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Hannes Leidinger

Der Untergang der Habsburgermonarchie

Vorwort – Eine kleine Trilogie

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Der Mann ohne Eigenschaften

Teil I: Der Blick von der Oberfläche in die Tiefe

Wahrhaft monumentale Werke – oft auf hohem wissenschaftlichem Niveau – sind in den letzten Jahren zur Habsburgermonarchie und zum Ersten Weltkrieg erschienen. Jeden, der an weiterführenden Informationen interessiert ist, muss es positiv stimmen, dass diese umfangreichen Studien vielfach eine große Leserschaft gefunden haben.

Die erhöhte Nachfrage konterkariert zugleich Tendenzen unter anderem im Bildungswesen, „Sachwissen“ – gerade im „Fach Geschichte“ – zugunsten sogenannter „Schlüsselqualifikationen“ in den Hintergrund zu drängen. Das dabei geäußerte Bedürfnis, von der uferlosen Aneignung der Datenmengen wegzukommen und „pädagogische Orientierungshilfen“ anzubieten, verlangt bisweilen mit gutem Grund nach übersichtlichen Darlegungen in „Grundzügen“. Vereinfachungen werden eingefordert. Und tatsächlich scheint es oft möglich, die jeweilige Sachlage nicht unnötig zu verkomplizieren.

Andererseits bleibt unbestritten, dass komplexe Verhältnisse – vor allem in der „großen historischen Erzählung“ über ganze Länder und Epochen oder sogar darüber hinaus – nur um einen mitunter hohen Preis zu simplifizieren sind. Geschichte mag in Archiven und Bibliotheken, in Aktenkartons, „Beschlagwortungen“ und Publikationen „strukturiert“ erscheinen. Das „Urmaterial“, die Zeugnisse der Vergangenheit, aber auch die wachsende Zahl von nachfolgenden Interpretationen bilden in Summe jedoch ein zeitweilig irritierendes Datenchaos.

Ordnung ist immer wieder aufs Neue nicht nur zu hinterfragen, sondern auch zu schaffen. Kategorien und Zuschreibungen werden gleichermaßen überdacht wie hervorgebracht. Im Gliederungsprozess widersetzen sich manche Aspekte der Ein- und Unterordnung. Erweisen sie sich als repräsentativ, bilden sie Gegennarrative. Wir müssen ihnen Raum geben.

Diese allgemeine Erfahrung im Umgang mit Geschichte gilt in gesteigertem Maße für fragile Gemeinwesen und Reichsgefüge, für Herrschafts- und Gesellschaftssysteme, deren Fortbestand – oft über längere Zeit – im fast buchstäblichen Sinn auf „des Messers Schneide“ stand. Die Habsburgermonarchie, ihre „Länder, Völker und Kulturen“ sind dafür ein gutes Beispiel.

Die Geschichte, die hier zu erzählen ist, besteht nicht bloß aus der Abfolge von Krisen bis hin zur „Zerreißprobe“ einerseits und Phasen der Entspannung andererseits. Ebenso wenig geht es lediglich um divergierende Perspektiven von einzelnen Akteuren, sozialen Gruppen oder Schichten. Vielmehr schaffen es gerade bei gründlicher Betrachtung selbst ein und dieselben Fakten, gänzlich unterschiedliche Konsequenzen hervorzubringen. Diese Gegensätze, ihre Verflechtung oder Auflösung, münden in Irritationen und regelrechte Paradoxien.

Sie bewirken außerdem, dass das „Spiel“ der Kräfte mehr als nur aus einem Blickwinkel lange offenbleibt, ja bis kurz vor dem Ende unentschieden ist. Man kann sogar noch weitergehen und fragen: Wurde es vielleicht auf bestimmten Ebenen über die vermeintliche „Schlussminute“ hinaus noch fortgesetzt?

Die Kapitel dieses Buches, und zunächst einmal explizit die nachfolgenden Texte der „Vorwort-Trilogie“, haben sich unzähligen Vertiefungen und Kausalitätsproblemen zu stellen. Sie betreten zuerst den Raum unterschiedlicher Lesarten der (habsburgischen) Geschichte, öffnen sich dann der Mehrdimensionalität und den Verzahnungen historischer Entwicklungen und Phänomene, um sich dann in einer sehr „kakanischen“ Art und Weise vor dem Hintergrund der „Gefahr des Untergangs“ mit Erkenntniszweifel und existenzieller Skepsis zu befassen.

Diese Abschnitte der „Vorwort-Trilogie“ sind – zugegeben – keine „Schonkost“, aber dem Thema angemessen. Wer dennoch „Abkürzungen“ auf dem Weg zum Hauptteil des Buches bevorzugt, dem sei der Wiedereinstieg am Beginn des Kapitels „Die Beständigkeit der Fragilität“ anempfohlen. Hier wird skizzenhaft – in kurzen Gedankenfeldern – eine weiter zurückliegende, ferne Geschichte erfasst, die uns zu den letztlich alles entscheidenden Dekaden, Jahren, Monaten und schließlich Wochen bis zum Untergang der Habsburgermonarchie hinführt.

Teil II: Pfade durch das Dickicht der Widersprüche und ­Mehrdimensionalität – Schlüsselfragen und „Architektur“ des Buches

Aktuelle Deutungen

„Konnte es wenigstens für ein föderalistisches Österreich eine Zukunft geben“, nachdem es bei Königgrätz von Preußen besiegt und aus „Deutschland hinausgedrängt“ worden war? Konrad Canis’ aktuelle Veröffentlichung zur „bedrängten Großmacht“ Österreich-Ungarn im „europäischen Mächtesystem“ stellt diese Schlüsselfrage und widmet sich dabei der Zeit bis 1914. In einer äußerst differenzierten Darstellung, die internationale Beziehungen immer wieder mit innenpolitischen Entwicklungen abgleicht, gelangt Canis zu einem insgesamt eher negativen Ergebnis: Für ein Weiterbestehen „gab es kaum Aussichten. So zeichnete sich bereits 1866 das Dilemma ab. Allein halbe und instabile Kompromisse schienen möglich. Deshalb ist die Auffassung ziemlich verbreitet, daß dem danach neukonstruierten System die Gefahr des Verfalls von Anfang an eigen war“.1

Obwohl sich die Habsburger aus der „revolutionären Krise“ von 1848 „herauswinden konnten“, war ihnen auf dem diplomatischen Parkett der „Stempel der Reaktion und des Stillstandes aufgedrückt“, mangelte es ihrem Reich „an wirtschaftlichem, politischem, militärischem und finanziellem Potential“, so der Befund. Und weiter: „Alle Faktoren zusammengenommen lassen erkennen, wie begrenzt die Zukunftsaussichten des Systems“ waren. „Nach Königgrätz schien lediglich Zeit gewonnen“, um „vorläufig eine gewisse innere Sicherheit und Voraussetzungen für eine Großmachtpolitik zu gewinnen, deren Grenzen sich jedoch rasch zeigen sollten. Eine Gewähr, gar eine sichere Entscheidung für die Zukunft bedeutete“ das aber nicht.2

Trotzdem gilt die Einschränkung: „Das Urteil, den Anfang a priori auf ein absehbares unvermeidliches Ende der Doppelmonarchie zulaufen zu sehen“, geht „zu weit, wenngleich durch den Verlauf bis zum Ende dieser Weg vorgezeichnet scheint“.3

Wie aber mit dieser Einschätzung umgehen? Gewiss stimmt es, dass Ideen, Pläne und Konzepte existierten, „die nicht alle von vornherein zum Scheitern verurteilt sein mußten“. Und ebenso zutreffend ist es, dass auch in der Vergangenheit die „Perspektiven für die Zukunft“ erst „einmal offen“ waren. Krisen „konnten sich verstetigen oder sogar verschärfen. Doch sie konnten sich auch abschwächen. Es konnten neue Entwicklungen eintreten, die Chancen boten, nach innen wie nach außen“.4

Diesen Ansatz greift ein fast zeitgleich erschienenes Buch von Pieter M. Judson auf, das sich im englischen Original als „neue Geschichte“ des habsburgischen Imperiums versteht und dessen Überlebensfähigkeit betont: „Die Beamten und Parteipolitiker“ des Reiches „hatten schon seit langem Flexibilität und Kreativität an den Tag gelegt, wenn es darum ging, strukturelle Änderungen auszuhandeln, die zu einem besseren Funktionieren“ des Gemeinwesens „beitragen und ihm langfristige Stabilität verleihen sollten“.5 Auch als Hort der Abwehr gegen Modernisierungserscheinungen lasse sich die Donaumonarchie nicht begreifen, heißt es hier des Weiteren. Denn: Unter anderem die Wahlen bestätigten, „dass die Hoffnungen der Regierung, und sogar des Kaisers, die Reform könnte überregionale Parteien an die Macht bringen, die darauf aus waren, das Reich gegen die regionalen Kräfte des ­Nationalismus zu stärken, berechtigt gewesen waren“.6 Also ein System „mit Zukunft“, dem im Übrigen auch auf der Mikroebene keineswegs der Todesbazillus eingepflanzt war? Schließlich zeigten Untersuchungen, dass sich „Gegensätze“ größtenteils „in Luft auflösten, wenn man Ergebnisse aus der Untersuchung lokaler Gesellschaften zur Überprüfung heranzieht“.7

Die jüngsten Publikationen widersprechen einander keineswegs diametral, verfügen allerdings nur über beschränkte Schnittmengen. Gegenläufige Argumentationstendenzen scheinen, wie von den Autoren hervorgehoben, vom Fokus abzuhängen, etwa vom Blick auf die inneren Entwicklungen einerseits oder auf grenzüberschreitende Phänomene und Spannungsfelder andererseits.

Erstaunliche Einsichten

Im einen wie im anderen Fall aber überraschen die Ereignisse von 1914 und bis zu einem gewissen Grad sogar die Geschehnisse in den nachfolgenden Jahren: Das System hielt, anders als oft vorhergesagt, dem „Großen Kräftemessen“ zunächst stand: Die Soldaten aller Völker schlugen sich im Ersten Weltkrieg für „ihren Kaiser“ mit bemerkenswertem Gehorsam. Uniformierte wie Zivilisten begehrten nicht gegen den Waffengang auf und lieferten – wenn auch in unterschiedlicher Intensität – Beispiele für „loyales Verhalten“.

Und nicht nur das. Auch aus anderen Blickwinkeln betrachtet konnten die imperialen Eliten noch zur Jahreswende 1916/17 zufrieden sein: Serbien besiegt und besetzt. Rumänien ebenso. Russland zurückgedrängt und im Inneren geschwächt. Italien erfolgreich abgewehrt. Neue Gebiete hinzugewonnen und zukünftig ­möglicherweise unter dem Einfluss der habsburgischen Dynastie. Mit Karl ein junger Kaiser an der Macht, voll guten Willens und trotz geringer Erfahrungen auf dem Weg, den Völkern der Monarchie die Hand zu reichen. Selbst unter den radikalen Nationalitätenvertretern noch keine eindeutige Abwendung vom gemeinsamen Staat. Ergo: Der Erste Weltkrieg vereinfachte die Lage Österreich-Ungarns zwar keineswegs. Aber die Anzeichen eines völligen Zusammenbruchs hielten sich trotz sozialer Spannungen und wirtschaftlicher Krisen in Grenzen.

Die Umwälzungen der folgenden Jahre waren keine ausgemachte Sache, auch nicht für die „Feindesländer“ – erst recht nicht vor 1914. Zwar sprach die in- und ausländische Presse 1913 von einem skandalgeschüttelten Reich, das keine Idee, sondern lediglich eine Verwaltung besitze und „schwer erkrankt“ das Bett hüten müsse.8 Aber handelte es sich deswegen schon um ernstzunehmende Andeutungen eines nahenden Ablebens?

Die Symbolfigur der „Altersschwäche“ und des Anachronismus, Franz Joseph I., wurde jedenfalls selbst von jenen Kräften, die den „großbürgerlichen-aristokratischen Eliten“ nicht allzu nahestanden, differenzierter gesehen. Bei seinem Regentschaftsjubiläum 1908 war in Bezug auf den k. u. k. Staat außerdem von der „Einschränkung“ weiterer „räumlicher“ Entfaltung die Rede, gleichzeitig aber auch von „unbegrenzten inneren Entwicklungsmöglichkeiten“.

Das Schicksalhafte und der offene Horizont: Fragen an die Vergangenheit

Im Widerspruch dazu standen freilich fortgesetzte ethnische Konflikte und Warnungen vor dem Reichszerfall, gefolgt von der Tatsache, dass der Kollaps im November 1918 Wirklichkeit wurde, es dafür also „gute Gründe“ geben musste. Für manche Beobachter und Kommentatoren präsentierten sich die Geschehnisse jedenfalls als Verkettung unvermeidlicher Umwälzungen. Schicksalhaft trat vor ihr Auge eine „Logik des Zusammenbruchs“.

Die vermeintliche Vorherbestimmtheit des Nieder- und Untergangs in der Retrospektive forderte freilich angesichts der irritierenden Gegenbilder zu Widerspruch heraus, wie auch einige eingangs zitierten Wortmeldungen belegen, die letztlich immer wieder um die Frage kreisen: Hätte es also doch anders kommen können?

Eine vielfach zum Spekulativen verführende Geschichtsdeutung ist allerdings gar nicht nötig. Dem Kontrafaktischen als reizvolles Gedankenspiel treten nachweisbare Alternativen in den Quellen gegenüber. Und mit ihnen drängen sich noch einmal Schlüsselfragen auf: War das Ende 1918 unausweichlich, vielleicht verspätet, vielleicht vorzeitig? Oder existierte die Donaumonarchie in gewisser Weise ohnehin weiter? Nicht bloß als „Erbe des Doppeladlers“, nicht nur – wie so oft belegt – kulturell und mental?9

Bei genauerer Betrachtung löst sich der „November achtzehn“ als scharfer Trennstrich zwischen den Epochen auf. Raumkonzepte, Handelsnetze, Wirtschaftskontakte, Entscheidungsmechanismen, Rechts- und Elitenkontinuitäten geraten in den Blickpunkt. Darüber hinaus wirkt die Zäsur gewissermaßen wie die Umwandlung der einen „Monarchie“ in viele „Imperien“.

Aber bestanden zwischen diesen nur Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten oder vielmehr tiefer gehende Verflechtungen? Gab es einen „Commonwealth“ des Donauraumes, und wenn ja, wie lange? Waren seine multikulturellen, grenz- und milieuüberschreitenden Signaturen geradezu idealtypisch etwa in die jüdischen Lebenswelten eingeschrieben?

Und fern von jeder Nostalgie: Bildeten der Donauraum, „Österreich“ und das „Haus Habsburg“, wie so oft dargestellt, eine untrennbare Einheit, oder gab es Hinweise auf lang zurückreichende Reibungsflächen und Entflechtungen zwischen dem, was angeblich unzertrennlich war?

Die Gliederung des Buches

Das Buch folgt gegenläufigen Erzählungen und Interpretationen, die vielfach von gewohnten Sichtweisen wegführen. Es misst den zweifelsohne erkennbaren Epochenbruch von 1917/18 daher neu ein, zergliedert sich doch die Historie in unterschiedliche geographische, zeitliche, materielle und geistige Räume, Tempi, Kontinuitäten, Beschleunigungen und Zäsuren, Beständigeres und Kurzfristiges oder „Ereignishaftes“. Miteinander verflochten, verursachen sie Zuspitzungen und Entspannungen, schaffen und überwinden sie Widersprüche oder Paradoxien, bringen sie „Wellenbewegungen“ und Zyklen ebenso hervor wie tiefer liegende, lineare, scheinbar zielgerichtete Tendenzen.

Derlei abstrakte Phänomene fordern zur konkreten Überprüfung auf, die nur mit Hilfe von detaillierteren Darstellungen auf verschiedenen Zeitebenen gelingen kann. Bisweilen sind etwa allgemeine Entwicklungen, regionale und epochenspezifische Eigentümlichkeiten oder auch eventuelle „Konstruktionsfehler“ der habsburgischen Herrschaft nur mit einem Blick in die weit zurückliegende, Jahrhunderte entfernte Vergangenheit zu verstehen. Das erste Kapitel, das den Titel „Die Beständigkeit der Fragilität“ trägt, befasst sich unter anderem damit. Schlaglichtartig, in kleinen „Portionen“, wird hier eine Art Vorgeschichte geboten, die das Feld für die weiteren Ausführungen aufbereitet. Zum Verständnis des Folgenden, das ausführlicher – in stetem Abwägen von Pro- und Contra-Argumenten – die Effekte unterschiedlichster Trends und Aspekte aufgreift, sind sie unerlässlich. Ein zweiter Längsschnitt behandelt auf dieser Grundlage dann die Donaumonarchie während der widersprüchlichen und langen „Jahrhundertwende“, die hier in etwa von 1870 bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges reicht. Letzterem sind wiederum die zwei Abschnitte „Gewaltlösungen“ und „Anatomie des Zusammenbruchs“ gewidmet. In ihnen treten die Geschehnisse und Wendepunkte bisweilen innerhalb weniger Monate oder auch nur einiger Wochen in das Blickfeld der Betrachtung. Schließlich weitet sich der Horizont im abschließenden Teil erneut: „Das Erbe“ der Habsburgermonarchie in seinen vielen Facetten und mit seinen unterschiedlich langen Nachwirkungen steht im Mittelpunkt.

Die „Architektur“ dieses Gedankengebäudes verlangt darüber hinaus, um nicht zu theoretisch oder skizzenhaft zu bleiben, nach einer balancierten Zusammenschau von Details und Gesamtheit, von Individuellem und Kollektivem. Atemberaubende Fallhöhen zwischen dem persönlichen Erleben und der „monumentalen“, abstrakten oder „großen Geschichte“ entstehen. Nicht immer können sie ausgeglichen werden. Mitunter lässt sich eine gewisse Unausgewogenheit der Darstellung kaum vermeiden, abgesehen von notwendigen Lücken, um wenigstens ansatzweise den „Bogen zu spannen“.10 Die „großformatigen Narra­tive“, die spezifische Erkenntnisse miteinander verbinden, sind und bleiben Wagnisse, die weiterhin die Schilderung der „Einzelheiten“ einfordern. Aus ihnen besteht der „Tragbalken“ auch für hinkünftige Versuche, ausgreifende „Erzählstränge“ zu entwerfen.11

Botschaften für die Nachwelt

Die „Qual“ der Auswahl von Signifikantem, die Suche nach dem Repräsentativen, inkludiert mögliche Fehlerquellen bei der Analyse des „historischen Stoffes“ ebenso wie die schwierige Frage nach der Bedeutung des Geschehenen für spätere Epochen. Liegt im Austarieren der Interessen eines „Vielvölkerstaates“ wie der Donaumonarchie sowie in deren Scheitern eine Botschaft für die Nachwelt? Haben bestimmte Pläne, Modelle und Ausgleichsbestrebungen Vorbildcharakter? Oder dienen sie ganz im Gegenteil als Warnung? Befindet sich unter den Zerstörungshorizonten einer fernen Epoche und versunkenen Gesellschaft, die andere Lebenswirklichkeiten, Prinzipien, Regeln und Werte repräsentiert hat, das Leichengift des verwesenden Doppeladlers? Und entfaltet dieses Erbe „Kakaniens“ auch heute noch seine Wirkung?

Carlo Moos stellt in seiner 2016 erschienenen, ausführlichen und multiperspektivischen Untersuchung über das Weiterleben der habsburgischen Welt jedenfalls fest: Ungarn trauerte und „trauert offensichtlich“ selbst gegenwärtig „der Zerschlagung seines tausend Jahre alten Königreichs nach“.12 Und „auf der anderen Seite der Grenze“, nämlich in der Slowakei, steht „keineswegs alles zum Besten. So hat Bratislava“ ein „neues Sprachengesetz in Kraft gesetzt, wonach in dem auch von Magyaren“ bewohnten Süden des Landes „nur noch Slowakisch gesprochen werden darf und die zweisprachigen Ortsschilder verschwinden sollen“.13 Während wiederum ungarische Intellektuelle ihrem eigenen Land einen auch aus den österreichischen Erinnerungskulturen bekannten Hang zum „Verdrängen, Verschweigen“ und „Beschönigen der Wahrheit“ nachsagen14, haben die Balkankriege des ausgehenden 20. Jahrhunderts auf besonders grausame Art Assoziationen geweckt: Sarajewo in den 1990er Jahren und der nationale Hass in weiten Teilen Südosteuropas verwiesen auf Streitpunkte, die weit zurückreichten, am Anfang unheilvoller Ereignisketten standen und offensichtlich nach wie vor ungelöst waren oder noch sind.

Aber nicht immer geht es dabei um die direkte Folge unbewältigter Konflikte oder deren „Wiederauftauen“, beispielsweise nach der „frostigen Ära“ der kommunistischen Systeme. Geschichte fungiert auch und vor allem als Reservoir bisweilen fragwürdiger Neubewertungen und Konstruktionen. Im Dienste aktueller Interessen gleicht der vorhandene, beliebig verwendbare „Datenschatz“ manchmal einem Giftschrank, der besser geschlossen bliebe. Kritische Gedächtniskultur und entmythisierende Historiographie sind daher gefordert.

Der widersprüchliche Nachlass

Die unvoreingenommene Analyse könnte im Falle der Donaumonarchie und speziell in den letzten Dekaden ihres Bestehens aber auch einiges an Positivem zu Tage fördern: Kulturelle Vielfalt, wissenschaftliche Innovation, künstlerische Kreativität, Kompromiss- und Ausgleichsbemühungen, (zarte) Ansätze eines Sozialstaates, (halbwegs) zufriedenstellende Konjunkturdaten vor 1914, Modernisierungs- und insbesondere auch Emanzipierungs- beziehungsweise Demokratisierungsprozesse, die konstitutionelle Schiedsrichter- und Vermittlerfunktion zentraler Reichsinstitutionen, vor allem für bestimmte Schichten das Stabilitätsgefühl der alten Ordnung, eine maßvolle Politik der kleinen Schritte mit der Tendenz zur „wohltemperierten Unzufriedenheit“.15

An diesem Punkt wäre freilich mit einer nicht minder langen Liste von Defiziten fortzusetzen: religiöse Intoleranz, rassistischer Hass, „völkische“ Aggression und Herrschsucht, Standesdünkel, antiquierte Ehrbegriffe, hierarchisches und autoritäres Denken, Klassengegensätze und eine ungerechte Vermögensverteilung, imperiale Überheblichkeit und kolonialistische Attitüden, rücksichtslose Kriegsbereitschaft als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, statt einem Miteinander vor allem auch in nationaler Hinsicht ein Nebeneinander und schließlich ein Abrücken voneinander.

Darüber hinaus existieren gute Gründe, vor allem die Tätigkeit und die Entscheidungen der Hof- und Regierungskreise kritisch zu bewerten, gesellschaftliche und individuelle Aktionsradien zu rekonstruieren und Verantwortlichkeiten zu benennen. Ebenso richtig und wichtig erscheint es aber gleichfalls, den zeitlichen Kontext im internationalen Vergleich zu erfassen. Zurecht wird mithilfe dieses Blickwechsels manches, was auf der Haben- oder Sollseite der Donaumonarchie zu verbuchen ist, seine scheinbar spezifische „kakanische Färbung“ verlieren. Es kommen – speziell hinsichtlich der „langen Jahrhundertwende“ – Phänomene und Erscheinungsformen zur Sprache, Begrifflichkeiten oder Untersuchungsverfahren zur Anwendung, die auf grenzübergreifende, mitunter sogar globale Trends und bisweilen einfach auf Facetten des Allgemeinmenschlichen rekurrieren. Naturgemäß orientieren sich diese letztlich nicht an den habsburgischen Macht- und Einflusssphären – weder in geographischer noch in zeitlicher Hinsicht. Gerade darin liegt aber ebenso die Möglichkeit eines Erkenntnisgewinnes. Wie die Resultate der Analysen auch ausfallen mögen und beurteilt werden: Sie verweisen jedenfalls immer wieder auf die Gegenwart. Im Generellen wie Spezifischen gilt daher vor diesem Hintergrund: Die Vergangenheit, gerade die habsburgische, kann gelegentlich tatsächlich als „Lehrmeisterin“ für die Nachgeborenen und die augenblicklichen Entscheidungsträger wahrgenommen werden. Die österreichische Geschichtserfahrung hat – zumindest – europäische Relevanz.

Teil III: Geschichte und Kakanien oder: „Ulrichs Welt“

Wohin gehen wir? Ist alles unwägbar?

„Der Weg der Geschichte ist also nicht der eines Billardballs, der, einmal abgestoßen, eine bestimmte Bahn durchläuft, sondern er ähnelt dem Weg der Wolken, ähnelt dem Weg eines durch die Gassen Streichenden, der hier von einem Schatten, dort von einer Menschengruppe oder einer seltsamen Verschneidung von Häuserfronten abgelenkt wird und schließlich an eine Stelle gerät, die er weder gekannt hat, noch erreichen wollte. Es liegt im Verlauf der Weltgeschichte ein gewisses Sich-Verlaufen“, denkt Ulrich, der Mathematiker, Philosoph und „Nicht-Held“ in Robert Musils Klassiker „Der Mann ohne Eigenschaften“.16 Den gedanklichen „Abschweifungen“ folgend, kommt Ulrich selbst vom Weg ab, muss „einen Augenblick anhalten“ und sich neu orientieren, um „den Weg nach Hause [zu] finden“. Inmitten der Irritation denkt er auch an „seine Militärzeit: Die Eskadron reitet in Zweierreihen, und man läßt ‚Befehl weitersagen‘ üben, wobei ein leise gesprochener Befehl von Mann zu Mann weitergegeben wird; befiehlt man nun vorne: ‚Der Wachtmeister soll vorreiten‘, so kommt hinten heraus: ‚Acht Reiter sollen sofort erschossen werden‘ oder so ähnlich. Auf die gleiche Weise entsteht auch Weltgeschichte“.17

Diese Unwägbarkeiten rufen in ihm jedoch eine Art Protest hervor, das Verlangen nach Gestaltung und Zielstrebigkeit: „Warum macht der Mensch nicht Geschichte, das heißt, warum greift er aktiv Geschichte nur wie ein Tier an, wenn er verwundet ist, wenn es hinter ihm brennt, warum macht er, mit einem Wort, nur im Notfall Geschichte?“18

Ob sich solcherart auch Maximilian Wladimir Freiherr von Beck angesprochen fühlte, der als k. k. Ministerpräsident zwischen 1906 und 1908 bedeutende Reformen auf den Weg brachte? Einige Zeit später, im Dezember 1913, schien sich in ihm jedenfalls Ulrichs Gefühl des „Sich-Verlaufens“ breitgemacht zu haben. Als Mitglied des Wiener Parlaments, des „Reichsrates“, konstatierte er hinsichtlich der jüngst ausgetragenen gewaltsamen Auseinandersetzungen auf dem Balkan und der danach „abgeschlossenen Vereinbarungen“, dass hauptsächlich „auf dem Gebiete der Weltgeschichte die Dinge oft ganz anders kommen, als die Betreffenden, die einen Blick in die Zukunft tun wollen, vermeinen“.19

Wie sehr er damit in Bezug auf seinen Kollegen Josef Maria Baernreither, der 1916/17 Minister „ohne Portefeuille“ werden sollte, Recht behielt, konnte Beck freilich nicht annähernd erahnen. Wenig Monate vor dem Attentat auf den habsburgischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin in Sarajewo, am Vorabend des „Weltenbrandes“, hatte Baernreither den Parlamentariern prophezeit: „Wir treten jetzt in eine Periode relativer Ruhe ein. Es ist uns wieder einmal eine Frist gegeben zu innerer Arbeit. […] Und es ist höchste Zeit, dass wir den Andeutungen, den Mahnungen der Geschichte, die uns auf diesen Weg drängen, nachkommen und sie befolgen. Denn dessen seien Sie versichert, meine Herren, das Auftreten des Staates in der Zukunft, die Möglichkeit, in der Zukunft vielleicht kräftiger und entschiedener aufzutreten, als das bis heute der Fall war, hängt lediglich davon ab, ob und wie wir unsere inneren Verhältnisse zu konsolidieren imstande sind.“20

Das Plädoyer, nicht nur im „Notfall“ – wie ein „verwundetes Tier“ – zu handeln, entsprach keineswegs bloß dem Geschmack des fiktiven „Mannes ohne Eigenschaften“. Baernreithers reale Zuhörerschaft war gleichfalls begeistert. Er wurde zu seinen Worten „beglückwünscht“. Das Auditorium spendete „lebhaften Beifall“.21

Unsere Schritte werden gelenkt

Dem hier akklamierten „Tatmenschen“ oder „Geschichte Machenden“ tritt jedoch nicht allein die Figur „des durch die Gassen Streichenden“ gegenüber. Ulrichs Bild des „Sichverlaufens“, des „Verlorenseins“ und „Verlorengehens“, der Unvorhersagbarkeit, Willkür und Zufälligkeit wird fast unauffällig auf eine ganz andere Weise ebenfalls konterkariert. Schließlich lenken „Menschengruppen“ und die „Verschneidung der Häuserfronten“ viele Schritte des „Nicht-Helden“. Die Stadt, die vor unserem geistigen Auge entsteht, ihre Einwohner, Architektur, Straßenzüge und Gebäude erweisen sich als geeignete Metapher für die „Begrenzung der Unwägbarkeiten“.

In Modellen der historischen Zeiten sind demzufolge die menschlichen Handlungen im Wesentlichen von grundlegenden „Konjunkturen und Strukturen“ bestimmt. Diese Synonyme für die „Menschengruppen“ und „Häuserfronten“ lassen in manchen Betrachtungsweisen wenig Platz zur Um- und Neugestaltung. Man kann hier auch maritime Bilder heranziehen: „Majestätisch wie das in seiner Tiefe unbewegte Meer“ ist die fast stationäre Zeit des geographischen Raumes, die „anonyme, tiefe und oft stille Geschichte, die eher die Menschen macht, als von ihnen gemacht wird“. Rasch bewegt, wie die Wellen, die über die Wasseroberfläche „huschen, und flüchtig, wie der Schaum, der sie bekrönt“, ist andererseits die Zeit der Ereignisse. Diese ist eine „blinde Welt wie jede lebendige, wie die unsere“, die sich nicht um jene Gewässer kümmert, „auf denen unsere Barke wie das trunkenste aller Schiffe dahintreibt“.22

Die darin enthaltene Tendenz zu einer neuen Variante des Determinismus ruft allerdings Widerspruch hervor. Gerade die Erfahrungen der „Kakanier“ Beck und Baernreither, ihre Einbettung in Entscheidungsmomente mit offenem Ausgang, sollten vor allem Historiker davor bewahren, aus dem Übermut des Nachgeborenen, der Retrospektive und dem Wissen, was folgte, zum „rückwärtsgewandten Propheten“ zu mutieren. Die „große Geschichte“ hat vielmehr auf ihre Bausteine hin untersucht zu werden, speziell auf die „ständige Gegenwart des Menschen, der in den Küsten, Gebirgen und Wasserebenen anwesend ist“, der also keineswegs allein zum Schöpfer von Kulturen, Gesellschaften und Staatswesen, sondern durchaus auch von Naturräumen werden kann.23

Die „Ausweitung der Zivilisation“24 untermauert dieses Argument, wobei sich das „gestaltende Individuum“ mit neuen Herausforderungen zu befassen hat. Ansatzweise ließ dies Robert Musil auch seine Hauptfigur erkennen – mit einer bemerkenswerten Wandlung des Menschenbildes. Ein Gesprächspartner Ulrichs erklärte nämlich zunächst eher beiläufig, dass man schon froh sein müsse, „wenn die Politiker und die Geistlichen und die großen Herren, die nichts zu tun haben, und alle anderen Menschen, die mit einer fixen Idee herumrennen, das tägliche Leben nicht stören“.25

Der handelnde Mensch und sein Umfeld

Das hatte weitreichendere Implikationen, als der vorhergehende Satz zunächst vermuten ließ: Schließlich wurde dabei ein Gegengefühl zum „Tatmenschen“ immer „lebendiger“ – und damit der Befund, dass „sich die Zeit der heroisch-politischen Geschichte, die vom Zufall und seinen Rittern gemacht wird, zum Teil überlebt hat und durch eine planmäßige Lösung, an der alle beteiligt sind, die es angeht, ersetzt werden muß“. An anderer Stelle dazu Ulrich: Der „exakte Mensch ist heute vorhanden! Als Mensch im Menschen lebt er nicht nur im Forscher, sondern auch im Kaufmann, im Organisator, im Sportsmann, im Techniker; wenn auch vorläufig nur während jener Haupttageszeiten, die sie nicht ihr Leben, sondern ihren Beruf nennen“. Der andere, „leidenschaftliche“, „urfeuerähnliche Teil“ könne daher aber auch nicht übersehen werden: Es „herrsche eine paradoxe Verbindung von Genauigkeit und Unbestimmtheit“, ein Ineinandergreifen der Widersprüche.26

Diese Verflechtung spiegelt sich zudem im wechselseitigen Verhältnis von „Kulturformationen“ und damit verknüpften Zeitschichten wider, in denen der Mensch agiert. Vor allem die simple Dichotomie eines vermeintlichen Gegensatzpaares „Ereignis und Struktur“ sowie die vielfach angedeutete Trennung in eine Geschichte der „kurzen“, „mittleren“ und „langen Dauer“ erweisen sich als fragwürdige Konstruktionen. Nicht allein zwei oder drei, im Übrigen oft wenig dynamisch konzipierte Zeitebenen stehen sich gegenüber. Im Gegenteil. Zahleiche Phänomene mit verschiedener „temporaler Erstreckung“, vielfach und immer öfter von Menschen hervorgebracht, sind ineinander verwoben und fordern als Angebote, Möglichkeiten und Alternativen nachgerade den Einzelnen zur Aktion auf. Denn auch das hatte Freiherr von Beck nachdrücklich verlangt: Dass nämlich „eigentlich der feste Ausgangspunkt für den Weg in die Zukunft in der eigenen Kraft und in dem auf diese gestützten Selbstvertrauen gesucht werden“ müsse.27

So sehr der Akteur in seinem Handlungsspielraum eingeengt scheint, von Strukturen, langsamen und anonymen Transformationen, von „Kultur- und Naturformationen“ umstellt sein mag: Er bringt diese doch wenigstens mit hervor. Der kurze Moment sowie ein an seiner Rationalität und seinen Möglichkeiten (vielleicht) zweifelndes Individuum sind die „atomaren Bausteine“ des Geschichtsstoffes. Sie sind unterscheidbar, wie – zugegeben ein wenig schmeichelhafter Vergleich – der „Hund, der heute gestorben ist, von jenem, der Morgen stirbt“.28 Und für den Prozess des Historischen noch wichtiger: Der Augenblick und die menschlichen Taten gliedern sich in Typen, die einmal eher Beharrung oder Kontinuität und ein anderes Mal Veränderungen, Beschleunigungen oder Brüche zur Folge haben. Sie repräsentieren den kürzesten Moment ebenso wie den „Baustoff“ für langandauernde Haupt- und Weltereignisse, für (beinahe) Allgemeingültiges und (scheinbar) Unabänderliches. Dieser Spannungsbogen gleicht dem „kakanischen Aktionsraum“ – vom beinahe verwirklichten Anspruch auf Weltordnung und Universalherrschaft bis zu den Paradoxien oder der Auflösung von Kategorien und Mikro-Kosmen in „Ulrichs Welt“.

Die Beständigkeit der Fragilität

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Wiener Oktoberaufstand 1848. Dachbrand der Hofbibliothek © ÖNB/Wien, 302604-B

Habsburgs Welt der Vielfalt

Die Einengung der Aktionsräume: Für die Habsburger gehört sie zu einer zentralen Erfahrung. Damit geraten vor allem die Geschehnisse eines „langen 19. Jahrhunderts“ ins Blickfeld, von der Zeit der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg. Das „Weltunternehmen der Habsburger“ tritt hingegen in den Hintergrund, jenes aus der Einheirat in die führenden spanischen Fürstenhäuser entstandene Reich, in dem für eine bestimmte Epoche die „Sonne nicht unterging“. Dass sich die „Casa de Austria“ schon damals, knapp nach 1500, in eine spanische und eine österreichische Linie spaltete, änderte zwar am Zusammenhalt einer bisweilen in globalen Maßstäben denkenden Dynastie zunächst nichts. Bis man auf der iberischen Halbinsel gegen französische Konkurrenten unterlag, wurde aber bereits an einer seit dem Spätmittelalter erkennbaren Hausmacht in Zentraleuropa gearbeitet. Die Donaumonarchie entstand, an deren Spitze wiederum ein Regent das „Erbe Karls des Großen“ vertrat: Neben dem eigenen Besitz repräsentierten die Habsburger als Könige und Kaiser mit ganz kurzen Unterbrechungen seit dem 15. Jahrhundert das Heilige Römische Reich.

Dieses „Sacrum Imperium“ stellte einen eher losen Verband aus städtischen Kommunen, vor allem aber geistlichen und weltlichen Fürstentümern dar, und auch das „engere Machtgebiet“ des „Hauses Österreich“ ähnelte speziell vor dem Hintergrund der Kämpfe gegen das Osmanische Reich einem um Böhmen und Ungarn erweiterten Länderkonglomerat, einer „monarchischen Union von Ständestaaten“, wodurch Zeitzeugen wie späteren Kommentatoren der Eindruck vermittelt wurde, die „Macht Habsburgs“ stünde in ganz besonderer Weise auf tönernen Füßen. Dass man nach der Verdrängung aus Spanien und seinem Kolonialreich hauptsächlich in der Reformära unter Maria Theresia und Joseph II. eine homogenere, wirtschaftlich, politisch und militärisch potentere „Monarchia Austriaca“ zu schaffen versuchte, änderte an diesem Gesamtbild wenig. Die Brüchigkeit des „königlich-kaiserlichen Systems“ wirkte „angeboren“ und im Einklang mit den Wirrungen und Irrungen des historischen Wandels. Robert Musil drückte es in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ folgendermaßen aus: „Das Gesetz der Weltgeschichte […] ist nichts anderes als der Staatsgrundsatz des ‚Fortwurstelns‘ im alten Kakanien. Kakanien war ein ungeheuer kluger Staat.“1

Pieter Judson als einer seiner besten Kenner hat diese „fragile Heterogenität“ allerdings jüngst als keinerlei Spezifikum bewertet. Trotz „Vielfalt in der Religion“ und der Tatsache, dass die k.(u.)k. Herrscher über Territorien obwalteten, „die sich in heutiger Zeit auf zwölf verschiedene europäische Staaten verteilen“ und „deren Untertanen“ sich im „späten achtzehnten Jahrhundert in Sprachen“ verständigten, „die heute als Deutsch, Flämisch, Französisch, Italienisch, Jiddisch, Kroatisch, Ladinisch, Polnisch, Rumänisch, Serbisch, Slowakisch, Slowenisch, Ungarisch und Ukrainisch bekannt sind“: Eine „solche sprachliche und konfessionelle Diversität“, so Judson, „war für größere Staatsgebilde im Europa der frühen Neuzeit typisch, für die Reiche der Spanier und der Franzosen im Westen ebenso wie für die polnisch-litauische Adelsrepublik oder das sich entwickelnde russische Reich“.2

Staaten und Reiche auf tönernen Füßen

Russland erlebte übrigens eine existenzielle Krise in der „Zeit der Wirren“ Anfang des 17. Jahrhundert, Polen-Litauen zerfiel in der Folge überhaupt und wurde unter seinen expansionistischen Nachbarn aufgeteilt. Die Möglichkeit des Untergangs war stets vielerorts gegeben. „Wellenartig aufeinander folgende Zusammenbrüche von Imperien und Reichen“ traten als geschichtliche Erfahrung ebenso wie als drohende Gefahr in Erscheinung. Vor diesem Hintergrund galten vornehmlich das Osmanische Reich, das Romanovimperium und die Habsburgermonarchie als „kranke Männer am Bosporus, an der Newa und an der Donau“.3

Joseph Chamberlain, britischer Staatsmann, der das „Empire“ im Streit mit irischen Selbstverwaltungstendenzen, den Eigenständigkeitsbestrebungen der Kolonien und den rivalisierenden Großmächten gefährdet sah und dabei nicht ohne rassistische Denkmuster vom englischen „Herrenmenschentum“ träumte, warnte indes gleichfalls vor den Gefahren für sein Land: Über das Vereinigte Königreich hinaus, so er und seine Anhänger, müsse London ein einheitliches und globales Machtgefüge erhalten und erweitern, um es mit den Konkurrenten Deutschland, Russland und Amerika aufnehmen zu können.4

Chamberlains Plädoyers und Ideale reflektierten realiter eher eine Schwäche. Großbritannien, wie auch andere Groß- und Seemächte, hatte schon in der Vergangenheit schwere Niederlagen hinnehmen müssen. Die „nordamerikanische Revolution“ war den Engländern ein warnendes Beispiel, umso mehr als die USA speziell gegen Ende des 19. Jahrhunderts das britische Weltreich nicht bloß herausforderten, sondern als führenden Industriestaat bereits ablösten. Parallel dazu gingen die Dominien schrittweise auf Distanz zu London. Kanada, Australien und Südafrika entstanden dabei schon vor 1914 als territoriale Einheiten. Der Weg führte zur Umwandlung des „Empires“ in einen „Commonwealth“, ein Transformationsprozess, der letztlich nicht ohne Wirkung insbesondere auf andere Kolonialmächte mit „überseeischen Besitzungen“ bleiben sollte.5

Die Vereinigten Staaten als kommende Supermacht, potentieller Herausforderer, aber auch als Verbündeter Englands, hatten indes wenig Grund, sich allzu sicher zu fühlen. Als Washington im Gefolge der Revolution von 1848 mit den gegen Wien aufbegehrenden Ungarn diplomatische Beziehungen aufnehmen wollte und es darüber schließlich sogar zu Kriegsdrohungen kam, warnte der Vertreter der österreichischen Regierung, Johann Georg Hülsemann: „Von Zeit zu Zeit müssen alle Länder gegen innere Schwierigkeiten ankämpfen; jede Regierungsform ist solchen unangenehmen Zwischenfällen ausgesetzt … ein Bürgerkrieg kann überall ausbrechen; die Ermunterung, die Aufruhr und Empörung erfahren, kehrt sich dann sehr oft gegen eben jene, die ihre ursprüngliche Entwicklung gefördert haben.“6

Hülsemann drohte damit nicht nur den US-Entscheidungsträgern, er traf auch einen wunden Punkt der „Union“. Ihre Bundesstaaten tendierten politisch und ökonomisch oftmals und insbesondere hinsichtlich der Frage der Sklaverei in verschiedene Richtungen. Der Sezessions- oder Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 stellte den Gesamtstaat und seine Prinzipien noch einmal in Frage, es bedurfte eines zweiten Gründungaktes mit langfristigen, bisweilen traumatischen Konsequenzen.

Unabhängig davon gab es innerhalb der politischen Führung in den Vereinigten Staaten aber auch noch eine allgemeiner gehaltene Kritik an einem proungarischen, antiösterreichischen Kurs. Senator John Parker Hale aus New Hampshire warnte beispielsweise davor, die USA zu einem „Obersten Gerichtshof in Sachen Empörung“ zu machen. Über alle „Nationen der Erde“ müssten „wir das Urteil sprechen“. Nach dem „Despotismus“ Österreichs und Russlands wären Irland und dann „Indien an der Reihe“. „Großbritannien muß sich für die jahrhundertelange Unterdrückung“ verantworten. Schließlich „sollte Frankreich vor Gericht erscheinen“ und dann „der Sultan der Türkei“. „Ich bin keinesfalls sicher“, schloss Hale, „ob nicht die ganze Welt sagen würde, daß, […] so gerecht die Empörung war, die die Vereinigten Staaten empfanden, auch sie neben all den Nationen, die sie verurteilt haben, im Staube liegen müssen …“7

Schritte in die „neue Zeit“: Homogenisierungstrends und Gegentendenzen

Der Senator aus New Hampshire benannte damit zusätzliche Schwachpunkte, die zum Verfall der Staaten und Reiche beitragen konnten. Die alten Herrschaftssysteme – auf Diversität und mehr oder minder festen personellen Verbindungen beruhend – mochten regelmäßig unter anderem durch Konflikte innerhalb der Aristokratie, infolge dynastischer Verbindungen und Tauschabkommen, durch religiöse Gegensätze und Unzufriedenheit in einer im Wesentlichen auf knappe Ressourcen und „Subsistenzwirtschaft“ angewiesenen Agrargesellschaft gefährdet sein. Eine wahrhaft gewandelte Denkweise und Systemtransformation kennzeichnete hingegen eine Ära der Menschheitsgeschichte, die mit Recht als „Neuzeit“ verstanden wurde. Diese brachte zunächst Veränderungen für überschaubare Gruppen von Akteuren mit sich, um schließlich – nach einer engen Verflechtung der „Krise des Alten“ mit „Andeutungen des Zukünftigen“ – in politische, gesellschaftliche, mentale, wissenschaftliche, wirtschaftliche, technische und organisatorische „Modernitäten“ zu münden. Sie wurden nun für weite Teile der Bevölkerung erfahr- und begreifbar. Hale hatte demgemäß neue Vorstellungen der Menschlichkeit, des Naturrechts und der Mitbestimmung angedeutet, die ohne Aufklärung und die Umwälzungen im 18. Jahrhundert nicht zu denken waren.8

Allerdings ging diesen Entwicklungen schon eine geistige Veränderung im Sog von Humanismus, Rationalismus und Empirismus voraus. Die etappenweise Formierung globaler Handels- und Herrschaftsnetze sowie koloniale Ansprüche, welche sich hinter dem Wort „Entdeckungsreise“ verbargen, folgten. Der Machtzuwachs landesfürstlicher Höfe gegenüber den übrigen Adelsgeschlechtern, der Ansehensverlust des Papsttums und einsetzende Säkularisierungsprozesse, die entstehenden Zentraladministrationen vor dem Hintergrund europäischer Bürger- und Glaubenskriege, Kriegstechnik, Söldner beziehungsweise stehende Heere, die Rolle der „Herren“ und Fürsten bei proto- und frühkapitalistischen Initiativen, die tendenzielle Monopolisierung des Steuerwesens durch die Krone, die Verbesserung der Kommunikations- und Verkehrswege, oder auch die Reformierungsbestrebungen von Rechts- und Verwaltungsgrundlagen bildeten eine wichtige Basis für die Ausbildung „moderner Staatlichkeit“ und einer damit verbundenen Neigung zur „Homogenisierung“.9

„Atlantische Revolutionen“, die Prinzipien der neugegründeten Vereinigten Staaten und speziell die Losungen der Französischen Revolution stellten dann eine offene Kampfansage an die Sonderrechte und Privilegien des „Ancien Régime“ dar. Vor allem die „Grande Nation“ wurde im Fahrwasser der „Volkssouveränität“, der Idee des „einheitlichen Nation“, zum Protagonisten eines Feldzugs gegen die Bevorzugung und „Freiheiten“, aber auch Zwänge und „Bindungen“ von Konfessionen und Ethnien, von Zünften und Gesellschaftsschichten, Regionen, Orten und Städten.10

Tatsächlich brachte der Ruf nach deren Überwindung im Geiste der „Gleichheit“ und „Brüderlichkeit“ schon wenige Jahre nach dem Sturm auf die Bastille die Erfahrung neuer Uneinheitlichkeit mit sich. Von 1789 bis 1815 präsentierte das von inneren Wirren wie dauernden Kriegszügen erschütterte und seine eigene nationale Einheit erst suchende Frankreich eine bunte Palette von Herrschaftssystemen und Machtpraktiken, welche bei den Zeitzeugen gezwungenermaßen ambivalente Gefühle und widersprüchliche Werthaltungen hervorrufen mussten.11

Zudem offenbarte sich ein Dilemma bei der Anrufung der „einen und einigen Nation“. Ihre Schaffung und Abgrenzung, ihre Benennung der „Anderen“ und damit ihre Ausschließungsmechanismen wurden zum Konfliktstoff – speziell in multiethnischen Gebieten. Der Ruf nach Abspaltung verstärkte ein Gefühl der Zersplitterung, das durch die Ausdifferenzierung von Institutionen und Geisteswelten, durch die Entstehung neuer Wissenschaftsdisziplinen, aber auch durch sozioökonomische Gegensätze und den drohenden „Klassenkampf“ und Bürgerkrieg verstärkt wurde.

Die „Moderne“ kommt auf Touren

Eine „Sattelzeit“ um 1800 vor dem Hintergrund spätfeudaler Krisen und dem Einsetzen „industrieller Revolutionen“ deutete, wie später das (lange) „Fin de Siècle“ um 1900, auf verschiedene Beschleunigungsstufen der neuzeitlichen, „modernistischen“ Entwicklung hin. Sie war der Jahrtausende währenden, agrarisch geprägten und im Wesentlichen von einer anderen – fatalistischeren, gottgegebenen – Naturerfahrung dominierten „Vormoderne“ gefolgt.12

Seit den Ereignissen von 1789 erwiesen sich demgemäß sogar gewohnte Zeitkonzepte als fragwürdig. Der Revolutionsbegriff etwa wurde tendenziell neu gedeutet. Verstand man darunter bislang meist die Rückkehr zum bewährten Alten innerhalb eines Kreislaufes, so wurde nun eine diametral entgegengesetzte Erklärung gewählt. Die „Revolution“ stand jetzt für den Fortschritt, den Bruch mit der Tradition, der sich, von tatkräftigen Akteuren herbeigeführt, in Form von Volksaufständen und Rebellionen vollzog.13

Im beginnenden 19. Jahrhundert verbanden sich neue politische und weltanschauliche Konzepte außerdem mit Beschleunigungseffekten, die zu Alltagsphänomenen wurden. Maschinentechnik und industriell-kapitalistische Organisationsformen kurbelten die Produktion an, welche wiederum eine allgemeine Bedürfnissteigerung verursachte. Waren und Menschen gelangten in immer kürzeren Fristen von einem Ort zum anderen. Die Eisenbahnen, hieß es schon 1840, „heben die räumlichen Trennungen durch Annäherungen in der Zeit auf“.14

Der Trend setzte sich fort. Die Einführung der Schnellpresse, dann vor allem die Verwendung von Fotografie und Kinematographie sowie die Erfindung des Telegrafen und des Telefons führten Handlungen und die entsprechenden Nachrichten darüber immer enger zusammen. Eine wahre Explosion von Ereignissen war die Folge.15 Ulrich, die Hauptfigur in Musils „Mann ohne Eigenschaften“, brachte es auf den Punkt: „War eigentlich Balkankrieg oder nicht? Irgendeine Intervention fand wohl statt […]. Es bewegten so viele Dinge die Menschheit. Der Höhenflugrekord war wieder gehoben worden; eine stolze Sache. Wenn er sich nicht irrte, stand er jetzt auf 3.700 Meter, und der Mann hieß Jouhoux. Ein Negerboxer hatte den weißen Champion geschlagen und die Weltmeisterschaft erobert; Johnston hieß er. Der Präsident von Frankreich fuhr nach Rußland; man sprach von Gefährdung des Weltfriedens. Ein neuentdeckter Tenor verdiente in Südafrika Summen, die selbst in Nordamerika noch nie dagewesen waren. Ein fürchterliches Erdbeben hatte Japan heimgesucht; die armen Japaner. Mit einem Wort, es geschah viel, es war eine bewegte Zeit, die um Ende 1913 und Anfang 1914. Aber auch die Zeit zwei oder fünf Jahre vorher war eine bewegte Zeit gewesen, jeder Tag hatte seine Erregungen gehabt.“16

„Menschliche Sandkörnchen“ im Reizstakkato des beschleunigten Wandels

Die rasch wachsenden Städte wurden zum eigentlichen Schauplatz des veränderten Lebensgefühls. Traditionelle soziale Bindungen drohten sich aufzulösen, Wellen der Massenkultur schwappten über ein „schwaches menschliches Sandkörnchen“ hinweg, das die „urbanen Knotenpunkte“ auch als Ort der Einsamkeit und Anonymisierung erlebte. Von der „Vergewaltigung des Individuums“ im „Reizstakkato“ der entstehenden Millionen-Metropolen war die Rede, nicht bloß von „Hysterie“ – die gemeinhin der weiblichen Physis und Psyche zugeordnet wurde –, sondern von der „Neurasthenie“, der „seelischen Zerrüttung“ der Männer und ihren Wunden am „Kampfplatz der neuen Welt“.17

Das Allerweltswort „Neurasthenie“ schmeichelte in mancher Hinsicht dem Selbstbild einer maskulinen Elite, die sich wiederum von Frauenrechten und generellen Demokratisierungstrends herausgefordert sah. Gerade die bedeutendsten Städte der Donaumonarchie, allen voran Budapest, Prag und vornehmlich Wien, das „Mekka der internationalen Medizin“, verkörperten ein europa- und partiell weltweites „Zeitalter der Nervosität“, das zwischen hoffnungsfrohen Zukunftsentwürfen und einer tief empfundenen Verunsicherung schwankte. Eine kulturelle und wissenschaftliche Blüte hauptsächlich in den „Laboratorien der Moderne“, die nicht zuletzt auf die Tätigkeit jüdischer Denker, Künstler und Forscher zurückzuführen war, sah sich permanent bedroht von Antisemitismus, Misogynie, Innovations-, Globalisierungs- und Institutionenkritik, von antiliberalen Phantasmen des „Kollektivismus“, der Verdammung des Wandels und einem latenten Liebäugeln mit Untergangsszenarien, Todes- und Vergänglichkeitskulten.18

„Ulrichs Welt“ basierte auf fundamentalen Antagonismen und Paradoxien, „Widersprüchen und höchst verschiedenen Schlachtrufen“, die immerhin „einen gemeinsamen Atem“ hatten; würde „man jene Zeit zerlegt haben, so würde ein Unsinn herausgekommen sein wie ein eckiger Kreis, der aus hölzernem Eisen bestehen will, aber in Wirklichkeit war alles zu einem schimmernden Sinn verschmolzen. Diese Illusion, die ihre Verkörperung in dem magischen Datum der Jahrhundertwende fand, war so stark, daß sich die einen begeistert auf das neue, noch unbenützte Jahrhundert stürzten, indes die anderen sich noch schnell im alten wie in einem Hause gehen ließen, aus dem man ohnehin auszieht, ohne daß sie diese beiden Verhaltensweisen als sehr unterschiedlich gefühlt hätten“.19

K. (u.) k. Weltlaboratorium: Widersprüche, Paradoxien, Auflösung des Individuums

2021