuhause, arbeitete zu viel, machte angeblich freiwillig viele Überstunden. Mir kam das komisch vor. So hatte es bei Gernot auch angefangen.

„Oh mein Gott, es ist bereits ein Uhr vorbei. Ich muss den Reiskocher einschalten. Natalie kommt heute um zwei nach Hause. Wir sehen uns später!“ Sofia sprang auf und eilte hinüber in ihre Wohnung.

7.

„Sie macht gerade eine Reis-Kur.“ Elvira verdrehte die Augen zur Decke.

„Wer? Sofia oder Natalie?“

„Sofia.“

„Sie hat doch gesagt, dass sie für Natalie kochen muss.“

„Die ist momentan Vegetarierin und frisst sowieso nur Reis und Gemüse.“

„Isst, sagt man auf Deutsch, fressen tun die Tiere.“

„Danke, Frau Lehrerin, aber im Ernst, kapierst du das? Wenn ich so eine tolle Figur hätte wie Sofia … Meinst du, so eine Entwässerungskur würde auch in meinem Fall helfen?“

„Nicht, wenn du weiterhin so viel säufst. Alkohol hat Unmengen von Kalorien.“

„Trinkst, sagt man auf Deutsch.“

Ich legte den Arm um die Schultern meiner molligen Freundin und beteuerte: „Ich hätte lieber zehn Kilo zu viel auf den Rippen, als wie eine Magersüchtige auszusehen.“

Ich selbst war nämlich sehr schlank, hatte breite Schultern, wenig Busen und schmale Hüften. Mit meinen 1,78 war ich viel zu groß für eine Frau. Fast alles an mir fand ich zu groß: meine Nase, meinen Mund, meine Hände und vor allem meine Füße. Ich hatte Schuhgröße 40. Obwohl ich mir meine dunkelblonden Haare seit meiner Scheidung wachsen ließ – früher hatte ich meist Kurzhaarfrisuren getragen –, sah ich keine Spur weiblicher aus. Meine sonnengebräunte Haut bildete momentan einen hübschen Kontrast zu meinem blonden Haar. Das war’s schon. Eine Schönheit war ich beileibe nicht.

Wenn sich Elvira und Sofia über Diäten und Abmagerungskuren unterhielten, schüttelte ich meist verständnislos den Kopf. Ich hätte gern ein paar Kilos zugelegt, hoffte, dass ich jetzt, während ich wegen des Achillessehnenrisses zur Bewegungslosigkeit verdammt war, wenigstens ein bisschen zunehmen würde. Doch ich hatte ja nicht einmal zugenommen, als ich von einem Tag auf den anderen das Rauchen aufgegeben hatte, obwohl ich seither kiloweise Schokolade in mich hineinstopfte.

„Weißt du, was ich nicht begreife? Warum sind sich weder Mutter noch Tochter ihres tollen Aussehens bewusst? Mit den beiden stimmt was nicht“, sagte ich.

„Make-up ist leider ein Fremdwort für die zwei“, seufzte Elvira.

„Wenn ich solche mandelförmigen Augen und einen so tollen Mund hätte, würde selbst ich beides betonen.“

„Tja, mit manchen Frauen hat’s der liebe Gott eben besonders gut gemeint. Perfekte Größe, perfekte Figur, tolle Beine – Traumfrauen für Männer jeder Generation. Aber wie sie sich anziehen – oder besser gesagt verschandeln! Bieder und beige die Mama, und Natalie sieht man sowieso nur in zerfetzten Jeans, ausgewaschenen Shirts und ausgelatschten Turnschuhen. Ich leide richtiggehend unter dem Anblick der beiden.“

Elviras theatralischer Ton brachte mich zum Lachen.

Sie selbst war nicht nur sehr rundlich, sondern schminkte sich auch viel zu stark, und ihre Haare waren viel zu blond. Dafür hatte sie, so wie viele Mollige, ein beinahe faltenfreies Puppengesicht.

„Hast du keinen Hunger?“, fragte Elvira.

„Hunger habe ich immer“, scherzte ich.

„Ich hol uns was von einem der Chinesen in der Gumpendorfer Straße.“

„Mir wäre eine Pizza lieber.“

„Hatten wir erst gestern.“

„Na gut, von mir aus Dim Sum und einen großen Eisbecher von unserem Italiener. Opera Veneziana, Mozart und Stracciatella, bitte!“

„Führe mich nicht in Versuchung!“

I Will Always Love You – mein Handy.