Paul Nizon
Die Republik Nizon
Eine Biographie in Gesprächen
geführt mit Philippe Derivière, aus dem
Französischen übertragen von Erich Wolfgang Skwara,
mit einem Nachwort von Christoph W. Bauer
Woraus ich gemacht bin
Aus bernischem Stein und dem ländlich Schönen von damals. Aus der Anschauung kleinbürgerlicher Magermilch und früher Lebensenttäuschung. Aus russischer Seele. Aus deutschem Idealismus und deutscher Romantik. Aus der Hetäre Rom und der Pariser Kurtisane. Aus dem Beispiel des Boxers und Soldaten. Aus der Überheblichkeit des eingeborenen, doch nie erreichten Schöpfertums. Aus Bewaffnung und Entwaffnung. Aus meinen Hunden. Von daher eine lebenslange Intoxikation von einem anderen Leben. Künstlerleben. Eine Tendenz zum Höchsten und Niedrigsten. Ein Gemisch aus Verlorenem Sohn, demobilisiertem Soldaten, Partisan und Strolch. Hochmut und Demut. Marschieren. Durchhalten.
Paul Nizon, der Schriftsteller, der Sie sind, definiert sich nicht nur durch seine Bücher, sondern auch durch die Wahl einer Lebensweise, von der insbesondere Ihre Journale reiches Zeugnis liefern. Im ersten, 1997 veröffentlichten Journalband mit dem Titel „Die Innenseite des Mantels“ erwähnen Sie oft Ihre Suche nach einer „poetischen Existenz“. Welchen Sinn darf man in diesem Wort sehen? Handelt es sich dabei um eine Definition Ihrer persönlichen Entwicklung?
Ich sehe im Schriftsteller tatsächlich einen Menschen, der ganz und gar in seiner Arbeit aufgeht und sich, ähnlich wie ein Entdeckungsreisender, auf eine langwierige Unternehmung einläßt. Seit ich mit dem Schreiben begonnen habe, bin ich fest überzeugt, daß es die Wirklichkeit nur dann gibt, wenn es mir gelingt, sie in Worte zu fassen. Es hat mir also nie genügt, über Erlebtes oder meine Vorstellungen nur zu reden, ich mußte darüber hinaus eine Form und Sprachstruktur finden, um diese Wirklichkeit neu zu erzeugen, weil sie andernfalls ungreifbar bleiben müßte. So hat das Schöpferische seit meinen Anfängen im Mittelpunkt meiner Interessen gestanden. Ich bin im Grunde seit jeher ein Sprachjäger gewesen. Und alles übrige, alle Werte, die das Leben der anderen lenken, blieben für mich von minderer Bedeutung.
Wäre das auch Ihre Methode, sich in eine Familie von Künstlern einzureihen?
Van Gogh oder Robert Walser etwa?
Richtig, es gibt diese beiden Vorbilder. Aber es gibt auch andere.
Van Gogh und Walser wurde beiden ein durch Einsamkeit und Armut bestimmtes, qualvolles Leben zuteil. Aber es gibt durchaus auch glückliche Künstler, die mit der Wirklichkeit zurechtkommen.
Das trifft auf die meisten Schriftsteller zu. Sie führen ihr Leben, haben eine Familie und sogar einen Beruf. Daneben schreiben sie Bücher, wie etwa Kafka als Jurist in einer Versicherungsfirma gearbeitet hat und nachts schrieb. Aber auch Kafka träumte davon, nur Schriftsteller zu sein und als Künstler zu leben. Am Ende seines Lebens ist es ihm dann auch gelungen. Für mich läßt sich das Leben als Schriftsteller nicht mit anderen Tätigkeiten vermengen. Auch wenn ich, was die meiste Zeit geschieht, nichts mache, läuft die Maschine ohne Unterlaß. Es gibt weder Ruhepausen noch Ferien. Im Grunde hätte es auch keinen Platz für eine Familie oder Menschenbeziehungen gegeben, weil diese Aufgabe wirklich alles beansprucht.
Und dennoch haben Sie eine Familie.
Ich habe eine Familie, aber bin möglicherweise Masochist. Meine gegenwärtige Ehefrau sagt oft: „Was erzählst du denn da, du bist drei Ehen eingegangen, du hast vier Kinder!“ Es stimmt, daß ich nie lange allein gelebt habe, aber ich habe mich vor den Anforderungen meiner Umgebung immer zu schützen gewußt. Das ist ein Widerspruch meines Lebens, aber eine andere Geschichte. Mich erfüllt totaler Wille zur Unabhängigkeit, die es mir gestattet, mein Schreiben und meinen Lebenshunger zu schützen. Zugleich erwarte ich unaufhörlich die Liebe und bin ihr ausgeliefert.
Welchen Einfluß hatte Van Gogh auf Ihre Vorstellung vom Künstlertum?
Bedeutend an Van Goghs Persönlichkeit ist seine ausschließliche, brennende Hingabe an die Malerei, die sich vielleicht aus der kurzen Spanne Leben, die ihm gegeben war, erklären mag. Er hat sich wie eine Fackel abbrennen lassen. Meine Vorstellung eines Ateliers verdanke ich ein wenig ihm: keine Bequemlichkeit, keine Gegenstände, die zum Ausruhen oder zur Beschaulichkeit verführen, einzig und allein Objekte, die der Arbeit dienen. So bin ich mit meiner Ausstattung, die ich mein Frontmobiliar nenne, immer wieder umgezogen und habe alles von einem Atelier zum jeweils nächsten mitgeschleppt. Aber diese Vorstellung eines Ateliers verdanke ich auch meinem Vater. Unter den wenigen Erinnerungen an ihn, die mir geblieben sind, ist mir sein Labor besonders wichtig. Ein Labor, in das ein Mensch sich zurückzieht, um sich dort einer Aufgabe zu widmen, die der Schöpfung gleicht, aber die auch mit Chemie, Papier und Instrumenten verbunden ist. Auch Robert Walser hat sich immer in Mansarden verschanzt, wo er seine Sätze schuf. Seine Schriftstellertätigkeit setzte er dann auf langen Wanderungen fort, auf welchen er seine Gedanken spazieren führte. Man könnte gleichfalls Malcolm Lowry als Beispiel nennen, sein unfaßbares schöpferisches Ringen an Zufluchtsorten irgendwo in Kanada.
Das ist die Verlockung einer geschlossenen Welt, einer Welt außerhalb der unseren.
Es ist vor allem die Verlockung einer dem bürgerlichen Leben und seiner Werte entgegengesetzten Welt. Auch Hemingway führte diesen Kampf. Es stimmt, daß er reich war und Erfolg hatte. Aber wenn er von seiner Arbeit sprach, dann immer nur mit Kampfbezügen, als von einem Boxkampf.
Man hat Ihnen gelegentlich Ihren Ästhetizismus und Ihren Mangel an sozialem Engagement vorgeworfen. Dabei verweigern Sie eine gewisse Art bürgerlicher Existenz. Steckt Ihr Engagement nicht gerade darin?
Ja, absolut. Das Künstlerleben, das ich führe, ist eine Herausforderung, die wiederum ein wesentlicher Bestandteil meiner Arbeit ist.
In „Die Innenseite des Mantels“ spielen Sie in diesem Sinne gar auf einen Auftrag an. Sie sprechen von Ihrem Künstlerleben als einer poetischen Mission.
Dabei handelt es sich wieder um etwas anderes. Ich erkläre manchmal, daß ich als Schriftsteller geboren wurde. Meine Schwester und ich haben sehr früh gewußt, was wir tun wollten. Sie zog es zur Musik, mich zum Schreiben. Andere Interessen gab es für uns nicht. Ich hatte den Eindruck, gewissermaßen zum Schreiben vorbestimmt zu sein. Aber diese Vorstellung stand mir zu nahe an der Religion, deshalb habe ich sie nicht weiter verfolgt. Ein Auserwählter oder ein Verdammter, das ist ungefähr dasselbe. Zu einer einzigen Sache verdammt oder zu einer einzigen Sache berufen.
Das Gefühl des Erwähltseins steht der deutschen Romantik nahe. Sind Sie somit also auch ein Romantiker?
Ich glaube ja. Der Klassiker ist vielmehr Goethe.
Goethe, der Mensch im Besitz einer schönen Ausgeglichenheit, der auch nur auf dem Gipfel seiner Harmonie schreiben kann. Einer, der auch Ämter und Verantwortung im öffentlichen Leben übernimmt?
Was mich dazu verleitet hat, zu einem Wesen wie Van Gogh wahlverwandtschaftliche Nähe zu etablieren, ist seine Besessenheit, die Dinge um den Preis einer unerhörten Anstrengung lebendig zu machen. Hier stecken der Kampf und der Wahnsinn.
Wäre ein gewisser Wahn somit für das Schöpferische unentbehrlich?
Der Wahnsinn erlaubt ein Sich-Gehen-Lassen und ein Wühlen in den gefährlichen Schichten der Existenz, in den dunklen Bereichen. Um die Geister zu lenken, bedarf es aber auch der Disziplin und der intellektuellen Kontrolle, weil es nicht ohne Gefahr ist, die Verliese des Unterbewußten anzuzapfen.
In Ihrem Buch „Am Schreiben gehen“ sagen Sie, daß Ihr Akzeptieren der Gefahr von einem Aufenthalt in Rom herrührt. Damals waren Sie dreißig, befanden sich in Rom und sind dort im wahrsten Sinne explodiert; in Ihrem Leben und in Ihrem Schreiben sind Sie explodiert.
Ja, in jenem Alter habe ich mit den bürgerlichen Werten gebrochen, die ich von meiner Erziehung und meiner Familie her bezogen hatte. Meine erste Ehe war in ihrer ganzen Stimmung noch von einem nahezu religiösen Idealismus geprägt gewesen.
Worin bestand jener Idealismus?
Ich idealisierte das Paarsein als etwas Ewiges in absoluter Treue.
Wenn man Ihr späteres Leben betrachtet, kann man sagen, daß Sie sich seit jener Zeit gewaltig verändert haben!
Nicht nur habe ich mich sehr verändert, ich verändere mich von einem Tag zum anderen. Was mein Schreiben anging, so habe ich auch während meiner ersten Ehe geschrieben, aber ohne es jemals wirklich zu schaffen. Ich war noch Student und verfaßte kleine Prosatexte, die etwas Idealisierendes hatten. Ich lebte in einem schrecklichen Zweifel, ich wußte nicht, ob ich Schriftsteller war. Trotzdem war das die einzige Sache, die mich ausfüllte, aber ich hatte nichts zu bieten, nicht die kleinste Erzählung, keinen Roman, kein Theaterstück. Als ich mein Studium beendet hatte, wurde ich Museumsassistent und Familienvater, und habe dann endlich mein erstes Buch veröffentlicht, „Die gleitenden Plätze“, eine schon sehr persönliche, aber noch viel zu wohlwollende Prosa. Man kann es als Vorgeschmack dessen sehen, was folgen sollte. Dann kam ich mit einer Geldsumme, die es mir erlaubte, nichts zu tun, in Rom an. Und dort geschah augenblicklich die Verwandlung. Ich entdeckte die Stadt, die Freiheit, die Huren, alles eben, was ich später entwickelt habe.
Eine Existenzänderung, die auch mit der Geburt ihrer persönlichen Schreibart einhergeht. Hätten Sie Ihr eigenes Schreiben freimachen können, wenn Sie weiterhin Ihr bürgerliches Leben, wie Sie es nennen, geführt hätten?
Nein, denn das Schreiben der herkömmlichen Art verleugnet die gefährliche und die schmutzige Seite der Welt, oder vermag sie nicht auf die rechte Weise zu beschreiben. Was mich anging, so hungerte ich nach jener Welt, wollte unbedingt in mir selber den Saukerl und die animalische, auch heidnische Seite erforschen. Ich glaube an die vielleicht etwas naive Vorstellung, daß man kein bürgerliches Leben führen darf, wenn man zu den gefährlichen Dingen, gewissermaßen zum Schlangenkäfig, vorstoßen will.
Es verbindet Sie da auch etwas mit Thomas Bernhard. Bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr schrieb Bernhard ziemlich weltbejahende Gedichte, wie gar jene zum Ruhm seines Landes. Dann folgt ein Bruch, aus dem die negative Dimension sprüht, die in seinem Werk fortan die entscheidende Rolle spielen wird. Bernhard konnte, genau besehen, nur schreiben, indem er die negative, rebellierende Dimension seines Wesens annahm.
Stimmt genau. Ich habe Thomas Bernhard gekannt. Er war mit Handke einer der wenigen Schriftsteller, die mir nahe standen. Ich habe auch Günter Grass, Ingeborg Bachmann und Martin Walser gekannt, kurz, die Leute meiner Generation. Aber das waren keine Schriftsteller, die ein Künstlerleben führten – wobei ich die Bachmann ausnehmen will, der ich mich verbunden fühlte, weil es zwischen uns eine Wahlverwandtschaft gab. Wie auch immer, in meinem Innersten habe ich mich stets geweigert, irgendwelchen Schriftstellergruppen anzugehören, und ich habe auch nur zweimal an Tagungen der Gruppe 47 teilgenommen. Als hätte ich gewissermaßen das Bedürfnis verspürt, mich als einzigen Schriftsteller auf der Welt zu empfinden. Vor kurzem hat man mich gefragt, was ich von Europa halte. Ich habe geantwortet, daß ich mich als Mischling oder Vaterlandsloser fühle, und daß ich allein der Republik Nizon angehöre!
Ist das der Grund dafür, daß die einzige Person Ihres Werkes Sie selber sind?
Ja, aber es ist nicht immer so einfach. So gibt es in meinem Buch „Im Hause enden die Geschichten“ trotz allem ziemlich viele Figuren. Und es gibt in diesem Buch kein „Ich“.
Aber das sind Figuren, die Ihrer Kindheit und Frühgeschichte angehören. Sobald Sie erwachsen werden, habe ich doch den Eindruck, daß Sie zur einzigen Person in Ihren Büchern werden. Sie bedauern es ja auch, daß Sie nicht dazu imstande gewesen sind, völlig eigenständige Persönlichkeiten zu erfinden, wie etwa der von Ihnen bewunderte Joseph Conrad.
Im Vergleich zu Autoren, die ich liebe, empfinde ich diesbezüglich ein gewisses Bedauern. Ich stoße da an meine Grenzen. Ich sehe mein Geschick als das eines abgesonderten Moleküls an, das in eine Seelenkapsel eingeschlossen ist. Dennoch habe ich im Alltagsleben viele Freunde, und ich habe sie nie verloren. Tatsächlich gibt es eine Trennlinie zwischen meinen beiden Lebensweisen, der des Schriftstellers und meinem privaten Leben. Sobald ich schreibe, verwandle ich mich in dieses einsame Geschöpf, das redet und sich in Büchern erzählt. Aber auch im Leben bin ich auf manche Weise dieses einsame, abgesonderte Wesen …
Die Nebenfiguren, die in Ihren Büchern aufscheinen, sind nur zu oft unbedeutende oder nebensächliche Geschöpfe, etwa Streuner oder Prostituierte …
Nein, das muß genauer betrachtet werden. In „Das Jahr der Liebe“ gibt es eine Person namens Beat, und er ist ein Freund. Ich habe ihn in mein Buch als Gesprächspartner und Gegenspielerfigur eingeführt. Dann gibt es die beiden Lehrer, die in einem alten Haus in Zürich leben. Dann gibt es meine Tante. Man kann meine literarischen Figuren auf keinen Fall auf das Bordell und die Straße reduzieren. Es gibt eine Menge kleiner Leute, gewissermaßen die „Saat der Erde“. Es gibt auch den Taubenmann, den Nachbarn, und viele andere Personen.
In „Stolz“ fühlt man geradezu eine gewisse Grausamkeit des Autors im Hinblick auf seine Figuren. Ich erinnere mich an eine Szene, wo der Held seinen Sohn nach Monaten der Abwesenheit auf sich zukommen sieht. Und dieses Kind erscheint mit dem Kopf eines Ungeheuers! Das ist eine außergewöhnliche Passage. Unerhört in ihrer Grausamkeit.
Kein Kopf! Das Kind war in der Zwischenzeit sehr dick und rund geworden. Ich weiß nicht, ob es sich dabei um eine grausame Passage handelt. Es ist vielmehr eine Szene, die den Abgrund offenbart, der sich zwischen der in einem Bauernhof im Spessart verlorenen Hauptfigur und allem auftut, was ihm früher vertraut gewesen war.
Oder Sie beschreiben in „Im Bauch des Wals“ eine Begegnung mit Ihrer Mutter in einem Altenheim. Diese Beschreibung einer alternden Mutter ist nicht gerade zärtlich.
Dazu kann ich Ihnen nichts entgegnen. Es ist keine gewollte Grausamkeit. Sie beschreibt nur die Abgelöstheit des Erzählers, die Entfernung, die ihn von seiner Mutter trennt. In „Stolz“ dagegen erscheint die Titelfigur überhaupt von allem losgelöst, ohne daß man den genauen Grund dafür wüßte. Wenn ich mich mit Familiengründen aufgehalten hätte, dann hätte ich einen psychologischen Roman geschrieben, was nicht der Fall ist. Der Held kennt keine Menschennähe, und man weiß nicht warum. Als ich mit diesem Buch begonnen hatte, sah ich darin die Beschreibung eines kurzen Lebens, die Geschichte eines zum Tode Verurteilten. Es war auch ein Echo auf Büchners „Lenz“. Es hatte nichts mit mir zu tun. Diese Figur gehörte einer literarischen Familie an.
Gut, aber diese Loslösung ist trotzdem die Ihre. Ich habe den Eindruck, daß in Ihren Büchern die meisten Ihrer Figuren ziemlich festgelegt sind, indem Ihre Prostituierten eben nichts als Prostituierte und die Mütter nichts als Mütter sind. Man könnte sagen, daß es nicht Ihre Absicht ist, die Menschen menschlicher zu machen, sondern eine Einzelheit ihres Wesens hervorzustreichen, um sie zu Karikaturen zu verwandeln oder sie wenigstens doch zu Masken zu vermindern.
Wenn ich Sie recht verstehe, dann besteht meine Arbeitsweise nicht darin, Leben zu schaffen, sondern zu töten oder hinter Masken einzusperren. Wie aber erklärt sich dann die hochgestimmte Lebenszugewandtheit und die Menschlichkeit, die so viele Leser in meinen Büchern entdeckt haben, wenn ich ihrem Lob glauben darf? Viele meiner Figuren wurden mit viel Liebe gezeichnet. Beat in „Das Jahr der Liebe“ ist doch nicht hinter einer Maske eingekerkert?
In „Das Jahr der Liebe“ dreht sich alles um die Hauptfigur, Sie selbst. Dennoch gibt es Unterschiede zwischen dem, der Sie sind, und jenem anderen, den Sie in diesem Buch erfunden haben. Wie erklären Sie sich dieses Bedürfnis, sich selber zu erfinden?
Ich erkläre es mir nicht.
Man hat bei Ihnen den Eindruck einer umgekehrten Beziehung zwischen Leben und Werk. Ihr Werk ist weniger das Produkt Ihres Lebens, vielmehr hat Ihr Leben in Ihrem Werk sein Vorbild gefunden, vor allem durch die Erfindung dieser Figur des Künstlers. Ich glaube, daß man hier an Ihre Einzigartigkeit rührt. Was halten Sie davon?
Es stimmt, daß ich den Typus des Schriftstellers, den ich verkörpere, nirgendwo sonst finde. Ich teile gewisse Dinge mit Henry Miller, aber Miller war ein Leichtfuß, was bei mir nicht der Fall ist. Das Leben als Bohemien, das Ausgehen mit den Kollegen, die gemeinsamen Besäufnisse, die Mädchenjagden, die Gaunereien, das alles findet bei mir nicht statt. Was ich auch mache, es geschieht als Einzelgänger.
Was man bei Miller auch nicht findet, ist ein gewisses Schuldgefühl.
Miller war ein Mann ohne Skrupel.
Das ist richtig, es gab bei Miller kein Schuldgefühl.
Wenn ich nicht irre, ist das bei Ihnen nicht der Fall.
Sie sagen es.
In manchen Ihrer Bücher – ich denke an „Das Auge des Kuriers“ – äußern Sie gar Gewissensbisse über dieses Künstlerleben, das Ihnen der Nutzlosigkeit und dem reinen Ästhetizismus verschrieben scheint. Sind diese Gewissensbisse nicht eine Form von Schuldgefühl?
Wenn ich die mich umgebende Welt betrachte, erscheint mir meine Lage tatsächlich als privilegiert. Nicht nur wegen der Zeit, die mir zum Schreiben gegeben ist, sondern weil ich in meinem Inneren von der Nützlichkeit der Kunst nicht überzeugt bin. Die Kunst erscheint mir als das Edelste überhaupt, das Einzige, das Leben abgibt. Aber ich kann mein Künstlerleben nicht als großartig bezeichnen. Ich habe ja gar keine Wahl gehabt. Es ist das Einzige, was ich tun konnte, und man muß aus seinen Fähigkeiten das Äußerste herausholen, wozu man imstande ist.
Und haben Sie wirklich den Eindruck, das Äußerste geleistet zu haben? Sind Sie der Schriftsteller geworden, der sie sein wollten?
Bis zu einem gewissen Punkt, ja. Ich habe verwirklichen können, was in mir steckt, selbst wenn nur eine kleine Anzahl von Büchern und viele Zweifel vorliegen. Die Zweifel entstammen meinem ichbezogenen Leben. Aber ich verbringe nicht den ganzen Tag mit diesem Gedanken. Wenn ich wirklich arbeite, wenn ich sehe, wie die Worte und Sätze sich zu bewegen beginnen und die Welt werden, empfinde ich keine Skrupel mehr, sondern Genugtuung, manchmal sogar etwas wie Glück.
Richtig, sprechen wir vom Glück. Es findet sich bei Ihnen ein großes Glücksgefühl am Schreiben, das auch der Leser empfinden kann.
Nicht nur das Glück am Schaffen, sondern am Leben. Das ist etwas sehr Verwickeltes. Ich verachte das Leben, zugleich aber liebe ich es sehr. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht aus irgendeinem Anlaß geradezu vor Glück platze.
Wann geschieht so etwas?
Wenn ich zum Beispiel in einem Park spazieren gehe, wenn ich zum Zeugen dieses Reichtums und der Festlichkeit des Lebens werde, woran auch ich teilhaben darf. Dann empfinde ich das Glück, ganz einfach vorhanden und am Leben zu sein.
Wenn Sie also auf die Straße hinuntergehen oder aus einer Métro-Station ans Tageslicht treten?
Ja, genau, genau so ist es. Dann fühle ich mich wie ein Junge, voller Zukunft. Das Leben zeigt sich mir dann voller Verheißungen, Abenteuer, Liebe – allem eben, was große Empfindungen bewirkt.
Und verwirklichen sich die Verheißungen auch?
Natürlich machen sich auch Melancholie und Pessimismus bemerkbar. Ich glaube, daß ich zutiefst pessimistisch veranlagt bin.
Diese Mischung aus Lebenskraft und Pessimismus führt Sie schon wieder in die Nähe von Miller und auch Hemingway. Aber ist nicht letztlich Robert Walser mit seiner glücklichen Unschuld der Schriftsteller, dem Sie am nächsten stehen?
Die Unschuld Walsers war – wie bei Hemingway – mit sehr viel Angst vermengt. Am Ende seines Lebens, in seiner Anstalt eingeschlossen, empfand Robert Walser sein Schriftstellerleben als mißlungen. Wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte er noch einmal von vorne angefangen, und hätte auf eine ganz andere Art geschrieben, näher am Volk, wie er sagte. Auch er sah seine aristokratische Abgesondertheit als einen unverdienten Vorzug. Was mich betrifft, so kann ich mich nicht als unschuldigen Kerl bezeichnen. Es gibt keine Unschuld, keine Naivität bei mir.
Ist das etwa keine Unschuld, wenn Sie auf der Straße spazieren gehen und vor Glück platzen?
Es ist die Unschuld des Augenblicks, die Unschuld eines angesichts der Versprechungen des Lebens entzückten Kindes. Die Kindheit ist zum Spielen da, für Dummheiten, zum puren Leben. Sie ist das Gegenteil der Schulordnung und der Disziplin – dieser Diktatur. Kindheit bedeutet auch Entdecken. Ein Kind hat so großen Hunger auf Entdeckungen, daß es nicht warten kann.
In Ihrem Werk sprechen Sie sehr wenig von Ihrer Kindheit. „Im Hause enden die Geschichten“ ist ein Buch über eine zerstückelte Kindheit, eine Art von Puzzle. Das Buch Ihrer Kindheit aber haben Sie nie geschrieben.
Das ist ein Thema, das mich nicht interessiert hat. Meine Schwester, der ich mich sehr nahe fühle, teilt überhaupt nicht meine Sicht über jene Zeit, und erkennt auch nicht wieder, was ich darüber in meinen Büchern schreibe. Sie sagt mir immer wieder: „Das war überhaupt nicht so, wir waren glücklich und verwöhnt. Wir haben wie in einem Märchen gelebt.“ Ich weiß nicht, warum ich für meinen Teil nur die düsteren Seiten im Gedächtnis behalten habe. Es war wohl so, daß ich mich selber erfinden wollte, und um sich selber zu erfinden, muß man reinen Tisch machen und seine Wurzeln leugnen. Indem ich mit meiner Kindheit auf diese Weise verfuhr, befreite ich mich davon und bereitete den Boden für jene Ich-Erfindung vor, die später in „Das Jahr der Liebe“ vollzogen wurde. In „Stolz“, dem in der Zwischenzeit geschriebenen Buch, setzt sich dieselbe Geschichte fort, nämlich die einer belasteten Kindheit, die zur Verweigerung des Lebens und zum Tode führt.
Wenn in Ihren Büchern auch die Kindheit verleugnet wird, ist im Gegensatz dazu der Heranwachsende überaus gegenwärtig. In „Canto“ und dann in „Stolz“ ist die Hauptfigur ein Mann, der gegenüber dem Leben sozusagen im Zustand der poetischen Pubertät verbleibt. In „Das Jahr der Liebe“ ist der Held fünfzig Jahre alt, aber er benimmt sich, wenn ich richtig gelesen habe, ein wenig wie ein ewiger Jugendlicher.
Ja. Die Adoleszenz ist das geniale Alter, wo alles mit noch jungem Geist und jungen Augen zu entdecken bleibt. Die Jugend des Geistes und der Sinne ist gewissermaßen die Verschmelzung doppelter Jugend, die einen unerhörten Glanz bewirkt. Es ist schwer zu begreifen, warum mit dem Erwachsenenalter dieses Vermögen auf der Stelle aufgegeben und gegen die Fron eines Berufes oder einer Familie eingetauscht wird. Was meine Kindheit angeht, kommt mir eine Anekdote in den Sinn. Bis zu einem gewissen Alter trug ich langes Haar. Ich weiß nicht, warum es meinen Eltern so gefallen hatte, denn meine Mutter entstammte einem eher einfachen Milieu und mein Vater dem Großbürgertum. Ich aber wurde wie ein kleiner Prinz erzogen und von einem Hausdiener, der gelegentlich auch den Chauffeur abgab, zur Schule begleitet. Und ich trug lange Haare, was mein Leben ziemlich belastete. In der Schule machte man sich nämlich über mich lustig. Lange hatte ich mich über diese Entscheidung meiner Eltern gewundert, bis mir eines Tages ein Freund, der Botschafter war, endlich erklärte, daß es sich dabei um ein Klassensymbol von Kindern aus sehr vornehmen Familien handelte.
Tatsächlich kann es ein Adelsmerkmal sein. Auch Rilke trug als Kind langes Haar.
Und Sartre erzählt in „Die Wörter“ eine ähnliche Anekdote: an dem Tag, an dem man ihm einen kurzen Haarschnitt verpaßte, entdeckte er sich als andere Person.
Ich auch, ich ebenfalls! Ich wußte gar nicht, daß ich das mit Rilke und Sartre teile. Das ist ja interessant. Ja, es war ein Zeichen von Vornehmheit.
Sind Sie sich deshalb Ihr Leben lang wie ein Prinz vorgekommen? In manchen Passagen Ihrer Bücher deuten Sie es an.