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Reinhard Kleindl

Baumgartner kann nicht vergessen

Kriminalroman

„Die Hölle, das sind die anderen.“

Jean-Paul Sartre

Fest steht, dass der Schuss aus leicht erhöhter Position abgegeben wurde, was darauf hindeutet, dass das Opfer saß. Schmauchspuren an der Wange sprechen für einen Schuss aus nächster Nähe. Es gibt keine Anzeichen, die auf Gegenwehr hindeuten. All das deckt sich mit der Aussage Baumgartners, nach welcher das Opfer unbewaffnet war. Der Täter stand aufrecht vor dem sitzenden Opfer, in direktem Blickkontakt, und hielt den Arm ausgestreckt, als er den Schuss abgab. Der Winkel des Schusskanals stimmt mit der Körpergröße von Franz Baumgartner überein. Wir müssen davon ausgehen, dass Baumgartner der Schütze war.

(aus einem vorläufigen Autopsiebericht Dr. Stegers, nur zur internen Verwendung für die Mordgruppe bestimmt)

Etwa eine Woche früher, Sonntag oder Montag, irgendwann gegen Mittag

Es waren die Bilder, erkannte sie, die Bilder an den Wänden. Mit ihnen war die Angst gekommen.

Das war eigentlich absurd. Wie viele Stunden waren sie im Laderaum des Lasters gesessen, bei völliger Dunkelheit? Zuerst Rumpeln, dann schnelle Fahrt, stundenlang, schließlich nur noch Stille. Hin und wieder hatte das Display eines Mobiltelefons aufgeleuchtet und den Laderaum und die darin kauernden Gestalten in ein fahles Licht getaucht. Da hatte sie im Gesicht ihrer Mutter einen Ausdruck gesehen, den sie noch nicht kannte. Das war nicht das beruhigende Lächeln, das die Mutter ihr während der letzten Tage gezeigt hatte, während des Marschs durch das offene Land, auf dem Boot. In der Dunkelheit hatte ihre Mutter sich unbeobachtet gefühlt, und dann war unerwartet das Display des Telefons angegangen. So hatte sie begriffen, wie es ihrer Mutter wirklich ging. Die Erwachsenen hatten Angst. Sie hatte das mit Neugierde registriert, Angst jedoch hatte sie keine verspürt. Alles würde gut werden, daran bestand überhaupt kein Zweifel, und sie verstand nicht, wovor sich die Erwachsenen fürchteten. Sie hatten doch bezahlt, ein dickes Bündel Geldscheine. ­Warum sollte ihnen jemand etwas tun?

Als sie von einem fremden Mann in der Kühle eines sehr frühen Morgens durch eine enge Gasse in ein Wohnhaus geführt wurden, fühlte sie sich plötzlich doch unwohl, ohne sagen zu können, woher dieses Gefühl kam. Während sie wartete, wuchs ihr Unbehagen. Ein schleichendes Gefühl von Panik, wie ein Nadelstich.

Und nun verstand sie, dass es mit den Bildern zu tun hatte. Sie kannte eines dieser Bilder. Der Lehrer hatte es ihnen gezeigt. Vor vier Jahren, in Aleppo, als die Welt noch eine andere gewesen war. Ein Maler aus Frankreich hatte das Bild gemalt, sie wusste sogar noch den Namen: Monet. Zuerst hatte sie seine Bilder sehr verwirrend gefunden, mit ihren groben Klecksen und Pinselstrichen. Doch wenn man nicht so genau hinsah, sondern sich auf etwas anderes konzentrierte, wenn man etwa seinen Zeigefinger nahe vor die Augen hielt und betrachtete, dann wurde der Hintergrund unscharf und plötzlich erschien das Bild des Malers aus Europa ganz deutlich. Wenn man allerdings genau hinsehen wollte, tauchten die Pinselstriche wieder auf. Ein eigenartiger Trick, doch seither glaubte sie zu verstehen, was dieser Monet ihr sagen wollte.

Der Lehrer hatte ihnen noch viele andere interessante Dinge gezeigt, von denen sie sicher war, dass sie für ihre Zukunft wichtig sein würden. Sie hatte fremdartige Musik gehört, Bilder ferner Städte gesehen und Geschichten aus längst vergangenen Zeiten oder aus einer möglichen Zukunft gelesen. Wenn sie erst einmal erwachsen war, würde sie oft an die Weisheiten des Lehrers denken, nahm sie sich vor.

Vor einem Jahr war er dann verschwunden, ihr Lehrer. Wohin genau, wusste niemand. Sie verstand aber, dass sein Verschwinden kein Zufall war und dass ihre Mutter deshalb mit dem Onkel gesprochen hatte, dessen Sohn nach Europa gegangen war. Cousin Mohammed, der glückliche Fotos und Geld nach Hause schickte. So waren sie mit den Männern in Kontakt gekommen, die sie über das Meer gebracht hatten. Sie und viele andere Leute.

Ihr kam es so vor, als wären diese Dinge vor Ewigkeiten passiert. Sie wusste, dass sie nie zurückkehren würde. Sie und ihre Mutter würden woanders ein neues Leben anfangen.

Doch ihre Mutter hatte Angst. Und obwohl sie selbst fest entschlossen war, diese Angst nicht an sich heranzulassen, weil sie den Rat des Lehrers befolgen wollte, niemals etwas aus Angst zu tun, spürte sie den Nadelstich in ihrer Brust.

Sie erkannte nämlich nicht nur das Bild des Malers Monet wieder, das Bild eines Gartens, der sich im Wasser spiegelte, sondern noch zwei weitere Bilder.

Und die Bilder hingen verkehrt herum, standen auf dem Kopf. Nicht nur das eine, sondern alle drei.

Das war kein Zufall. Niemand hängte versehentlich drei Bilder verkehrt herum auf. Sie waren im Haus von jemandem gelandet, der auf dem Kopf stehende Bilder aufgehängt hatte.

„Mama“, sagte sie, „ich hab Angst.“

„Ganz ruhig, mein Schatz“, flüsterte die Mutter.

„Ich will hier nicht sein.“

Die Mutter strich ihr über den Kopf und rückte ihr Kopftuch zurecht.

„Wir müssen hier bleiben, Hani. Wir können sonst nirgends hin.“

Montag, 9 Uhr

Irgendwie hatte Kevin Hiebler sich alles ganz anders vorgestellt.

Er saß an seinem Schreibtisch, gab vor, in den Akten zu lesen, doch in Wirklichkeit beobachtete er seine Chefin, die ihm gegenüber auf ihren Computermonitor starrte.

Die Mordgruppe war sein Traum gewesen, deshalb war er zur Polizei gegangen. So mancher hatte ihm abgeraten, sich auf dieses Ziel zu versteifen. „Schau halt, was wird“, hatten sie gesagt. Und sich bestätigt gefühlt, als er fast durch das Aufnahmeverfahren für die Polizeischule geflogen war. Beim Fitnesstest war es sehr knapp gewesen. Als er die Schule dann mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, waren die Stimmen ruhiger geworden. Auch jene seiner Eltern, die stolz waren auf die guten Noten ihres Sohnes. „Vielleicht schafft er es ja wirklich“, hatten sie gemunkelt, „das wär schon was. Unser Sohn, ein Kommissar!“ Doch dann war er an die Polizeiinspektion Köflach gekommen, und damit waren die Sorgen der Eltern wieder gewachsen.

Bezirksinspektor Ranftl hatte lauthals gelacht, als Hiebler sich vorgestellt hatte.

„Ein Kevin? Das ist einmal was Neues! Was wollen Sie hier?“

Hiebler hatte die Frage nicht verstanden. „Ich wurde zu Ihnen versetzt.“

„Ich weiß schon. Aber Sie wollen doch eigentlich zur Mordgruppe nach Graz, habe ich gehört? Längerfristig.“

Da war Hiebler einen kurzen Moment unaufmerksam gewesen und hatte genickt. Ihm war sofort aufgefallen, dass das ein Fehler gewesen war.

„Aber vorher müssen Sie die Niederungen der Polizeiarbeit kennenlernen, nicht wahr? Sich mit Leuten wie mir abgeben.“

Hiebler hatte nicht gewusst, was er darauf sagen sollte.

„Ich hatte schon einmal so einen wie Sie. Den hätte ich damals härter rannehmen müssen. Das war ein Fehler, den werde ich bei Ihnen nicht mehr machen. Deshalb sind Sie hier, oder? Weil Baumgartner auch bei mir war. Ich hab gehört, Sie bewundern ihn. Aber Sie haben keine Ahnung.“

Ranftl hatte breit gegrinst.

„Das mit der Mordgruppe vergessen Sie besser gleich wieder. So lange halten Sie nicht durch. Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihren Arbeitsplatz.“

Doch nun war Kevin Hiebler hier. Er hatte alle Schikanen Ranftls überstanden, alle Scherze über seinen Vornamen, der nichts mit dem Film aus den Neunzigern zu tun hatte, sondern in den amerikanischen Wurzeln seiner Mutter begründet war, und war tatsächlich zur Mordgruppe versetzt worden. Er hatte Glück gehabt, das war ihm bewusst. Ranftl hätte die Leiche im Röhrenwerk einfach den Bestattern übergeben, wenn Hiebler nicht seinen Chef umgangen und das Landeskriminalamt informiert hätte, wozu er eigentlich gar nicht befugt gewesen war. Völlig arglos im Übrigen, weil er davon ausgegangen war, dass Ranftl das ohnehin tun würde. Ranftl hatte gemeint, nun endlich den lang ersehnten Grund gefunden zu haben, der ihm erlaubte, Hiebler loszuwerden. Doch dann waren Betäubungsmittel im Blut des Toten nachgewiesen worden und Caroline Meier vom Landeskriminalamt hatte den Fall übernommen, der sich plötzlich in einen Mordfall verwandelt hatte.

„Kannst ihn von mir aus gleich mitnehmen“, hatte Ranftl zu Meier gesagt, als sie ihn nach Hieblers Qualifikationen gefragt hatte, „ich will ihn nicht mehr sehen.“

So war Hiebler mit nicht einmal 30 Jahren zum jüngsten Mitglied der Mordgruppe geworden.

Sein Idol Baumgartner hatte er aber immer noch nicht kennengelernt. Baumgartner war nach wie vor suspendiert, nachdem er mehrmals betrunken zum Dienst erschienen war. Das Disziplinarverfahren lief noch.

Auch sonst schien die Mordgruppe, von der Hiebler sich so viel erwartet hatte, ein Schatten ihrer selbst zu sein. Die zwei besten Ermittler, Baumgartner und Wolf, waren nicht mehr dabei. Rainer Swoboda wartete auf seine Pension und tat nur noch das Nötigste, und von Caroline Meier sagte man, dass sie besser noch im Krankenstand geblieben wäre nach ihrer schweren Schussverletzung. Sie hatte unglaubliches Glück gehabt und hätte genauso gut draufgehen können. Manchmal, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, sah man, wie sie vor Schmerz zusammenzuckte.

Im Moment saß Meier am Schreibtisch gegenüber und war in das Lesen eines Berichts versunken. Sie sah dabei verbissen aus, als wäre der Bericht ein schweres Gewicht, das sie heben musste.

All das wäre in Ordnung gewesen. Hiebler war motiviert, voller Energie. Er war bereit, Überstunden zu machen, Verantwortung zu übernehmen, hätte die Dinge gerne angepackt. Doch Meier schien ihn ignorieren zu wollen. Er sortierte Akten, nahm belanglose Aussagen auf, verrichtete Botendienste und wurde in den Besprechungen so gut wie nie zu Wort gebeten. Er fragte sich mehr und mehr, warum sie ihn überhaupt hergeholt hatte. Hiebler regte sich nicht auf, das war nicht seine Art. Er kannte seinen Platz in der Hierarchie und hatte diese bisher für sinnvoll erachtet. Doch inzwischen war er sich nicht mehr so sicher.

Verdammt, diesen Job konnte man besser machen. Er konnte ihn besser machen. Und nach allem, was er gehört hatte, hatte Franz Baumgartner ihn besser gemacht.

Aber sollte er das wirklich seiner Vorgesetzten unter die Nase reiben? Fast wünschte er sich seine alte Position in Köflach zurück. Bei dem Gedanken erschauderte er.

Er hörte ein Klingeln und blickte auf. Meier war immer noch in ihren Bericht vertieft. Hiebler sah das Display ihres Mobiltelefons aufleuchten.

„Willst du nicht rangehen?“, fragte er.

Meier bedachte ihn mit einem finsteren Blick, dann nahm sie den Anruf an. Sie ließ den Anrufer reden. Etwas in ihrer Miene veränderte sich. Er konnte es nicht genau benennen, doch er war sich sicher, dass er diesen Ausdruck noch nie gesehen hatte. Die Spannung wich aus ihrem Gesicht und machte Platz für etwas anderes.

„Gut, wir kommen sofort hin. Ist Wilszek schon auf dem Weg? Danke.“

Wilszek, dachte Hiebler. Wenn die Tatortgruppe eingeschaltet wird, ist etwas passiert.

„Was ist los?“, fragte er, als Meier sich eine Notiz machte.

„Ich muss nach Peggau. Du hältst inzwischen die Stellung.“

„Soll ich nicht mitkommen?“, fragte Hiebler.

Meier sah ihn an. Hiebler machte sich auf eine Rüge gefasst, doch in ihren Augen war kein Ärger. Sie schien mit etwas anderem beschäftigt.

„Es ist vielleicht besser, du bleibst hier“, sagte sie.

Hiebler überlegte, ob er das einfach akzeptieren sollte.

„Vielleicht ist es besser, ich komme mit?“

„Von mir aus“, sagte Meier und stand auf.

10 Uhr 20

Caroline Meier fuhr von der Schnellstraße ab und näherte sich der Ortschaft Peggau, 20 Kilometer nördlich von Graz. Das Tal bildete hier eine Engstelle, graue Steilwände aus brüchigem Kalkstein ragten zu beiden Seiten empor, auf der rechten Seite waren Steinbrüche tief in die Landschaft gegraben. Der Ort bestand aus einer Handvoll scheinbar beliebig angeordneter Häuser, einer Schottergrube, einem riesigen Zementwerk und einer Motocross-Rennstrecke. Die Gedenkstätte für die Opfer des KZ-Nebenlagers, die in den letzten Kriegsjahren in Stollen unter der großen Felswand Panzer gebaut hatten, bevor sie erschossen wurden, lag versteckt und wurde nie besucht. Auf dem Gelände des ehemaligen Lagers befand sich ein beliebter Schießstand zum Tontaubenschießen.

Angespannt saßen die beiden nebeneinander und wechselten während der ganzen Fahrt kein Wort. Caroline Meier bog zu einer der Schottergruben ab. „Stocker Schotterwerke“ stand auf einem großen Kunststoffschild über der Einfahrt in das umzäunte Gelände. Daneben ein Schild mit der Aufschrift „Ablagerungen bei Strafe verboten. Bei Zuwiderhandlung erfolgt Anzeige“.

Sie parkten den Dienstwagen neben Wilszeks Geländewagen, direkt vor einem Baucontainer mit Tür und Fenstern. Dahinter zeichnete sich die braune Wasserfläche des Schotterteichs ab. Als sie ausstiegen, hörte Kevin Hiebler ein monotones Motorengeräusch. Er verstand nicht gleich, womit er es zu tun hatte, dachte an ein Stromaggregat. Doch dann begriff er, dass das keinen Sinn ergab, ein Schotterwerk wie dieses hatte selbstverständlich einen Stromanschluss.

Hiebler öffnete den Reißverschluss seiner Jacke. Der leichte Wind war warm, zu warm für Februar. Aus dem Schotter des Parkplatzes wuchs Unkraut, erste Blumen hatten ausgetrieben.

Wilszek kam ihnen entgegen und stolperte fast über ein Eisenrohr, das auf dem Boden lag. Er wirkte aufgekratzt, als hätte er zu viel Kaffee getrunken.

„Meier, gut, dass du da bist.“

„Ist es wahr?“, fragte sie.

Wilszek nickte heftig. „Es sind fünf, glaube ich.“

Er blinzelte ständig, während er mit Meier sprach, und gestikulierte, als wolle er seinen Worten Nachdruck verleihen.

„Die Identifizierung wird eine ziemliche Challenge.“

Da fiel Hiebler der Geruch auf, den der warme Wind zu ihm trug.

Und plötzlich wünschte er sich, er hätte auf Meier gehört und wäre im Büro geblieben.

Wilszek lief voraus, während Meier und Hiebler ihm gemessenen Schrittes folgten.

Sie gingen den Rand des Schotterteichs entlang, in Richtung eines Baggers, vor dem zwei Polizisten standen, als würden sie Mahnwache halten. Das Motorengeräusch wurde lauter. Da erkannte Hiebler, dass es der Motor des Baggers sein musste, den er hörte. Als sie den Bagger erreichten, wollte er die beiden Polizisten fragen, warum sie ihn nicht abstellten. Doch dann bemerkte er, dass der Bagger etwas aus dem Wasser gezogen hatte. Hiebler erkannte das Heck eines weißen Lieferwagens, der an einem Stahlseil hing. Das Führerhaus war noch unter Wasser, nur der Laderaum selbst ragte heraus.

„Der Betreiber der Schottergrube hat ihn herausgezogen, vor einer Stunde“, berichtete Wilszek. „Er hat gesehen, dass da was im Wasser war, und wollte es wegräumen, hat er gesagt. Früher haben immer wieder Leute Sperrmüll hier abgeladen, bis er den Zaun erneuert hat. Anscheinend hat er deswegen schon Anzeige erstattet. Aber ein ganzes Auto hatte er noch nie. Es lag schon länger hier drin.“

Hiebler sah, dass die Tür am Heck einen Spalt offenstand.

„Wo ist der Mann?“, fragte Meier.

„Er wird derzeit psychologisch betreut. Steht unter Schock. Keine Ahnung, wann du den befragen kannst.“

Hiebler war ein Stück hinter Meier und Wilszek zurückgeblieben. Die beiden standen am Rand der Schottergrube, wo der Hang einige Meter steil zum Wasser hin abfiel. Alles in ihm sträubte sich dagegen, näher hinzugehen. Doch als die beiden den Hang hinunterkletterten, gab er sich einen Ruck und folgte ihnen. Der Gestank wurde mit jedem Schritt stärker. Es würgte Hiebler, ein Reflex, den er nicht unterdrücken konnte. Er versuchte, durch den Mund zu atmen, und presste den rechten Ärmel seiner Jacke unter die Nase, während er sich mit der linken Hand am Hang abstützte. Wilszek, der weiße Handschuhe trug, öffnete die Tür. Meier warf einen Blick hinein und wandte sich schnell wieder ab. Wilszek sah Hiebler an, hielt die Tür des Wagens auf. Hiebler zögerte kurz, dann warf er ebenfalls einen Blick in den dunklen Innenraum.

„Wie willst du weiter vorgehen?“, fragte Caroline Meier. Sie waren zum Parkplatz beim Eingang des Geländes zurückgekehrt. Meier sprach mit einer Ruhe, die Kevin Hiebler nicht nachvollziehen konnte. Ihm war schwindlig und übel.

„Wir können das Fahrzeug nicht da lassen“, sagte Wilszek. „Zu einsehbar. Hier werden bald die ersten Pressefotografen aufkreuzen, so kann ich unmöglich arbeiten. Die Spurensicherung hier am Gelände wird sehr schwierig. Der Wagen liegt da seit Wochen drin. Aber er hat dicht gehalten, es ist kein Wasser hineingelaufen. Ich bin mir nicht sicher, ob das normal ist.“

„Finde es heraus. Haben wir ein Kennzeichen?“

Wilszek verneinte. „Kein Nummernschild.“

„Also abschleppen?“, fragte Meier.

„Ich denke schon.“

„Aber wohin?“ Meier zögerte. „In der Gerichtsmedizin gibt es keinen Raum, der groß genug ist.“

„Du hast recht“, gab Wilszek zu. „Ich werde mir etwas überlegen.“

„Tu das. Spätestens heute Abend will ich eine Lösung haben.“

12 Uhr

Meier und Hiebler verließen Peggau ebenso wortlos, wie sie gekommen waren. Hiebler hatte einen flauen Magen, fast so, als wäre er verliebt, und er wunderte sich noch immer über die Ruhe seiner Chefin. Er verstand nun besser, wie stark man sein musste, um bei der Mordgruppe zu arbeiten.

Sie stellten das Auto auf dem Parkplatz des Landeskriminalamts ab, gingen hinauf in die Kanzlei und schlossen die Tür.

Als Meier wieder an ihrem Schreibtisch saß, senkte sie auf einmal das Gesicht und ein Ruck ging durch ihren Körper. Dann noch einer. Da hörte Hiebler, dass es stumme, unterdrückte Schluchzer waren.

Er fühlte sich so hilflos wie noch nie zuvor in seinem Leben. Irgendwann stand er auf und legte seiner Chefin die Hand auf die Schulter.

„Ich kann das nicht mehr“, flüsterte Meier.

Du musst, dachte er. Es ist niemand mehr da außer dir.

12 Uhr 30

Nachdem Meier den Chef der Kriseninterventions­stelle telefonisch nicht erreicht hatte, um mehr über den Zustand von Stocker, dem Chef der Schottergrube, zu erfahren, hatte sie Hiebler zum Mittagessen geschickt.

Da saß er nun in der Kantine, starrte auf seine faschierten Laibchen mit Erdäpfelpüree und versuchte, einen Bissen von Letzterem hinunterzuwürgen.

Grinsende Gesichter.

Das war es, was er in der Dunkelheit gesehen hatte. Damit hatte er überhaupt nicht gerechnet.

Er kannte diesen Effekt, das Grinsen entstand durch das Austrocknen der Haut, die sich beim Verwesen zusammenzog und die Lippen öffnete, bis die Zähne freilagen. Eine der Leichen hatte etwas getragen, das wie eine Trachtenweste aussah. Er selbst hatte so etwas als Kind gehabt, für Hochzeiten und Volksfeste seiner Verwandten auf dem Land. Das Bild hatte sich gestochen scharf in seine Netzhaut gebrannt und tauchte alle paar Minuten in seiner Erinnerung auf.

Ich kann jetzt nichts essen, dachte Hiebler. Beim besten Willen nicht.

Er brachte das Tablett zurück, entschuldigte sich und ging wieder hinauf in die Kanzlei. Meier hatte sich scheinbar wieder gefangen und telefonierte. Sie wirkte hitzig, energiegeladen.

„Haben Sie gehört, was ich gerade gesagt habe? Mindestens fünf. Wir sind noch nicht einmal sicher, wie viele … natürlich kann ich die Besprechung auch verschieben, aber finden Sie nicht … ja, Rainer Swoboda ist auf Kur … ja, sicher … gut, von mir aus. Dann eben morgen Nachmittag. 15 Uhr, spätestens. Ist gut, bis morgen.“

Sie schlug mit der Hand auf den Unterbrecher des Telefons und legte dann den Hörer darauf. „Trottel“, sagte sie.

Hiebler begriff, dass sie mit Kurt Lafkowits telefoniert hatte, dem Interimschef der Abteilung für Gewaltverbrechen des Landeskriminalamts. Sein Vorgänger Mario Sukitsch saß in Untersuchungshaft, warum genau, hatte ihm niemand erklären wollen. Liest du keine Zeitung? Hiebler war Lafkowits bisher nur einmal begegnet.

Er hatte ihn vor zwei Wochen auf dem Gang getroffen, er kannte den kleinen, hemdsärmeligen Mann mit aufrechter Handlung von Fotos aus dem Internet. Bei ihm war noch ein Mann im Anzug gestanden, den er nicht kannte, aber er hatte vermutet, dass das der Staatsanwalt war, Sonnleitner.

Hiebler trat zu den beiden hin, die sich mit ihren Kaffeebechern in den Händen unterhielten, doch Lafkowits reagierte nicht, bis Sonnleitner das Gespräch unterbrach und sich mit einem „Was denn?“ an Hiebler wandte.

„Guten Tag. Herr Lafkowits? Ich bin der Neue. Kevin Hiebler.“

Lafkowits schüttelte stirnrunzelnd die ihm angebotene Hand.

„Hiebler … helfen Sie mir.“

„Mordgruppe. Caroline Meier hat mit Ihnen über mich gesprochen.“

Da hellte sich Lafkowits’ Miene auf.

„Ach ja, richtig. Willkommen!“

Dann wandte er sich wieder Sonnleitner zu. Hiebler wartete ab, ob er Sonnleitner vorgestellt wurde. Als das nicht passierte, ging er.

Lafkowits arbeitete eigentlich in einer Sonderabteilung für Wirtschaftskriminalität, die direkt dem Innenministerium unterstellt war, und hatte den Ruf eines Problemlösers. Allerdings schien er immer sehr beschäftigt zu sein.

Meier war aufgestanden und nahm gerade ihre Jacke von der Sessellehne.

„Wir dürfen diesen Stocker jetzt befragen“, erklärte sie. „Kommst du mit?“

14 Uhr

„Tut mir leid wegen vorhin“, sagte Caroline Meier, als sie mit dem Dienstwagen Richtung Gösting fuhr, wo Stocker wohnte. „Das darf mir eigentlich nicht passieren.“

Kevin Hiebler zuckte mit den Schultern. Er wollte etwas Beruhigendes sagen, doch es fiel ihm nichts ein.

„Ich hätte dich warnen sollen“, fuhr sie fort. „Wenn die vom Journaldienst einmal so durcheinander sind, hat das einen Grund. Es hätte mir klar sein müssen.“

„Ich habe noch nie so viele Tote auf einem Haufen gesehen“, stellte Hiebler fest und merkte, dass es sich wie ein Vorwurf anhörte, was er eigentlich nicht gemeint hatte.

„Glaubst du etwa, ich?“

„Hast du die Weste gesehen?“, fragte Hiebler.

„Welche?“

Hiebler schüttelte den Kopf. „Ach, gar nichts.“

„Jetzt sag schon!“

„Wie von einem Steireranzug.“

Sie schwieg kurz, als müsse sie den kalten Schauer abwarten, der ihr über den Rücken lief.

„Kein Wort an irgendwen, hörst du?“, sagte sie.

„Das wird einen Wirbel geben.“

„Die Medienarbeit soll Lafkowits machen. Da halten wir uns komplett raus.“

14 Uhr 20

Die gesuchte Adresse war ein großes, gelb gestrichenes Haus mit rotem Ziegeldach und gepflastertem Parkplatz, auf dem ein dunkler Porsche Cayenne stand. Das Haus lag auf einer Anhöhe mit Blick auf die Stadt, zwischen Designerhäusern mit Flachdächern und großen Glasfassaden.

„Die von der Kriseninterventionsstelle haben gesagt, er ist vernehmungsfähig“, erklärte Meier, während sie zur Haustür gingen. „Aber wir sollen uns nicht zu viel erwarten, er hat ein Beruhigungsmittel bekommen.“

Meier klingelte, doch nichts passierte. Neben dem Fußabstreifer lag ein glitzerndes Einhorn aus Plastik. Hinter dem Porsche hatten sie ein rosarotes Dreirad gesehen. Als sie gerade ein zweites Mal klingeln wollte, hörten sie, wie ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Die Tür öffnete sich einen Spalt, und eine Frau mit dunkelrot gefärbten Haaren und gezupften Augenbrauen, die schwarz nachgezogen waren, lugte heraus.

„Ja?“

„Guten Tag, wir sind vom Landeskriminalamt. Ich bin Chefinspektor Meier, das ist Inspektor Hiebler. Frau Stocker?“

Die Frau nickte. „Sie wollen zu meinem Mann?“

„Bitte.“

„Kommen Sie herein.“

Im Haus begann ein Hund zu bellen. Als die beiden Polizisten eintraten, tauchte ein riesiger Golden Retriever auf. Stocker erwischte ihn am Halsband und hielt ihn zurück.

„Still jetzt, Aron! Musst du immer so einen Wirbel machen? Geh Platz!“

Der Hund ignorierte sie, bellte die beiden Fremden an. Besonders Hiebler schien es ihm angetan zu haben.

„Aus!“, schrie Stocker, worauf der Hund winselnd den Kopf einzog.

„Tut mir leid“, sagte sie. „Er folgt nicht, wir können nichts machen. Heute ist er überhaupt ganz aufgedreht, das ist wegen meinem Mann.“

„Kein Problem“, versuchte Meier, die Frau zu beruhigen.

Stocker zerrte den Hund am Halsband weg, und Meier und Hiebler betraten ungefragt die Küche.

„Lassen Sie die Schuhe gleich an“, sagte Stocker, als sie zurückkam.

„Wo ist Ihr Mann?“, fragte Meier.

„Es geht ihm nicht besonders gut“, sagte die Frau. „Die Psychologin hat gemeint, er braucht Ruhe.“

„Wir haben das mit ihr abgesprochen. Es dauert nicht lang, nur ein paar Fragen.“

Stocker schien nicht besonders glücklich darüber zu sein, wies Meier und Hiebler aber den Weg. „Da entlang.“

Sie betraten einen abgedunkelten Raum, die Jalousien waren heruntergelassen. Im Zwielicht war ein ebenso korpulenter wie kräftiger Mann zu erkennen, der regungslos und seltsam schlaff in einem Lehnsessel saß, als hätte man ihn hier abgeladen. Seine Augen fanden die Polizisten und wechselten schnell zwischen den beiden hin und her.

„Herr Stocker?“

Er sandte einen flehenden Blick an seine Frau. „Ja?“

Meier stellte sich vor. „Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen.“

Stocker antwortete nicht. Er wirkte hilflos, wie ein Kind, das sich verlaufen hat. Seine Frau stand hinter den Polizisten und beobachtete alles mit verschränkten Händen.

„Sie haben den Lieferwagen gefunden?“

„Ja“, sagte er und räusperte sich. „Ja, das stimmt.“

Meier wartete darauf, dass Stocker erzählte.

„Sie wollten ihn aus dem Wasser ziehen, mit einem Bagger?“, versuchte sie nachzuhelfen.

„Die Zigeuner“, brach es aus ihm heraus. „Die kippen immer ihren Müll in den Teich! Ich hab schon Anzeige erstattet, einmal hab ich die Nummerntafel aufgeschrieben. Aber da ist nichts passiert.“

„Sie wissen also, wer den Müll dort ablädt?“, fragte Meier, die sich zurückhalten musste. Man nannte sie Roma, Zigeuner war diskriminierend. Aber sie wollte den Mann nicht unterbrechen.

„Herr Stocker, weiter. Wann war das? Wie lang war das Fahrzeug schon bei Ihnen im Teich?“

„Ich weiß nicht. Wie hätte ich ahnen sollen, dass da wer drin ist?“

„Du musst das nicht beantworten“, meldete sich Stockers Frau im Hintergrund. „Die Psychologin hat gesagt –“

Meier bedeutete ihr mit einer Geste zu schweigen. Dem Mann ging es wirklich schlecht, doch sie wollte noch nicht aufgeben.

„Und heute haben Sie das Fahrzeug aus dem Teich gezogen? Warum heute?“

Er schüttelte den Kopf. „Woher hätte ich wissen sollen, dass da Leute drin sind? Ich meine, wer rechnet denn mit so was?“

Auf einmal waren da Tränen in den Augen des großen Mannes.

„Ich habe nichts gehört, ehrlich! Da hat niemand geklopft, das hätte ich gemerkt!“

„Frau Inspektor“, sagte Stockers Frau.

„Sie sollten sich keine Vorwürfe machen“, sagte Meier. „Wir wissen nicht, ob diese Menschen noch gelebt haben, als das Fahrzeug hier abgeladen wurde. Es spricht vieles dagegen.“

„Irene, geh, bringst du mir einen Schnaps? Ich brauch noch einen, bitte.“

Seine Frau kniff die Lippen zusammen und rührte sich nicht.

„Wer war noch dabei? Als Sie den Laderaum geöffnet haben?“, fragte Hiebler.

„Ich hätte den schon viel früher abschleppen sollen.“

Er schüttelte den Kopf und schien plötzlich weit weg zu sein.

Meier war noch nicht fertig, doch sie sah, dass es keinen Sinn hatte.

„Wir werden morgen wiederkommen“, sagte sie zu Frau Stocker. „Hier ist meine Visitenkarte. Rufen Sie mich an, wenn es ihm besser geht.“

Als sie zum Auto gingen, klingelte Meiers Telefon. Wilszek war in der Leitung.

„Ja?“

„Ich habe jetzt einen Abschleppwagen hier. Wo sollen wir den Lieferwagen hinbringen?“

„Du willst ihn abschleppen lassen?“, fragte Meier.

„Natürlich, das hatten wir ja besprochen.“

„Einfach so durch die Stadt?“

„Wie denn sonst?“

Meier überlegte, ob es eine andere Lösung gab, doch es fiel ihr keine ein.

„Wohin jetzt?“, fragte Wilszek. „Deine Entscheidung.“

„Lass ihn ins Landeskriminalamt bringen“, sagte Meier.

Wilszek legte auf.

„Dort ist das Gelände wenigstens bewacht und keiner sieht hinein“, sagte Meier zu Hiebler, doch es klang nicht sehr überzeugt. „Komm, fahren wir zurück. Wir müssen diese Anzeige finden.“

15 Uhr

Als sie die Kanzlei der Mordgruppe betreten und gerade ihre Sachen abgelegt hatten, stürmte Lafkowits zur Tür herein.

„Ich habe gehört, was passiert ist“, sagte er. „Bitte klären Sie mich über die Details auf.“

Meier packte ihre Tasche aus, ohne ihn anzusehen.

„Einen Moment. Ich muss auf die Toilette. Sie können sich schon einmal hinsetzen.“

Sie ließ Lafkowits und Hiebler in der Kanzlei zurück. Nach ein paar Minuten setzte sich Lafkowits tatsächlich hin, ohne Hiebler eines Blickes zu würdigen. Er wirkte angespannt.

Als Meier zurückkam, ließ er sich nichts anmerken und wartete geduldig, bis sie sich ebenfalls gesetzt hatte und ihm kurz das Wenige berichtete, was sie wussten.

Lafkowits nickte. „Was wird nun unternommen?“, fragte er.

„Wir müssen warten, bis Stocker vernehmungsfähig ist. Inzwischen haben wir vom Sekretariat eine Liste aller Mitarbeiter angefordert. Darüber hinaus suchen wir eine Anzeige, die Stocker offenbar gemacht hat. Es wurde schon öfter Müll bei ihm abgeladen, einmal hat er sich das Kennzeichen aufgeschrieben.“

„Was meinen Sie damit, Sie suchen diese Anzeige?“

„Wir wollten das eben nachsehen, bevor Sie gekommen sind.“

„Tun Sie das“, sagte Lafkowits. „Und weiter?“

„Sonst können wir nur abwarten, was die Tatortgruppe liefert. Und natürlich warten wir auf die Obduktion.“

Lafkowits nickte. „Und finden Sie, dass das genug ist?“, fragte er.

„Was sollen wir sonst tun im Moment?“, gab Meier zurück.

„Warum ist Rainer Swoboda noch nicht hier?“

„Rainer Swoboda war auf Kur. Ich habe ihn schon verständigt.“

„Wir müssen diese Besprechung morgen vorverlegen“, sagte Lafkowits. „Das kann nicht bis zum Nachmittag warten. Kann Swoboda um acht Uhr hier sein?“

„Nichts lieber als das. Ich werde ihm Bescheid sagen“, versprach Meier.

„Gut, danach machen wir eine Pressekonferenz. Um zehn“, sagte Lafkowits, dann stand er auf und verließ den Raum.

„Jetzt auf einmal doch früher“, sagte Meier, als er weg war. „Warum hört er mir eigentlich nie zu?“

Hiebler machte sich auf die Suche nach der Anzeige und fand sie im System. Das Kennzeichen war ein ungarisches gewesen, und die Sache war eingestellt worden. Er druckte die Akte aus und ging mit dem Zettel in der Hand zu Meiers Schreibtisch.

„Da, schau.“

Sie beachtete ihn nicht, starrte gebannt auf ihren Bildschirm.

„Was ist los?“, fragte er.

„Wow“, sagte sie, „unser Stocker.“

„Was ist mit ihm?“

„Über den haben wir eine Akte. Vorbestraft“, sagte Meier.

In diesem Moment klingelte ihr Handy. Sie nahm den Anruf entgegen.

„Gut“, sagte sie.

„Wir müssen runter“, wandte sie sich an Hiebler, „der Lieferwagen ist da.“

Der Tatort, dachte Hiebler. Wir haben den Tatort einfach zum Landeskriminalamt geschleppt.

Wie praktisch.

15 Uhr 30

Aus den Radkästen des Fiat Ducato tropfte Wasser auf den Parkplatz des Landeskriminalamts. Das Führerhaus war mit Algen überzogen, die langsam trockneten und einen Geruch nach Schlamm verströmten, der schwach auszumachen war unter dem Gestank aus dem Laderaum.

Swoboda, Meier und Hiebler standen schweigend vor der geöffneten Heckklappe des Fahrzeugs und starrten in den Innenraum. Sie hatten sich die Mentholsalbe unter die Nasen gerieben, die Wilszek angeboten hatte.

„Scheiße“, sagte Rainer Swoboda, ohne den Blick abzuwenden. Dann noch einmal: „Scheiße.“

„Wer zum Teufel sind diese Leute?“, fragte Meier. „Die müssen doch irgendwo hingehören!“

„Hast du die Vermisstenkartei angeschaut?“, fragte Wilszek.

„Noch nicht. Aber ganz im Ernst, fünf auf einmal?“

„Vielleicht nicht aus Österreich“, schlug Wilszek vor.

Das war es, was auch Hiebler gleich gedacht hatte. Die konnten unmöglich von hier sein. Aber dann hatte er die Trachtenweste entdeckt. Die er gerade nirgends mehr sah. Der Abtransport hatte die Körper offenbar durcheinandergebracht.

„Durch Peggau geht doch keine Flüchtlingsroute“, sagte Swoboda. „Oder?“

„Wir müssen das genau wissen“, antwortete Meier. „Ist die Gerichtsmedizin schon verständigt?“

„Steger ist auf dem Weg.“

„Der kann gleich ein paar Kollegen mitbringen. Das hier bedeutet Arbeit. Ich brauche DNA-Proben von denen allen, und zwar schnell.“

„Wie gesagt, Steger müsste jeden Moment hier sein.“

Sie hörten Schritte, die sich von hinten näherten. „Was stinkt denn hier so … du meine Güte!“

Der Mann von der Datenforensik-Gruppe blieb stehen und hielt sich den Ärmel vor die Nase. „Ach du Scheiße!“, fluchte er und suchte das Weite.

„Ich glaube, wir müssen das hier schnell erledigen“, sagte Meier.

„Ganz meine Meinung“, gab Wilszek zurück und ging zu seinem Auto. Er zog den weißen Overall der Tatortgruppe an, gab seinen Mitarbeitern, die etwas abseits gewartet hatten, ein Zeichen und stieg in den Laderaum.

„Ich melde mich, wenn es etwas Neues gibt“, sagte er zu Meier.

17 Uhr

Hiebler durchforstete Vermisstenmeldungen aus ganz Österreich und versuchte, ein System zu finden, das irgendeinen Sinn ergab, doch die Aufgabe erschien ihm hoffnungslos. Hier ein Teenager aus Linz, der auf dem Heimweg von einer Party verschwunden war und nie gefunden wurde, vermutlich in der Donau ertrunken. Da eine Prostituierte aus Bulgarien, die in der Nähe von Salzburg arbeitete und ihre Familie zuhause besuchen wollte, wo sie jedoch nie angekommen war. Dort ein Junkie aus Vorarlberg, der eines Tages zu einem Termin mit seinem Bewährungshelfer nicht erschien und nie mehr gesehen ward. Und eine Statistikerin für ein Mobilfunkunternehmen aus Wien, die ihrem Lebensgefährten eine hingekritzelte Notiz hinterließ, bevor sie aus dem Urlaub am Neusiedlersee irgendwohin aufbrach. Wohin, wusste niemand.

Der Anblick dieser Liste schmerzte ihn als Polizisten. Er hatte inzwischen genug Erfahrung, um zu wissen, dass hinter manchen dieser Fälle tatsächlich ein Verbrechen steckte, das aber einfach gut genug ausgeführt war, um selbst für die Spezialisten von der Polizei nicht sichtbar zu sein. Erst wenn auf Druck der Öffentlichkeit oder der Politik hin mehr Mittel bewilligt wurden, kam Bewegung in solche Fälle, jedenfalls dann, wenn es um Personen von besonderem Interesse ging. Doch selbst das half nicht immer. Umgekehrt gab es auch Fälle, in denen ein begründeter Verdacht bestand, wer für das Verschwinden der Person verantwortlich war, in denen aber die Indizien für eine Anklageerhebung nicht ausreichten und ein mutmaßlicher Mörder sich mir nichts, dir nichts ins unbeschwerte Privatleben zurückziehen konnte. Hiebler hatte beides erlebt und konnte sich nicht entscheiden, welches Szenario er schlimmer fand.

Es war nicht auszuschließen, jemanden von dieser Liste in dem Lieferwagen zu finden, aber er sah beim besten Willen keine fünf Fälle, die irgendwie zusammenhingen. Es musste eine Gemeinsamkeit dieser Leute geben, zumindest einen Zeitraum, wenn nicht sogar eine Gegend, die sich eingrenzen ließ. Doch wie er die Fälle auch zu ordnen versuchte, es gelang ihm nicht, auf die Opferzahl im Lieferwagen zu kommen.

Fünf Tote, die aus dem Nichts auftauchten.

Flüchtlinge?

Der Gedanke drängte sich auf.

Caroline Meier hatte inzwischen die Mitarbeiterliste von Stockers Schotterwerk bekommen und sich auf den Weg gemacht, um die Sekretärin zu befragen. Nicht, dass sie sich viel davon erwartete, es sprach alles dafür, dass der Lieferwagen in Peggau nur abgeladen wurde. Die Schottergrube lag neben der Schnellstraße und war als illegale Mülldeponie bekannt, das genügte. Das Verbrechen, so es denn eines gab, war ganz woanders verübt worden. Dennoch, es bestand eine geringe Chance, dass jemand etwas gesehen hatte.

Noch ein Gedanke war ihm gekommen: Vielleicht handelte es sich nicht um Vermisste, vielleicht lag hier ein viel weniger schwerwiegendes, dafür abstruseres Verbrechen vor. Wenn nämlich die Menschen schon tot gewesen waren. Jemand konnte sie auf einem Friedhof ausgegraben und in den Lieferwagen geworfen haben. Hiebler versuchte sich einzureden, dass das eine realistische Option war, doch in Wirklichkeit glaubte er nicht daran. Diese Frage würde sich ohnehin bald klären, Steger hatte angekündigt, mehrere Assistenten hinzuzuziehen, damit es schneller ging.

Nachdem Hiebler die Vermisstenfälle gesichtet hatte und Meier immer noch nicht zurück war, rief er sie kurz an und fragte, wie weit Rainer Swoboda mit der Befragung der Anrainer war. Er bekam ein paar Adressen und fuhr noch einmal nach Peggau, wo er nichts Neues erfuhr.

Als er am Abend vor der Playstation saß und den neuen Shooter ausprobierte, den er sich letzte Woche gekauft hatte, verging ihm nach einem Dutzend erschossener Gegner die Lust und er schaltete das Gerät aus.

0 Uhr 30

„Geh, Adi, lass den Franz in Frieden, der will nicht reden“, sagte Joe.

Adi hatte heute mehr getankt als üblich. Normalerweise wurde er nach etwa sechs Bieren müde und manövrierte seine schwere Gestalt aus der Enge des Pubs ins Freie. Doch es gab Tage, an denen Adi aufgekratzter war als sonst, an denen ihn etwas beschäftigte. Wahrscheinlich etwas aus seiner Vergangenheit, denn in Adis Gegenwart gab es nicht viel.

Heute schien es ihm gut zu gehen.

„Eigentlich geht mir ja nichts ab“, sagte Adi. „Alle schimpfen sie, dass ich blad bin. Aber weißt du was? Wenn ich gesund wär, müsst ich immer noch arbeiten. Schau mich an! Schau ich aus, als ob ich arbeiten könnte?“

Adi wartete auf eine Antwort des hageren Mannes, der auf dem Barhocker neben ihm saß, bevor er sich an den Barkeeper wandte. „Geh, Joe, bring mir noch eins.“

Der Barkeeper machte sich kommentarlos ans Werk und stellte Adi ein neues Glas hin. Schaum lief außen über das Puntigamer-Logo hinab und weichte den Bierdeckel auf.

„Blad zu sein ist keine Schande“, sagte Adi, nachdem er einen Schluck genommen hatte. „Wichtig ist doch, dass da oben alles in Ordnung ist.“ Adi tippte sich an die Stirn. Plötzlich lachte er und beugte sich zu seinem Sitznachbarn. „Nichts für ungut, aber auf deine Probleme bin ich nicht neidisch. Da bin ich lieber fett.“

„Jetzt reicht’s aber, Adi. Beleidigen brauchst du ihn nicht.“

„Stimmt doch!“, gab Adi zurück. „Es ist gar nichts dabei, wenn man wegen Kreuzweh in Pension geht. Es gibt immer welche, die sich aufregen, da hör ich gar nicht mehr zu. Die Scheiß-Zeitungen, die Politiker. Pensionsantrittsalter anheben? Bis 70? Das ist doch unmenschlich! Du verstehst das, Kieberer, du bist auch fertiggefahren. Jeder muss schauen, wo er bleibt.“

„Der Franz ist doch gar nicht in Pension“, sagte Joe.

„Selber schuld. Er muss eh schauen, das wird immer schwieriger. Ich kann dir einen Arzt sagen.“