image

Jochen Jung

EIN DUNKELBLAUER SCHUHKARTON

Hundert Märchen und mehr

image

© 2000

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-3795-2

Umschlag: Walter Pichler

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

Für Anna, Rebekka, Daphne, Jason
und all die andern

Es war einmal – finde heraus,
wann das sein wird.
G. A.

DIE FRAU

Es war einmal eine, die fand einen, der ihr gefiel. Und den nahm sie auch.

DER REGEN

Es war einmal ein kleiner Regen, über den es aber kaum etwas zu sagen gibt. Ein paar Wolken hatten sich zusammengezogen, die ersten Tropfen fielen – die auch gleich die zweiten und dritten waren, aber wer zählt da schon mit? –, und bald darauf war alles vorüber. Hier und da nasse Flecken auf der Erde, dann auch die nicht mehr – zu wenig, um sich daran zu erinnern, ja nicht einmal genug zum Vergessen.

DIE FÜCHSE

Es war einmal im Norden, da, wo sich die Füchse Gute Nacht sagen. Einer von ihnen hatte damit angefangen, eines späten Abends – »Gute Nacht«, rief er –, und der, dem er es zugerufen hatte, war einigermaßen verwirrt stehengeblieben. Es hatte ihm aber nicht schlecht gefallen, und so probierte er es am nächsten Abend selbst. Mit Erfolg: denn bald darauf taten es alle Füchse dieser Gegend.

Mit Erfolg? Die Freundlichkeit der Füchse nahm derartig zu, daß es ihnen immer schwerer wurde, ihrem Gewerbe nachzugehen, und schließlich einer nach dem anderen das Land verließ und auswanderte.

Heute leben keine Füchse mehr in dieser Gegend. Sie heißt aber immer noch »da, wo sich die Füchse Gute Nacht sagen«.

DAS BETT

Es war einmal ein großes Bett, das stand auf vier festen Holzfüßen und war überhaupt ganz aus Holz. Aus Holz war auch der Boden, auf dem es stand, und aus Holz waren natürlich auch die Kästen und Schränke im Zimmer. Vor dem Fenster stand ein Baum und winkte. Aber wem? Den beiden, die da im Bett lagen und so ganz und gar nicht aus Holz waren? Dem Bett selbst?

Ach was, Bäume sind Bäume, und die winken und wanken nicht. Aber irgend jemand hatte doch –

DAS SCHLOSS

Es waren einmal ein König und eine Königin, die lebten in einem Land neben einem anderen Land, in dem auch eine Königin und ein König lebten. Eines Tages kam es, wie es kommen mußte, und die einen machten bei den anderen einen Staatsbesuch. Das Wunderbare geschah: die vier hatten einander auf Anhieb sehr gern, sehr gern. Der Gegenbesuch ließ denn auch nicht lange auf sich warten, die Freude aneinander bestätigte sich, aber – man kann nicht jede Woche einen Staatsbesuch machen. Was also tun?

Man beschloß, wenigstens für die besonderen Zeiten im Jahr, für die Ferien und die Feiertage – doch, doch, das haben Könige auch – eine Möglichkeit zu schaffen: man baute. Ein Schloß. Über der Grenze. Der eine Teil gehörte zum einen und der andere zum andern Land, und die Grenze ging mitten hindurch. Da verbrachten die vier von nun an die schönsten Tage des Jahres und die Nächte auch. Und nur gelegentlich hörten die Zöllner draußen, wie’s klopfte drinnen und jemand fragte: Darf ich einreisen? Und dann nur noch Gelächter.

DER HELD

Es war einmal ein Nibelunge, der war ein Held wie andere auch, tapfer und treu. Treu freilich nicht nur seinem eigenen Herrn, denn heimlich diente er einem zweiten, mußte ihm dienen: er litt am Reimzwang. Wo und wann auch immer ihm ein neues Wort unterkam, suchte er einen Reim darauf. Und da er mittlerweile sehr geübt war, fand er ihn auch. Bis, ja bis eines Tages eintrat, wovor er sich immer gefürchtet hatte: ein neues Wort war aufgekommen, er hörte es, suchte, grübelte, zermarterte sich, aber kein Reim wollte sich einstellen. Der Nibelunge sonderte sich ab, wurde blaß und bleich, und ehe drei Wochen um waren, fand man ihn eines Morgens tot im Eck. Das Wort hieß übrigens: deutsch.

DIE LEUTE

Es war einmal ein Mädchen, das vielleicht ein Junge war. Oder umgekehrt? Die Jeans, das T-Shirt, die Frisur, man wußte nicht so recht. Das Wesen schien ja eher zart, aber manchmal auch laut, so eindringlich irgendwie und zugleich ungreifbar. Natürlich wurde das Mädchen, das vielleicht ein Junge war, allmählich älter, aber wurde die Sache damit eindeutiger? Die Jeans, das T-Shirt, die Figur – auf den ersten Blick schien den Leuten immer alles ganz klar zu sein, aber wehe, sie fingen an, darüber nachzudenken, dann half nicht einmal mehr die Stimme; sofort war wieder alles möglich, das heißt beides. Eines Tages, eh das Geheimnis gelüftet war, zog sie weg aus der Stadt, und er wurde nie wieder gesehen.

DER MÄRCHENERZÄHLER

Es war einmal ein Märchenerzähler. Der zog aber nicht, wie die anderen Märchenerzähler, von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt; er suchte andere Ohren. Er ging vielmehr den langen Weg hinunter zum Fluß, fand eine sanfte Uferstelle und ließ sich dort nieder. Er blickte auf das zügig dahinfließende Wasser, das nie mehr dorthin zurückkehren würde, wo es jetzt war, und erzählte dem Fluß von den Bäumen, von ihrer Ruhe und ihrer Geduld und von ihrer Gelassenheit gegenüber den Tages- und Jahreszeiten. Wenn er fertig war, ging er zu den Bäumen, setzte sich in ihren verläßlichen Schatten und erzählte vom Fluß, seiner Lebhaftigkeit und seiner Neugier und seiner Suche zwischen Anfang und Ende. Wirklich reden mußte er nicht. Er saß einfach da, und sie verstanden ihn. Nur manchmal bewegten sich ein wenig seine Lippen, und der Fluß zeigte kleine Strudel, und die Bäume fingen an zu rauschen.

DER BÖSE BUBE

Es war einmal ein böser Bube. Eines Tages – er ging noch nicht zur Schule – zertrampelte er seine goldene Weihnachtstrompete, weil sie nicht so spielte, wie er wollte. Er bekam eine Ohrfeige und wußte nicht, warum, nicht wirklich. In der Schule, später, schnitt er in der Musikstunde einem Mädchen vor ihm den halben Zopf ab, ein Freund von ihm hatte am Vortag das gleiche getan. Noch später hatte er eine Freundin, dann noch viele, dann eine Frau. In die Politik ging er nicht, er hatte eine Familie und eine Firma. Er war nicht sehr beliebt, aber einige mochten ihn. Er war dick und starb plötzlich. Er war ein böser Bube, und er wußte es nicht.

DIE WOLKE

Es war einmal eine kleine Wolke, die zog am Himmel dahin. Von oben sah sie die roten Dächer und die grünen Wiesen und hier und da sogar ein paar bunte Blumen, aber mittendrin war da, wo auch immer sie hinzog, ein grauer Fleck. Das war ihr auf eine unbestimmte Art unangenehm, aber während sie noch dabei war, so etwas wie eine Entschuldigung dafür zu suchen, merkte sie, daß sie schon seit geraumer Zeit nicht mehr allein war. Immer mehr Wolken hatten sich zusammengeschoben, die Dächer wurden braun und die Wiesen stumpf, und als die kleine Wolke spürte, daß sie angefangen hatte zu regnen, kam ein großes Gefühl der Erleichterung über sie. Ja, sie gab sich aus, bis sie so etwas wie eine schöne Ohnmacht überkam und ihr kleines Denken ein Ende gefunden hatte.

DER WEIHNACHTSMANN

Es war einmal ein Weihnachtsmann, der hatte sich verirrt. Zunächst hatte er seine Geschenke einfach Tür um Tür abgeladen, aber als er merkte, daß sein Sack immer leerer wurde, sah er sich die Türen an und wählte nur noch jede dritte oder fünfte. Als er daher nur noch für eine Tür Geschenke hatte, suchte er sich die sehr genau aus. Und dieses Mal stellte er die Sachen auch nicht einfach ab, sondern holte tief Luft, klopfte und bat in die erstaunten Gesichter hinein, übernachten zu dürfen. Er durfte, und es wurde viel gesungen in dieser Nacht hinter der letzten Tür.

Als man am nächsten Morgen nachsah, war das Bett leer, und als man aus dem Fenster blickte, sah man gerade noch eine rote Mütze in einem silbernen Bus verschwinden.

Er war also wirklich dagewesen.

DER HAHN

Es war einmal ein Hahn, der war nicht jung und war nicht alt, aber er war ständig müde, mein Gott, war er müde. Morgens, wenn er aufwachte, schlief er meist gleich wieder ein, und wenn er zum zweiten Mal wieder wach wurde, geschah es in der Regel durch das Krähen des Kollegen vom Nachbarhof. Immerhin, er stieg dann auf den Mist und tat seine Pflicht, aber das alles war ihm irgendwie sehr peinlich. Und auch die Blicke der Hennen zu ihm herüber: seiner anderen Pflicht ging er auch nicht sehr häufig nach, vielleicht alle zwei, drei Tage entschloß er sich, einer von ihnen nahezutreten.