Illustration

HAYMONverlag         

Siegfried Steininger/Wolfgang Herburger

 

Die Zukunft Vorarlbergs

Perspektiven 2050

Inhalt

Vorwort

1 Vorarlbergs Wandel 1840, 1900, 1970, 2017

1.1 Bäuerliche Mangelwirtschaft mit Ständegesellschaft (um 1840)

1.2 Textilland mit Klassencharakter und Demokratisierungsansätzen (um 1900)

1.3 Industrieland mit Parteiendemokratie und Leistungsgesellschaft (um 1970)

1.4 Vorarlberg heute: Saturierte Wohlstandsgesellschaft am Scheideweg (2017)

1.5 Verwurzelte Zukunft: ‚DNA‘ der Veränderung

2 Die Welt von morgen: ein Blick in die Jahre 2030 bis 2050

2.1 Die Entwicklung der Welt bis 2030

2.2 Zusätzliche Veränderungen bis 2050

2.3 Warum die Zukunft Vorarlbergs nicht aus der Vergangenheit kommt

3 Vorarlberg: Fragen, die sich aus der Welt von morgen stellen

3.1 Zur Einstimmung: Statements zu Vorarlbergs Zukunft

3.2 Werden die Jahre 2030 bis 2050 turbulenter, interessanter, lebenswerter?

3.3 Wovon will Vorarlberg 2030 bis 2050 leben?

3.4 Wie wird sich Vorarlbergs politische Ordnung ändern?

3.5 Wie weit ist Vorarlberg systemabhängig, welche Freiheitsgrade gibt es?

3.6 Welche Verwerfungen wird es 2030 bis 2050 geben?

4 Kapital und Fähigkeiten Vorarlbergs 2030 bis 2050

4.1 Etablierte Standbeine: Absteiger, Überlebenskünstler, Aufsteiger

4.2 Neue Standbeine: Vorarlbergs Potentiale und Möglichkeiten 2030 bis 2050

5 Politische Ordnung: Neue Machtverteilung in Vorarlberg 2030 bis 2050

5.1 Parteiendemokratie: Paralyse oder willensstarker Gestaltungsanspruch

5.2 Sozialpartnerschaft: Bürokratische Exzellenz oder vorwärts gerichtete Nützlichkeit

5.3 Zivilgesellschaftliche Organisationen: Alte Heilsbringer, neue Erleuchtete

6 Systeme: ‚Automatismen‘ und Gestaltungsfreiheiten in Vorarlberg 2030 bis 2050

6.1 Globale Systeme: Globaler Zwang oder eigene Handlungsfreiheit

6.2 Makrosysteme EU/Österreich: ‚Kraken‘ oder Leitern zur Weltelite

6.3 Systeme in Vorarlberg: Verkrustung oder dynamische Anpassung

6.4 Mikro-Systeme: Ignoranz oder engagierte Nutzung neuer Möglichkeiten

7 Verwerfungen: Vorarlberg 2030 bis 2050 – eine Sicherheitsinsel oder mitten im Geschehen

7.1 Inner- und zwischenstaatliche Konflikte: ‚Weit weg‘ oder ‚aktiv sein‘

7.2 Technologische Verwerfungen: ‚Vogel-Strauß‘ oder überlegte Alternativen

7.3 Wirtschaftliche Verwerfungen: ‚Abwarten und Tee trinken‘ oder gegensteuern

7.4 Soziale Konflikte: Selber lösen lassen oder sich engagieren

7.5 Umweltkrisen: Risikoscheu oder lösungsorientiert

8 Fokus Zukunft – 2030 bis 2050

8.1 Wo spielt die Musik? Daheim, in Bregenz, Wien, Brüssel, Shenzhen, Bangalore

8.2 Vorarlberg – ohne und mit Spannkraft

8.3 Meilensteine

8.4 Freude am Morgen

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Übersichten

Übersicht 1: Wovon wird Vorarlberg 1840 besonders beeinflusst?

Übersicht 2: Wovon wird Vorarlberg 1900 besonders beeinflusst?

Übersicht 3: Wovon wird Vorarlberg 1970 besonders beeinflusst?

Übersicht 4: Wovon wird Vorarlberg 2017 besonders beeinflusst?

Übersicht 5: Prinzip-Skizze verwurzelte Zukunft Vorarlbergs mit Überlagerung

Übersicht 6: Anstieg der Bruttoinlandsprodukte bis 2030 (Kaufkraftparitäten)

Übersicht 7: Bestimmungsmomente des Wandels Vorarlbergs

Übersicht 8: Käsewirtschaft heute 2030 bis 2050

Übersicht 9: Handwerk und (Klein-)Gewerbe 2030 bis 2050

Übersicht 10: Industrie 2030 bis 2050

Übersicht 11: Tourismus 2030 bis 2050

Übersicht 12: Dienstleistungen 2030 bis 2050

Übersicht 13: Kondratjew-Wellen

Übersicht 14: Struktur Landtag 2014

Übersicht 15: Parteiendemokratie 2030 bis 2050

Übersicht 16: Sozialpartner 2030 bis 2050

Übersicht 17: Organaufbau der Wirtschaftskammern

Übersicht 18: Gesammelte Beiträge für Arbeitnehmerinteressenvertretungen

Übersicht 19: Caritas Vorarlberg, Aufwendungen nach Fachbereichen

Übersicht 20: Aufbau und Pflege eines ATTAC-Netzwerkes Vorarlberg

Übersicht 21: Zivilgesellschaftliche Interessenorganisationen 2030 bis 2050

Übersicht 22: Systeme 2030 bis 2050

Übersicht 23: Budget 2016 des Bundesministeriums für Finanzen

Übersicht 24: Veränderungen im Verkehrsaufkommen – in CH, DE und AT 2030 bis 2050

Übersicht 25: EU-Forschungsrahmenprogramm, Programmpunkt ‚Industrial Leadership‘

Übersicht 26: Gesundheitssystem 2030 bis 2050

Übersicht 27: Elemente des Gesundheitssystems

Übersicht 28: Gesundheitsmärkte

Übersicht 29: Österreichisches Bildungssystem

Übersicht 30: Anforderungen an das Bildungssystem 2030 bis 2050

Übersicht 31: Tertiäre Bildung in europäischen Regionen

Übersicht 32: Wirkungen Bildungssystem 2030 bis 2050

Übersicht 33: Struktur und Zusammenhänge der Verwerfungen 2030 bis 2050

Übersicht 34: Verwerfungen 2030 bis 2050

Übersicht 35: Gescheiterte Staaten

Übersicht 36: Wovon wird Vorarlberg 2030 bis 2050 besonders beeinflusst?

Übersicht 37: Vorarlberg 2030 bis 2050, „ohne Spannkraft“

Übersicht 38: Vorarlberg 2030 bis 2050, „mit Spannkraft“ (mit Zusatzmaßnahmen)

Vorwort

In der Kindheit hörten wir häufig: ‚Sei nicht so neugierig‘. In der Pubertät hieß es: ‚Musst du alles hinterfragen?‘ Und so ging es weiter: Alle fünf bis zehn Jahre bekamen wir einen neuen und immer gut gemeinten Ratschlag, die Neugier im Zaum zu halten. Da wir ‚böse Buben‘ waren und sind, hat dies natürlich nichts geholfen. Die Neugier ist unvermindert da, konsequent auf die Zukunft gerichtet. Und wer nach vorne schaut, eckt an. Die Zukunft stellt immer das Heute in Frage.

Als sich viele noch trauten, Prognosen für die Zukunft zu erstellen, konnten ihnen andere schnell nachweisen, dass 70 Prozent aller Prognosen falsch sind. Und es ist natürlich auch nicht vorhersagbar, welche der Prognosen es trifft. Also hörte man das Geschäft mit den Prognosen auf und begann mit Szenarien zu arbeiten, ließ also mehr Unschärfe zu. Mehr Unschärfe erhöht natürlich die Chance, dass der Blick in die Zukunft ‚richtiger‘ wird. Wenn ich allerdings drei Szenarien vor mir liegen habe, weiß ich zuletzt ebenfalls nicht, was wirklich geschehen wird. Vielleicht liegen sogar alle drei Szenarien falsch. Angsthasen oder Hundertprozentige durchschauen diese Gefahr natürlich sehr rasch und beschäftigen sich lieber mit dem Hier und Jetzt oder der Vergangenheit. Beides sind wir nicht und stürzen uns mit Konsequenz auf die Frage, was die nächsten Jahrzehnte bringen werden.

Wer sich heute nicht mit globalen Themen beschäftigt, ist Kleingeist oder von gestern, heißt es. ‚Böse Buben‘ lassen sich auch davon nicht wirklich beeindrucken, wie übrigens alle, die trotz des globalen Winds, der jedem um die Ohren bläst, vom lokalen Standort aus mitmischen. Wir bewegen uns in der globalen Welt, beruflich wie privat … und haben gerade deshalb unser lokales Umfeld, Vorarlberg, schätzen gelernt. Wir fragen: Wie wird sich, ganz emotionslos betrachtet, dieses Kleinod vor dem Hintergrund der stürmischen Veränderungen in der Welt bis 2050 weiterentwickeln?

Ganz so emotionslos sind wir natürlich nicht, weder was Vorarlberg, seine angrenzenden Regionen, noch Europa betrifft. Europa galt im 20. Jahrhundert als der ‚Alte Kontinent‘. ‚Alt‘ ist nicht notwendig schmeichelhaft. Es hat aber nicht geschadet, ganz im Gegenteil hat sich Europa prächtig entwickelt, die EU wurde sogar Nobelpreisträger. Heutige Trendanalysen sind pessimistischer. Sie sprechen von Stagnation, einige sogar von Rückgang. Es gibt sogar solche, die ernsthaft feststellen, 2050 sei Europa eine Art ‚Disneyland‘ der Welt. Nicht mehr und nicht weniger.

Manche werden denken: Gut, dass die meisten Voraussagen falsch liegen. Aber wissen wir, ob nicht gerade diese Vorstellung richtig ist? Und würden wir dies wollen oder sollen wir dies gerade befördern?

Demnach waren und sind für dieses Buch folgende Punkte entscheidend:

•    Unsere große Neugier und diese gepaart mit dem Interesse an den mittel- und längerfristigen wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Änderungen

•    Der Wunsch, gerade das eigene lokale Umfeld, Vorarlberg, in seiner künftigen Entwicklung besser verstehen zu lernen

•    Nicht zuletzt das innere Aufbegehren gegen alles und jeden, für den das Ausscheiden des „alten Kontinents‘, aus der Weltliga bereits beschlossene Sache ist.

Wir beschäftigen uns nur mit einem kleinen Land, genau genommen mit ein paar Tälern und einer sich zum Bodensee hin öffnenden Fläche. Wir kennen das Land ganz gut. Weil dieser Flecken Österreichs bzw. Europas seit Jahrhunderten eine Einheit bildet, ist er gut beschrieben. Nicht jeder Sturm im Wasserglas wird die Verhältnisse ändern. Aber beim Blick in die Zukunft muss dennoch alles auf den Prüfstand gestellt werden, das Kapital und die Fähigkeiten im Land, die politische Ordnung, die inzwischen sehr große Zahl von Systemen jeglicher Art und nicht zuletzt die Verwerfungen.

Wer sich – wie Vorarlberg – seit Jahrhunderten fernab vom politischen Zentrum bewegt, hat und nimmt sich Freiheiten. So war es in der Monarchie und so ist es heute. Die Vorarlberger im 19. Jahrhundert waren als ‚Schwärzer‘, d. h. Schmuggler bekannt. Was in Washington oder Wien gerade so en vogue ist, muss nicht zwingend auch in Feldkirch oder im Bregenzerwald so sein. Deshalb reicht es unter diesen Voraussetzungen nicht, nur die groben Linien, etwa was sich in den Hauptstädten tut, zu betrachten. Wir müssen uns daran gewöhnen, in mehreren Schichten zu denken und dafür auch Fakten zu präsentieren. Manches ist nur personenspezifisch oder lokal zu verstehen, anderes regional, vieles in größerem Rahmen, sagen wir österreichoder EU-weit, und einiges hat globale Dimensionen. In der Zukunftsbetrachtung ist jeweils wichtig zu verstehen, was von welcher Ebene Vorarlberg beeinflusst und welche eigenen Handlungsmöglichkeiten die Vorarlberger besitzen.

Damit ist die Brille, durch die wir blicken, grob verdeutlicht. Was machen wir nun tatsächlich? Im Grunde ist dies sehr einfach skizziert. Weltweit tätige Organisationen (z. B. Weltbank, UN, OECD, EU), Staaten (z. B. USA, Schweiz), Großunternehmen (z. B. BP, Deutsche Bank), Beratungshäuser (z. B. Roland Berger, Pricewaterhouse Coopers), wissenschaftliche Einrichtungen (z. B. Institut für Technologiefolgenabschätzung und Systemanalyse) und viele andere machen sich gezielt Gedanken, wie die Welt in 2020, 2030 usw. aussieht. Wir filtern aus diesen die für Vorarlberg relevanten möglichen Veränderungen heraus und konfrontieren sie mit der heutigen und absehbar erwartbaren Entwicklung im Land. Finden wir einen Gleichklang, und ist die Richtung akzeptabel, ist alles gut. Finden wir keinen Gleichklang und sehen wir offene Flanken, weisen wir darauf hin. Selbstverständlich geben wir auch Empfehlungen, wie offene Flanken und starke Abweichungen – sofern sie kritisch für Vorarlberg sind – überwunden werden können.

‚Böse Buben‘ nehmen sich kein Blatt vor den Mund. Ausgewogenheit in der Analyse, Bewertung und bei den Empfehlungen, sowie insgesamt Stil im Umgang mit den Erkenntnissen sind uns wichtig. Sämtliche personenbezogenen Bezeichnungen sind selbstverständlich geschlechtsneutral zu verstehen und schließen Frauen und Männer gleichermaßen ein.

‚Artige Buben‘ bedanken sich. Luisa Steininger hat uns die grafischen Darstellungen erstellt. Luisa, vielen Dank. Buch schreiben ist eine eher ruhige Angelegenheit, man braucht Zeit, viel Zeit. Vielleicht haben wir Sigrids und Uschis Bedürfnisse nach Aktivität doch etwas zu sehr ignoriert. Vielen Dank für das Verständnis und vielen Dank für die konstruktiven und kritischen Anmerkungen zum Manuskript. Hanno Weiss möchten wir für die Durchsicht des Rohmanuskripts danken. Die neue Rechtschreibung ist wirklich eine ‚Kröte‘. Wir möchten Frau Christina Kindl vom Haymon Verlag herzlich für die detaillierte Auseinandersetzung mit unserem Manuskript unseren Dank aussprechen.

Je unverdaulicher eine Erkenntnis ist, desto wichtiger wird die Auseinandersetzung mit dieser. Wir möchten uns vorneweg schon bei den Verantwortlichen in der Wirtschaft, Politik, im Sozialwesen und in der Kultur Vorarlbergs und nicht zuletzt bei den Bürgern Vorarlbergs für ihre Besonnenheit der Aufnahme unserer Thesen bedanken.

Siegfried Steininger, Wolfgang Herburger

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Vorarlbergs Wandel
1840, 1900, 1970, 2017

Wie können wir uns Vorarlberg 2030 bis 2050 vorstellen? Was wird von all dem, das wir heute in Vorarlberg kennen und schätzen, bleiben, was wird sich ändern? Wir beginnen unseren Blick in die Zukunft bewusst in der Vergangenheit. Zukunft ist immer in einem bestimmten Umfang in der Vergangenheit verwurzelt. Am folgenden Beispiel, der Käsewirtschaft, lässt es sich besonders einfach verdeutlichen.

Alles Käse oder Vorarlberger Käse wieder im Kommen?

Vorarlberger Käse hat Weltniveau, das ist keine Übertreibung. Die Appenzeller Sennen haben nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) ein damals für Vorarlberg neues Käseprodukt samt Herstellungsmethode nach Vorarlberg gebracht, den ‚fetten Käse Schweizer Art‘. Heute sprechen wir von Vorarlberger ‚Bergkäse‘, obwohl es eine ganze Produktpalette von Vorarlberger Käse gibt. Die Vorarlberger hatten über die dann folgenden Jahrhunderte erhebliche Erfolge in der Viehzucht und perfektionierten ihre Käseproduktion. Die bewirtschafteten Berglandschaften, die Höfe, Bergbauernfamilien sind – bei allen Veränderungen, die es natürlich gab – ‚geronnene‘ Geschichte. Sie bilden heute ein Kapital für die Zukunft. Dies ist die eine Seite der Medaille.

Auf der anderen Seite gab und gibt es rund um den Vorarlberger Käse viele Zerreißproben, um nicht zu sagen existentielle Krisen. Käse und Milch waren für die Bauernfamilien niemals (!) wirklich Garant für ihre Existenzsicherung und ihr Auskommen. Heute überlebt der Käse nur dank öffentlicher Subventionen an die Bauernschaft.

Jeder Vorarlberger ist stolz auf den Vorarlberger Käse, so mancher Student in der Ferne erhält monatlich die erforderliche Ration für Kässpätzle und anderes von der Mama zugesendet. Die Käsewirtschaft in Vorarlberg ist heute allerdings ein Randphänomen. Alles zusammengenommen, was im Land mit der Herstellung und dem Vertrieb von Käse zu tun hat, also Landwirtschaft, Käseindustrie und Käsehandel erwirtschaften weniger als 1,5 Prozent der gesamten wirtschaftlichen Wertschöpfung in Vorarlberg. Warum machen wir dann so viel Aufheben um ein Randphänomen?

Vorarlberger Qualitätskäse wird 2030 bis 2050 eine neue Blüte erleben. Wie soll so etwas möglich sein, werden viele fragen, wenn die Zahl der Bergbauern immer mehr abnimmt, viele Jungbauern nicht mehr den Hof übernehmen wollen sowie Käsehandel und Käseindustrie sich zunehmend international ausrichten? Diese Blüte ist nur möglich, wenn sich vieles ändert. Die österreichischen Weinbauern an der Donau, am Neusiedlersee und in der Steiermark haben vorgemacht, dass man sich neu aufstellen und präsentieren kann und dass sich ein Traditionsprodukt sehr gut weiterentwickeln, geradezu ‚veredeln‘ lässt. Die Vorarlberger Gastronomie hat ganz selbstverständlich Wein aus diesen Gegenden in ihren Weinkarten; die Wiener Gastronomie hat genauso selbstverständlich den Vorarlberger Spitzenkäse nicht in ihren Speisekarten. Dort finden wir französische oder italienische Käsesorten. So kann es laufen.

Die eigentliche Herausforderung ist, den Vorarlberger Käse dem zeitlichen Geschmack anzupassen, ein Käseprodukt zu schaffen, bei dem der Gourmet ins Schwärmen kommt und eine völlig neue Vertriebsstrategie zu entwickeln, die die aktuellen Schieflagen beseitigen hilft. Vorarlberger Spitzenkäse gehört in die Gourmet-Vertriebskanäle, die die künftig weltweit wachsende Mittelschicht bedient. Weltniveau muss in die Welt hinaus, aber nicht versteckt und geschmolzen in Convenience-Produkten der Käseindustrie. Nur so kann die Wertschöpfung Vorarlberger Qualitätskäses maßgeblich erhöht werden. Der Vertriebsweg zum Discounter ist schon heute falsch und eine Bauernschaft, deren wirtschaftliches Überleben nur noch am Fördertropf hängt, verliert damit ihre Selbstachtung und die Freude, weiterzumachen.

Wir wollen an dieser Stelle nicht in die näheren Details gehen. Wichtig ist, mit diesem Beispiel etwas Verständnis dafür zu gewinnen, wie sehr die Zukunft Vorarlbergs einerseits in der Vergangenheit verwurzelt ist und wie andererseits die Zukunft davon abhängt, wie wir uns aufstellen, weiterentwickeln und präsentieren. Was aus der ‚alten Zeit‘ herübergerettet wird, ist stets ein Bruchteil dessen, was neu zu gestalten ist. Dies trifft nicht nur auf die Käsewirtschaft allein zu, sondern auf alles, was zum Erfolg Vorarlbergs beiträgt.

Wir laden Sie zu einer schönen Reise von Vorarlbergs Gegenwart in die Zukunft und zurück ein

Sich mit Zukunftsfragen zu beschäftigen, ist wie eine lange Reise. Man bewegt sich von heute weit in die Zukunft, in eine Zeit, die man noch nicht kennt und kommt, wenn die Reise zu Ende geht, gern wieder nach Hause zurück. Im Gepäck hat man viele neue Erkenntnisse und Erfahrungen. Und, zu Hause angekommen, erscheint einem jetzt auch da vieles anders. Man kommt auf neue Erkenntnisse und Ideen, sieht neue Möglichkeiten. Anderes relativiert sich. Und man lässt vielleicht auch einige Unsinnigkeiten sein. Reisen ist nicht nur spannend. Reisen bildet, auch die Reise in die Zukunft.

Haben Sie sich schon einmal mit Zukunftsfragen beschäftigt, etwas recherchiert? Schon nach fünf Minuten sehen Sie, dass das Angebot an Thesen und Szenarien unüberschaubar ist. Wir nehmen beliebig ein Beispiel heraus: Die Bevölkerungen vieler Länder schrumpfen. Eine deutlich abnehmende Zahl von Einwohnern wird nicht nur Deutschland oder Japan prognostiziert, sogar in China nimmt die Bevölkerung ab. Vorarlberg wächst hingegen. Vorarlberg hatte 2015 rund 381.000 Einwohner. Für das Jahr 2030 werden 415.000 Einwohner geschätzt. Und bis 2050 wird die Bevölkerung Vorarlbergs auf 427.000 Einwohner steigen.1 Vorarlberg wird also 2050 immerhin 46.000 mehr Einwohner als heute haben. Die Bevölkerungszunahme wird – wie in ganz Österreich und auch in der Schweiz – auf Zuwanderung zurückgeführt. Ist diese Zahl nun plausibel oder nicht? Sie werden einwenden: Deutschland hat doch auch Zuwanderung. Wollen nicht alle nach Deutschland? Ja, einerseits, aber Deutschland wird nicht alle aufnehmen können und wollen. Es gibt politische Gründe dafür und deshalb ist plausibel, dass Deutschlands Bevölkerung abnimmt. Man muss sich näher mit den Prognosen befassen, dann wird deutlich, ob sie plausibel oder nicht plausibel sind. Richtig oder falsch gibt es zum heutigen Zeitpunkt ohnehin nicht. Ob eine Prognose richtig oder falsch ist, können wir erst 2030 oder 2050 feststellen. Die vorgenannten Prognosen erscheinen plausibel.

Neben plausiblen Trendaussagen gibt es aber auch andere, die weit über das Ziel hinauszuschießen scheinen. Wie kann man sich in diesem Dschungel zurechtfinden und vor allem, was trifft auf Vorarlberg wirklich zu? Für die Auswahl der Trends gibt es kein Patentrezept, allenfalls folgendes:

Zukunftsbetrachtungen führen zu plausiblen Ergebnissen, wenn sie konsequent, systematisch und unvoreingenommen durchgeführt werden. In der Zukunftsbetrachtung dürfen wir vor allem diejenigen Entwicklungen nicht ignorieren oder uns schönreden, die wir im Innersten ablehnen, weil sie vielleicht liebgewonnene Vorstellungen über unser Land in Frage stellen. Eine Zukunftsbetrachtung erkennt man auch daran, dass sie ‚geerdet‘ ist. Die Gefahr, Zukunftsspinnereien auf den Leim zu gehen, ist groß. Geerdet heißt, dass möglichst realitätsnahe Querchecks vorgenommen werden.

Die Reise, zu der wir Sie einladen, hat Vorarlbergs nächste 35 Jahre bis 2050 im Blick. „Mein Gott“, wird so mancher denken, was soll denn schon groß in Vorarlberg bis 2050 passieren? Der Acker ist doch gut bestellt. Zweifellos, Vorarlberg muss Vergleiche nicht scheuen. Andererseits wird sich die Welt bis 2050 grundlegend wandeln. Die Zukunft hat längst begonnen und es ist unverkennbar, dass die globale Vernetzung das ihre tut. Zu satt und sicher kann man sich also auch auf der Ruhe-Insel Vorarlberg nicht fühlen. Maßgebliches wird sich ändern.

Wie bekommen wir bei unserer Reise nun die ‚Erdung‘ hin? Am sichersten ist, bei den Historikern nachzuhören. Dies am besten schon vor Reiseantritt. Die erste Frage an die Historiker lautet: Kann es in Vorarlberg innerhalb von nur 35 Jahren bis 2050 überhaupt einen gravierenden Wandel geben? Die Historiker nicken heftig. Sie denken dabei z. B. an die Jahre von 1920 bis 1955, 1880 bis 1915 oder 1835 bis 1870. Wo immer man die 35 Jahre beginnen und enden lässt, bleibt bei Vorarlberg in der Hauptsache kein Stein auf dem anderen. Warum sollte es gerade für die Zeit von heute bis 2050 anders sein? Die zweite Frage an die Historiker lautet: Sind Veränderungen bereits in einer frühen Phase erkennbar? Auch bei diesem Punkt nicken die Historiker. Bei der Reise in die Zukunft müssen wir allerdings eine gewisse Sensitivität mitbringen, damit wir bereits in den Keimen den Wandel erkennen können.

Wir, die Autoren, sind Ihre Reiseführer. Wir haben uns gut auf die Reise vorbereitet, vieles konsequent gesichtet, systematisch analysiert, unvoreingenommen bewertet und Wert darauf gelegt, dass alle Hinweise, die wir auf unserer Reise in die Zukunft geben, möglichst ‚geerdet‘ sind. Die Reise hat drei Hauptrichtungen: Wir verfolgen a) die Zeitschiene von 1840 bis 2050, im Hauptteil von heute bis 2050. Wir berücksichtigen b) die lokale bis globale Vernetzung von Ereignissen und versuchen herauszufinden, von wo solche Ereignisse ausgehen und was sich auf Vorarlberg besonders auswirkt. Schließlich legen wir c) Wert darauf, zu erkennen, was unser Kapital und unsere Fähigkeiten in Vorarlberg sind, wo Vor- und Nachteile unserer politischen Ordnung liegen, welche Systeme tangiert sind, und wo es wichtige Verwerfungen gibt. Ausgerüstet mit dem hier vorliegenden Reisehandbuch hoffen wir, dass sie gut gerüstet sind, alles möglichst interessant ist und sie aus der Zukunft wieder gut in die Gegenwart zurückkehren.

Wenn wir nur die Bevölkerungszunahme Vorarlbergs ansehen und uns überlegen, was dies konkret für Vorarlberg heißt, kommen wir auf eine Vielzahl relevanter Punkte: Erwerbschancen, Wohnungen, Schulen, Ärzte usw. Die Bewältigung von Zukunft ist nicht trivial, sie wirft mehr Fragen auf, als man zum gegebenen Zeitpunkt Antworten hat. Allerdings, wie uninteressant wäre das Leben auf dieser Welt, wenn uns nicht immer die Zukunft herausfordern würde? Und als Vorarlberger wollen wir mit unserer Reise in die Zukunft noch besser gewappnet sein, die Zukunft zu meistern.

Wir steigen ein und beginnen die Zeitreise

Wir haben uns gefragt, wie wir in einer Trendanalyse für das Vorarlberg der Jahre 2030 bis 2050 am besten die Vergangenheit ‚einfangen‘ können, ohne zu sehr in geschichtswissenschaftliche Details einzutauchen. Als Lösung hat sich angeboten, mehrere Zeitschnitte auszuwählen und für diese Zeitschnitte a) herauszufiltern, was wirklich bestimmend ist und b) näher anzuschauen, was vom vorigen Zeitschnitt im nächsten Zeitschnitt und den folgenden Phasen noch Relevanz hat.

Der Zeitschnitt um 1840 spiegelt den Urzustand wieder. Von ‚Urzustand‘ sprechen wir, weil in dieser Zeitspanne Vorarlberg noch eine durch und durch ländliche Gesellschaft in einem von der Habsburger-Monarchie geprägten traditionellen Umfeld darstellt. Um 1900, dem zweiten Zeitschnitt, ist Vorarlberg bereits Industrieland, genauer Textilland mit zwar immer noch stark ländlichen Zügen, aber einer völligen Neuausrichtung der politischen und sozialen Interessenfelder. Vorarlberg ist als Land eigenständig und verfügt über Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen. Die Arlbergbahn ist eine Schlüsselinvestition der Monarchie für Vorarlberg. Sie verbindet erstmals Vorarlberg mit dem Eisenbahnnetz der Donaumonarchie und hat erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaft Vorarlbergs. Es kommen günstigere Lebensmittel ins Land und Vorarlbergs Industrie kann sich den Donauraum mit seinen Produkten erschließen. Das Leben, allem voran die Existenzsicherung, ist immer noch für sehr viele Menschen äußerst schwierig. Diese Probleme können erst im nächsten Zeitschnitt, 1970, als gelöst betrachtet werden. Der Zeitschnitt um 1970 verdeutlicht die Errungenschaften und die Entwicklungen der Nachkriegszeit, in Vorarlberg die boomende Textilindustrie sowie andere aufstrebende Wirtschaftszweige, österreichweit unter anderem das sich entwickelnde soziale Netz von Renten-, Unfall- und Krankenversicherung. Das Hier und Jetzt wird 2030 bis 2050 bereits länger zurückliegende Vergangenheit sein, weshalb wir diesen Zeitschnitt ebenfalls wie ‚vergangen‘ betrachten. Diese vier Zeitschnitte bilden in unserer Betrachtung der Veränderungen Vorarlbergs die Basislinie. Von dieser Basislinie werden sich die künftigen Veränderungen von 2030 bis 2050 abheben.

1.1 Bäuerliche Mangelwirtschaft mit Ständegesellschaft (um 1840)

Die Beschreibung des ‚Urzustands‘ unserer Basislinie, der Zeitschnitt um 1840, fußt auf den umfassenden und detailreichen Berichten zweier Zeitzeugen: Johannes Staffler und Beda Weber.2

Die lokale Welt bestimmt, was im Leben der Vorarlberger wirklich läuft

Wir wollen an dieser Stelle gleich mit der Tür ins Haus fallen: Die lokale Welt bestimmt in diesem Zeitschnitt überwiegend das Leben der Vorarlberger. Lokale Welt sind – räumlich gesehen – die eigenen Grundstücksgrenzen, die Gemeinde, Pfarre, gegebenenfalls angrenzende Gebiete. Der Durchgriff von oben auf das reale Leben der Vorarlberger ist begrenzt. Der Hof in Wien, dessen Provinzverwaltung in Innsbruck, dessen Kreisamt in Bregenz und die sechs Landgerichte3 setzen zwar die äußeren, d. h. politischen, rechtlichen, steuerlichen und anderen Rahmenbedingungen. Für das wirkliche Leben der Vorarlberger entscheidender ist dennoch, was vor Ort geschieht.

Übersicht 1 stellt die wesentlichen Einflüsse auf das Leben in Vorarlberg um 1840 etwas detaillierter dar. Wir unterscheiden die Einflüsse der Monarchie, der Provinz, des Kreises mit Landgerichten und der lokalen Welt. Zur vereinfachten Charakterisierung der Bedeutung dieser unterschiedlichen Einflussebenen auf die Lebensverhältnisse und das Leben der Vorarlberger verteilen wir Punkte, maximal 100. Diese können auch als Prozentsatz interpretiert werden. So gesehen sind 60 Prozent der Lebensverhältnisse in Vorarlberg und des Lebens der Vorarlberger persönlich bzw. von der lokalen Welt bestimmt. Wir werden sehen, wie sehr sich diese Zahl in den nächsten Zeitschnitten nach unten verändert und die anderen Ebenen in den Vordergrund treten.

Die Übersicht vermittelt auch einen Eindruck, ob und inwieweit sich der Einfluss auf das Kapital und die Fähigkeiten der Vorarlberger, auf die politische und soziale Ordnung in Vorarlberg, die in dieser Phase noch sehr rudimentären Systeme oder das Vorgehen bei Konflikten und Verwerfungen bezieht.

Vorarlberg ist wirtschaftlich die Nr. 1 in der Provinz Tirol mit Vorarlberg, kann aber die eigene Bevölkerung nicht ernähren

Die landwirtschaftlichen Fähigkeiten in der Viehzucht und Käseherstellung, der ‚Gewerbefleiß‘ und Handel über die Bodenseegrenzen begründen um 1840 die hervorgehobene Position als wirtschaftliche Nr. 1. in der Provinz Tirol mit Vorarlberg. Die Welt der rund 100.000 Vorarlberger ist dennoch klein, das wirtschaftliche Auskommen bzw. die Versorgung für die Familie und den Einzelnen ein täglicher Kampf. Dieser tägliche Kampf um das Auskommen überragt alles andere im Leben der Vorarlberger.

Die bäuerliche Wirtschaft und Selbstversorgung sind die dominanten Wirtschaftsformen im Land. Sie bestimmen den Lebensstandard der größten Bevölkerungsgruppe, des Bauernstands. Nicht jeder der rund 23.000 Bauern, die Grund und Boden besitzen, kann für ein angemessenes Auskommen seiner Familie sorgen. Die Erbschafts-Teilung von Höfen führte schon vorher und führt auch um 1840 zur Zerstückelung des Besitzes. Wenn der Wiesen-, Weid-, Felder- und Waldbesitz zu klein ist, ist Armut angesagt. Wer keinen Besitz hat, ist bitterarm. Schon damals musste die Bauernschaft durch Zusatztätigkeiten, unter anderem im handwerklichen Bereich, das Auskommen aufbessern.

Übersicht 1:
Wovon wird Vorarlberg 1840 besonders beeinflusst?

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Die 6700 Bürger und Gewerbetreibenden in den Städten und größeren Gemeinden stehen noch relativ am Anfang eines späteren Aufschwungs. Das Gewerbe, der Handel und Verkehr sind noch zu schwach ausgeprägt, um wirklich wirtschaftliche Triebfeder für das Land und die Bevölkerung zu sein. Immerhin profitiert das Land von der Grenzlage. So gibt es etwas Handel mit Rebstecken und Brettern mit dem angrenzenden Ausland.

Rund 6000 Vorarlberger und Vorarlbergerinnen müssen auf Wanderarbeiterschaft, darunter 1.300 Kinder. Die Wanderschaft ins benachbarte Ausland ist auf etwa ein halbes Jahr befristet und stellt für sie einen Rettungsanker dar, um nicht in bittere Notlage zu fallen.

Nr. 1 in der Provinz Tirol mit Vorarlberg zu sein bedeutet nicht Reichtum, sondern etwas besseres Auskommen in einem an sich kargen Gebirgsland.

Besitz an Grund und Boden begründet politischen Einfluss und mit der ‚großen weiten Welt‘ kommen wenige in Berührung

Eigentum an landwirtschaftlichem Grund und Boden begründet Ansehen und ermöglicht die Beteiligung am politischen Geschehen. Politisch aktiv sind ganz wenige. Man muss es sich leisten können. Und in den weitaus überwiegenden Fällen beschränken sich die politischen Aktivitäten auf die Gemeinde. Politische Beteiligung in den Ständen ist eher ein Feigenblatt und einzelnen vorbehalten. Ort der politischen Öffentlichkeit ist der Gemeindesaal (oder das Wirtshaus).

Mit der ‚großen weiten Welt‘ kommen nur wenige in Berührung, geschätzt 8% der Vorarlberger: dies während des Dienstes im Kaiser-Jäger-Regiment, beim Studium in Feldkirch, Innsbruck oder Brixen, als Beamter, beim Handel innerhalb Vorarlbergs, in der Provinz Tirol, den anderen Erblanden der Monarchie und mit dem angrenzenden Ausland, als Wanderarbeiter, Dienstleister der zahlenmäßig überschaubaren Reisenden bzw. bei Transporten, als Abenteurer oder bei Händeln mit der Obrigkeit.

Fremde, zu denen auch solche aus der Monarchie zählen, gibt es kaum, aus den Zahlen für die gesamte Provinz abgeleitet in Vorarlberg vielleicht 300 Personen. Das Heimatrecht verhindert Mobilität.

‚Groß‘, ‚weit‘ und ‚Welt‘ ist deshalb selbst bei den Menschen, die über den Kirchturms-Horizont hinauskommen, nicht notwendigerweise die richtige Wortwahl.

Die Religion, die Kirche und die Elementarschulen bestimmen das kulturelle, die Familie bzw. Hausgemeinschaft das soziale Leben

Zur Kultur zählen die Kirchgänge und was auf der Kanzel verkündet wird, die Gläubigkeit der Menschen, lokale Feste, althergebrachte – teils auch ‚heidnische‘ – Sitten und Gebräuche bis hin zum Aberglauben … und natürlich der Elementarschulunterricht4 sowie der Erwerb der aus dem Mittelalter ‚herübergeretteten‘ althochdeutschen Sprache.

Der Pfarrer bestimmt zu einem erheblichen Grad mit, wo es im Ort langgeht und dies nicht in einem vorwärts gerichteten Sinn. Der Pfarrer ist allerdings nicht ausschließlich als Seelsorger oder Machtorgan der Kirche zu verstehen. Er ist auch Mitorganisator der Armenpflege, Schlichter in Streitigkeiten und hat weitere sehr weltliche Aufgaben.

Das soziale Leben ist im Wesentlichen Familienleben bzw. Hausgemeinschaft (Knechte und Mägde sind allerdings in Vorarlberg eher selten). Jeder muss in Haus und Hof mit anpacken. Ländliche Idylle ist nicht angesagt, bürgerliche Biedermeieridylle in den Städten eher die Ausnahme. Wirtshausbesuch und überhaupt der Weg nach draußen sind Männersache und nicht allzu häufig.

Die Kreisverwaltung Vorarlbergs sichert so recht und schlecht die Ordnung im Lande

Wir kommen zur nächsten, der regionalen Ebene. Vorarlberg hat um 1840 die heutigen Grenzen. Die Bevölkerung akzeptiert die Monarchie. Die Vorarlberger Kreisverwaltung des Guberniums in Innsbruck, die Bezirksverwaltung der Finanzbehörde in Feldkirch, die Landgerichte als Unterbehörden der Kreisverwaltung und weitere Behörden sind für eine Vielzahl von Aufgaben, untergliedert in Spezialbereiche, zuständig. 236 Beamte (plus Hilfsorgane) für die Verwaltung eines Landes mit 100.000 Einwohnern ist eine kleine Zahl. Die Behörden des Kreises können den Ordnungsrahmen der Monarchie im Land so recht und schlecht sichern, mehr ist nicht möglich. Die Verwaltung muss sich mehr auf den Untertanengeist der Bevölkerung und die Gesetzestreue verlassen als auf die eigene Machtfülle und Herrschaft im Land. Deshalb bewerten wir den Einfluss der ‚politischen Verwaltung‘ des Kreises auf die Lebensverhältnisse in Vorarlberg und das Leben der Vorarlberger mit 10 Prozent als vergleichsweise niedrig.

Ein Beispiel aus der Rechtsprechung soll dies verdeutlichen: Es gibt in Vorarlberg im Jahr 84 Strafanzeigen, 58 Verurteilte. Diese Zahl zeigt, dass entweder wirklich volle Ruhe und Gesetzestreue herrschen oder sich die wenigen Beamten und ihre Unterstützer um nichts mehr kümmern können. Letzteres ist vermutlich der Fall. Der begrenzte Einfluss aus Wien und Innsbruck ist den Machthabern wohl bekannt und wird wegen der Nähe zur Schweiz auch beargwöhnt.

Eine weitere, teils auch schmerzliche Berührung der Bevölkerung mit der Obrigkeit ist die Steuer. Die Finanzverwaltung legt die im Land insgesamt zu zahlende Steuer im Vorhinein fest. Die Verteilung und Einhebung der Grund- oder Rustikalsteuern (bei Bauern) sowie der Erwerbssteuern (bei Bürgern/Gewerbetreibenden) wird dann von den Ständen gewissermaßen als verlängerter Arm der Finanzverwaltung in Eigenregie organisiert und eingehoben. Hinzu kommt die im Volk als besonders ungerecht empfundene Verzehrsteuer auf Fleisch und Getränke, wobei hier der Verzehr und die daraus resultierende Steuer von der Gemeinde oder dem Unternehmen geschätzt und auf dem Weg der ‚Abfindung‘ oder ‚Tarife‘ vom Steuerpflichtigen im Vorhinein beim Landgericht oder bei der Bezirkskasse beglichen wird. Erst dann erhält der Steuerpflichtige die Berechtigung zum Verkauf von Fleisch und Getränken. Von der Verzehrsteuer ist die gesamte Bevölkerung betroffen, zur Zahlung der Grund- und Erwerbssteuern sind nur Bauern bzw. Bürger und Gewerbetreibende verpflichtet.

Zölle sowie Wege-, Brücken- und Fährmaut sind ein zusätzliches wichtiges Bindeglied zur Obrigkeit, hier allerdings direkt relevant für einen kleineren Personenkreis, allen voran die Gewerbetreibenden, Händler, Transporteure und Reisenden.

Keine Vision, kein Programm für Vorarlberg

Vorarlberg bildet als Kreis eine Verwaltungseinheit. Was ist das ‚Programm‘, was die ‚Vision‘ dieser Einheit im Jahr 1840? Diese Frage ist falsch gestellt. Das Denken in einem ‚Projekt Zukunft‘ passt nicht in diese Zeit und schon gar nicht nach Vorarlberg. Wenngleich es im Land eine aufstrebende Bürgerschaft gibt, die knapp zehn Jahre später aufbegehrt und mehr Liberalität, politische Beteiligung und Verbesserung der Wirtschaftsbedingungen fordert, sind solche Bestrebungen 1840 noch nicht oder allenfalls schwach erkennbar. Ein eigentliches Programm für eine Weiterentwicklung des Landes oder gar eine Vision gibt es nicht. Wie in allen Habsburger Erblanden steht der Erhalt der inneren politischen Herrschaft des Kaiserreichs und seiner Teile in Verbindung mit einem konservativen Katholizismus an vorderster Stelle. Die neuen Strömungen in Dichtung, Kunst, Musik, Wissenschaft, Politik oder Gesellschaft sind in Vorarlberg noch nicht angekommen. Deshalb halten wir für unsere Basislinie für die Ebene des Kreises Vorarlberg für die Zeit um 1840 als bestimmende Momente fest:

•    Der wesentliche Beitrag der Kreisverwaltung zur Entwicklung von Fähigkeiten ist die Unterhaltung von Schulen; die Schulaufsicht liegt bei den kirchlichen Dekanaten. Etwa die Hälfte der Lehrerschaft sind Katecheten.

•    Politische Herrschaftssicherung, innere Ruhe und Ordnung und die Aufbringung der Steuer sind auf der Kreisebene und bei den Landgerichten entscheidende Aufgaben.

•    Aus der Sicht der Systementwicklung, die allerdings auf den Verkehr beschränkt ist, lässt sich feststellen, dass der Kreis zum Bau von Wegen und Brücken beiträgt.

•    Die Bodenzerstückelung ist eine entscheidende Verwerfung jener Zeit. Der Kreis administriert das bestehende Erbschaftsrecht (und folgt der Direktive aus Innsbruck).

Die Gesundheitsrisiken sind eine weitere Begleiterscheinung des Lebens. Das Gesundheitswesen bewegt sich demgegenüber nur auf Schmalspur. Gleiches gilt für die öffentliche Unterstützung zur Vorbeugung und für die Bewältigung anderer Lebensrisiken. In vielen Gegenden war beispielsweise der Kirchgang mit einer erheblichen Lawinengefahr verbunden.

Frischer Wind aus Innsbruck?

Die Bedeutung des Guberniums bzw. der Provinzverwaltung in Innsbruck für das tatsächliche Leben in Vorarlberg – die nächste Ebene unserer Betrachtung – ist ebenfalls begrenzt. Immerhin werden dort Weichen gestellt, die sich auf Vorarlberg auswirken. Innsbruck hält trotz veränderter Erbschaftsregeln in der Monarchie am bisherigen Grund- und Erbrecht fest und trägt damit zur weiteren Zerstückelung von Grund und Boden in Vorarlberg bei. Im Auftrag des Hofes in Wien steuert das Gubernium die Kirchen- und Schulorganisation der Provinz. Die Universität Innsbruck sowie die beiden theologischen Ausbildungsstätten in Brixen und Trient werden vom Gubernium ‚geführt‘. Einige Vorarlberger studieren bereits zu dieser Zeit in der weit entfernten Universität Innsbruck und der Priesternachwuchs Vorarlbergs studiert in Brixen, so wie kirchenrechtlich Vorarlberg insgesamt zur Diözese in Brixen gehört.

Die Provinz und ihr Gubernium sind Garanten und Vollstrecker der in Vorarlberg bestehenden Ordnung. Die Provinzhauptstadt Innsbruck (mit etwas mehr als 10.000 Einwohnern) verfügt über deutlich stärker ausgeprägte politische, soziale und kulturelle Infrastrukturen als die kleinen Städte des Kreises Vorarlberg Bregenz, Feldkirch und Bludenz mit jeweils etwas mehr als 2000 Einwohnern. Und selbst die Wissenschaft hat in Innsbruck Einzug gehalten. Ein wirklich frischer Wind ist jedoch weder dort festzustellen noch weht ein solcher über den Arlberg herüber.

Die Habsburger-Monarchie ist Bremser der wirtschaftlichen Entwicklung in Vorarlberg

Die Zentrale der Habsburger-Monarchie, Wien, die den Gouverneur in Innsbruck und die anderen zentral gesteuerten Verwaltungen an kurzer Leine hält, ist von Vorarlberg aus weit weg, mit 174 Stunden reiner Reisezeit eine ‚Weltreise‘. Positiv in jener Zeit und abhängig von der europäischen Machtpolitik Wiens ist der seit Längerem bestehende Friede. Vorarlberg und seine Bevölkerung hätten in jener Zeit allerdings wirtschaftlich deutlich mehr von der Grenzlage zum Ausland profitieren können. Drei Viertel der Grenzen Vorarlbergs sind Außengrenzen. Seit Jahrzehnten existierte jedoch ein kaiserliches Zoll-Reglement für den Schutz des Volksvermögens, das nur begrenzt Aus- und Einfuhren zulässt und dies nach einem aufwendigen und langwierigen Verwaltungsakt. Wer wirklich vorankommen will, muss schmuggeln. Dafür sind die Vorarlberger bekannt. Die Wahrscheinlichkeit, aufgedeckt zu werden, ist begrenzt, die Bewachung der Zollgrenze ist löchrig.

Das Spitzelwesen hat trotz großer Entfernung zu Wien und Innsbruck auch in Vorarlberg Einzug gehalten. Und jegliche Veröffentlichung wurde der Zensur unterworfen. Am Ende ist beides jedoch für das reale Leben in Vorarlberg nicht wirklich maßgebend.

Die Bevölkerung von Vorarlberg hat abgesehen vom vorgegebenen Ordnungsrahmen und den dargestellten wenigen Anknüpfungspunkten mit der Obrigkeit mit dem, was außerhalb des Landes geschieht, noch vergleichsweise wenig zu tun. In Summe gehen wir davon aus, dass der obrigkeitsstaatliche Einfluss auf Vorarlberg zu etwa 30 Prozent die Realität in Vorarlberg bestimmt (20 Prozent von Innsbruck, weitere 10 Prozent von Wien aus … beides in enger Verbindung).

Die globale Welt ist für das, was in Vorarlberg geschieht, für diesen Zeitpunkt in der näheren Betrachtung vernachlässigbar.

Welche Charakteristika Vorarlbergs sind aus dieser Zeit bis heute geblieben? Es sind einige. Hiervon sollen folgende besonders erwähnt werden:

•    Alpwirtschaft (insbesondere Milch- und Käsewirtschaft)

•    Offenheit für wirtschaftliche Beziehungen ins Ausland

•    Bregenz als Hauptstadt, Feldkirch und Bludenz als weitere Zentralorte

•    Universität Innsbruck als Wissenschaftsstandort Vorarlbergs

•    Eigensinn der Bevölkerung, insbesondere in (früher) abgelegenen Gebieten

1.2 Textilland mit Klassencharakter
und Demokratisierungsansätzen (um 1900)

Die Zeit um 1900 zeigt ein völlig verändertes Vorarlberg (vgl. Übersicht 2, s. nächste Seite).5 War 1840 noch die lokale Welt für das Leben der Vorarlberger entscheidend, schieben sich nun deutlich die Entwicklungen auf regionaler Ebene in den Vordergrund. Wir stellen fest, dass nun 40 Prozent von dem, was sich in Vorarlberg tut, auch wirklich regional bestimmt sind. Was sind die wesentlichen Neuerungen?

Textilindustrie Nr. 1 in Vorarlberg, Landwirtschaft immer noch bedeutsam, viele neue wirtschaftliche Impulse

In nur 60 Jahren hat sich die gewerbliche und industrielle Welt der Textilwirtschaft in Vorarlberg völlig in den Vordergrund geschoben. Der Aufstieg der Textilindustrie wird durch das reichlich vorhandene Wasser als Energiequelle gefördert. Der Entwicklung zum Textilland verhelfen Vorarlberg auch Gesetze der Monarchie. Ausländische Unternehmen, die in der Monarchie wirtschaftlich tätig werden wollen, müssen über einen Inlandsstandort verfügen. Ähnlich wie amerikanische Unternehmen heute z. B. Irland für den Eintritt in die EU nutzen, siedeln sich Unternehmen bzw. Unternehmer z. B. der nahe gelegenen Schweiz in Vorarlberg an. Dies betrifft nicht nur die Textilindustrie, sondern auch andere Branchen, etwa die Lebensmittelindustrie, beispielsweise Suchard aus der Schweiz.

Die Landwirtschaft ist weiterhin im Land allgegenwärtig, einmal weil sie der Industriearbeiterschaft die Gelegenheit bietet, die kargen Erträge ihrer industriellen Arbeit mit den Früchten ihres eigenen kleinen Besitzes (soweit vorhanden) aufzubessern. Der überwiegende Teil der Industriearbeiterschaft sind Mädchen und Frauen, die zum Familieneinkommen aus der Landwirtschaft beitragen. Zum anderen haben auch Industrielle verstärkt Interesse an der Landwirtschaft und gründen bzw. kaufen fabriksnah oder an anderen Standorten Gutshöfe. Sie sichern damit Grundstücke für industrielle Erweiterungen, einige von ihnen wollen allerdings auch herausfinden, wie die Erträge in der Landwirtschaft, etwa durch neue Züchtungen (Vieh), Maschineneinsatz und andere Methoden verbessert werden können.

Der Vorarlberger Tourismus ist – teils ebenfalls mit Unterstützung Industrieller – im Entstehen. Geldinstitute und Versicherungen werden gegründet, dies insbesondere zur Verringerung der finanziellen Abhängigkeit der Bauern und Gewerbetreibenden von lokalen Geldgebern.6 Und auch das Zeitungswesen ist im Entstehen, hier allerdings eng verknüpft mit den weltanschaulichen bzw. politischen Gruppierungen im Land.

Übersicht 2:
Wovon wird Vorarlberg 1900 besonders beeinflusst?

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Politische Gruppen und zivilgesellschaftliche Organisationen formieren sich

Vorarlberg ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit knapp vier Jahrzehnten ein eigenständiges Land. Im Laufe der Jahre haben sich die großen weltanschaulichen Gruppierungen im Land herausgebildet und sich in Parteien formiert. Um 1900 sind die wesentlichen weltanschaulichen Gruppen die Liberal-Deutschnationalen, Konservativ-Katholischen und die Sozialisten. Die Politik des Landes ist fest in Händen der Christlich-Sozialen Partei.

Neben den Parteien wird eine Fülle von Verbänden, Vereinen und andere Organisationen gegründet. Diese sind meist ebenfalls weltanschaulich ausgerichtet. Die Mächtigen und das Volk in Vorarlberg organisieren sich.

Viele Verwerfungen im Land

In Vorarlberg gibt es eine Reihe von beinahe unüberbrückbaren Problemen bzw. Verwerfungen. Hierzu zählen das Industriearbeiterelend, vor allem der Besitzlosen und ausländischen Arbeitskräfte, und die Kinderarbeit. Darüber hinaus ist die Wanderarbeiterschaft, die wir schon aus dem Zeitschnitt 1840 kennen, auch weiterhin nicht überwunden. Das Textilland Vorarlberg bietet also nur wenigen wirklichen Wohlstand. Der Verdrängungswettwerb zwischen Industrie und Handwerk ist enorm. Wofür das Handwerk Tage braucht, erledigt die Industrie in Stunden.

Es gibt viele Zwangsversteigerungen sowohl in der Landwirtschaft als auch in Handwerk und Gewerbe. Zwischen den Tälern (Bregenzerwald, Montafon u. a.) und der Ebene (Ober- und Unterland) tut sich eine wirtschaftliche Schere auf. Viele Bewohner aus den Tälern suchen Arbeit in der Ebene (Bergflucht). Und die Bregenzerwaldbahn, die Gewerbe und Industrie in den Bregenzerwald bringen sollte, hatte den umgekehrten Effekt. Arbeitskräfte aus dem Tal pendeln in die Ebene.

Die Statthalterei mit direktem Draht zum Hof in Wien befindet sich noch immer in Innsbruck, ganz zum Verdruss der Mächtigen in Vorarlberg. ‚Weg von Tirol‘ ist deshalb eine dominante Orientierung der Politik in Vorarlberg. Hierfür wird ein ausgeprägtes ‚Alemannentum‘ erfunden und gepflegt. (Von ‚erfunden‘ ist zu sprechen, weil die Historiker nachweisen, dass das Vorarlberger ‚Alemannentum‘ an den Haaren herbeigezogen ist und in das Märchenbuch gehört.) Der Nachweis, dass die Vorarlberger einem anderen Volksstamm als die Tiroler angehören, sollte die Trennung von Tirol bringen. Diese Trennung kam dann mit dem Ende der Donaumonarchie von selbst, Vorarlberg wurde in der Ersten Republik ein Bundesland.

Zusammenfassend müssen wir also feststellen, dass die regional bedingten Verhältnisse in Vorarlberg in den Jahren um 1900 als eine Klassengesellschaft mit landwirtschaftlichem Rettungsanker und katholisch geprägtem Antlitz beschrieben werden kann. Welche wesentlichen zentralstaatlichen Wirkungen auf Vorarlberg gibt es um 1900? An dieser Stelle ist insbesondere die Arlbergbahn zu erwähnen.

Die Arlbergbahn als neuer Wirtschaftsimpuls und Vorarlberg als wirtschaftliches ‚Musterländle‘ der Monarchie

Infrastrukturen können Berge versetzen. Davon ist Carl Ganahl, Industrieller und Gewerbekammerpräsident in Feldkirch, einer der langjährigen Hauptpromotoren der Arlbergbahn und Investor für die Vorarlberger Bahn, ausgegangen. Die 1884 eröffnete Arlbergbahn musste allerdings vorerst selbst durch den Berg geplant und gebaut werden, eine damalige Meisterleistung der Ingenieurkunst. Die Planung, der Bau und Betrieb der Arlbergbahn sind ein zentralstaatliches Projekt.

Die Arlbergbahn von Innsbruck nach Bludenz und die mehr als 10 Jahre früher in privater Trägerschaft fertiggestellte Vorarlberger Bahn von Lindau nach Bludenz sowie später die Verbindungen Buchs– St. Margrethen sind 1900 entscheidende Verkehrsinfrastrukturen für Vorarlberg. Mit diesen beiden Bahnen ist Vorarlberg erstmals hochwertig an das Verkehrssystem der Monarchie angebunden. Die Arlbergbahn erschließt der Industrie Vorarlbergs den Zugang zu neuen Beschaffungs- und Absatzmärkten in der Monarchie und darüber hinaus. Auch Hersteller und Handelsunternehmen der Monarchie haben nun einen maßgeblich verbesserten Marktzugang in Vorarlberg. Die verbesserte Anbindung an die Monarchie trägt dazu bei, dass Vorarlberg um 1900 das wirtschaftliche ‚Musterländle‘ der Monarchie ist.

Vorarlbergs Industrie hatte einen weiteren Vorteil aus dem Arlbergbahnbau. Der enorme Bedarf an Arbeitskräften wurde aus anderen Teilen der Provinz Tirol, vornehmlich aus Trient und aus Italien, gedeckt. Nach dem Arlbergbahnbau sind viele dieser Arbeitskräfte in die Vorarlberger Industrie und anderswohin diffundiert.

Einfuhren von Baumwolle aus den USA, Auswanderungswelle nach den USA

Der globale Markt rückt näher an Vorarlberg. Zum einen werden für Vorarlberg Baumwolleinfuhren, vor allem aus den USA, wichtig. Zum anderen gibt es eine Auswanderungswelle aus Vorarlberg nach den USA. Die oben erwähnten Trentiner und italienischen Arbeitskräfte ersetzen faktisch die heimischen Auswanderer in die USA. Die Bevölkerung in Vorarlberg wächst und hat 1900 rund 129.000 Einwohner.

Zusammenfassung für 1900 und was bleibt?

Für 1900 ergibt sich zusammenfassend Folgendes:

•    Um 1900 haben das Land Vorarlberg, die Vorarlberger Textilindustrie und der Demokratisierungstrend mit der Bildung von Parteien, Vereinen, Verbänden und Genossenschaften die stärkste Gestaltungskraft für Vorarlberg (Einflussgrad 40 Prozent auf Lebensverhältnisse in Vorarlberg).

•    Die ‚lokale Welt‘ ist immer noch wichtig, allerdings mit deutlich abnehmender Bedeutung (30 Prozent).

•    Die Statthalterei in Innsbruck und die Monarchie büßen für das reale Leben in Vorarlberg an Bedeutung ein (nur noch 20 Prozent).

•    Neu sind nun die verstärkten globalen Einflüsse (10 Prozent).