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Johannes E. Trojer 

Hitlerzeit im Villgratental

Verfolgung und Widerstand in Osttirol

Johannes E. Trojer – Pionier der zeithistorischen ­Forschung in Osttirol

Vorwort von Martin Kofler

Johannes E. Trojer gilt zu Recht als einer der ersten Forscher, der sich mit der Geschichte Osttirols im 20. Jahrhundert auseinandergesetzt hat. Er war kein ausgebildeter Wissenschaftler, aber ein an der jüngsten Vergangenheit äußerst interessierter Mitlebender und Sammler. Seiner akribischen Arbeitsweise – den Mikrokosmos des heimatlichen Villgratentales möglichst in seiner Totalität zu „fassen“, dabei pionierartig früh auf die Zeitzeugenbefragung setzend – blieb er sein ganzes Leben lang treu. Ein Leben, das, in einer Bergbauernfamilie in Außervillgraten 1935 begonnen, krankheitsbedingt leider vor mittlerweile 25 Jahren 1991 viel zu früh zu Ende ging.

Auch sein Fokus auf die NS-Zeit setzte sehr früh ein: Das Kapitel zum Zweiten Weltkrieg in der von ihm verfassten, 1967 publizierten Festschrift zu 700 Jahre Innervillgraten stellt dies unter Beweis. Es belegt außerdem bereits sowohl Trojers alltagsgeschichtlichen Ansatz als auch seinen speziellen literarischen Stil, in welchen er die erforschten Ergebnisse „packte“.

All dies und noch viel mehr wird beim Lesen der hier zusammengestellten Texte deutlich. Den Prolog bildet die „beißende“, kurze, tagespolitisch brisante Glosse, die anlässlich 40 Jahre „Anschluss“ 1978 in der regionalen ÖVP-Monopol-Wochenzeitung „Osttiroler Bote“ erschienen ist. Es folgt der „Sturzflüge“-Aufsatz von 1986 zum Thema „Antisemitismus und Osttirol“, in dem Trojer den Spagat vom Mittelalter bis zur Gegenwart schafft, aber mit dem er letztendlich selbst unzufrieden war, betrachtete er ihn doch als „Schnellschuss“. Zu diesem Zeitpunkt hatte ­Trojer das maschinschriftliche Manuskript seiner zeithis­torischen Hauptwerke zur „Hitlerzeit im Villgratental“ und zu „Verfolgung und Widerstand in Osttirol“ teilweise bereits abgeschlossen. Eine Veröffentlichung sollte jedoch erst posthum 1995 möglich werden.

Dass nicht alles felsenfest einer wissenschaftlich-kritischen Analyse standhält (ich verweise an dieser Stelle auf meinen umfangreichen Kommentar in Band 2 der 2011 erschienen Werkausgabe „Johannes E. Trojer (1935–1991)“, tut den ergebnisreichen und vielfältigen Kapiteln im nüchtern-beschreibenden Stil keinen Abbruch. Der langjährige Volksschuldirektor und in Nord-, Ost- und Südtirol äußerst gut vernetzte Trojer suchte keine auswärtigen Archive auf, sondern wertete genau die für ihn erreichbaren Dokumente und die erschienene Literatur aus – und schuf sich die Quellen durch eine Vielzahl an Interviews seit den 1960er-Jahren (!) selbst. Ende 1987 schrieb Trojer in einem Brief an den aus dem Villgraten stammenden KZ-Überlebenden Vinzenz Schaller programmatisch: „Ich bin für die ungeschminkte Wahrheit. So gut es geht.“ Es galt für ihn, das kollektive Gedächtnis vor Ort aufzubrechen bzw. bestimmte Themen überhaupt erst aus dem Dunkel ins Licht zu holen. Das Ergebnis ist nach wie vor mehr als lesenswert und hilft mittels des detailreichen biographischen Fokus, den damaligen Mikrokosmos mit all seinen Facetten von Schwarz und Weiß und viel Grau besser zu verstehen.

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Abb. 1: Propagandistisch inszeniertes NS-„Heldenbegräbnis“ in Villgraten, um 1942.

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Abb. 2: Die Glockenabnahme 1941/42 erinnerte nicht wenige an jene von 1917.

’381 (Die Glosse)

Im Herbst des verflossenen Jahres erschien im Tyroliaverlag das teure Büchlein „Zeugen des Widerstandes. Eine Dokumentation über die Opfer des Nationalsozialismus in Nord-, Ost- und Südtirol von 1938 bis 1945“, herausgegeben vom geistlichen Autorenteam Holzner-Pinsker-Reiter-Tschol.

Daraus wird deutlich, daß keine weltanschauliche Gruppe weder den passiven noch den aktiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus für sich allein reklamieren kann.

Von den etwa 150 Todesopfern waren 20 Prozent Juden, 15 Prozent Sozialdemokraten oder Kommunisten u. ebensoviel Wehrdienstverweigerer; 10 Prozent waren Geist­liche, acht Prozent Osttiroler.

Die Summe von mehr oder weniger fragmentarischen Lebensläufen ergibt zwar noch keine Geschichte des Widerstandes, doch wird an dieser (endlich) auch bereits gearbeitet. Zwar ist der historische Wert der Dokumentation durch Einseitigkeit beeinträchtigt, aber es ist immerhin etwas.

Bezeichnenderweise hat das Buch nicht das geringste Aufsehen erregt. Bemerkenswerterweise hat das Erscheinen niemand zum Anlaß genommen, es der Öffentlichkeit vorzustellen. Unverwunderlicherweise werden sothane Wunden nicht geleckt.

Hörte ich recht, wurden letzthin ohne Aufhebens ein paar Medaillen verteilt und Widerstandskämpfer in aller Stille dekoriert. Ermittelte ich recht, ging das 30-Jahrgedenken vor drei Jahren in diesem Bezirk vollkommen besinnungslos in die bewältigte Vergangenheit ein. Jetzt kehrt ein 40-jähriger Anlaß wieder; er veranlaßt, ein paar Gretchenfragen zu stellen mit aller Diskretion: Wie hältst du’s mit dem Bettenbau? Was hältst du von den Beruhigungspillendrehern? Wie hoch hältst du (heimlich oder öffentlich) Blut und Boden? Welche gewissen Grundsätze herrschen (wissentlich oder unwissentlich) vor? Wie unverwüstlich ist bonbonbrauner Loden? – Ist Freiheit mehr als Freiheiten?

„Wir haben viele rote und schwarze Juden“

Antisemitismus in Osttirol

Ein Wunsch geht in Erfüllung

Der jüdische Kaufmann Samuel Bohrer, aus Polen gebürtig, hatte sich mit seiner Frau Agnes 1921 [richtig: 1912] in Lienz niedergelassen und dort zwei gutgehende Textilgeschäfte eröffnet. Noch im März 1938 wurde das Ehepaar unter der fadenscheinigen Anschuldigung von Devisenvergehen verhaftet. Da dieser Vorwand für eine längere Haft nicht zureichte, verhängte die Gestapo kurzerhand Schutzhaft. Unter solchen Umständen sahen sich die beiden genötigt, auf ihr gesamtes ansehnliches Vermögen im Inland mit Ausnahme eines Reisegeldes nach Palästina einfach zu verzichten. Der gesamte Besitz wurde zugunsten der NSDAP eingezogen. Die Stadt Lienz erhielt davon ein Grundstück für einen NS-Kindergarten. Die zwei Geschäftsläden hatte das Ehepaar schon vorher an zwei seiner Angestellten verkauft.

In diesem Fall sind die Betroffenen vergleichsweise glimpflich davongekommen, wenngleich nicht bagatellisiert werden darf, daß auch so bereits infames Unrecht geschehen war. Das kinderlose Ehepaar Bohrer ist im August ausgewandert, so blieb ihm die Reichskristallnacht vom 8./9. November 1938 erspart. Nichts spricht dafür, daß sich nicht auch in Lienz Mitglieder der SA und HJ hätten aufhetzen lassen, gegen jüdisches Gut und Leben womöglich blutig vorzugehen. Der ungewöhnlich frühe Zugriff auf „nichtarisches“ Vermögen in Lienz könnte dem Ehrgeiz von Parteigenossen der ersten Stunde zuzuschreiben sein; auch mochte die „arische“ Kaufmannschaft dahin gewirkt haben, diese Konkurrenz zu liquidieren.

Offensichtlich war damit schon ein Wunschziel der örtlichen Nazis erreicht, nämlich nicht nur Lienz, sondern ganz Osttirol für „judenrein“ erklären zu können. Ähnlich zielgerichtet übrigens waren fanatische Nationalsozialisten hinsichtlich der Klöster. So soll der damalige Direktor der Lienzer Mädchenhauptschule, zugleich Kreispropagandaleiter der NSDAP, Hans Oberdorfer (1985 in Lienz verstorben) ungeniert geäußert haben, er freue sich auf jenen Tag des Triumphes, wenn die letzte Nonne an einem Ast baumeln wird.

„Die gottgewollte Rasse“

Über den bekannten Sachverhalt von Antisemitismus ohne (die Anwesenheit von) Juden brauche ich mich hier nicht zu verbreiten. Osttirol betreffend wird man sagen können, daß der Antisemitismus weder stärker noch geringer war und ist als in anderen vergleichbaren Gebieten. Der rassische Antisemitismus wurde erst von den Nationalsozialisten hereingebracht. Er fand allerdings selbst bei der bäuerlichen Bevölkerung unschwer ein gewisses „Verständnis“, insofern der Bauer als Viehzüchter durch sein Standesblatt wie von der landwirtschaftlichen Fachschule in Rassefragen einigermaßen eingeschult war. Der ehemalige Nationalratsabgeordnete Franz Kranebitter (Bauer in Oberlienz) nannte seinerzeit das Pinzgauer Rind die für Osttirol „gottgewollte Rasse“.

Die plumpe Gegenüberstellung von ausgesuchten und vorteilhaft fotografierten „nordisch-germanischen“ Typen zu ausgesuchten, unvorteilhaft aufgenommenen Polen, Russen, Juden, Zigeunern in NS-Publikationen durchschaute man ebensowenig wie die ständigen und bis in die Lokalpresse lancierten Hetzartikel. Der lesende Bevölkerungsteil freilich war schon früher mit dieser Thematik vertraut geworden, nicht zuletzt durch die allenthalben dilettierenden Rassekundler, die sich wissenschaftlich seriös zu geben versuchten. Reisejournalisten pflegten seit der Zweithälfte des 19. Jahrhunderts Volkstypen somatologisch zu charakterisieren und Merkmale für Höher- und Minderwertigkeit herauszustellen. So galten die Kalser im osttirolischen Großglocknerdorf ganz allgemein als besonders großgewachsener, blonder Volksschlag. Dabei haben die Verfasser fleißig voneinander abgeschrieben; es hat sich sozusagen herumgesprochen, die Kalser seien reinrassige Germanen. Einer ernsthaften Prüfung hält diese Klassifizierung natürlich nicht stand. Wenn man schon nach den ethnischen Wurzeln spekulieren will, muß man im Kalser Tal zumindest auch den nicht unerheblichen Anteil slawischer und romanischer Geländenamen beachten.

„Endlich ein echtes deutsches Mädel“

Wenn der spätere Kreisleiter Erwin Goltschnigg bei der Schulinspektion 1938/39 in Außervillgraten nach Betreten der oberen Klasse unvermutet entzückt „endlich ein deutsches Mädel!“ ausruft, weil er in einer Bank die flachsblonde Anna Kraler entdeckt hatte, muß dies auch bei den Kindern einigen Eindruck gemacht haben. Für breite Bevölkerungskreise war es gewiß verfänglich, sich quasi dank der NS-Ideologie plötzlich zu einem höherwertigen Menschentum gezählt zu wissen, einer „Herrenrasse“ anzugehören. Es war fatal genug, wenn sich eine Nation in den Glauben verstieg, das von der „Vorsehung“ zur Weltherrschaft auserwählte Volk zu sein. Auch darin beruht jene furchtbare Konsequenz, mit der die Nazis die Juden, die als „das auserwählte Volk“ jahrhundertelang verachtet und bespöttelt worden waren, vernichteten.

Den Folterknechten die Augen ausgestochen

Der religiös begründete Antisemitismus war selbstverständlich auch in Osttirol am weitesten verbreitet. Kraft seiner langen Tradition ist er selbst dem ungebildeten, unbelesensten Katholiken in Fleisch und Blut eingegangen. Er war wie eine Art Glaubensrichtung in den Predigten und in Religionsunterricht irgendwie immer präsent.

Die sakrale Kunst von der Spätgotik bis zu den Nazarenern dokumentiert besonders in den Passionsszenen Christi die den Juden zugeschobene Rolle der Schergen und Folterknechte, ebenso wie der Text von Passionsspielen des Barock. Bekannt sind die sogenannten „Grüftljuden“ von Oberlienz, das sind lebensgroß geschnitzte barocke Figuren, die einige Kreuzwegstationen vorstellen und sich in der Gruftkapelle befinden. Gleichartig drastische Darstellungen sind in Winnebach zu sehen, wenn man die Stationskapellen am Weg zur Kirche hinauf besichtigt. In Kalkstein gab es bis vor kurzem eine alte Bauernstube, wo die Getäfeltafeln mit den 14 Kreuzwegstationen bemalt waren. Die Kinder hatten sich den Spaß gemacht, in den Ölgemälden allen „Juden“ die Augen auszustechen.

Altvertraut, gleichsam volkstümlich war auch das Motiv des feilschenden Schacherjuden. Das Gsieser Nikolausspiel enthält eine Szene, in der ein „Jude“ seine typischen (diskriminierenden) Eigenschaften – verschlagen, betrügerisch, geldgierig – auszuspielen hatte. Zu diesem älteren Topos des Handelsjuden trat dann mit der Gründung politischer Parteien der Kultur- und Zeitungsjude.

Der politische Antisemitismus der Deutschnationalen, der Konservativen und Christlichsozialen diente der Durchsetzung parteipolitischer Interessen und Ziele. Die Verteufelung der Sozialdemokraten, der Liberalen, der Demokratie und des Parlamentarismus erfolgte auch mit dem Etikett „verjudet“. Was in Osttirol an Zeitungen bezogen und gelesen wurde, war größtenteils katholisch-konservativer Herkunft. Die Jahrgänge der christlichsozialen „Brixner Chronik“, der gleichgestimmten „Lienzer Nachrichten“ (seit 1911), des konservativen „Tiroler Volksboten“, der „Tiroler Bauernzeitung“ usw. enthielten in fast jeder Ausgabe Artikel mit antisemitischen Ausfällen. Als „verjudet“ galten die zeitgenössische Kunst wie die fortschrittliche Presse. Konservativ-religiöse Kreise sahen schließlich in allem kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt das verderbliche Walten eines ominösen Judentums. Von da war der Schritt, an eine „jüdische Weltverschwörung“ zu glauben, nicht mehr weit.

In den Dörfern gab es früher wenige Zeitungsleser, aber die wenigen waren meinungsbildend. Dazu gehörten neben einigen aufgeschlossenen, wirtschaftspolitisch interessierten Bauern und Gastwirten nicht zuletzt die Geistlichen und Lehrer. Das Volk war rezipient und durchaus orientierungsbedürftig. Wie sehr hiebei antisemitische Töne an der Tagesordnung waren, läßt sich freilich nicht rekonstruieren. Aber der Boden muß weit und breit präpariert gewesen sein, wenn 1938 das Vorgehen der Nazis gegen die jüdischen Mitbürger so viel stille und laute Zustimmung erfahren hat. Wie beifällig geriert sich doch der Ortsberichterstatter von Leisach bei Lienz: „Besonders gefällt uns, daß nun endlich mit dem Israelitenvolk aufgeräumt wird“. Die Diktion läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. In derselben Nummer der „Tiroler Bauernzeitung“ vom 2. April 1938 schreibt der Ortsberichter von Görtschach-Gödnach, einer Ortschaft der Gemeinde Dölsach, launig so, daß mit dem Wort „Jude“ der politische Gegner schlechtweg abqualifiziert war: „Nun ist unser Pufferstaat Österreich zu Ende gegangen. Unsere Machthaber haben uns mehr gepufft als das Ausland, denn wir haben viele rote und schwarze Juden. Gegen die waren wir ohnmächtig, nun ist der Retter gekommen“. Ich zitiere nur noch einen Satz aus demselben Blatte vom 13. April, der das bäuerliche Wirtschaftsinteresse anging: „Das braucht wahrhaftig keinem Bauern erst gesagt zu werden, daß ihm der Umgang mit Juden stets und in jedem Falle Schaden bringt“. Die unzähligen antijüdischen Hetzartikel allein in der Bezirkszeitung „Der Deutsche Osttiroler“ und der nachfolgenden „Lienzer Zeitung“ von 1938–1945, eben auch unter der Redaktion Bruno Ewald Reisers, der jetzt als alter Mann im „Osttiroler Bote“ rührselig verbrämte Artikel veröffentlicht, überschlage ich, ohne auf sie einzugehen.

Spurenlesen versuchen

Wie ist es heute um den Antisemitismus im Bezirk Lienz bestellt? Ich bedenke, was ich diesbezüglich bemerkt oder gehört habe und wie ich es beurteile. Zum Beispiel in betreff des Alt-Bundeskanzlers Kreisky, von dem durchaus geläufig ist, daß er Jude ist. Ich wage festzustellen, daß dieser Umstand das Wahlverhalten der Osttiroler seit 1970 kaum beeinflußt haben wird.

Sehr leicht registrieren ließen sich die Sympathien den Israelis gegenüber, vor allem 1967 anläßlich des 6-Tage-Krieges. Militärische Stärke scheint der Männerwelt immer noch zu imponieren. Aber zu folgern, daß dadurch der Antisemitismus schwächer geworden ist, wäre ein Irrtum.

Ein anderes Beispiel: Das Ehepaar Stallbaumer in Sillian hat in der Hitlerzeit Wiener Juden zur Flucht über die Grenze nach Italien verholfen, kam ins KZ Dachau, und die Frau ist dort umgekommen [richtig: in Auschwitz]. Dieser Fall ist den älteren Leuten im Oberland gut bekannt. Wen ich auch darüber befrage – jedesmal klang mißbilligend durch, der Stallbaumer hätte sich damit bloß bereichern wollen. Stillschweigend vorausgesetzt erscheint dabei, daß Juden grundsätzlich reich sind und Kosten keine Rolle spielen.

Bekannt ist in Osttirol der langjährige, im vorigen Jahr in Pension gegangene Leiter des Aufbauwerkes der Jugend auf Schloß Lengberg in Nikolsdorf, Hermann Pepeunig; Institution wie Person sind gleichermaßen suspekt. Nicht bekannt ist, daß Pepeunig sich schon vor 1938 als Gymnasiast in Innsbruck aggressiv judenfeindlich hervorgetan hat. Dann muß ich zugeben, daß mein Schwiegervater – sonst ein herzensguter Mensch – ein Antisemit ist, der die NS-Judenverfolgung lieber gutheißt als bedauert.

Wie Pfarrer Lercher an Freitagen nach der Werktagsmesse mit lauter Stimme das Gebet „Es sind Finsternisse geworden, als die Juden den Herrn Jesus gekreuzigt hatten ...“ anhängte, klingt mir aus der Kindheit deutlich in den Ohren nach, aber ich könnte nicht sagen, daß mich die kräftige Formulierung nicht auch beeindruckt hätte. Das Wort „Jude“ ist immer noch ein richtiger Schimpf, und ich selber muß mich hüten, es nicht zu verwenden. Witze, nicht jüdische, sondern solche, wo etwa nach einem Franzosen, einem Italiener und einem Deutschen ein Jude die Pointe zuspitzt, sind gang und gäbe zu hören.

Kann ein Antisemit Jesus lieben?

Mein bester alter, 1984 verstorbener Freund Josef Obbrugger – im übrigen eine außergewöhnlich tolerante, verständige, eigenständige Persönlichkeit – vermochte seine ablehnende Einstellung zum Judentum zeitlebens nicht zu revidieren. Einen Juden kennengelernt hat er einzig und allein als Rekrut 1917 in Enns und dessen einzige Auffälligkeit, von ihm erstmals „Mahlzeit“ statt „Guten Appetit“ gehört zu haben, hat er sich gemerkt.

In seinem „Kernliedgut“ für Volksschüler führte er unter den zahlreichen Titeln auf einer 1942 erstellten Liste auch „Es waren einmal 3 Juden“. Andererseits war Lehrer Obbrugger entschieden antinazistisch eingestellt. Er wurde in seiner Heimatgemeinde Außervillgraten ­denunziert und ist strafversetzt worden. Seine NS-Gegnerschaft war religiös motiviert. 1937 hat er ein Flugblatt der Deutschen Glaubensbewegung, das 1936 in Rosenheim verteilt worden war, vervielfältigt und mit dem ausdrücklichen Vermerk „Zur Lehr und Wehr“ versehen, um von dieser Richtung zu warnen. Wenn es darin u. a. hieß: „Die Deutsche Glaubensbewegung steht auf dem Standpunkt, daß die Person des Stifters, Jesus, für den Deutschen Menschen nicht verpflichtend sein kann, weil er die Fundamente des Deutschen Glaubens: Rasse, Blut und Ehre nicht kennt. Das Christentum ist jüdisch-orientalischen Ursprungs, kann daher nie Glaube des Deutschen Volkes sein“, dann war für einen engagierten römisch-katholischen Christen wie Obbrugger klar, welchen Standpunkt er einzunehmen hatte.

Im Sommer 1938 wurden die Osttiroler Lehrpersonen in das Lager Peggetz bei Lienz zur ideologischen Umschulung eingezogen. Obbrugger hat sich aus den Vorträgen einige Sätze „wahllos notiert“, die ihn in seiner ablehnenden Haltung dem Nationalsozialismus gegenüber bestärkt haben werden, z. B.: „Die Apostel und viele Päpste waren jüdisch. Christus war ein Galiläer, also ein Arier. Das Erlösungswerk Christi kann nur ein Adolf Hitler zu Ende führen!“ Religiös gebundene Menschen wie er haben sich vielfach nur in Beziehung zu einigen Dogmen ihres Glaubens mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt.

Faktische taktische Hintergründe

Den einheimischen Antisemitismus kann man vielleicht als atmosphärisch latent kennzeichnen.

An Ort und Stelle hatte er selten Gelegenheit, sich bemerkbar zu machen. Die amtliche Seelenbeschreibung von Lienz 1806 weist unter der Rubrik „Judenschaft“ „Ist keine“ aus. Die Volkszählung von 1910 vermerkt lediglich zwei Personen israelitischen Bekenntnisses. Die Stelle in einem Zeitungsbericht eines anonymen Schreibers aus Innichen vom Jahre 1901 kann sich nur auf die Anwesenheit von Sommerfrischlern und Kurgästen, nicht auf ansässige jüdische Familien beziehen: „Beklagenswert ist es gewiß, daß hierorts die christlichen Eltern in der Überwachung des Umgangs ihrer Kinder mit Judenkindern viel zu wenig vorsichtig sind“. Diese immerhin bemerkenswerte Stimme kam ersichtlich aus der Runde eines dortigen Kanonikers, der das Presseapostolat lautstark betrieb. Die versteckte Spitze dieser Äußerung dürfte einfach gegen den Fremdenverkehr gerichtet gewesen sein. Noch ein Beleg, und zwar aus dem Sitzungsprotokoll des Gemeinderates von Außervillgraten vom Jahre 1920:

„Zum eingebrachten Projekt einer jüdischen Gesellschaft betreff Errichtung einer großen elektrischen Kraftanlage bei Abfaltersbach an der Drau zwecks großer industrieller Unternehmungen, welche die Befürchtung großer Schädigung der Landwirtschaft im Gefolge hat, wurde über Antrag der interessirten Beteiligten Gemeinden zweks einer Vorberatung in gegenständlicher Sache behufs Hintanhaltung dieses Unternehmens zu der am 4. Juli 11 Uhr vormittags in Abfaltersbach stattfindenden Vorbesprechung Herr Anton Leiter als Vertreter der Gemeinde gewählt und entsendet.“ In diesem Fall könnte weniger der Umstand ausschlaggebend für die Ablehnung gewesen sein, daß es sich um eine anscheinend jüdische Gesellschaft handelte, vielmehr mochte den einflußreichen Guts- und Sägewerksbesitzern daran gelegen sein, überhaupt keine neuen Betriebe niederzulassen, die das etablierte Lohn-Preisgefüge erschüttern konnten.

Jedem Landesteil seine Ritualmordlegende

Als 1985 die Kontroversen um den Kult des Anderl von Rinn ausgetragen wurden, kam zwar auch der kleine Simon von Trient zur Sprache, niemals jedoch der Parallelfall von Lienz, der von diesen übrigens der älteste ist. Daß der Kult um die Ursula Pöck zu keiner Zeit so recht im Schwunge war, wenngleich es an einem Versuch der Belebung im 18. Jahrhundert und zu einer Wiederbelebung anfangs unseres Jahrhunderts nicht mangelte, und die Beseitigung der sichtbaren Kulturzeugnisse nach 1945 ohne Aufsehen oder Proteste erfolgen konnte, ist positiv anzumerken.

Kurz zur Legende: 1442 oder 1443 wurde die von zahlreichen Messerstichen gezeichnete Leiche des 3–4-jährigen Mädchens aus dem Wasser der Drauwiere gezogen. Der Verdacht für die Untat fiel sofort auf die zwei ansässigen jüdischen Familien. Sie sollen das Kind am Gründonnerstag oder Karfreitag rituell gemartert haben. Eine gewisse Margaret Breitschädlin habe das Kind den Juden in die Hände gespielt. Unter Folter gestanden die Beschuldigten alles ein. Das Gerichtsurteil wurde vollstreckt: die Männer Samuel und Josef wurden gerädert und erhängt, wobei jedem ein lebendiger Hund mit dem Kopf nach unten an die Füße gebunden wurde. Die beiden jüdischen Frauen und die Breitschädlin wurden alle drei rücklings zusammengebunden und bei lebendigem Leibe verbrannt. Die fünf jüdischen Kinder wurden zwangsgetauft und entgingen so dem Tode. Zugleich sei für Lienz das Judenverbot auf „weltewige“ Zeiten ausgesprochen worden.

Als 1475 der Trienter Bischof alle angeblichen Ritualmordfälle erheben ließ, wurde auch der Lienzer Vorfall aufgegriffen. Die amtlichen Ermittlungen von zahlreichen Gewährsleuten aus dem ganzen Landesgericht (nach 33 Jahren) ergaben sinngemäß die obige Darstellung.

Ins Depot mit dem Kult

Der Vater der Ursula Pöck, ein Lienzer Bürger, soll im Jahre 1452 eine Gedenktafel mit Inschrift an der Nordseite der Pfarrkirche beim dritten Strebepfeiler angebracht haben. Da ein Kult nie richtig aufkam, blieben folgerichtig auch die unvermeidlichen Wunder aus.

Zwar versuchte der Stadtpfarrer Karl N. Hiltprandt von Reinegg den Kult um Ursula Pöck in Schwung zu bringen, indem er 1739 die vermutlichen Gebeine exhumieren ließ und den kanonischen Selig- bzw. Heiligsprechungsprozeß in Rom (erfolglos) anstrebte. Aber die von oben forcierte Verehrung scheint nicht lange angehalten zu haben, da der Diözesan-Topograph Georg Tinkhauser 1855 bemerkt: „Jetzt aber scheint das Kindlein auch von den Mitbürgern vergeßen zu werden“.

Einen letzten Wiederbelebungsversuch unternahm Dekan Josef Baur, als er 1904 die Gebeine in einer Mauernische neben dem Altare Unserer Lieben Frau vom Guten Rate beisetzen ließ. Der aus Lienz gebürtige Pfarrer Josef Troger ließ sich zum Silbernen Priesterjubiläum 1912 zwei Relief-Holztafeln spendieren, geschnitzt von Josef Bachlechner in Hall, darstellend Ursula Pöck und Anderle von Rinn. Er vermachte sie testamentarisch der Pfarre Lienz, wo sie seit 1931 im Kircheninneren (rechtes Seitenschiff) hingen. Da Dekan Budamair von der Ritualmordlegende nichts hielt, ließ er sie in den 50er Jahren entfernen. Sie kamen ins städtische Museum Schloß Bruck, wo sie als Exponate die Schloßkapelle zierten. Kustos Dr. Franz Kollreider muß, wie verlautet, deswegen von Besuchern einmal beanstandet worden sein. 1973 entfernte sie der neue Kustos Dr. Lois Ebner. Sie werden im Depot verwahrt.

Die im linken Seitenschiff gehangene, etwas ältere Gedenktafel mit der Inschrift: „Hier ruhen die Gebeine des unschuldigen Kindes Ursula Pöck welches im Alter von 4 Jahren am Charfreitag des Jahres 1443 von den Juden gemartert worden ist“, kam erst im Zuge der Kirchenrestaurierung 1967/69 weg, wurde vom Kustos Kollreider gleichfalls in der Schloßkapelle ausgestellt und befindet sich heute im Museumsdepot.

Einerseits kann also einigen namhaft gewordenen Personen ein gewisses Interesse an der Beibehaltung der Legende nicht abgesprochen werden, andererseits gibt es keinen Hinweis, wonach die Entfernung der Tafeln Unmut aus der Bevölkerung hervorgerufen hätte.

Im übrigen brachte die „Lienzer Zeitung“ 1943 einen ausführlichen Artikel vom „Ritualmord in der Judengasse in Lienz“ zur 500-jährigen Erinnerung, mit dem Untertitel: „Als das Judenverbot in Lienz für ‚weltewige‘ Zeiten ausgesprochen wurde“; verfaßt von Herrn Lipp, dem nachmaligen Gemeinderevisor Osttirols. Die Lienzer Judengasse, die seit 1945 wieder so heißt, wurde in der Nazizeit in Julius-Streicher-Gasse umbenannt [richtig: nie umbenannt], ausgerechnet nach dem Gründer des antisemitischen Hetzblattes „Der Stürmer“ und dem Initiator der Judenverfolgungen.

Hitlerzeit in Osttirol

Verfolgung und Widerstand

Mit dem Einmarsch reichsdeutscher Truppen in Österreich am 12. März 1938 begannen die bisher illegalen Nazis des Bezirks ein Kesseltreiben gegen Exponenten der bisherigen Verwaltung und Politik, namentlich gegen höhere Funktionäre der Heimwehr und der Vaterländischen Front. Mit einigen von ihnen wurde am Lienzer Hauptplatz geradezu Spießrutenlauf getrieben, so mit Hermann Pedit und Dr. Wanner. Hundegger und Rainer sind in einer „Fackngrutte“ zum Gespött der Leute durch die Stadt gezogen worden. Vom 13.–15. September 1938 fand im Kino Linder, dem größten Saal der Stadt, ein Schauprozeß gegen sie und Bezirkshauptmann Dr. Kundratitz statt. Der seinerzeitige Landtagsabgeordnete, Bürgermeister Jakob Annewanter aus Obertilliach, wurde als Bezirksführer der Vaterländischen Front verhaftet, Anton Leiter in Außervillgraten als gewesener Gauführer der Heimwehr.

Die Volksabstimmung am 10. April 1938 erbrachte im Bezirk Lienz 98,21 % Ja-Stimmen: 21 der damals 50 Gemeinden konnten sich als „Hitlergemeinde“ rühmen. Eine beachtliche Anzahl von Proteststimmen gab es allein in Innervillgraten, Außervillgraten, Abfaltersbach und Obertilliach. Die beiden Gemeinden des Villgratentales verzeichneten mit 74,1 % bzw. 86,1 % österreichweit den niedrigsten Prozentsatz der Zustimmung. War also im Raum Sillian ein christkatholischer Nährboden für Widerstandshandlungen spürbar, wie die gravierenden Verfolgungsfälle später zeigen (Winkeltaler Widerstandsgruppe, Eidverweigerung, Fluchthilfe), so war es bei der Arbeitergruppe in Lienz-Debant ein sozialdemokratischer Fundus.