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Wilhelm Kuehs

Mein letzter Wille
geschehe

Ein Kärnten-Krimi

Wilhelm Kuehs

Mein letzter Wille geschehe

 

 

 

 

Für Matthias
In liebevollem Gedenken

Kapitel 1

1

Ernesto Valenti zog die Schultern hoch, bevor er die Eingangstür der Weinstube Raab aufdrückte und vom Nieselregen in die helle Wärme trat. Aus der Jukebox dröhnte ein Gitarrensolo von Jimi Hendrix. Viko grüßte Ernesto mit einem Kopfnicken, während er ein Tablett mit Bier und Kaffee aufnahm und zu einem der Tische hinten in der Ecke brachte, aber sonst schien ihn niemand zu bemerken.

An der Theke war ein Hocker frei. Ernesto streifte seine Jacke ab, hängte sie an den Haken an der Unterseite der Theke und setzte sich. Rechts neben ihm lehnte ein großer Mann. Auf seinem rasierten Schädel spross graues Haar, und sein Profil zeigte eine tiefe Falte um den Mundwinkel.

Nur kurz taxierte Ernesto den Fremden, dann wandte er sich Viko zu, der mit einem Tablett leerer Gläser und voller Aschenbecher von den Tischen zurückkehrte.

„Kaffee?“, fragte Viko.

Ernesto nickte.

„Sauwetter“, sagte Viko, während er das Sieb der Espressomaschine ausklopfte.

Ernesto stippte eine Zigarette aus der Packung.

„Einen Schnaps dazu, zum Aufwärmen?“

„Bin noch im Dienst“, sagte Ernesto. „Ich muss noch die Artikel über den Fit-mach-mit-Lauf und diese unnötige Feier zum Nationalfeiertag schreiben.“

„Über den da solltest du einmal etwas schreiben“, sagte Viko und stellte den Kaffee vor Ernesto hin.

„Über wen?“

„Steht direkt neben dir, der Schatz Friedl.“

Ernesto ergriff die ausgestreckte Hand und zuckte vor Schmerz zusammen, als sich die Faust um seine Finger schloss. Am Handrücken sah Ernesto eine blassblaue Tätowierung. Ein Kreuz mit sich nach außen hin verdickenden Armen.

„Ein kräftiger Händedruck“, sagte Ernesto.

Friedl ließ los, und Ernesto beutelte seine Hand. Es fühlte sich an, als wäre er gerade einem Schraubstock entkommen. Viko lachte, aber Friedl verzog keine Miene.

„Ich soll also über dich schreiben?“ Ernesto rieb sich die Hände. Langsam kehrte das Gefühl in seine Finger zurück.

„Jedenfalls besser als der Scheiß, den du sonst in die Zeitung gibst“, sagte Viko.

Ernesto sah ihn strafend an.

„Ist doch wahr. Noch ein Bier, Friedl?“

Friedl nickte.

„Du könntest auch ein Buch über ihn schreiben“, sagte Viko.

„Wenn du deine Klappe hältst und er zu reden anfängt, dann vielleicht.“

„Trinkst du auch was Stärkeres als Kaffee?“, fragte Friedl.

„Stärkeren Kaffee“, sagte Ernesto.

„Dann bringt ihm einen Stärkeren“, sagte Friedl zu Viko. „Den wird er brauchen, wenn er meine Geschichte hört.“

„Um was geht es in deiner Geschichte denn?“ Ernesto hatte jetzt Gelegenheit, den Mann ausführlich anzusehen. Er war sich ziemlich sicher, dass er ihn noch nie zuvor getroffen hatte. Aber Viko kannte ihn offensichtlich, und so, wie er sich benahm und wie er aussah, hätte er gut ein Stammgast sein können. Das Kreuz auf der Hand war ein Knasttattoo, da gab es keinen Zweifel.

„Ich weiß ja nicht, ob ein Zeitungsschmierer wie du so eine Geschichte verträgt, aber Viko sagt, du bist ein harter Hund.“

Ernesto lächelte.

„Wenn du das Buch schreibst, habe ich auch schon einen Titel für dich. Ich wurde nicht als Mörder geboren.“

„Aber du bist zu einem geworden?“

„Das sagt jedenfalls das Gericht.“

2

Drei Zigaretten später saßen Ernesto und Friedl an einem kleinen Tisch direkt neben der Jukebox. Die Theke und die Tische hatten sich mittlerweile mit den Abendgästen gefüllt. Von der nahen Musikschule kamen gerade fünf Mädchen und Burschen, Gitarrensäcke, Trompetenkästen und Klarinettenkoffer in den Händen, und drängten sich ins Hinterzimmer durch.

Jedes Mal, wenn die Eingangstür aufgestoßen wurde, umwehten Ernesto ein kühler Luftschwall und der Geruch nach Regen und vermodernden Blättern. Die Dunkelheit setzte allmählich ein, und während Ernesto zuhörte, flammten draußen die Straßenlaternen auf.

Aus der Jukebox kam Bob Dylan und dann Neil Young. Aber Ernesto bekam davon kaum etwas mit. Er hatte die Arme auf dem Tisch aufgestützt und konzentrierte sich auf sein Gegenüber.

„So, jetzt fang mit deiner Geschichte an“, sagte Ernesto.

„Ich habe meine Frau umgebracht“, sagte Friedl und schnappte sich eine Zigarette aus Ernestos Packung. „Das glauben jedenfalls alle. Aber das stimmt nicht.“

„Von vorne“, unterbrach ihn Ernesto. „Erzähl die Geschichte von Anfang an.“

„Es war im August, vierundzwanzig Jahre her. Da bin ich mit meiner Frau und einem guten Freund hierhergekommen. Da drüben, an dem Tisch sind wir gesessen.“ Friedl streckte den Arm aus und zeigte auf einen Tisch am anderen Ende des Raumes. „Da sind wir gesessen, die Irene, der Armin und ich. Und da hat noch keiner wissen können, dass am nächsten Morgen alles anders ist.“

Ernesto folgte seinem Blick. Heute war der Tisch von ein paar Leuten in schwarzen Hosen und schwarzen Pullovern besetzt.

„Wir haben etwas getrunken“, setzte Friedl seine Geschichte fort. „Ziemlich getrunken, aber damals hab ich noch was vertragen. Jedenfalls konnte ich noch gerade stehen, als wir gegangen sind.“ Er grinste, und Ernesto sah, dass ihm oben ein Schneidezahn und der linke Eckzahn fehlten.

„Ah das“, sagte Friedl, als er Ernestos Blick bemerkte. „Eine kleine Auseinandersetzung unter Freunden, kann man so sagen.“

„Dann möchte ich nicht wissen, wie das aussieht, wenn es was Ernstes ist.“

Friedl lachte und schlug Ernesto auf die Schulter.

„Wo war ich? Ach ja. Wir sind also dann Richtung Schickeria gegangen. In die Disco. Du musst wissen, ich hab da manchmal als Türsteher ausgeholfen. Deshalb waren die Getränke für mich gratis und für Irene auch.“

Friedl erzählte, dass an diesem Abend eine Strandparty stattfand. Die Tanzfläche war knöchelhoch mit feinem Sand bedeckt, und die Kellnerinnen liefen im Bikini herum. Der Barkeeper mixte Caipirinha, Piña Colada und Cuba Libre.

Sie tanzten, und Irene verlor einen Schuh im Sand. Sie zog auch den zweiten aus und warf ihn weg. Wie ein Wirbelwind fegte sie über die Tanzfläche. Die Arme über den Kopf gestreckt, drehte sie sich und fiel Friedl um den Hals und küsste ihn.

„Sie war glücklich. Wie sie da getanzt hat. Sie hat sich so gefreut, weil sie endlich fix ihren Job hatte. Sie war Lehrerin in der Volksschule, musst du wissen, und gerade an dem Tag hat sie ihren neuen Vertrag bekommen.“

Irene Schatz hatte zuvor schon zwei Jahre lang als junge Lehrerin da und dort ausgeholfen und als Springerin an verschiedenen Schulen unterrichtet, und jetzt endlich sollte sie eine eigene Klasse und damit eine feste Anstellung an der Volksschule St. Michael bekommen.

„Wir haben viel getrunken. Das weiß ich noch“, sagte Friedl und nahm sich die nächste Zigarette aus Ernestos Packung. „Jede Menge. Das kann ich dir sagen. Ich habe mich auch wahnsinnig gefreut, und ich war stolz. Ich war ja nur ein Hilfsarbeiter, und meine Frau, meine Irene, die war so gescheit.“ Seine Stimme brach ein wenig, und Friedl nahm einen Schluck von seinem Bier.

Ernesto konnte sich den Abend in der Disco ganz gut vorstellen. Die Beach-Partys in der Schickeria hatten in der Erinnerung vieler Wolfsberger geradezu mythischen Status angenommen. Die Ausgelassenheit, die Musik. Der DJ tanzte mit den Gästen auf den Tischen. Eine kleine Koksparty am Klo, und vorne, Richtung Parkplatz, standen Liegestühle und Sonnenschirme.

Gegen Mitternacht trugen die Kellnerinnen einen Eimer mit Sangria auf die Tanzfläche, und jeder konnte sich am Eimersaufen beteiligen. Da musste man gar nicht nach Mallorca fahren, um sich wie ein Gorilla auf Speed aufzuführen.

„Ich kann mich nur mehr so schwammig erinnern, was dann weiter war“, sagte Friedl. „Vielleicht haben wir ein bisschen zu viel gefeiert.“ Er versuchte zu lächeln, aber es misslang. „Es ist ja nicht so, dass ich nur ein paar Bier gehabt hätte. Totaler Filmriss, verstehst du. Wir haben uns alles in die Birne geknallt, was da war, Koks und Speed und Tabs. Keine Ahnung. Was halt da war. Und dann kann ich mich halt an nichts mehr erinnern. Aber ich schwöre, ich war es nicht. Auch wenn alle anderen das glauben. Ich hätte ihr nie etwas getan. Nie im Leben.“

„Was ist passiert?“ Ernesto nippte von seinem Kaffee. „Erzähl mir einfach, woran du dich erinnern kannst.“

„Ich versuch es. Wenn du zwanzig Jahre im Gefängnis sitzt, dann hast du viel Zeit, darüber nachzudenken, was dir da passiert ist, weißt du. Aber irgendwann weißt du nicht mehr, ob es wirklich so war oder ob du dir das einbildest. Als ich am nächsten Tag aufwachte, lag ich neben Irene im Bett. Alles war voller Blut. Das Bett, die Wände, alles, und ich hatte dieses Messer in der Hand.“

3

Für einen Moment lehnte sich Ernesto zurück und schloss die Augen. Es fiel ihm nicht schwer, sich die Szene vorzustellen. Irene ausgestreckt auf dem Bett, durch mehrere Stichwunden getötet. Beinahe konnte er das Blut riechen. Daneben Friedl, der immer noch betrunken und zugedröhnt aus einem ohnmachtsgleichen Schlaf erwacht und die Tote neben sich entdeckt.

„Dafür haben sie dich eingesperrt“, sagte Ernesto. „Und du behauptest jetzt, du bist es überhaupt nicht gewesen.“

„Das habe ich immer behauptet.“

„Aber so etwas wie einen Beweis hast du nicht, nehme ich einmal an. Sonst wärst du nicht, wie lange?, gesessen.“

„Ich habe immer wieder Einsprüche gemacht. Ich habe immer gesagt, dass ich unschuldig bin.“

„Und? Was hat es dir gebracht?“

„Zwanzig Jahre Karlau. Und dann wär ich fast noch im Maßnahmenvollzug gelandet.“

„Warum Maßnahmenvollzug?“

Friedl zuckte mit den Schultern.

„Seit wann bist du wieder draußen?“

„Ungefähr drei Jahre.“

„Was machst du seitdem?“ Ernesto dachte darüber nach, wie er aus dieser Geschichte einen Zeitungsartikel basteln konnte. Bis jetzt hatte er im Grunde nichts außer einem Mörder, der behauptete, er hätte die Tat nicht begangen. Aber da gab es nicht einmal ein Indiz, nichts, das auch nur den kleinsten Zweifel an der Verurteilung wecken konnte.

„Nichts.“ Friedl schnappte sich wieder eine Zigarette aus Ernestos Packung.

„Viko“, rief Ernesto. „Bring mir noch einen Kaffee und eine Schachtel Zigaretten.“

„Kommt hurtig“, bekam er zur Antwort.

„Also was jetzt?“, setzte Ernesto nach. „Sie haben dich vor drei Jahren freigelassen, und seitdem hast du nichts gemacht?“

„Bitte sehr“, sagte Viko und servierte den Kaffee mit großer Geste. „Nur das Beste für die Gäste. Redet ihr fleißig über das Buch?“

„Zuerst muss ich die Geschichte kennen, dann schauen wir weiter“, sagte Ernesto.

„Das ist eine Superstory“, sagte Viko und ging wieder.

„Also erzähl.“ Ernesto nahm sich jetzt auch eine Zigarette. „Du bist also herausgekommen, und was dann?“

„Ist das wichtig?“

„Keine Ahnung. Das kann ich dir erst sagen, wenn ich es gehört habe.“

Nach der Haft kam Friedl nach Wolfsberg zurück und fand bei einem alten Freund Unterschlupf. Am Rande der Stadt, in Neudau, standen ein paar alte Häuser. Langgezogene Gebäude vom Ende des 19. Jahrhunderts, die früher als Personalunterkünfte für den gräflichen Gutsbetrieb gedient hatten. Die Stadtgemeinde hatte die Häuser irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg gekauft und dort Sozialhilfeempfänger einquartiert.

„Aber da bin ich nicht lange geblieben“, sagte Friedl.

„Hast etwas Besseres gefunden?“

„So kann man das nicht sagen.“ Friedl lachte. „Sie haben uns hinausgeworfen. Delogiert. Die Gemeindearbeiter sind gekommen und haben gesagt, wir müssen verschwinden. Von einem Tag auf den anderen.“

„Ihr seid auf der Straße gestanden?“

„Sie haben gesagt, wir können in die Volksschule Waldenstein ziehen. Die steht leer, und da können wir bleiben.“

„Wer hat das gesagt?“

„Die Gemeindearbeiter. Die haben unsere Sachen dann auch dahin gebracht. Und jetzt sind wir alle dort. Die meisten jedenfalls. Ein paar sind verschwunden.“

„Buh“, machte Ernesto, und er hatte das Gefühl, dass sich das Gespräch in die richtige Richtung bewegte. Die Delogierung von Sozialhilfeempfängern war schon eher einen Artikel wert. Die Häuser in Neudau verfügten über keinen besonderen Komfort, aber die Leute hatten ein Dach über dem Kopf. Wenn man einkaufen wollte, einen Arzt brauchte oder einen Behördenweg erledigen musste, dann marschierte man los, und in zehn Minuten war man in der Stadt.

Aber Waldenstein, das war etwas ganz anderes. Waldenstein lag ungefähr zwanzig Kilometer nördlich von Wolfsberg, und es bestand eigentlich nur aus einem alten Schloss, dem Eisenglimmerbergwerk und ein paar Häusern.

„Der Trettenbrein, der Rudi, der hat zwar ein Auto. Eine Dreckskarre, die fährt die halbe Zeit nicht, und wenn du einen Liter Milch brauchst, musst du auf den Bus warten. Der fährt in der Früh und irgendwann am Nachmittag“, erzählte Friedl. „Du kommst da einfach nicht weg. Da oben aus dem Kaff.“

„Das ist vielleicht eine Geschichte für die Zeitung“, sagte Ernesto. „Aber das kann ich dir noch nicht versprechen.“

„Ich will doch keinen Zeitungsartikel“, sagte Friedl. „Du sollst meine Geschichte schreiben.“

„Warum ich?“

„Siehst du hier noch einen anderen Schreiberling? Ich glaube, du bist der einzige, den Viko kennt.“

4

Mittlerweile war es gegen 22 Uhr. Die Jukebox spielte gerade etwas von Slayer. Thrash Metal, der an Ernesto vorbeiflutete. Er wollte kein Buch schreiben, schon gar nicht über Friedl Schatz und seine mögliche Unschuld. Aber das würde er Friedl nicht sagen, jedenfalls jetzt noch nicht.

Ernesto beobachtete die Männer an der Theke. Direkt neben der Säule in der Mitte saß Hermann auf einem Barhocker. Hermanns dürre Gestalt krümmte sich nach vorne, den rechten Arm steil in die Luft gestreckt, und auf seinem Gesicht erschien ein Grinsen. Hermann sah den vollen Bierkrug in seiner linken Hand an und kicherte. Dann begann er zu schaukeln, zurück, vor, zurück. Der Barhocker neigte sich und balancierte auf den beiden hinteren Beinen, dann schepperte er wieder nach vor und stand gerade. Das Ganze wiederholte sich. Hermann wippte und schaukelte, und mit einem Mal bekam er Übergewicht und kippte samt dem Barhocker nach hinten um. Es krachte, als der Barhocker und Hermann am Boden aufkamen. Den rechten Arm hielt Hermann immer noch steif von sich gestreckt. Die linke Hand umklammerte den Bierkrug. Er hatte keinen einzigen Tropfen verschüttet. Kichernd stand er auf, stellte den Barhocker hin und setzte sich. Außer Ernesto hatte niemand auf die Showeinlage geachtet.

„Glaubst du, die anderen Leute in Waldenstein sagen auch etwas dazu?“, fragte Ernesto.

„Warum nicht?“

„Dann komm ich in den nächsten Tagen einmal vorbei“, sagte Ernesto. „Daraus kann man was machen. Die Stadtgemeinde, die ihre Sozialhilfeempfänger abschiebt und im hintersten Graben verrotten lässt. Vielleicht kriegt ihr die Häuser in Neudau wieder zurück.“

„Die Häuser sind schon längst verkauft.“

„An wen?“

Friedl zuckte mit den Schultern. „Schreibst du mein Buch jetzt?“

„Warum schreibst du es nicht selbst?“

„Ich bin kein Idiot“, sagte Friedl. „Ich kann ein Auto reparieren. Aber schreiben kann ich nicht.“

„Warum ist dir das so wichtig?“

„Wenn du das noch nicht verstanden hast, bist du vielleicht nicht so schlau, wie Viko denkt.“

Ernesto hob eine Augenbraue.

„So ein Krimi könnte viel Geld einbringen. Ich hab im Gefängnis jede Menge davon gelesen. Und was wäre besser als ein Krimi, der einen wirklichen Mordfall aufklärt?“

„Aber du hast doch keinen einzigen Beweis. Du weißt doch noch nicht einmal, wer es war.“

„Noch nicht, vielleicht.“

„Und wer soll es deiner Meinung nach gewesen sein?“

„Das erfährst du früh genug“, sagte Friedl. „Überleg dir das mit dem Buch. Da könnten wir beide verdienen. Ich habe gelesen, dass man damit wirklich viel Kohle machen kann. Vor allem, wenn die Geschichte wahr ist.“

Ernesto schüttelte den Kopf. „Das ist, fürchte ich, nicht ganz so einfach, wie du dir das vorstellst“, sagte er. „Machen wir zuerst einmal die Geschichte mit eurer Delogierung, dann sehen wir weiter.“ Er zog seine Geldtasche heraus und winkte damit Viko. „Rede mit den Leuten in Waldenstein, und dann ruf mich an“, sagte er zu Friedl. „Dann schau ich bei euch vorbei.“

5

Der Nieselregen legte sich wie feiner, eiskalter Staub auf Ernestos Gesicht, als er nach draußen trat. Die Tür schloss sich hinter ihm, und das dumpfe Brummen der Gespräche, die Musik aus der Jukebox verstummten. Ein Taxi fuhr vorbei. Die Reifen rauschten über den nassen Asphalt, und das Licht der Scheinwerfer brachte den Regen zum Glitzern.

Ernesto sah auf die Uhr. Es war zu spät, um noch einmal in die Redaktion zurückzukehren und die Artikel zu schreiben. Das konnte bis morgen warten. Und es war zu früh, um den Bürgermeister anzurufen und ihn zu fragen, was ihm einfiel, Sozialhilfeempfänger in den hintersten Graben der Gemeinde zu verbannen. Obwohl es sicher Spaß machen würde, den Bürgermeister kurz vor ein Uhr früh aus dem Bett zu klingeln.

Auf dem Weg Richtung Parkplatz blieb Ernesto auf der Radlstegbrücke stehen und sah nach Norden. Die Enten am Lavantufer dösten im Schutz der Trauerweide, und die Lampen entlang des Gassersteiges erhellten nur kleine Flecken des Weges.

Eine Geschichte über einen Mann, dem man einen Mord angehängt hatte und der dafür zwanzig Jahre unschuldig im Gefängnis gesessen war. Ernesto reizte die Geschichte, aber gleichzeitig traute er der Sache nicht. Es sah zu sehr nach einem abgekarteten Spiel aus. Viko, wie er ihm Friedl vorstellt, nein, wie er ihm Friedl aufdrängt. Da kannst du ein Buch über ihn schreiben, und was für ein Buch. Das hatten sich die beiden vorher ausgemacht. Die hatten nur gewartet, bis Ernesto auftauchte.

Beinahe konnte Ernesto die beiden jetzt vor sich sehen, wie sie sich gegenseitig auf die Schulter klopften, weil sie den Schreiberling eingewickelt hatten. Im Geiste zählten sie schon die Kohle, die Friedl mit dem Buch über sein Leben verdienen würde. Ein Bestseller natürlich. Wie konnte es anders sein?

Die Burschen hatten nicht die geringste Ahnung. Aber das würde Ernesto ihnen nicht sagen. Er würde sich die Geschichte noch einmal anhören, und vielleicht rückte Friedl dann mit einem konkreten Hinweis heraus, irgendetwas Handfestem. Im Moment war das nichts weiter als das Gerede eines verurteilten Mörders.

Kapitel 2

1

Ernesto hob den Blick und wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht. Dann sah er wieder auf das halbfertige Layout seiner Regionalseite auf dem Computerbildschirm. Schräg vor ihm saß Natascha, die Sekretärin des Regionalbüros, Koordinatorin der Zeitungsausträger und sein Schutzschild gegenüber zudringlichen Anrufern.

Ernesto sah weiter auf den Bildschirm und überlegte, ob er den Artikel über die Feier zum Nationalfeiertag auf der zweiten oder dritten Seite unterbringen sollte und ob die Ankündigung des Totengedenkens zum 1. November am Kriegerdenkmal mehr wert war als einen Einspalter. Er merkte kaum, wie Natascha ihm den Kaffee hinstellte und wieder an ihren Schreibtisch zurückkehrte. Denn in seinem Kopf gingen mehrere Überlegungen gleichzeitig vor sich. Das Layout und die Frage, wann endlich der Fotograf mit den Bildern auftauchen würde, gehörten sozusagen zur Ebene der formalen Routine. Auf einer anderen Ebene legte sich Ernesto eine Strategie für seine heutige Hauptgeschichte zurecht.

Nebenbei stippte Ernesto eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an. Er passte einen Textbaustein auf der linken Seite ein und unterteilte die Außenspalte in drei kleine Einheiten. Als er einen Schluck Kaffee nahm, fiel sein Blick auf Natascha. Sie starrte ihn an.

„Du sollst im Büro nicht rauchen.“

Ernesto seufzte, nahm seine Tasse und seine Zigarette und ging hinaus auf den Gehsteig. Dort setzte er sich auf das schmale Fensterbrett unter der Auslagenscheibe und sah sich die Kinoplakate auf der anderen Straßenseite an.

Der Cine-Club Wolfsberg brachte am Samstag ein Halloween-Special. Um 16 Uhr begann das Spektakel mit John Carpenters „Halloween“ aus dem Jahr 1978. Ein würdiger Auftakt, wie Ernesto fand, auch wenn er persönlich solche Slasher-Filme nicht besonders mochte. Darauf folgten „The Texas Chain Saw Massacre“ und Peter Jacksons „Braindead“. Alles ziemlich blutig und sinnbefreit, aber wenn man lange genug wartet, werden Low-Budget-Horrorfilme zu Kultklassikern.

Wobei Ernesto zugab, dass ihm eine Kettensäge, die sich durch Kunstfleisch frisst, immer noch lieber war als der Fahneneid des Kameradschaftsbundes am Kriegerdenkmal. Beide Veranstaltungen kündigte Ernesto in der morgigen Zeitung an. Das Halloween-Special mit Foto, den Kameradschaftsbund ohne.

Als er die Zigarette ausdämpfte, sah Ernesto nach oben. Der Himmel war mit grau marmorierten Wolken bedeckt. Die Sonne würde es heute vermutlich nicht schaffen.

„Ist dir nicht kalt ohne Jacke?“, fragte Natascha, als er neben ihr stehenblieb und sich noch einen Kaffee eingoss.

„Geht so. Wenn ich im Büro rauchen dürfte …“

Sie rümpfte die Nase.

„Hast du etwas von unserem Fotografen gehört?“

„Ich ruf ihn gleich an und mach ihm ein bisschen Dampf.“ Natascha lächelte und drückte ihm die Mappe mit den Terminen in die Hand.

Zurück an seinem Schreibtisch wählte Ernesto die Telefonnummer des Wolfsberger Bürgermeisters und klemmte sich den Telefonhörer unters Ohr. Während er der Volksmusik in der Warteschleife lauschte, öffnete er die Terminmappe. Ganz zuoberst lag ein grellgelber Zettel, der zu einer Halloween-Party in einem Landgasthaus in St. Marein einlud. Ernesto legte ihn zur Seite, und darunter kam die nächste Einladung zu einer Halloween-Disco zum Vorschein. Der Zettel mit den Terminen für die Gräbersegnung steckte in einem extra Fach. Natascha hatte ihn mit einem roten Post-it versehen. Auf dem stand, dass sie die Daten schon in das Layout für die Samstagsausgabe eingegeben hatte.

„Büro des Bürgermeisters“, meldete sich eine Männerstimme.

„Valenti, Kärntner Tagespost. Ist der Bürgermeister schon im Haus?“

„Moment.“ Die Leitung wurde stummgeschaltet.

„Teuffenbach hier, was kann ich für Sie tun?“

„Herr Bürgermeister. Ich hatte gestern eine interessante Unterhaltung, und dabei sind ein paar Fragen aufgetaucht, die Sie mir vielleicht beantworten können. Es geht um die Gemeindewohnungen in Neudau, genauer gesagt, um jene Häuser, in denen Sozialhilfeempfänger und Obdachlose untergebracht waren.“

„Dazu kann ich wenig sagen, das ist nicht mein Ressort.“

„Aber Sie wissen, dass die Häuser verkauft wurden?“

„Vor zwei oder drei Jahren, wenn ich mich richtig erinnere.“

„Erinnern Sie sich auch, an wen?“, fragte Ernesto.

„Tut mir leid. Da müsste ich nachsehen. Aber warum wollen Sie das eigentlich wissen?“

„Wissen Sie auch, was mit den Leuten passiert ist, die dort gewohnt haben?“

„Wir haben ihnen neue Wohnungen zugewiesen.“

„Diese Wohnungen, wo befinden die sich denn?“

„Das ist wirklich nicht mein Ressort“, sagte Teuffenbach. „Da müssen Sie den zuständigen Stadtrat fragen. Gernot Krobath, der kann Ihnen weiterhelfen.“

„Wenn ich Ihnen sage, dass die Menschen in Waldenstein untergebracht sind, in der ehemaligen Volksschule, was sagen Sie dann dazu?“

„Was meinen Sie?“

„Waldenstein ist ungefähr 17 Kilometer von Wolfsberg entfernt, von Frantschach auch immer noch elf, und nach Bad St. Leonhard ist es auch nicht kürzer. Die Menschen dort sind Sozialhilfeempfänger. Die können sich kein Auto leisten. Wie sollen die einkaufen, Behördenwege erledigen, sich Arbeit suchen?“

„Wie gesagt, da müssen Sie Stadtrat Krobath fragen. Der ist für diese Angelegenheiten zuständig.“

„Als Bürgermeister sind Sie letztlich für Ihre Gemeindebürger verantwortlich“, sagte Ernesto.

„Es werden halt gerade keine anderen Wohnungen frei gewesen sein. Außerdem können die Leute doch den Bus nehmen.“

Ernesto hatte den Hörer kaum aufgelegt, als das Telefon läutete.

„Čertov“, sagte Ernesto, der die Nummer des Kulturchefs der Kärntner Tagespost erkannt hatte.

„Du, hör zu“, begann Čertov. „Am Sonntag vor Allerheiligen findet in St. Stefan am Friedhof eine Gedenkfeier für Christine Lavant statt.“

„Hab ich schon angekündigt“, sagte Ernesto.

„Brav. Und am Sonntag gehst du hin und machst einen Bericht. Und ich will, dass du selber gehst.“

„Was? Ein paar Typen, die einen Kranz niederlegen und eine Kerze anzünden? Da kann doch irgendwer ein Foto machen. Es ist Wochenende.“

„Du weißt aber schon, dass du für eine Tageszeitung arbeitest?“

„Und du verlässt nach dem Telefonat fluchtartig das Büro. Erzähl mir nichts. Was soll an dieser Feier so spannend sein?“ Ernesto kramte in der Terminmappe, fand den Folder und klappte ihn auf.

„Zum ersten Mal gibt es einen Festakt für die berühmte Dichterin“, las Čertov vor.

„Ich kann selber lesen“, unterbrach ihn Ernesto. „Ein Platzkonzert der Bergwerkskapelle St. Stefan, Lesung von Gedichten durch Schüler der Neuen Mittelschule und eine Kranzniederlegung.“

„Die wollen daraus eine Tradition machen“, sagte Čertov.

„Warum?“

„Frag sie. Du bist der leitende Redakteur vor Ort.“

„Der leidende, wohl eher.“

Ernesto notierte sich den Termin auf dem Zettel neben der Tastatur. Sonntag, 30. Oktober, 9 Uhr, Friedhof St. Stefan. Den Folder legte er dazu. Dann wandte er sich wieder dem Computer zu. Die Seite der Stadtgemeinde Wolfsberg hatte er noch offen. Er scrollte nach unten, fand den Eintrag zu Stadtrat Gernot Krobath und wählte die Mobilnummer.

Laut Angaben der Website war Krobath von Beruf Geschäftsführer eines Tischlereibetriebes, verheiratet, Vater zweier Kinder. Seit 2010 war Krobath Mitglied der Wolfsberger Stadtregierung. Zuvor war er zwei Perioden lang im Gemeinderat gesessen.

„Valenti, Kärntner Tagespost“, meldete sich Ernesto.

„Lange nicht gehört“, sagte Krobath. „Wie geht es Ihnen?“

„Kommt ganz darauf an, was Sie mir erzählen.“

„Was ist das Problem?“

„Sie sind für Soziales zuständig, wenn ich mich nicht irre“, sagte Ernesto. „Also auch für die Sozialhilfeempfänger.“

„Eigentlich heißt das jetzt Bezieher der bedarfsorientierten Mindestsicherung.“

„Warum verbannen Sie diese Leute nach Waldenstein?“

„Ich verbanne niemanden irgendwohin.“

„Sie bestreiten das? Ich meine, das ist ein bisschen seltsam, weil nämlich der Bürgermeister sagt, Sie wären dafür verantwortlich, dass diese Menschen ihre Wohnungen in Neudau verloren haben.“

„Wir haben das Areal verkauft.“

„Ich weiß. An wen eigentlich?“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen.“

„Fällt es Ihnen gerade nicht ein? Gut. Aber jetzt erklären Sie mir bitte, warum Sie Menschen, die ohnehin benachteiligt sind, da in diesen Graben schicken. Die haben dort doch überhaupt keine Chance mehr, auf die Beine zu kommen. Wie sollen die Arbeit finden, wie sollen die jemals wieder in ein normales Leben zurückfinden?“

„Ha, Sie sind ein Sozialromantiker. Alles, was diese Leute finden wollen, ist ihr nächstes Bier. Das sind doch alles Kriminelle, Prostituierte und Drogensüchtige.“

„Und? Die haben kein Recht auf ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen?“

„Die haben doch ein Dach über dem Kopf. Die Volksschule in Waldenstein ist völlig intakt.“

„Stellt die Stadt Wolfsberg Sozialarbeiter ab, die sich um diese Menschen kümmern?“

„Wozu? Ich unterstütze Menschen, die unverschuldet in Not geraten sind. Alleinerziehende Mütter, Kinder, deren Eltern gestorben sind, Familien, die einen Schicksalsschlag zu überwinden haben. Die bekommen von mir finanzielle Hilfe, Hilfe bei Behördenwegen und jede andere Unterstützung.“

„Sie halten diese Menschen also für hoffnungslose Fälle.“

„Ich glaube, dass man sie von der Gesellschaft fernhalten muss. Niemand braucht diese Leute in unserer Stadt. In Waldenstein können sie wenigstens nicht viel anstellen. Die Kriminalität ist in den letzten Jahren in der Stadt zurückgegangen. Sie können das ja nachprüfen.“

„Deshalb haben Sie diese Menschen nach Waldenstein geschickt? Das war also keine Gedankenlosigkeit, sondern Absicht?“

„So, wie ich es gesagt habe. Auf diese Weise beschütze ich die ehrlichen Bürger vor diesen Kriminellen. Aber Sie als Gutmensch verstehen das natürlich nicht. Wenn es nach Ihnen geht, dann können uns diese Gangster ausrauben und umbringen, und Sie würden das auch noch gut finden.“

„Wenn Sie mich als Gutmenschen bezeichnen, als was sehen Sie sich dann?“, fragte Ernesto.

„Ich verstehe die Frage nicht.“

„Na, wenn ich das richtig verstehe, dann wollen Sie ja auf keinen Fall ein Gutmensch sein. Ich hab übrigens kein Problem damit, wenn Sie mich so nennen. Aber ich frage mich, wie ist das mit Ihnen? Sind Sie ein Schlechtmensch?“

2

Eigentlich hatte Ernesto für die morgige Ausgabe ein Interview mit dem Stadtpfarrer von Wolfsberg über das Totengedenken geplant. Aber das konnte er auf Samstag verschieben. Es war ohnehin nicht sehr aufregend, was der Kaplan zu sagen hatte. Die Auferstehung und die Hoffnung auf das ewige Leben seien schon immer Bestandteil des christlichen Glaubens gewesen, und in den Heiligen sehen wir Vorbilder und hoffen, dass unsere Toten vor Gott zu den Heiligen gezählt werden. Denn dann befinden sie sich in seiner Gnade.

Eine Zeitlang hatte Ernesto mit dem Gedanken gespielt, dem Pfarrer einen Volkskundler und einen Psychotherapeuten zur Seite zu stellen und aus den drei Interviews eine große Sonntagsgeschichte zu basteln. Aber dann war der Fotograf mit einer Menge Fotos von Grabsteinen aufgetaucht. Antike Grabsteine mit Sonnensymbolen und Weiheinschriften, Grabsteine aus dem Mittelalter, der Renaissance und dem Barock. Dazu noch Gedenktafeln von Unfallorten. Damit war die Entscheidung gefallen. Viele Fotos, wenig Arbeit und eine schöne Sonntagsreportage.

Als Winfried Auer, der Chef vom Dienst, anrief und Ernesto fragte, ob er eine überregionale Geschichte anzubieten hätte, erzählte ihm Ernesto von der Delogierung.

„Die Sache ist doch schon ein paar Jahre her, und erst jetzt protestiert einer der Betroffenen?“, sagte Auer.

„Du sagst doch immer, wir sollen Themen setzen. Bitte, da hast du ein Thema“, antwortete Ernesto. „Der Umgang mit sozial Schwachen in der Gemeinde Wolfsberg. Und das ist ausbaufähig. Welchen Spielraum haben Gemeinden überhaupt? Wie viel Geld geben sie tatsächlich im Sozialbereich aus, und wer profitiert davon?“

„Und wo ist der aktuelle Bezug?“

„Ein Stadtrat für Soziales, der sich aussucht, wem er hilft und wem nicht. Das reicht mir. Und die Zitate sind doch zum Niederknien.“

„Übertreib’s nicht“, sagte Auer.

Mittlerweile war der Fotograf angekommen. Die Fototasche hatte er auf Nataschas Schreibtisch abgestellt. Er beugte sich vor und berührte ihr Haar. Ernesto räusperte sich.

„Ihr könnt später weiterflirten“, sagte er und winkte den Fotografen zu sich. Er schob ihm einen Stapel Einladungen hin. „Und außerdem brauche ich dich am Sonntag um neun Uhr am Friedhof von St. Stefan.“

„Ich hab aber keinen Reißverschluss eingebaut. Gleichzeitig findet diese Gedenkmesse mit dem Bischof in St. Paul statt.“

„Ich brauche die Fotos am Montag in der Früh. Nicht irgendwann am Vormittag, in der Früh. Also wenn ich hier um halb neun eintreffe, sind die Fotos schon da. Haben wir uns verstanden?“

„Ja“, kam es lang gedehnt.

„Ich sag’s nur, damit es keine Missverständnisse gibt.“ Ernesto packte die Mappe zusammen. „Die Termine für nächste Woche besprechen wir dann.“ Ernesto sah dem Fotografen zu, wie er seine Tasche nahm und Natascha zuwinkte, dann wandte er sich dem Computer zu. Zuerst hatte er den Eindruck, dass er genug Material für den Artikel hatte, aber dann rief er noch ein paar Stadträte und die Vertreterin einer Bürgerliste an und befragte sie zu der Delogierung. Dabei kam nicht viel heraus. Die meisten interessierte das Thema nicht besonders, und sie wollten nichts dazu sagen. Die leitende Beamtin der Abteilung Soziales an der Bezirkshauptmannschaft war auf Urlaub, und ihr Stellvertreter sagte, dass Beamte in diesen Angelegenheiten keine Auskunft erteilen durften. Er müsse sich entweder an den Bezirkshauptmann oder, noch besser, an die Landesregierung wenden. Ernesto versuchte es noch beim Arbeitsmarktservice, und dort hob tatsächlich der Leiter der Bezirksstelle ab und redete mit ihm.

Endstation Waldenstein

Zehn Menschen leben derzeit in der ehemaligen Volksschule Waldenstein. Für sie ist es die letzte Zuflucht, aber es ist auch ein Ort der Verbannung.

Von Ernesto Valenti

„Wir wollen diese Leute nicht in unserer Stadt. Das sage ich ganz deutlich. Deshalb habe ich 2014 entschieden, die Sozialwohnungen in Neudau aufzulösen und stattdessen die Volksschule Waldenstein als Quartier zur Verfügung zu stellen“, so begründet Wolfsbergs Sozialstadtrat Gernot Krobath seine Entscheidung.

Die Volksschule Waldenstein liegt weitab von jeder Infrastruktur. Die Bezirkshauptstadt ist nur während der Schulzeit erreichbar, denn der Busverkehr wurde schon vor Jahren auf Schülertransporte reduziert.

„Wir können nur sehr schwer etwas einkaufen gehen. Was aber besonders schlimm ist, oft können wir Termine bei Behörden nicht einhalten. Ganz schlecht ist auch die medizinische Versorgung“, berichtet Alfred Schatz, der nun seit mehr als zwei Jahren in der Volksschule wohnt.

Laut Stadtrat Krobath handelt es sich bei den Bewohnern vor allem um „Kriminelle, Prostituierte und gescheiterte Existenzen“. Das sieht der Chef des Wolfsberger Arbeitsmarktservice anders. Alexander Schifferl kennt die Probleme der Betroffenen. „Menschen, die die bedarfsorientierte Mindestsicherung beziehen, müssen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, so verlangt es das Gesetz. Wenn jemand einen Termin versäumt, Weiterbildungsmaßnahmen nicht besucht oder zu einem Vorstellungsgespräch nicht erscheint, dann gibt es Konsequenzen.“ Die abgeschiedene Lage des Wohnortes verschaffe diesen ohnehin schon gehandicapten Menschen keinen Vorteil. Es kam in der Vergangenheit immer wieder zu Kürzungen der Mindestsicherung, weil sie die Auflagen nicht einhielten. „Ich wage nicht zu beurteilen, warum das so ist. Es mag an den äußeren Umständen liegen. Aber wir müssen reagieren. Im äußersten Fall kann es sogar zum Verlust der Mindestsicherung kommen.“ Schifferl bestätigte, dass eben diese drastische Maßnahme bei mehreren Bewohnern der Volksschule in Waldenstein angewandt worden war. Diese Menschen stehen nun ohne jegliche finanzielle Mittel, ohne Krankenversicherung oder sonstige Versorgung da.

Der Bürgermeister und die Vertreter der anderen Parteien des Gemeinderates waren in dieser Sache zu keiner Stellungnahme bereit.

3

Gegen 13 Uhr 30 packte Ernesto seine Sachen. Er kontrollierte die Seiten noch einmal und meldete sich bei Auer ab. Im Grunde genommen war die Zeitung für morgen fertig, und bis zum Abendtermin, einer Pressekonferenz in der Wirtschaftskammer über eine Kooperation heimischer Weinbauern mit ihren italienischen und slowenischen Kollegen, waren noch ein paar Stunden Zeit.

Die kleine Kamera nahm Ernesto mit, seinen Notizblock steckte er in die Jackentasche, und mit einem Blick versicherte er sich, dass er nichts Wichtiges auf seinem Schreibtisch zurückgelassen hatte. Er nickte Natascha zu und trat hinaus in einen trüben Nachmittag.

Die Windschutzscheibe des Wagens, den er am Trattlpark abgestellt hatte, war von großen Ahornblättern bedeckt. Ernesto bewunderte das Farbenspiel aus Gelb, Ocker, Rot und Braun für einen Moment und wischte die Blätter dann weg. Der Geruch von totem Laub stieg ihm in die Nase.

Im Wagen drehte er den CD-Player lauter. Kurt Ostbahn sang vom kurzen und heftigen Leben eines Rockstars. Die Geschichte hätte auch gut in Wolfsberg spielen können. Ein junger Mann verliebt sich in den Rock’n’Roll, spielt Tag und Nacht auf seiner Gitarre, und tatsächlich schafft er es. Er bekommt einen Vertrag mit einem großen Musiklabel, seine Lieder werden Hits. Die Sache endet, wie sie in einem Rock-Heldenepos enden muss. Der Überstar stirbt an einer Überdosis und wird zur Legende.

Das Problem besteht jedoch weniger darin, wie Jimi Hendrix oder Amy Winehouse mit siebenundzwanzig zu sterben. Wesentlich schwieriger ist es, vorher auch noch weltberühmt zu werden. Soweit Ernesto wusste, arbeitete ein Teil der Wolfsberger Jugend an diesem Projekt. Die wenigsten schafften auch nur ein paar Auftritte außerhalb des Tales. Im besten Fall wurden sie weltberühmt im Lavanttal.

Ernesto passierte den letzten Kreisverkehr und fuhr durch die Stadt Richtung Norden. Kurz vor Frantschach füllte sich der Wagen mit dem Geruch nach gekochter Zellulose. Die Papierfabrik tauchte vor ihm auf. Riesige Hügel aus Hackschnitzeln türmten sich auf dem Werksgelände, und aus den Schornsteinen dampfte es weiß.

Früher konnte man die Papierfabrik schon riechen, wenn man über den Griffner ins Lavanttal kam. Die Ebene zwischen den Berghängen war angefüllt mit dem Gestank. Nachts schwammen Schaumkronen auf dem Fluss, und erst vor einigen Jahren hatte man die Fabrik mit Umweltauflagen dazu gezwungen, etwas dagegen zu unternehmen.

Im Ort selbst stank es immer noch. Aber seit im Fluss wieder Fische schwammen, die man essen konnte, ohne krank zu werden, beschwerte sich auch niemand mehr.

Direkt hinter dem Ort begann der Twimberger Graben. Rechter Hand erhob sich eine Felswand, und zur linken Seite wurde die Straße von einer hüfthohen Mauer begrenzt. Die Lavant nahm den meisten Raum ein. Sie hatte ihr Bett breit und tief ausgespült, und links über dem Flussbett verlief die Trasse der stillgelegten Eisenbahn.

Das spärliche Licht des Tages wurde gedämpft von den steil aufragenden Hängen. Dort standen die Fichten dicht an dicht und sperrten so auch das letzte Licht aus.

Nach der Hälfte des Weges durch den Graben, bei Twimberg, führte die Packer Bundesstraße Richtung Osten in den Waldensteiner Graben und weiter hinauf zum Passübergang auf der Pack. Vor dem Gasthaus in Twimberg stand eine Tafel, die das Tagesmenü anpries. Ernesto konnte die verwischten Buchstaben nicht lesen.

Entlang des Waldensteinerbaches ging es über eine schmale und kurvige Straße bergauf. Von Twimberg nach Waldenstein waren es nur ein paar Minuten mit dem Auto, aber zu Fuß brauchte man sicher eine halbe Stunde oder mehr. Am Rand des Baches standen zwei Sägewerke, und im Vorbeifahren sah Ernesto einen Traktor, der einen gefährlich großen Stapel Schnittholz hochhob und damit herumfuhr. Dann, nach einer weiteren scharfen Biegung, war er in Waldenstein.

Das Schloss thronte dunkel auf dem Felsen. Die Fenster der Nordfront schimmerten im trüben Licht. Darunter lagen die Gebäude des Eisenglimmerbergwerks, überstäubt vom schwarzsilbrig glitzernden Metall, das man hier aus dem Berg brach.

Kapitel 3

1

Gleich nach dem Bergwerk bog Ernesto scharf rechts ab. Die Straße führte ein Stück den Wald entlang, und dann öffnete sich die Einfahrt zur ehemaligen Volksschule. Ernesto parkte den Wagen vor einem morschen Gartenzaun und stieg aus. Die eisige Luft prickelte auf seinem Gesicht.

Hier hatte der Frost das Gras im Vorgarten schon geknickt. Lang und braun lehnten die Halme wirr aneinander, bildeten Haufen und Schwaden. Nur da und dort blitzte eine weiße Blüte hervor. Bergastern, die selbst Ende Oktober noch grüne Blätter trieben und der Kälte trotzten.

Ernesto klopfte und drückte die Tür auf. Im Vorraum roch es nach ungewaschener Wäsche, nach Schweiß und Zigarettenrauch.

„Jemand zu Hause?“ Ernesto machte ein paar Schritte. Auf einer Seite gab es mehrere Türen, eine stand offen, und Licht fiel in den Vorraum. Dort schien sich etwas zu bewegen.

„Hallo? Ist da jemand?“

„Was willst du?“ Der Kopf einer Frau tauchte im Türrahmen auf.

„Ich suche den Friedl.“ Ernesto konnte das Gesicht der Frau nicht deutlich erkennen. Die Haare fielen ihr in Strähnen über die Stirn und verdeckten ihre Augen. Als sie ganz in den Vorraum trat, sah er ihre magere Gestalt, ihre ausgemergelten nackten Arme.

„Der schläft, der Saufkopf. Ist erst in der Früh nach Hause gekommen. Wer bist du überhaupt?“

„Ernesto Valenti.“

„Und?“

„Ich muss ihn sprechen, und dich vielleicht auch.“

„Wenn du von der Kieberei bist, kannst du dich gleich wieder schleichen.“ Sie verstellte ihm den Weg.

„Soweit ich weiß, müssen die sich unaufgefordert zu erkennen geben.“

Sie stieß ein Lachen aus. „Besser, du schleichst dich“, sagte sie und trat einen Schritt auf Ernesto zu. „Solche wie dich kenne ich“, sagte sie laut.

Aus dem Inneren des Raumes hörte Ernesto ein Schnarchen und Stöhnen. Jemand wälzte sich auf einer Couch. Eine Decke glitt über einen Körper.

„Schrei nicht so“, brummte Friedl.

„Dann kümmer dich selbst um deinen Dreck“, sagte die Frau und verzog sich in eines der hinteren Zimmer.

Friedl wälzte sich halb von der Couch, setzte sich auf und zog sich den Pullover über den Bauch. Vornübergebeugt kramte er auf dem Beistelltisch herum, fand eine Zigarette und zündete sie an. Erst dann sah er auf.

„Morgen“, sagte Ernesto.

„Mir ist schlecht.“ Friedl spuckte aus. „Auch ein Bier?“

Ernesto schüttelte den Kopf und folgte Friedl in die Küche. Der Kühlschrank schepperte, als Friedl ihn öffnete. Soweit Ernesto sehen konnte, waren da außer Bier nur eine Flasche Maresi und eine angebrochene Packung Frankfurter.

„Setz dich“, sagte Friedl und schob die leeren Dosen in eine Ecke des Tisches. Er wischte mit der flachen Hand über die Resopalplatte. Die vom Bier aufgeweichten Zigarettenstummel zogen braune Schlieren über die Oberfläche und fielen dann zu Boden.

Ernesto zwängte sich auf die schmale Bank beim Fenster. Die dreckige Jacke nahm er mit zwei Fingern und warf sie auf die andere Seite.

„Du bist aber früh dran.“

„Es ist fast halb drei. Nachmittag“, sagte Ernesto.

„Halt die Goschn.“

„Ist ja schon gut.“

„Was willst du eigentlich hier?“

„Erzähl einfach deine Geschichte. Das wolltest du doch.“

„Ah, witterst du jetzt das große Geld?“ Friedl lachte.

„Erzähl mir, was du damals so gemacht hast. Was hast du gearbeitet?“

„Das ist doch uninteressant, oder? Du sollst die Mordgeschichte schreiben.“

„Aber dazu muss ich mehr wissen“, sagte Ernesto. „Also fangen wir am Anfang an. Wo bist du zur Schule gegangen?“

„In Wolfsberg, in die Hauptschule.“

„Und dann?“

„Beim Pichler hab ich’s nicht lang ausgehalten.“

„Dem Autohändler?“

„Autos haben mich immer interessiert. Ich hab an ihnen herumgeschraubt, aber das hat irgendwie nicht funktioniert.“

„Das musst du mir schon ein bisschen genauer erklären“, sagte Ernesto.

„Mit fünfzehn hast du noch keinen Führerschein, oder? Auf dem Firmengelände war das kein Problem.“

„Du bist aber auf der Straße herumgefahren, und die Polizei hat dich erwischt.“

„Kann man so sagen. Und das Auto war geklaut.“

Friedl erzählte, wie er seine Lehrstelle verlor und dann eine Zeitlang einfach nur herumhing. Sein Vater war darüber nicht erfreut und setzte ihn vor die Tür. Ungefähr drei Wochen schlief Friedl bei einem Freund in der Garage. Dessen Eltern hatten nichts dagegen, oder sie bemerkten es erst gar nicht. So genau konnte sich Friedl nicht erinnern. Die meiste Zeit über war er betrunken und eingekifft.

Weil er Geld brauchte, fragte er den Haschischdealer, ob er nicht ins Geschäft einsteigen konnte, und so fing es an. Zu dieser Zeit, Anfang der 80er Jahre, gab es in Wolfsberg eine beachtliche Drogenszene. Die Stadt diente als Stützpunkt auf der Balkanroute Richtung Wien. Nachdem die Kriminalpolizei in Klagenfurt Lokale und Parks streng überwachte und fast jede Woche Razzien in Wohnungen durchführte, wichen die Lieferanten aus und brachten vor allem Heroin und Cannabis nach Wolfsberg, um es von dort aus in andere Städte zu verteilen.

„Da bin ich dann am Wochenende mit dem Zug nach Wien gefahren oder nach Linz. Zweihundert Schilling waren damals ein Haufen Geld. Aber meine Mutter ist mir auf die Nerven gegangen. Sie hat da wen gekannt, in Frantschach bei der Papierfabrik. Eine Scheißhackn, sag ich dir. Den ganzen Tag diese elendigen Papierrollen verladen. Wenn dir da eine auf den Fuß fällt, bist du ein Krüppel.“