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Dr. Günther Loewit

Wir schaffen die Kindheit ab!

Helikoptereltern, Förderwahn und Tyrannenkinder

für Kerstin

Vorwort

In 35 Jahren ärztlicher Tätigkeit, vor allem als Land- und Hausarzt, habe ich eine Beobachtung gemacht: Im Vergleich zu früher hat sich unsere Beziehung einerseits zum Tod, andererseits zum Prozess des Sterbens von alten und ältesten, kranken oder nur betagten Menschen deutlich verändert. Für unsere Gesellschaft scheint das Sterben-Müssen heute eine inakzeptable Bedrohung darzustellen, für die Medizin ist es zum zentralen Interessens­punkt geworden. Unter anderem wohl auch deshalb, weil die Medizinindustrie sowohl das Alter selbst als auch den letztlich unabwendbaren Tod des Menschen als eigene Krankheit erkannt hat, die mit allen Mitteln des modernen Medizinbetriebes bekämpft wird. Geld spielt dabei, so wird uns von Seiten der Politik ständig versichert, keine Rolle.

Und während das Alter, das Sterben, der Tod immer mehr an Aufmerksamkeit und an finanziellen Mitteln erhalten, verschwinden andererseits, von der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend unbemerkt, herumtollende, lebendige und lärmende Kinder nicht nur aus dem Straßenbild unserer Ortschaften, sondern auch aus dem Selbstverständnis einer ganzen Gesellschaft. So wie die alten Menschen in Pflege- und Altersheimen, geriatrischen Stationen, Hospizen und anderen Einrichtungen versorgt werden, sammelt die moderne Wohlstandsgesellschaft ihre wenigen Nachkommen – oft schon Monate nach der Geburt – in Krippen, Horten, Kindergärten, Ganztagsschulen und anderen Betreuungseinrichtungen. Hauptsache, niemand stört den öffentlichen Spaß, die vermeintliche Lust am Leben und eine schon verdächtig egozentrierte allgemeine Selbstverwirklichung. Und auch hier sagt die Politik als offizielle Vertreterin des Zeitgeistes, dass Geld keine Rolle spielen darf.

Als Arzt erlebe ich immer mehr verzweifelte Eltern, die sowohl mit ihrem eigenen Leben als auch mit ihren Kindern nicht mehr zurechtkommen. Überforderung und Stress sind selbstverständliche und nur wenig hinterfragte Lebensbegleiter für Eltern wie für Kinder geworden. Und immer mehr Frauen zerbrechen im Spannungsfeld von emanzipatorischem Ideal und gelebter Wirklichkeit, während verunsicherte junge Männer nach einer neuen Identität, einem zeitgemäßen Rollenbild suchen. Jeder zehnte Österreicher ist depressiv, jeder vierte Österreicher leidet oder litt an einem Burnout-Syndrom. In meinem medizinischen Alltag bin ich weit häufiger mit unerfülltem Kinderwunsch und sexuellem Desinteresse konfrontiert als mit tödlichen Verkehrsunfällen auf der Straße.

Und während Prellungen, Zerrungen, Schnitt- und Schürfwunden bei Kindern und Jugendlichen im Laufe der vergangenen 30 Jahre weitgehend aus dem landärztlichen Alltag verschwunden sind, leiden meine jungen Patienten immer öfter unter psychischen Problemen wie Konzentrations- und Bewegungsstörungen, kindlichem Burnout-Syndrom, Überforderung, Mobbing im Kindergarten und der Schule, ungerichteten Aggressionen und Selbstverletzungen, ADHS und Suchterkrankungen. Für die Behandlung dieser Erkrankungen wird auch laufend mehr Geld gefordert.

Trotz verminderter Klassenschülerzahlen, eines deutlich vermehrten pädagogischen Aufgebots und noch nie da gewesener Kosten für das Schulsystem verlassen immer mehr Jugendliche die Schule als lebensuntüchtige Teilanalphabeten. Zunehmende Jugendarbeitslosigkeit und mangelnde Perspektiven auf persönliches Glück und Erfüllung im Leben lassen junge Menschen schon früh in ihrem Leben zu chronisch kranken Patienten werden.

Nach menschlich intensiven Arbeitstagen in meiner Praxis, an denen ich mit Patienten vom Kindes- bis zum Greisenalter über unterschiedlichste Probleme, Krankheiten, Behandlungen und Medikamente gesprochen habe, geht mir oft die – zugegebenermaßen provokante – Frage durch den Kopf, ob wir die finanziellen Mittel, die uns zur Verfügung stehen, nicht falsch einsetzen. Ob wir nicht, im Sinne des Fortbestandes unserer Gesellschaft, einen Teil der Millionen, die wir ausgeben, um das Leben von schwerkranken Menschen um ein paar Tage oder Wochen zu verlängern, besser in den Erhalt familiärer Strukturen und in die Entwicklung unserer Kinder investieren sollten. Denn letztlich steht fest: Ohne lebensfähigen Nachwuchs würde das natürliche Experiment Menschheit ein – ebenso natürliches – Ende finden.

Vor zwei Jahren habe ich mich im Buch „Sterben. Zwischen Würde und Geschäft“ mit dem eigenartigen Bild vom Sterben und vom Tod, das sich in unserer Gesellschaft wie auch in unserer heutigen Medizin durchgesetzt hat, auseinandergesetzt. Dabei ist mir bewusst geworden, dass die Kinderarmut unserer Zeit einen wesentlichen Anteil am „nicht mehr sterben Können“ und am „nicht loslassen Können“ hat. Sozusagen als Gegenpol dazu will ich in diesem Buch nun das Thema Kindheit in den Mittel­punkt rücken.

Im ersten Teil werde ich mich mit den allgemeinen Gründen beschäftigen, die dazu führen, dass unsere Gesellschaft definitiv zu wenig Nachwuchs zur Welt bringt, um als solche überleben zu können. Im zweiten Teil geht es darum, wie diese, unsere Gesellschaft mit ihren wenigen Kindern umgeht – also um konkrete Fragen der medizinischen Überversorgung und deren Folgen, der Erziehung, der veränderten familiären Verhältnisse und des Schulsystems.

Die Arbeit an diesem Buch war eine intensive und bereichernde Erfahrung, mit unzähligen Stunden an interessanten Recherchen, inspirierenden Gesprächen und ernüchternden Überlegungen. Sie hat mir angesichts der Nachlässigkeit, Unvernunft und des individuellen Egoismus, den wir gerade dort an den Tag legen, wo es um unseren Nachwuchs geht, Phasen des Erstaunens, aber auch des Erschreckens und der Fassungslosigkeit beschert.

Gleichzeitig habe ich während dieser Recherche auch Momente der Freude und Dankbarkeit erlebt, denn nicht zuletzt war dieses Buch für mich als Vater von drei mittlerweile bereits mehr oder weniger erwachsenen Kindern eine Art Reise in die eigene erzieherische Vergangenheit. Ich hoffe, dass für Sie als Leserin oder Leser dieses Buches auf den folgenden Seiten beides spürbar sein wird: der kritische Geist ebenso wie der väterliche, die nüchterne Bestandsaufnahme unserer Gegenwart ebenso wie die Hoffnung auf zukünftige Vernunft.

Teil 1: Unsere sterbende Wohlstands­gesellschaft

Die Geschichte zeigt: Je wohlhabender eine Gesellschaft wird, umso weniger Nachkommen bringt sie zur Welt. Eine Fortpflanzungsrate von 1,4 Kindern pro Frau reicht – ohne Zuwanderung – nicht aus, die Bevölkerungszahl eines Landes konstant zu halten. Dabei verwendet unsere Gesellschaft einen ungleich höheren Anteil ihrer finanziellen Ressourcen, um das Sterben von alten und kranken Menschen zu verhindern und hinauszuschieben, als dass sie Kinder und deren Wohlergehen fördern würde.

Geförderte und überforderte Kinder

Zurzeit erleben wir, dass das Konzept einer „ungestörten“ Kindheit zunehmend zugunsten der Aufzucht kleiner, voll funktionsfähiger Erwachsenenimitate abgeschafft wird. Denn schon die Tage der Kindheit sind durchorganisiert und durchgeplant. Immer wieder, wenn ich als konsultierter Arzt vorsichtig Zweifel an der Fülle der Ansprüche an ein sogenanntes „krankes“ Kind vorbringe, höre ich den Satz: „Nein, nein, mein Kind kann das schon.“ Oder: „Nein, das ist ihm sicher nicht zu viel.“ Denn die wenigsten Kinder, die wegen irgendwelcher Krankheiten zu mir kommen, zeigen aus der Sicht des Arztes wirklich krankhafte organische Befunde. In vielen Fällen sind die körperlichen Symptome, derentwegen Kinder mit ihren Eltern in die Ordination kommen, nur eine Folge chronischer psychischer Überbelastung. Man könnte auch sagen: Die Kinder benützen eine scheinbare Krankheit als Hilfeschrei. Und werden in der Wunschvorstellung ihrer Eltern mit Medikamenten wieder voll funktionsfähig gemacht. Schnell und schmerzfrei.

Ja, moderne Kinder können alles. Zumindest, wenn man dem Selbstbildnis unserer heutigen Gesellschaft glauben möchte. Kinder von heute sind besser, als Kinder je zuvor waren. Und jedes einzelne Kind ist besser als ein anderes.

Geradezu perfekt.

Perfekt: Dieses Wort verdient eine tiefere Betrachtung: „Perfekt“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „vollendet“. Wenn also was auch immer endgültig vollendet worden ist, geht es in den „perfekten Zustand“ über. Gleichzeitig steht das Wort „Perfekt“ in grammatikalischer Hinsicht für „Vergangenheit“. Die scheinbare Doppeldeutigkeit des Wortes entpuppt sich bei näherer Betrachtung als durchaus erklärbar: Erst der letzte Pinselstrich des Künstlers, erst sein letzter prüfender Blick macht das Gemälde fertig und damit, zumindest für den Maler, perfekt. Wenn der Künstler vor seiner Staffelei steht und seine bemalte Leinwand für gut befindet, schließt er die Arbeit an dem Bild ab und führt sie in die Vergangenheit über. Was abgeschlossen ist, ist vergangen. Und was vergangen ist, wird dadurch perfekt. Weil es, zumindest im Fall einer kindlichen Entwicklung, nicht mehr verändert werden kann. Das perfekte Kind ist vollendet. Kann nicht mehr verbessert oder verändert werden. Eine moderne Kindheit ist scheinbar zu jedem Zeitpunkt abgeschlossen.

Zumindest ist sie ein abgeschlossenes System. Denn in der perfekten Kindheit gibt es wenig Raum für individuelle Entwicklung.

Moderne Kinder sind angehalten, ständig alle Erwartungen zu übertreffen und sich gegenseitig zu übertrumpfen. Angespornt vom Ehrgeiz der Eltern. Sie sind aus Sicht ihrer Eltern im Durchschnitt überintelligent. Das perfekte Spiegelbild der eigenen Wunschvorstellungen an das Leben. Jedes Kind ist der ganze Stolz seiner Eltern. Oft das und der einzige. Jedes Kind ist besonders gut, besonders begabt und muss daher schon besonders früh gefördert werden. Vergessen wird dabei aber gern, dass Kinder, denen alles zugetraut wird, auch häufig überfordert werden.

Kinder wachsen heute, wie oben schon erwähnt, häufig als kleine Imitate von Erwachsenen auf. Ihr Alltag gleicht in vielem dem ihrer Eltern: Ihr Terminkalender ist voll, ihre Smartphones unterscheiden sich nicht im Geringsten von den Smartphones von Erwachsenen. Kinder sind vernetzt wie Erwachsene. Nützen das gleiche Internet. Die gleichen Apps. Sehen fern wie Erwachsene. Sehen die gleiche Werbung, die gleichen Filme. Kinder haben zunehmend den gleichen Tag-Nacht-Rhythmus wie Erwachsene. Sind gleich leistungsfähig. Spielen Fußball und Tennis wie ihre Eltern. Ehrgeizig und verbissen. Kinder sind zusatz- und pensionsversichert. Kinder- und Erwachsenenwelt gleichen sich immer mehr aneinander an.

Und jedes einzelne Kind hat die Summe aller Ansprüche von Eltern zu erfüllen, die früher auf mehrere Kinder aufgeteilt waren. Das beginnt schon bei der medizinischen Gesundheits- und Überlebenserwartung: Wenn ein Elternpaar in früheren Jahrhunderten sechs Kinder in die Welt setzte, war unbewusst mit einkalkuliert, dass unter Umständen die Hälfte von ihnen das fünfte Lebensjahr nicht erreichen würde. Heute dagegen kann man sich dieses Risiko nicht leisten – bei einer durchschnittlichen Kinderzahl pro Paar von 1,4 muss jedes Kind medizinisch makellos sein. Und wenn früher sechs Nachkommen sechs verschiedene Berufslaufbahnen einschlagen konnten, ein Kind Pfarrer, ein Kind Arzt, eines Lehrer werden und drei Kinder ein Handwerk erlernen konnten, so teilten sich die Erwartungen der Eltern auf mehrere Hoffnungsträger auf. Heute muss das „1,4-Kind“ die gesamte elterliche Zukunftserwartung erfüllen. Es soll nicht nur sich selbst, sondern auch die Wünsche der Eltern verwirklichen. Nicht nur eine eigene Identität finden, sondern möglichst auch die von den Eltern zugedachte Rolle perfekt ausfüllen.

Aber nicht nur die Zeit der Kindheit wird verkürzt, sondern auf der anderen Seite des Lebensspektrums auch die Zeit des Alters. Wie oft werde ich von weit über 80-jährigen Patienten mehr oder weniger schroff zurechtgewiesen, wenn ich feststelle, dass eine Erkrankung eine ganz normale Alterserscheinung sei: „Sie wollen mir doch nicht sagen, dass ich mit 84 alt bin, oder?“ Nein, will ich nicht. Alle sind immer jung und makellos.

Man wird heute nicht mehr alt, sondern krank. Denn anders als das Alter muss eine Krankheit von einer omnipotenten Medizin heilbar sein. Die schmerzhafte Hüfte eines 86-jährigen Patienten ist nicht einfach alt oder abgenutzt, sondern krank und muss auf jeden Fall durch eine Prothese ersetzt werden. Eine schmerzlindernde Therapie für die letzten Lebensjahre kommt von vornherein gar nicht infrage. Eine zur Religion gewordene Medizin verspricht, dass alt werden nicht mehr notwendig ist. Selbst in der Werbung für Treppenlifte sind die Körper und Gesichter der sonst behinderten Menschen von jugendlicher Schönheit.

Von einem einmal eingetretenen Alter gäbe es aber keine medizinische Errettung mehr. Deshalb ist es nur logisch, dass Altersschwäche von den Statistikern auch nicht mehr als zum Tode führender Prozess anerkannt wird. Laut dem Formblatt zur „Feststellung des Todes“ der Statistik Austria muss ausdrücklich eine Krankheit zum Tode führen. Anders ist Sterben hierzulande nicht möglich. „Altersschwäche“ kommt nicht als Todesursache infrage. Denn Altersschwäche sei eben keine Krankheit.

Das Gegenstück dazu erleben wir bei Kindern: Ein „nicht funktionierendes“ Kind muss krank und damit medizinisch heilbar sein. Keinesfalls kann es einfach überfordert sein. Keinesfalls kann es Opfer einer selbst- und spaßverliebten Gesellschaft sein. Keinesfalls kann einem Kind der Spielraum zu wenig werden. Der Zwang zu viel. Die Norm zu eng. Die Liebe zu wenig.

Immer häufiger sehe ich in meiner Ordination Kinder mit Magenschmerzen. Und sogar Achtjährige berichten bereits über Herzschmerzen – früher hat ein achtjähriges Kind noch nicht einmal eine klare Vorstellung vom Herzen, seiner Lokalisation und seiner Funktion gehabt. Und vor allem: Husten! Husten ohne Fieber, Husten ohne Erkältung, Husten ohne Geräusch über der Lunge, Husten bei unauffälligem Lungenröntgen, Husten bei negativem Allergietest. Husten ohne Erklärung. Noch nie haben Kinder so viel und unbeirrt gehustet wie heute. Schon lange frage ich mich: Worauf husten diese Kinder?

Aber nicht nur körperliche Symptome, die sich leicht auf psychische Ursachen zurückführen lassen, häufen sich. Wie wollen wir erklären, warum jedes 20. Kind in Österreich an Depressionen leidet? Warum Angststörungen laufend häufiger werden? Warum fast jeder dritte Jugendliche sich einmal oder öfter gezielt selbst verletzt? Warum psychiatrische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen im Vormarsch sind und allerorts kinderpsychiatrische Krankenhausbetten fehlen? Warum Selbstmord die zweithäufigste Todesursache (nach Verkehrsunfällen) bei unter 20-Jährigen ist?

Eine mögliche Antwort für mich lautet: Weil unsere Kinder in einer Gesellschaft aufwachsen, die keinen Platz und keine Zeit mehr für sie hat. In einer Gesellschaft, die Kinder zwingt, viel zu schnell erwachsen zu werden – vielleicht gerade deshalb, weil es in dieser Gesellschaft viel zu wenige Kinder gibt.

Früher war alles besser

„Früher war alles besser“ – eine typische Aussage älter werdender Menschen.

Ein junger Mensch dagegen kann seine Gegenwart nicht mit einem „Früher“ vergleichen. Die Jugend sucht den Fortschritt, die Weiterentwicklung. Die Evolution, während die Revolution wörtlich das Zurückdrehen, Zurückwälzen bedeutet.

Objektiv lässt sich aber nur sagen, dass früher alles anders war. Eine Wertung, ob dieses „anders“ besser oder schlechter war, kann nur ein Individuum treffen, das in seiner Lebensspanne entsprechend weit zurückblicken und die Veränderungen im Vergleich zu einem „Jetzt“ beurteilen kann.

Geht man davon aus, dass die Prägung eines Menschen in seinen ersten Lebensjahren andauernde chemische „Impressionen“ – vor allem im Bereich des noch frei programmierbaren Großhirns – hinterlässt, dann kann man die strittige Aussage, früher sei alles besser gewesen, besser verstehen. Denn ein Mensch kommt mit denjenigen Umständen in seiner Umwelt am besten zurecht, für die er in dieser hochsensiblen Prägungs- und Lernphase zu Beginn des Lebens vorbereitet wurde – durch Erziehung ebenso wie durch von Vorbildern erlernte und übernommene Verhaltensweisen. So darf es beispielsweise nicht verwundern, dass vor allem die Mitglieder der alten Generation, die nicht im IT-Zeitalter groß geworden sind, ihre Probleme mit Computer und Internet haben und daher den Satz „Früher war alles besser“ in Zusammenhang mit der zunehmenden digitalen Vernetzung der Welt gerne verwenden. Analog dazu würde ein heute groß gewordenes Kind im Falle einer Rückkehr der Gesellschaft zur früheren analogen Kommunikation von der guten alten Zeit der IT-Vernetzung sprechen.

Ein anderes Beispiel: Ein Kind, das gelernt hat, in einer verständnisvollen Umgebung über seine Empfindungen zu sprechen, wird besser mit zwischenmenschlichen Stresssituationen zurechtkommen als ein Kind, das in einer von Rigidität und Lieblosigkeit geprägten Atmosphäre aufgewachsen ist. Nach 30-jähriger Erfahrung in der landärztlichen Praxis muss ich mit Bedauern feststellen, welche fast unüberwindbare Hürde oftmals die emotionale und sprachliche Öffnung für alte Menschen in Lebens- oder Beziehungskrisen darstellt. Auch hier höre ich oft, dass früher, als noch nicht über alles und jedes so viel geredet und die Dinge noch nicht zerredet worden seien, alles besser gewesen sei. Dann fällt auch öfter der Satz: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“ In Wirklichkeit spiegelt er aber nur die erlernte Unfähigkeit wider, mit Worten und Gefühlen umzugehen. Denn das richtige Wort zum rechten Zeitpunkt kann Goldes wert sein. Das ist zumindest meine ärztliche und persönliche Ansicht.

Letztlich bedeutet der Satz „Früher war alles besser“ lediglich, dass älter werdende Menschen sich – je nach geistiger Flexibilität – nach denjenigen Lebensumständen sehnen, für die sie am besten geeignet und konditioniert sind. Damit war selbstverständlich früher alles besser, weil die damaligen Anforderungen der Umwelt mit den Verhaltensweisen und Reaktionsmustern, die man zu Beginn des Lebens erlernt hat, leichter zu bewältigen waren.

Immer wieder höre ich auch, dass nicht nur die eigenen Lebensumstände, sondern dass die ganze Welt früher besser gewesen sei. Vor allem ohne Asylanten, Migranten und Flüchtlinge aller Art. Ausgesprochen wird das wiederum hauptsächlich von der älteren Generation. Dem sei eine Frage gegenübergestellt. Wie war denn diese unsere Welt 50 Jahre vor unserer Geburt? War der Alltag während des Ersten oder des Zweiten Weltkrieges oder während der Zwischenkriegszeit wirklich so viel erstrebenswerter und günstiger, als es die heutigen Umstände sind?

Nein, die Welt war rückblickend immer im Wandel. Und Kinder und Jugendliche sind in jeder Epoche gut mit ihrer Umwelt zurechtgekommen. Weil sie keine andere Welt als die jeweils ihre kennen. Und weil sie sich erst in der Auseinandersetzung mit ebendieser Umwelt zu selbstbewussten und selbstreflektierten Wesen entwickeln.

Das bedeutet, dass zu jedem Zeitpunkt der Geschichte ein spezielles, eigenständiges Wertesystem von Erwachsenen vermittelt und in ihren Kindern aufgebaut wird. Erst später im Leben können diese ethischen, moralischen und rechtlichen Grundlagen des menschlichen Selbstverständnisses, in der Auseinandersetzung mit einer veränderten Umwelt, infrage gestellt und neu beurteilt werden. Ansatzweise erleben wir zurzeit einen solchen Wandel beim Toleranzgedanken gegenüber fremden Menschen.

Viele Patienten haben mich in Gesprächen mit ihrer Angst konfrontiert, ein Kind in diese unsichere Welt zu setzen. Solche Begegnungen bedürfen dann regelmäßig einer gewissen ärztlichen Einfühlsamkeit, um klarzumachen, dass ihr Kind ja nicht in Zentralafrika, sondern im Herzen Europas zur Welt käme. Und hier hat die Sicherheitslage – zumindest statistisch gesehen – einen historisch noch nie so günstigen Wert erreicht. Immer wieder sage ich dann: „Wenn wir alle so denken würden und vor lauter Angst keine Kinder mehr in die Welt setzen würden, dann gäbe es auch keine unsichere Welt mehr. Weil es dann überhaupt keine menschlich besiedelte Welt mehr gäbe.“ Erst dann würde der Satz zutreffen, dass früher wirklich alles besser war.

Die Sehnsucht nach dem ewigen Leben

Am einfachsten wäre es aus menschlicher Sicht, wenn die Natur den Menschen als ein ewig reifendes und unbeschränkt alterndes Wesen geschaffen hätte. Keine Zellteilung, keine Genmutationen, keine biologische Selektion, keine Infektionen, keine Krankheit, kein Krebs, keine Altersschwäche, keine tödlichen Verletzungen. Letztlich die auf Erden vorweggenommene Unsterblichkeit. Das hätte uns viel Leid und Geld erspart.

Ein solcher Mensch würde keine Medizin benötigen, keine Altersversorgung und würde nie sterben. Er könnte immer Spaß haben und unermesslichen Reichtum anhäufen.

Auf der anderen Seite müsste sich ein solcher Mensch aber auch nicht paaren und fortpflanzen. Das bedeutet, dass er sich weder verlieben noch sexuell von anderen Menschen unterscheiden müsste. Ein Geschlecht wäre genug. Sexuelle Beziehungen und Familiengründungen nicht notwendig. Und die Anzahl von einmal geschaffenen Menschen bliebe trotzdem konstant.

Keine Überbevölkerung. Kein Streit um Ressourcen, keine Kriege. Nur Unsterblichkeit.

Und Lustlosigkeit.

Und eben eine Illusion.

Die Wirklichkeit ist bekanntlich anders, die Natur hat für den Menschen – wie für die meisten Lebewesen – eine andere Vorgangsweise gewählt: Die Menschheit muss sich von Generation zu Generation erneuern. Ein oftmals schmerzlicher Prozess, nicht nur, wenn wir an das Thema Sterben und Abschiednehmen denken. Auch in Hinblick auf Enttäuschungen und Liebeskummer, scheiternde Beziehungen und Trennungen ist die Notwendigkeit der Paar­ung und Fortpflanzung eine nie versiegende Quelle von möglichen Schmerzen. Auf der anderen Seite aber auch regelmäßiger Anlass zu Freude und Glück.

Die von der Natur gewählte Vorgehensweise beim Erhalt der Menschheit bietet aber auch strukturelle Vorteile: Durch Mutation und Selektion wird unter anderem die Anpassung an veränderte Umweltbedingungen möglich. Wenn sich z. B. herausstellt, dass Menschen mit dunkler Hautfarbe besser mit der Sonneneinstrahlung zurechtkommen als hellhäutige, verstehen wir, warum sich im Laufe der Evolution in den sonnenintensiven Gebieten der Erde dunkelhäutige Menschen durchgesetzt haben. Durch die Aufgliederung der Menschheit in eine Kette von einzelnen Generationen entsteht ein insgesamt wesentlich stabileres und anpassungsfähigeres „Produkt“, als es ein einzelner, ewig lebender Mensch sein würde. Tod und Neubeginn sind dabei die neuralgischen Verschränkungspunkte der einzelnen Kettenglieder.

Ein anderes „Nebenprodukt“ dieser Strategie der Natur ist die sexuelle Lust. Die Attraktion zwischen den Geschlechtern und die Freuden der geschlechtlichen Vereinigung. Im Übrigen ein äußerst kluger Schachzug der Natur. Denn die sexuelle Lust unterbindet im Augenblick der möglichen Zeugung eines Menschen jedes weiterreichende Denken und Planen. Es wäre interessant zu wissen, wie viele Menschen es auf dieser Erde gäbe, wenn jedes Kind bewusst, gezielt und ohne den Einfluss der zwischengeschlechtlichen Lust gezeugt worden wäre.

Ja, wenn wir über Kinder reden wollen, müssen wir auch über den Geschlechtsverkehr reden. Und über die Liebe. Über die Geschlechtlichkeit als Teil der Liebe. Und über die Hormone, die im Prozess der Fortpflanzung die Steuerung übernehmen.

Oft sagt man, dass zwei Menschen – im Allgemeinen sind das ein Mann und eine Frau oder umgekehrt – sich „unsterblich“ ineinander verliebt haben. Aber woher kommt da plötzlich inmitten frischer Liebe das Wort „(un-)sterblich“ ins Spiel? Was bedeutet diese propagierte Unsterblichkeit einer Liebe, wo doch mit Sicherheit irgendwann die beiden Liebenden sterben müssen? Und was könnte Sterben mit Liebe zu tun haben, wo doch kein frisch verliebter Mensch ans Sterben denken wird? Allenfalls könnte noch die Angst vor dem Sterben dieser unstillbaren Liebe eine mögliche Annäherung bieten.

Woher kommt also der Begriff vom „unsterblich Verliebtsein“? Wo bleibt bei aller menschlichen Vergänglichkeit die Unsterblichkeit einer Liebe?

Mir fällt nur eine Antwort ein:

Kinder.

Und Kinder.

Und wieder Kinder.

Nur in der Manifestation eines gemeinsamen Kindes gibt es eine Unsterblichkeit dieser Liebe – zumindest in genetischer Hinsicht. Denken wir nur daran, dass wir alle mit Sicherheit einen Vorfahren im Mittelalter haben. Und stellen wir uns weiter vor, dass diese Ururur…großmutter oder dieser Ururur…großvater irgendwann im 14. Jahrhundert unsterblich verliebt gewesen wäre. Mit welcher Freude würde dieser Vorfahre wohl die Hunderten und Tausenden Nachkommen diese Liebe, die in unseren Tagen die Welt bevölkern, sehen.

So betrachtet sind Kinder die einzige Möglichkeit für uns Menschen, unsterblich zu werden. Und nur in ihnen kann auch eine Liebe unsterblich sein.

Sicherheitsdenken und Perfektionismus: Das Erbe unserer Vorfahren

Längst hat unsere aufgeklärte Gesellschaft die von der Kirche propagierte Erbsünde als Lug und Trug entlarvt. Gott sei Dank. Jahrhundertelang war sie zusammen mit Himmel, Hölle und Fegefeuer ein Mittel, um Angst und Verunsicherung zu schüren. Gekonnt machte sich die Kirche mit all ihren unerfüllbaren Forderungen die Menschen zu willigen Untertanen.

Aber wessen Untertanen sind wir heute? Wer ist an die Stelle der Kirche getreten? Oder sind wir erstmals nicht mehr Untertanen? Sind wir in der modernen Wohlstandsgesellschaft wirklich endgültig frei geworden? Frei von jeder mitgebrachten „Sünde“? Frei von jeder Erblast?

Oder gibt es sie gar noch, die Erbsünde?

Schon als Kind habe ich das Wesen der von der Kirche propagierten Erbsünde nicht verstanden. Wie kann ein frisch geborenes Baby bereits eine Sünde begangen haben? Wie soll es gelogen, gestohlen oder gar gemordet haben?

Im Gymnasium hat sich neben diesen Gedanken der Erbsünde ein zweiter eigenartiger Satz gesellt, nämlich ein Zitat von Goethe: „Was von den Vätern du ererbt, erwirb es, um es zu besitzen.“ Warum sollte man Dinge, die bereits da sind, noch einmal erwerben müssen? Mein kindlich-jugendliches Denken wollte die beiden Gedankengänge nicht begreifen. Gegen den Willen der Religions- und Deutschlehrer.

Der Volksmund ist im Übrigen voll von solch eigenartigen Bemerkungen zum Verhältnis der Generationen untereinander: „In diesen Anzug musst du erst einmal hineinwachsen“, oder: „in jemandes Fußstapfen steigen“. Überall gibt es Hinweise darauf, dass es einen unsichtbaren und zunächst unbegreiflichen Zusammenhang zwischen jeder vorherigen und der ihr folgenden Generation gibt.

Das gilt offensichtlich nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für gesellschaftliche Zusammenhänge. Heute überblicke und betreue ich in meiner Funktion als Hausarzt in manchen Häusern bereits fünf Generationen von Menschen. Ich beobachte, dass sich nicht nur genetische Merkmale, sondern auch Verhaltensweisen sozial vererben. Gute wie schlechte. Gangbilder und Sprachmuster, Wortwahl und Bewegungsabläufe. Und manchmal denke ich mir heute: Vielleicht ist das mit der Erbsünde so gesehen gar kein so dummes Bild, mag man über Religionen denken, wie man will. Auf jeden Fall sollte man aber das Wort „Schuld“ konsequent durch „Ursache“ ersetzen.

Geht man nun davon aus, dass wir viele unserer Verhaltensweisen nicht aktiv selbst erworben, sondern passiv geerbt haben, können wir auch unseren heutigen Zugang zum Thema Kinder aus einer anderen Perspektive betrachten. Anders gesagt: Wenn wir den heutigen Generationen vorwerfen, dass sie zu wenig Kinder in die Welt setzen und nicht in der Lage sind, diese zu lebenskompetenten Erwachsenen zu erziehen, müssen wir konsequenterweise auch nach den Ursachen dafür fragen. Sind die Eltern der heutigen Kinder selbst bereits Opfer einer Art „gesellschaftlicher Erbsünde“? Welche „Vor-Bilder“ tragen sie in ihrem Kopf? Welche Erblasten bringen sie mit? Denn keine Generation kommt zur Welt und sagt von sich aus: „Wir schaffen diese Gesellschaftsform ab, indem wir uns nicht mehr fortpflanzen.“

Nachdem das durchschnittliche Alter von erstgebärenden Frauen inzwischen bei 30,2 Jahren liegt, lohnt sich ein Blick zurück in die Mitte der 1980er Jahre. Damals wurden diese Frauen und ihre männlichen Partner selbst zur Welt gebracht. Als Kinder einer Generation, deren Mitglieder den Wiederaufbau und das kontinuierliche Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg noch miterlebt haben. Und als Kinder von Eltern, die selbst noch mehrere, oftmals viele Geschwister hatten, mit denen sie das, was da war, teilen mussten. Von Eltern, die (wie vermutlich alle Eltern) wollten, dass es ihre Kinder einmal besser haben sollten. Als Kinder einer Zeit, in der Fortschritt zunehmend in Geld und materiellen Möglichkeiten gemessen wurde.

Seit 1986 als Hausarzt tätig, habe ich gerade noch die Zeit erlebt, als viele Patienten glaubten, dass ihnen neben dem gesetzlichen Urlaub auch noch mindestens 14 Tage Krankenstand pro Jahr zustünden. Ob krank oder nicht. Die wirtschaftliche Lage damals war hervorragend, es gab so gut wie keine Angst vor Kündigung und keine Arbeitslosigkeit. Im Krankenstand wurden Häuser gebaut, Urlaube verlängert und Autos repariert, ohne dass jemand ein schlechtes Gewissen gehabt hätte. Die Auswüchse eines allerletzten Höhepunktes einer boomenden Wirtschaft und damit auch einer boomenden Gesellschaft. Selbstbewusst und kraftvoll. Erst langsam wurde ich damals im Ort als der neue Arzt akzeptiert, der nicht mehr ohne Untersuchung oder ohne nachweisliche Krankheit arbeitsunfähig schrieb.

Rein wirtschaftlich betrachtet hat diese Generation der Mitte der 1980er Jahre Geborenen keine spürbare Vermehrung des Wohlstands mehr erlebt. Auch im viertreichsten Land Europas müssen Menschen heute mehr und mehr arbeiten, um den als selbstverständlich empfundenen Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Ein wesentliches Merkmal des gesellschaftlichen Verhaltens dieser Generation ist das Bewahren, die Sicherung des Wohlstandes. Die Devise lautet heute: nur keine Reduktion!

Zusammen mit dem Erreichen eines materiellen Plafonds entstand in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts auch ein neues Bild der „normalen Familie“: Vater, Mutter und zwei Kinder. Wenn möglich zuerst der Sohn, zwei Jahre später die Tochter. Auch in diesem Ideal offenbart sich das Prinzip des Bewahrens, das am besten gelingt, wenn Mutter und Vater Tochter und Sohn folgen. Statistisch gesehen bleibt dabei die Bevölkerungszahl konstant. Rückblickend könnte man sagen: Der Umkehrpunkt zur Reduktion ist erreicht.

Was passiert aber mit einer Gesellschaft, die erkennt, dass Mehr nicht mehr geht? Die nur noch den Erhalt ihres materiellen Standards im Blick haben kann?

Sie wird unsicher, bekommt Angst.

Angst, nicht mehr an die Erfolge der Elterngeneration anschließen zu können. Angst, dass es bergab gehen könnte. Verlust- und Versagensängste.

Diese ängstliche Grundstimmung wird heute durch eine noch nie da gewesene Flut von simultanen Informationen über Bedrohungen aller Art rund um den Globus verstärkt. Die omnipräsente Überfülle an Kommunikation bringt das Elend der ganzen Welt jeden Tag nicht nur ins eigene Wohnzimmer, sondern sickert subtil und unablässig bis in die hintersten Winkel des eigenen Denkens und Fühlens. Ozonloch, CO2- und globaler Temperaturanstieg, das Schmelzen der Polarkappen mit weltweitem Anstieg der Meeresspiegel lassen die Erde als unwirtlichen Ort mit immer geringer werdenden Ressourcen knapp vor dem Untergang erscheinen. Die Bilder vom verletzlichen blauen Planeten, die wir seit den Reisen des Menschen zum Mond kennen, haben uns verunsichert. Der rasante technische Fortschritt führt zum Gefühl der ständigen persönlichen Überforderung. Und nicht zuletzt macht der immer schärfere astronomische Blick in die Weiten des Weltalls bewusst, wie verletzlich, klein und ungeschützt unser Planet ist – schon längst nicht mehr das Zentrum des Universums, sondern nur eine kleine Kugel im Irgendwo, auf der unsere Kinder eine ungewisse Zukunft haben.

Eine solcherart verunsicherte Gesellschaft versucht verzweifelt, das Erreichte zu verwalten. Klammert sich an den Strohhalm des eigenen Überlebens. Das „Ich“ gewinnt an Bedeutung. Und auch das „Jetzt“. Denn die Zukunft erscheint ungewisser als je zuvor.

Im Bereich des Staatswesens entsteht ein ausgeprägter Verwaltungsapparat. Die Gesellschaft beginnt sich abzusichern. Und Sicherheit bedeutet die Einführung von Normen und Kontrolle. Freiheit wird zugunsten von Sicherheit reduziert.

Ein gesamtgesellschaftliches Umschalten von Vermehren auf Sichern. Ein Verhalten, das der Natur selbst im Übrigen fremd ist. Denn die Natur kennt nur Wachstum oder Untergang. Aber warum sollten wir Menschen nicht etwas Besonderes schaffen? Wie z. B. Sicherheit. Teilen, Aufteilen, Zuteilen, Verwalten von Vorhandenem, ohne unterzugehen? Aber mit dem Wohlstand sinken auch die Geburtenraten. Laut Statistik Austria hat sich die Zahl der Lebensgemeinschaften ohne Kinder im Zeitraum zwischen 1985 und 2015 von 45.000 auf 216.000 erhöht. Im gleichen Zeitraum hat sich die Zahl der Ehepaare mit Kindern von 1,1 Millionen auf 930.000 verringert, die Zahl der Ehepaare ohne Kinder ist von 606.000 auf 782.000 angestiegen. Versucht die Gesellschaft den Wohlstand durch eine Reduktion der Kinder – mit denen sie ihn teilen müsste – zu bewahren?

Unwillkürlich denke ich an dieser Stelle an den biblischen Satz: „Wer sein Leben bewahren will, der wird es verlieren.“

Dieses Prinzip regiert auch in der Familienplanung: In den meisten Familien gibt es ab der Jahrtausendwende nur noch ein oder maximal zwei Kinder. Zur Sicherheit. Damit nicht zu viel geteilt, riskiert oder geopfert werden muss. Damit alle genug haben. Damit die Verantwortung überschaubar bleibt. Denn wenn – wovon viele Menschen heute überzeugt sind – moderne Eltern schon ein Leben lang für ihre Kinder verantwortlich sein sollen, dann ist der einzige Ausweg aus dieser erdrückenden Verantwortung, nur mehr wenige Kinder in die Welt zu setzen. Wer glaubt, dass er für jedes seiner Kinder mindestens eine eigene Wohnung zur Verfügung stellen muss, tut gut daran, nicht zu viele Kinder zu bekommen.

Immer wieder frage ich finanziell erschöpfte Patienten oder Freunde, warum sie glauben, dass sie ihren Kindern den Lebensstandard, den sie gewohnt sind, im Voraus und lebenslang sichern zu müssen. Die Antwort lautet in der Regel: Bei der heutigen Wirtschaftslage wären die Kinder nicht mehr in der Lage, von sich aus und ohne die Hilfe der Eltern Haus, Schwimmbad, Garage und zwei Automobile zu erwirtschaften. Aber ich frage mich: Ist das wirklich notwendig? Ist es wirklich das, was Kinder von ihren Eltern erwarten? Nehmen wir damit nicht unseren Kindern die Möglichkeit, selbst etwas zu schaffen und stolz darauf zu sein? Drängen wir damit sie nicht in die Rolle der unfreiwilligen Bewahrer? Zwingen sie gar zu ewiger Dankbarkeit? Und wäre nicht ein geringerer materieller Lebensstandard bei einem gleichzeitigen Mehr an Freiheit, Lebensfreude und Zufriedenheit erstrebenswert?

Sicherheitsdenken und Bewahren prägen unser gesamtes gesellschaftliches Leben: Die Zahl der Versicherungspolicen steigt, Automobile und Straßen werden laufend sicherer, Sicherheit bei Sport und Freizeit wird zunehmend großgeschrieben, Videoüberwachung, Datenspeicherung und Sicherheitschecks bewahren uns vor Verbrechen, Vorsorgeuntersuchungen und eine ausreichende Zahl von Impfungen sollen die körperliche Gesundheit absichern, und eine Flut von bürokratischen und gesetzlichen Regelungen soll vermeintliche Sicherheit im öffentlichen Leben schaffen. Die Hersteller von Kinderspielzeug sichern sich gegen das versehentliche Schlucken kleinerer Einzelteile ebenso ab, wie Wohlstandskonsumenten darauf hingewiesen werden, dass sich ein Mikrowellengerät nicht zum Trocknen einer nass gewordenen Katze eignet. Nicht zu vergessen die aufblühende IT-Industrie mit ihrer permanenten Forderung nach Sicherung unserer Daten. Ob Baunormen, Haushaltsgeräte oder Konsumentenschutz, Tempolimits oder Helmpflicht für Ski- und Fahrradfahrer, Warnhinweise auf jeder Verpackung, verpflichtende medizinische Untersuchungen vor dem Beitritt zu einem Sportverein, vor Beginn einer Ausbildung, vor einem Berufsantritt oder die ausufernden, für den Laien nicht mehr verständlichen Beipacktexte von Medikamenten, fast alle Lebensbereiche werden dem übergeordneten Dogma Sicherheit untergeordnet.

Das bedeutet auf der anderen Seite, dass der gerade für das Gedeihen von Kindern so wichtige „Spiel“-Raum im Sinne einer freien Lebensgestaltung weniger wird, dass der Hausverstand durch ein rechtliches Regelwerk ersetzt wird. Weil es sicherer und fassbarer ist. Doch der Gewinn von Sicherheit bedeutet stets den Verlust von Freiheit. Umgekehrt singt Janis Joplin: „Freedom’s just another word, for nothin’ left to lose.“ Das Sprichwort, dass jemand, der nichts riskiert, auch nichts gewinnen kann, bekommt unter diesem Gesichtspunkt eine neue Bedeutung.

Eng verbunden mit dem zunehmenden Streben nach Sicherheit gedeiht ein Perfektionismus, der, einmal in die Welt gesetzt, vor nichts und niemandem haltmacht. Die besagte Generation 1985 ist hochgradig damit beschäftigt, perfekt zu sein. Denn perfekt zu sein bedeutet, sicher zu sein, Sicherheit auszustrahlen. Perfekt muss nicht nur das Äußere des Körpers sein, auch auf ein perfektes Funktionieren der inneren Organe wird zunehmend Wert gelegt. Richtiges Essen, richtiges Verdauen, Silikonbrüste und mühsam auftrainierte Schultermuskeln machen perfekte Menschen. Richtiges Atmen, Lachen und körpergerechte Fortbewegung werden in speziellen Kursen gelehrt. Eine 2016 in Österreich durchgeführte Umfrage bestätigt, was schon längst befürchtet werden muss: In der Gruppe der bis 30-Jährigen ist ein makelloser Körper oberste Lebenspriorität.

Glattrasierte Männerbrüste und doppelbelastbare leistungsfähige Frauen sind Ausdruck einer perfekten geschlechtlichen Gleichstellung. Kleidung und Schuhe, Automobil, Wohnung, Job und Bank, Sexualleben und Seelenleben, Make-up und Gesichtsausdruck, alles ist perfekt. Und wo man die Perfektion nicht selbst erreicht, konsultiert man Fachleute. Coaches und Psychotherapeuten ersetzen Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen. Vor lauter Angst, dass eine Beziehung scheitern könnte, lässt man sie lieber gleich weg. Außerdem lässt der Status „Single“ den perfekten Menschen immer sexy, frei und zu ständiger Paarung bereit erscheinen. Das Klischee der potentiellen Freiheit wird wichtiger als das gelebte Bekenntnis zu einem Rollenbild.

Aber die zunehmende Einsamkeit macht ängstlich. Die Medaille zeigt ihre Kehrseite.

Die Angst zu versagen nagt am angekratzten Selbstwertgefühl. Dass unsere Ansprüche an ein perfektes Leben einen gewaltigen inneren Druck erzeugen, zeigt nicht nur die hohe Rate an Burnout-Patienten.

Die Angst, etwas falsch zu machen, nicht entsprechen zu können, belastet nicht nur jeden einzelnen Menschen, sie erstickt auch jeden Kinderwunsch im Keim. Denn natürlich müsste auch ein Kind perfekt sein, müsste auch ein Kind noch zusätzlich in dieses belastende Drucksystem eingebaut werden. Aber wie sollte man Verantwortung für ein „perfektes“ Kind übernehmen können, wenn man schon mit sich selbst nicht zurechtkommt? Also lieber ganz bewusst keine Kinder! Um seiner selbst und des theoretischen Kindes willen.

Selbstverwirklichung und biologische Pflicht

Wer sich selbst zu wichtig nimmt, hat keine emotionalen Ressourcen mehr, andere wichtig zu nehmen. Und der klassische Typus des modernen Wohlstandsmenschen ist definitiv einer, der sich selbst sehr wichtig nimmt. Berufliche und private Selbstverwirklichung, Erfolg und Wohlstand, sichtbare Gesundheit, äußere und innere Eitelkeiten, Statussymbole und nicht zuletzt eine perfekt abgestimmte Lebensplanung kennzeichnen das häufig propagierte Idealbild. Die gesamte verfügbare Energie wird für diese Selbstverwirklichung verwendet, alle Ressourcen in das Ich investiert.

Kinder lassen sich mit einem solchen Lebensprinzip nur schwer in Einklang bringen – insbesondere stehen Kinder für Männer und noch viel mehr für Frauen dem Ideal der beruflichen Karriere im Wege. Wenn Kinder den Satz hören: „Deinetwegen habe ich meinen Beruf aufgegeben!“, stürzt sie das oft in Schuldgefühle und Selbstzweifel. Denn Eltern bringen damit unmissverständlich zum Ausdruck, dass ihre Karriere einen höheren Stellenwert gehabt hätte als die Erziehung und Begleitung des Kindes. „Vielleicht“, so könnte das Kind später, wenn es selbst erwachsen geworden ist, denken, „vielleicht ist es besser, auf ein eigenes Kind zu verzichten, um diesen Fehler nicht wiederholen zu müssen. Ich werde meinem Kind nie sagen, dass ich seinetwegen auf den Beruf verzichtet habe. Weil ich wegen meinem Beruf lieber gleich auf das Kind verzichte.“

Wenn wir Kinder bekommen, dann immer öfter erst nach der beruflichen Karriere, nach der Erreichung materieller Ziele, noch rasch, bevor das unwiderrufliche Altern einsetzt. Dabei spielt es gar keine Rolle, ob die Bedingungen für ein Kind sprechen oder nicht. Denn Kinder sind, wenn einmal gewollt, machbar geworden. In jedem Lebensalter, in jeder partnerschaftlichen Konstellation, in jedem Körper (auch wenn er derzeit noch weiblich sein muss), mit oder ohne Erektion, mit oder ohne Geschlechtsverkehr, mit oder ohne Eisprung, auch mit zu wenigen oder zu langsamen Samenzellen, auch ohne Lust, im Reagenzglas, mit einer Sonde in der Gebärmutter, mit Samenspende, aus einem Kühlschrank in eine beliebige Gebärmutter transferiert, mit mehr oder weniger großem finanziellen Aufwand. Man könnte auch den Eindruck gewinnen, dass es sich bei der umgangssprachlichen „Anschaffung eines Kindes“ lediglich um ein weiteres materielles Gut handelt. Leist- und machbar. Im Gegensatz zu einer Zeit, als Kinder noch „passiert“ sind oder ein „Unfall“ waren. Für die Betroffenen im Übrigen auch nicht schön, solches über sich gehört zu haben.

Immer wieder zeigen mir alte Patienten oder deren Angehörige Fotografien und Schriftstücke von früher. Vor allem in der Nachkriegsgeneration wurden häufig regelrechte Lebenschroniken, Dokumentationen in Wort und Bild, geführt, die mit dem Zeitpunkt der Verlobung eines Paares einsetzen.

In einer solchen Familienchronik aus dem Jahre 1956 liest man unter einem Foto, das eine frischgebackene Mutter mit einem Säugling zeigt: „unser erstes Kind“. Wer käme heute noch auf die Idee, ein frisch zur Welt gebrachtes Baby bewusst „unser erstes Kind“ zu nennen? Denn diese drei Worte inkludieren einen in unseren Tagen weitestgehend abhandengekommenen Grundgedanken, nämlich dass von vornherein feststeht, dass auf ein erstes Kind zumindest ein zweites folgt. Dass also von vornherein klar ist, dass man eine Familie im Sinne der Mehr-Kind-Familie als einem jahrhundertelang gültigen Grundprinzip einer sich weiterentwickelnden Gesellschaft gründen will.

Meine viel zu früh verstorbene Mutter hat mir, ihrem Erstgeborenen, immer wieder gesagt: „Weißt du, eine richtige Familie sind wir erst geworden, als dein Bruder zur Welt gekommen ist.“ Und unvergesslich bleibt mir ihr Satz: „Er war das beste Spielzeug, das wir für dich machen konnten.“

Wenn man weiter in besagte Familienchronik eintaucht, erlebt man als stiller Zeuge den Beginn einer Familie in einer bescheidenen Untermiet-Zwei-Zimmer-Wohnung. Schon im Jahr darauf wird das zweite Kind geboren, und bereits 1958 zählt die Familie fünf Mitglieder. Insgesamt sollten es sechs Kinder werden. Erst 1965 gelingt es der Familie, in eine größere Wohnung umzuziehen. Zugleich erlebt man in Bild und Wort den beruflichen Aufstieg des Vaters, dem es schließlich gelingt, eine eigene Firma zu gründen. Zu diesem Zeitpunkt sind die ältesten Kinder bereits in der Pubertät. Die Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen berührende Bilder von Ausflügen in die Berge, von Besuchen bei Onkel und Tanten und von einem ersten Automobil im Jahr 1962, in dem auf einer schmalen Rückbank vier Kinder ohne Rückhaltesysteme und TÜV-geprüfte Kindersitze anscheinend ausreichend Platz und Sicherheit gefunden haben. Man sieht Kinder, die dem Vater behilflich sind, Regale in seiner Firma einzuräumen, man sieht eine Mutter, deren Aufgabe hauptsächlich im Versorgen der Familienmitglieder zu liegen scheint. Die Chronik endet bezeichnenderweise mit dem Erwachsenwerden der Kinder. Über die eheliche Beziehung und den weiteren Lebensverlauf der beiden Familiengründer erhält man so gut wie keine Einblicke. Lediglich erste Farbfotografien, wie sie im letzten Teil der Aufzeichnung aufscheinen, lassen erkennen, dass das Leben sichtliche Spuren in den Gesichtern von Mutter und Vater hinterlassen hat.

Wenn zukünftige Forscher aus den Tausenden Smartphone-Fotos, die heute im Laufe eines Lebens entstehen, eine solche Chronik einer typischen Familie des 21. Jahrhunderts erstellen wollten, könnte eine durchaus ähnliche Geschichte dargestellt werden. Allerdings mit zwei gravierenden Unterschieden:

Zum Ersten erschienen die Ereignisse in umgekehrter Reihenfolge. Das Baby würde erst am Schluss, nach der Verwirklichung aller materiellen Ziele, auf der Bildfläche dieser imaginären Familienchronik erscheinen, sozusagen als Krönung aller Wünsche.

Und zum Zweiten sähen wir lediglich ein bis zwei Kinder statt der sechs in besagter Familienchronik oder statt der 2,5 bis 2,7, die eine Frau im Durchschnitt der 1960er und 1970er Jahre zur Welt gebracht hat.

Provokant könnte man nun fragen: Welche Gründe sprechen unter diesen Voraussetzungen überhaupt noch dafür, Kinder zu bekommen? Kinder als Statussymbol, als Mittel zur Festigung einer Beziehung? Oder erfüllen wir einfach eine biologische Verpflichtung, indem wir uns fortpflanzen?

Diese „biologische Pflicht“ könnte man auch als übergeordnete Liebe zur Menschheit insgesamt bezeichnen. Als Ausdruck eines tiefen Glaubens an die Sinnhaftigkeit und den Fortbestand der Menschheit. Sie anerkennt weder Gründe, die für das Kinderkriegen, noch solche, die dagegen sprechen. Sie erfüllt einfach die von der Natur vorgegebene Funktion des Genitalapparates. Denn die Natur hat ja zweifelsfrei vorgesehen, lustvoll Kinder zu zeugen und in die Welt zu setzen. So wie auch die Beine zum Gehen verwendet werden müssen, wenn sie nicht verkümmern sollen. Oder die Lunge zum Atmen. Und niemand käme auf die Idee, zu fragen, ob es Gründe dafür oder dagegen gibt, sich zu bewegen oder zu atmen.

Die Aufhebung der Geschlechter

Sicherlich ist es legitim, gesellschaftliche Rollenbilder zu hinterfragen – aber ebenso sicher sind solche Rollenbilder nicht von vornherein verwerflich. In vielen Fällen sind sie sogar notwendig. Ganz besonders gilt das für die unterschiedlichen Rollenbilder von Männern und Frauen, die sich über Jahrtausende hinweg etabliert haben.

Die körperlichen und charakterlichen Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern lassen sich am ehesten mit der Anziehungskraft vergleichen, wie sie die Pole eines Magneten oder die Gravitation ausüben. Und so wie ein Apfel seinen freien Fall erst beenden wird, wenn er am Boden aufschlägt, endet die Anziehungskraft der Liebe zwischen zwei Menschen, zumindest physikalisch gesehen, erst dann, wenn sie einander nicht mehr näher kommen können, als das beim Geschlechtsakt der Fall ist. Über Jahrtausende sind durch diese Anziehungskraft zwischen Mann und Frau Kinder entstanden.

Die Evolution hat die beiden Geschlechter körperlich unterschiedlich gestaltet. Das männliche Fortpflanzungsorgan hat im Laufe der phylogenetischen Entwicklung seinen Platz deutlich sichtbar außen am Körper gefunden. Es ist durch seinen Träger in Bezug auf seine Funktion mehr oder weniger begreifbar, beherrschbar oder zumindest beeinflussbar. Im Gegensatz dazu befindet sich der weibliche Geschlechtsapparat weitgehend unsichtbar innenliegend, unbegreiflich und ist von außen nur durch die Öffnung der Scheide zu erkennen. Die Reifung der Eizellen und deren monatliche Freisetzung können von der Frau nicht willentlich beeinflusst werden. Frauen sind nur für kurze Zeit fruchtbar, einmal im Monat, und das nur für zwei bis drei Jahrzehnte ihres Lebens, während Männer ab der Pubertät theoretisch bis an ihr Lebensende in der Lage sind, Kinder zu zeugen. Frauen haben einen einmaligen Vorrat an Eizellen in den Eierstöcken, während die Samenzellen im Hoden der Männer unbegrenzt nachgebildet werden.