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Jörg Mauthe

Wien für
Anfänger

Vorläufige Bruchstücke
zum Entwurf einer Skizze
über Land und Leute

Mit Zeichnungen von Paul Flora und
einem Nachwort von Gerald Schmickl

 

 

 

www.haymonverlag.at

Die gedruckte Originalausgabe erschien 1959 bei Diogenes. Dieses E-Book basiert auf der 2001 um ein Nachwort von Gerald Schmickl ergänzten und 2001 im Löwenzahn Verlag erschienen Ausgabe.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-3758-7

Umschlag- und Buchgestaltung, Satz: hœretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol Sämtliche Zeichnungen: Paul Flora

 

Jörg Mauthe | Paul Flora

Wien für Anfänger

Inhalt

I.

Lektion

Allgemeines

II.

Lektion

Durch die Seele des Wieners

III.

Lektion

Der Traum von der Kaiserstadt

IV.

Lektion

Das kulinarische Wien

V.

Lektion

Das republikanische Wien

VI.

Lektion

Wiener Feiertage

VII.

Lektion

Wiener Kaffeehäuser

VIII.

Lektion

Makabres Intermezzo

IX.

Lektion

Wien bei Nacht

X.

Lektion

Kultur und Kulturelles

 

 

 

Literaturnachweis

 

Nachwort

 

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I. LEKTION

Allgemeines

Wien ist eine schöne Stadt – Wien liegt nicht an der Donau, sondern an der Wien – Der Name Wien stammt aus dem Keltischen oder aus dem Germanischen oder aus dem Lateinischen, ist aber vielleicht auch illyrischen Ursprungs – Wien war eine Kaiserstadt und ist jetzt die Hauptstadt und zugleich das neunte Bundesland der Bundesrepublik Österreich – Wien zählt etwas mehr als eine Million sechshunderttausend Einwohner – Nur zwei Fünftel aller Wiener tragen deutsche, die andern drei Fünftel tschechische, ungarische, polnische, kroatische, serbische, slowakische und italienische Namen – Die häufigsten Namen sind Maier, Müller, Huber, Novak, Fischer und Swoboda – Die Schuster und Schneider tragen vorzugsweise böhmische, die Rauchfangkehrer häufig italienische Namen – Die Umgangssprache der Wiener ist das Wienerische, ein ursprünglich bajuwarischer, städtisch verfeinerter und durch zahlreiche Lehnworte aus allen Sprachen der ehemaligen Donaumonarchie angereicherter Dialekt – Als Kind einer alten, vielgeprüften Stadt ist der Wiener zutiefst mißtrauisch – Seine Gefühlsskala ist beschränkt: wenn er glücklich sein könnte, ist er gut aufgelegt, und wenn er unglücklich sein sollte, ist er verdrossen – Der Wiener ist ungemütlich – Weil er mißtrauisch ist, ist er sozial nur schwer ansprechbar und neigt zu einem meist negativ gefärbten Individualismus – Seines vielberufenen Charmes bedient sich der Wiener als einer Waffe im Daseinskampf (siehe Seite 96 unter ‚Schmäh‘) – Aber Wien ist eine schöne Stadt.

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Übung

Motto: Aller Anfang ist verhältnismäßig langweilig.

Richtiggelesene Stadtpläne vermögen mehr über den Geist und den Charakter einer Stadt auszusagen als ganze Bibliotheken von Reiseführern. Man nehme also einen Stadtplan von Wien zur Hand und betrachte ihn, ohne auf Einzelheiten einzugehen.

Man wird alsbald das Bild einer quer durchschnittenen Zwiebel erkennen – sagen wir besser einer Blumenzwiebel, weil das poetischer klingt. Das Herz oder den Keim dieser Blumenzwiebel bildet der erste Bezirk; er ist es denn im geschichtlichen, wirtschaftlichen und verwaltungstechnischen Sinne tat-sächlich. Dieser erste Bezirk – er heißt jetzt ‚Innere Stadt‘ – war bis ins späte neunzehnte Jahrhundert hinein identisch mit Wien und ist es bis zu einem gewissen Grade heute noch. Solange Wien besteht, wird der Wiener den ersten Bezirk schlicht und einfach ‚die Stadt‘ nennen und ihn für den Inbegriff alles Teuren, Mondänen, Luxuriösen und Repräsentativen halten.

Rings um diese Innere Stadt zieht sich ein breiter Straßenzug: die Ringstraße. Ihre Ecken deuten an, daß sie immer noch dem Zuge der alten, längst geschleiften Festungsmauer folgt. Einige große Gartenanlagen lassen erkennen, daß zwischen der Innenstadt und dem Kranz der Bezirke einst das Glacis lag – ein freies, von Straßen durchquertes Schußfeld, dessen unsinnige Verbauung jedem modernen Städtebauer komplizierte Probleme aufgibt.

Mit dem nächsten konzentrischen Straßenzug – ‚Lastenstraße‘ genannt, obwohl er eigentlich ganz anders heißt – beginnt die zweite Fruchtschicht der Zwiebel, die Reihe der sogenannten gutbürgerlichen Bezirke: Alsergrund, Josefstadt, Neubau, Mariahilf, Wieden und Landstraße.

Jeder dieser Bezirke hat sein eigenes Gesicht und sein eigenes Zentrum. Im Alsergrund beispielsweise hat sich zwischen der Universität und den großen Spitälern eine Medizinerstadt herausgebildet, deren Häuserblocks ausschließlich von Ärzten bewohnt zu werden scheinen. In den Auslagen herrschen aparte Dekorationen von chirurgischen Instrumenten und foltergerätähnlichen Heilbehelfen vor, die Buchhandlungen stapeln Schmerzensliteratur, und einige Tausend nahöstlicher Medizinstudenten verleihen dem ‚anatomischen‘ Viertel hinter der Votivkirche ein etwas seltsames Gepräge, das insbesondere dann, wenn im Nahen Osten wieder einmal ein Regimewechsel stattfindet, augen- und ohrenfällig wird.

Ein Teil des Neubaus – so heißt der siebente Bezirk – scheint wiederum nur aus Möbelgeschäften und Tischlerwerkstätten zu bestehen; im übrigen ist er immer noch ein Bezirk des Handwerks und Kleingewerbes, in dem man aussterbende Handwerkszweige von oft recht erstaunlicher Art findet: Elfenbeinschnitzer, Posamentristen, Galvaniseure undsoweiter. Merkwürdigerweise hat sich auch die Filmindustrie in diesem Stadtviertel niedergelassen.

Die Josefstadt hingegen ist ein altmodisch-ruhiger Wohnbezirk geblieben; ihr Zentrum wird von dem barocken Schul- und Kirchenkomplex des Piaristenordens und dem rühmlich bekannten Theater in der Josefstadt bestimmt. Kein Wunder, daß die Josefstädter als Kulturmenschen auf die Bewohner anderer Bezirke herabschauen.

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In der Hauptstraße des sechsten Bezirkes, der endlos langen Mariahilferstraße, dem Broadway Wiens, gibt es nur Geschäfte – noch in den Stockwerken oben, noch in den Kellern unten, Geschäfte bis in den vierten oder fünften Hinterhof hinein. Fremde seien gewarnt, diese Straße in den Tagen der Saisonschlußverkäufe oder gar an den Einkaufssonntagen vor Weihnachten zu betreten, denn gegen eine halbe Million einkaufslustiger Wiener sind Springfluten, Lawinen und Vulkanausbrüche idyllische Scherze der Natur.

Die Wieden hat einmal als besonders vornehmes Wohnviertel gegolten, aber die Russen, die hier ihr Wiener Hauptquartier gehabt haben und der Naschmarkt – der zentrale Lebensmittelmarkt Wiens – haben sie leider etwas heruntergebracht. Gewisse Gäßchen und Hotels der Wienflußniederung spielen in der Wiener Kriminalchronik eine recht unrühmliche Rolle.

Zum dritten Bezirk gehören das Barockwunder des Belvedere, das Diplomatenviertel und einige Kasernen. Er ist ein feudaler, etwas militärischer Stadtteil, der an der Landstraße – dem großen Heerweg ins Ungarische – vorstädtische Züge annimmt.

Der zweite Bezirk Leopoldstadt, eine Insel zwischen Donaukanal und Donau, ist immer ein Armeleutebezirk gewesen. Die Schatten des Getto liegen schwer über ihm.

Ein breiter Straßenring, der Gürtel, trennt die Wiener Innen- von den Außenbezirken Simmering, Meidling, Hietzing, Ottakring, Hernals, Währing, Döbling – die Endungen ihrer Namen lassen die Abstammung von dörflichen Siedlungen erkennen. (Irgendwo in Bayern gibt es zwei Dörfer namens Otterkring und Sülfering, die sich einer bis ins elfte Jahrhundert zurückreichenden Kolonialpatenschaft über Ottakring und Sievering rühmen.)

Im Norden und Nordwesten besitzen diese Bezirke jenseits des Gürtels halb weinbäuerlichen, halb bürgerlich-behäbigen Charakter; im Süden und Südosten werden sie zusehends proletarischer, doch auch in den düstersten Vorstädten haben sich vielfach noch die alten bäuerlichen Dorfzentren erhalten. Übrigens führen auch diese Außenbezirke ein zähes Eigenleben: jeder Bezirk hat nicht nur sein Geschäfts- und Vergnügungszentrum, seine Pfarrei und seinen Magistrat, sondern auch sein eigenes Museum, ja sogar seine eigene Zeitung. Der Wiener ist erst in zweiter Linie Wiener, zuerst und vor allem fühlt er sich als Simmeringer, Josefstädter, Favoritner oder Floridsdorfer. Die sogenannten kleinen Leute leben in ihrem Heimatbezirk wie in einem Dorf – ein Gefühl der Fremdheit beschleicht sie, wenn sie ihn verlassen. Man kann ohne weiteres behaupten, daß die weitaus meisten Wiener in dem Bezirk sterben, in dem sie geboren worden sind.

Nicht weniger vielgestaltig als Wien ist seine Umgebung: Berge im Westen, Weinland jenseits der Donau, und im Süden und im Osten die Steppe – am Rennweg beginnt Asien, hat irgendwer gesagt, und die Meteorologen, Geologen und Botaniker können dieses Aperçu mit wissenschaftlichen Argumenten untermauern.

Man lege den Stadtplan aus der Hand und sei sich klar darüber, daß diese hochdifferenzierte, vielgesichtige Stadt niemals ganz zu erforschen und zu erkennen sein wird – selbst dann nicht, wenn man ein ganzes Leben in ihr zubrächte. Und eben dieses ist das Schicksal der meisten Wiener: in Wien leben zu müssen und die eigene Stadt niemals ganz zu begreifen.

 

VOKABELN

Hieb, der

Wienerisches Dialektsynonym für Bezirk.

Grund, der

Der ursprüngliche, bis heute meist dörfliche Kern vieler Bezirke. „Vom Grund zu kommen“, bedeutet etwa, der Geburtsaristokratie des Bezirkes anzugehören.

 

 

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II. LEKTION

Durch die Seele des Wieners

Zwei Wiener diskutieren.

Einer entwickelt seine Meinung und begründet sie. Der andere bringt hierauf eine ganz und gar gegensätzliche Meinung vor und stützt sie ebenfalls mit guten Gründen.

Wird daraus ein Streit entstehen? Werden sich die Gesprächspartner veranlaßt fühlen, ihre Meinungen gegeneinander abzuwägen? Werden beide versuchen, in logischer Argumentation die Richtigkeit der eigenen und die Unrichtigkeit der anderen Meinung nachzuweisen?

Da es sich um Wiener handelt, werden sie nichts dergleichen tun. Vielmehr wird der eine, nachdem er die Meinung des anderen zur Kenntnis genommen und kurz bedacht hat, mit höchster Wahrscheinlichkeit nur jene drei einsilbigen Worte äußern, in denen alle Weisheit dieser Stadt beschlossen ist: „Is auch wahr ...“ wird er sagen.

Und sodann werden sich die beiden harmlos plaudernd anderen Dingen zuwenden, ohne zu ahnen, daß sie den Kristallpalast abendländischer Logik soeben in einen Haufen von Glasscherben verwandelt haben.