Cover

Tanja Paar

Die zitternde Welt

Roman

Ich bin Kommunist.

Ich bin voll Liebe, von Kopf bis Fuß.

Nâzim Hikmet, Die Romantiker

Teil I

Alles weiß. Der Schnee reichte ihr über die Knie. Jetzt verstand sie, warum die Menschen hier die Gräber für ihre Toten bereits im Herbst aushoben. Im Winter war der Boden monatelang steinhart gefroren. An Graben nicht zu denken. Der Hund folgte ihr, dicht an ihre Beine gedrängt, in die Schlucht. „Cäsar“, flüsterte sie und schob den Kopf des Deutsch-Kurzhaar-Rüden aus ihrer Kniekehle. Bei Fuß war hier wirklich nicht die richtige Fortbewegungsart. Sie fürchtete, im pudrigen Schnee zu stürzen, stapfte eine Spur durch die beginnende Dämmerung, der Hund noch immer dicht an ihr, aufmerksam lauschend.

„Warum folgst du nur mir, du Dummer?“, fragte sie zärtlich. „Du dummes, dummes Tier.“ Weiter hinein unter den Rand der überhängenden Felsen gingen sie. Bis ans Wasser, wo im Sommer die Kinder im kleinen Weiher badeten. Jetzt lag alles unter einer pulvrigen Schneedecke. Aber sie kannte den Weg gut und hatte keine Angst einzubrechen. „Unser anatolisches Paradies, nicht wahr, Cäsar?“, sagte Maria, hockte sich hin und kraulte das Tier unter den Ohren. „Schön haben wir es hier. Da sind meine Beete mit den Ranunkeln, sie werden auch nächstes Frühjahr wieder wachsen. Und dort, von der kleinen Brücke aus, springen Erich und Hansi ins Wasser.“ Während sie weitersprach, hob sie mit einer Hand die Flinte von der Schulter.

Cäsar war ein Jagdhund, kein Wachhund. Unter der Federführung von Albrecht Prinz zu Solms-Braunfels war der Deutsch Kurzhaar zu einem ausgezeichneten Apporteur und Verlorenbringer herangezüchtet worden. Trotzdem musste Cäsar in Bünyan vor allem Haus und Herrin bewachen. Bis es zu spät war. Eifersüchtig wich er Maria nicht von der Seite, schlug an, wenn sich ihr jemand auf zehn Schritt näherte, und knurrte sogar die Kinder an. Die Bediensteten hatten große Angst vor dem Hund. Wilhelm lachte darüber, bis sich der Schneider weigerte einzutreten, um ihm das Hemd anzumessen, wenn der Hund im Zimmer war.

„Du musst den Hund besser erziehen“, hatte Wilhelm zu Maria gesagt. „Selbst die Kinder hast du besser erzogen als den Hund.“ Maria hatte geschluckt, denn sie selbst konnte ihren Söhnen nichts ausschlagen. Hans und Erich, die hatte Ana erzogen, die osmanische Amme, eine uralte, von der Sonne gegerbte Frau in ihren Fünfzigern. Wie werde ich aussehen, wenn ich so alt bin, dachte Maria, aber verwarf den Gedanken. Sie wusste, dass ihr Mann nichts mehr verabscheute als Eitelkeit. Er bestand auf einfache Kleidung, für sich und für die Familie, obwohl sie sich hier in Anatolien weitaus mehr hätten leisten können.

Den Pelz, den Maria anhatte, trug sie nicht wie die feinen Damen im Wien des Fin de Siècle für die Schönheit, sondern gegen die Kälte. Dazu klobige Schnürstiefel. Wenn die ungepflasterte Straße vor ihrem Haus wieder einmal im Morast versank, waren sie die richtige Wahl. Und auch jetzt – sie riss sich aus den Gedanken. Ließ die eine Hand noch kurz auf dem braunen Kopf des Hundes ruhen. Hauchte weißen Atem in ihre Handflächen, griff nach dem Patronengurt. „Ruhig, Cäsar, sitz, so ist es brav.“

Wilhelm hatte es nicht gereicht, als Cäsar Hans gebissen hatte. Nicht, als er wie tollwütig geworden jeden Besuch aus dem großen Hof des Steinhauses verbellte. Aber als der Hund begann, ihn vom ehelichen Schlafzimmer aus anzuknurren, wo er wachend vor Marias Bett lag und nach Wilhelms weißen, stark behaarten Waden schnappte, wenn er sich seiner Ehefrau näherte, da hatte es ihm gereicht.

Der Schnee dämpfte den Knall des Schusses. Trotzdem kam er als Echo dreimal von den Felswänden wieder. Maria legte Cäsar in ein Bett aus Schnee, bedeckte den Kopf des Hundes, wo neben dem Einschussloch Blut ausgetreten war. Später würden die Männer kommen und Cäsar einmauern. In der Nische, gleich neben Traudl.

***

Dass sie es sich nicht hatte nehmen lassen, den Hund zu erschießen, das sah seiner Frau ähnlich, dachte Wilhelm. Cäsar. Alles drehte sich um Cäsar. Er sollte nicht leiden, keine Sekunde lang Angst haben, hatte sie gesagt. Jetzt schämte sich Wilhelm, dass er darauf bestanden hatte, den Hund zu töten. Er fürchtete sich vor ihrem Blick. Wie sie ihn ansehen würde, wenn sie aus der Schlucht kam. Er hätte darauf bestehen sollen, dass einer der Diener den Hund erschoss. Omar vielleicht. Ja, warum nicht Omar? Der verachtete Hunde. Das wusste Maria und hatte sich umso vehementer dagegen verwehrt. „Das kommt nicht in Frage“, hatte sie zu ihm gesagt. Vor den Dienstboten. Die verstanden kein Deutsch. Aber den Tonfall seiner Frau.

„Dann setzen wir ihn aus“, hatte Wilhelm vorgeschlagen. „Das kommt nicht in Frage“, hatte Maria wiederholt. „Dann fressen ihn die Wölfe. Niemals.“ Sie war nicht laut geworden. Sie war ihm immer überlegen gewesen, das wusste er. Bis heute war es ihm ein Rätsel, wie er den Mut gefunden hatte, sie anzusprechen. Das heißt: Eigentlich war er ihr vorgestellt worden. Sie war die Schwester eines Kommilitonen an der Höheren Technischen Lehranstalt. Eines Tages war er von Fritz mit nach Hause zur Familie genommen worden. Zu einem Mittagessen. Und da saß sie. Er sagte nichts zu ihr. Erst, als er zum dritten Mal bei den Mayers zu Gast war, sagte er: „Da, Ranunkeln.“ Das waren seine ersten Worte zu ihr. Sie lächelte und wickelte die Blumen aus dem braunen Packpapier.

Warum er sie zurückgelassen hatte, als er nach Anatolien gegangen war? Er wusste es nicht. Es war eine Mischung aus Scham und Angeberei. Was konnte er ihr daheim in Linz bieten? Er hatte die vage Vorstellung, auszuziehen und als reicher Mann wiederzukehren. Und Abenteuergeschichten zu erzählen. Auch in Wien hatte er keine Arbeit bekommen nach dem Abschluss des Studiums. Die goldenen Jahre an der Ringstraße waren vorüber, der Schwarze Freitag an der Börse hatte den Traum vieler Kleinanleger platzen lassen. Der Vater seines Freundes Heinrich, ein kleiner Beamter, hatte sich deswegen vor zwanzig Jahren erschossen. Alle Ersparnisse verspekuliert.

Das war Wilhelm nicht passiert. Er hatte keine Ersparnisse. Aber er wollte arbeiten. Am liebsten als Eisenbahnbauer. Schon als Kind hatte er den Geruch der Dampfloks geliebt. Sie versprachen die große weite Welt, liefen aber in geregelten Bahnen. Man wusste, worauf man sich einließ. Und man konnte sich auf sie verlassen. Wie auf Wilhelm. Natürlich wäre er zu Maria zurückgekehrt. Aber vielleicht erst in vier, fünf Jahren. Wenn er genug Geld gespart hätte. Sicher wäre er zurückgekehrt. Aber erst hatte er aufbrechen müssen, heimlich. Er hasste Szenen. Und er hatte sie ihr und ihm ersparen wollen.

***

Als sie aus der Schlucht zurückging, war es stockfinstere Nacht. Sie fürchtete sich nicht, jeder Schritt war ihr vertraut. Wann werden die Fledermäuse endlich wieder aufwachen, dachte sie, als sie an dem hohlen Ahornbaum vorbeiging. Mindestens drei Monate würde es noch dauern, eher vier. Dann, im Frühsommer, gab es eine Zeit, in der die Schwalben in der Schlucht mit den Fledermäusen in der Dämmerung um die Wette sausten, nur am Flugbild unterscheidbar: die einen pfeilgerade, die anderen unruhig flackernd. Wie lange noch? Wie sollte sie diesen Winter aushalten? Sie musste. Sie fasste sich unter dem Pelzmantel an den Bauch. Dieses Kind würde sie nicht verlieren.

Als sie beim Haus ankam, roch sie gleich, dass Emine den Herd frisch befeuert hatte. Die Köchin nahm ihr am Eingang des großen Empfangszimmers im Erdgeschoss den Mantel ab und sah ihr prüfend ins Gesicht. Maria nickte. Und wandte schnell das Gesicht ab, damit Emine nicht die Tränen sah, die ihr jetzt erst in die Augen traten. Sie setzte sich auf den Holzschemel, um die schweren Stiefel aufzuknoten. Emine wollte ihr helfen, aber sie scheuchte sie mit einer Handbewegung fort, schlüpfte in die gelben Pantoffeln und drehte sich zu dem großen Spiegel, der neben der Eingangstür hing. Ihr einzig wertvolles Stück, das sie von zu Hause bringen lassen hatte. Als sie sich den Spiegel in Anatolien wünschte, hatte Wilhelm erst gelacht und dann protestiert: „Ein venezianischer Spiegel in einem Steinhaus mitten in Anatolien, wie stellst du dir das vor?“, hatte er gesagt. „Und wie sollen wir den hierherschaffen lassen?“

Sie hatte sich, wie meistens, durchgesetzt. Und als der Spiegel, in Decken gehüllt und in eine Kiste voller Sägespäne verpackt, auf einem Eselskarren die letzten Meter zu ihrem Haus gebracht wurde, war das halbe Dorf zusammengelaufen. Der Spiegel war zu Marias Einstieg in das kaum vorhandene soziale Leben in Bünyan geworden, das sich außerhalb der eigenen vier Wände abspielte. Natürlich musste die Frau des Paschas eingeladen werden und die Frau des Lehrers, alles andere wäre unhöflich gewesen – auch wenn Wilhelm es albern fand.

So bestaunten die Frauen an einem Nachmittag die zarten silbernen und goldenen Glasrosen auf dem Rahmen des Spiegels, während Ana ihnen frischen Kaffee aufbrühte. Obwohl Maria nicht mit ihnen sprechen konnte, war das Eis gebrochen und die Gegeneinladungen folgten. Das war nur vier Jahre her und erschien Maria doch sehr weit weg, wie aus einem anderen Leben. Inzwischen war ihr Türkisch weitaus besser als das von Wilhelm – auch wenn sie dem wilden Dialekt ihrer Söhne manchmal nicht folgen konnte. Die wuchsen ja mit den Dorfkindern auf. Erst hatte Maria sie nicht aus dem großen Garten, der ihr Haus umgab, hinausgelassen. Aber kaum konnten Hansi und Erich gut laufen, gab es kein Halten mehr und die beiden tobten mit den anderen durchs Dorf. Zwei blonde Schöpfe zwischen schwarzen, braunen und roten.

Maria nahm die Pelzkappe ab und strich sich durchs Haar. Keine dreißig und die ersten grauen Haare, dachte sie, wandte sich ab und ging hinauf zu ihrem Mann.

Ana hatte die Buben schon zu Bett gebracht. Sie waren jetzt vier und drei Jahre alt und aßen oft mit Emine und ihrer Familie unten in der Küche. Wilhelm wünschte nicht, mit den Kindern zu essen, deren Tischsitten er bemängelte. „Wie sollen sie ordentlich mit Messer und Gabel essen, wenn wir es ihnen nicht zeigen. Unten essen sie mit der Hand.“ Insgeheim bewunderte Maria, wie geschickt Hans und Erich mit der Rechten aus dem Kuskus kleine Bällchen formten, in die Minzsoße tunkten und in ihren Mündern verschwinden ließen.

Ihr Mann saß allein bei Tisch, als sie ins Speisezimmer eintrat. Sie ließ ihn sitzen und durchquerte den Raum zum Schlafzimmer der Buben, öffnete vorsichtig die Tür und ging hinein. Beide schliefen, umarmt, in dem großen Bett, wie ein vielgliedriges, blondes Tier. Sie sahen einander so ähnlich, dass sie selbst Maria fast wie Zwillinge erschienen, von denen einer irrtümlich ein Jahr später zur Welt gekommen war. Robust und fest, beide eher klein für ihr Alter. Dafür charakterlich völlig verschieden. Hans, der Ältere, schüchtern, Erich, der Jüngere, der Draufgänger, der sich gern mit solchen prügelte, die ihn um einen Kopf überragten. Drohte er zu verlieren, biss er auch einmal zu. Für einen Dreijährigen noch in Ordnung, dachte Maria, aber lange sollte er das nicht mehr liefern.

Sie hörte Wilhelm draußen am Tisch husten, aber ignorierte ihn. Emine trat ins Speisezimmer und servierte das Essen, wie Maria am Duft des Lammbratens erkannte. Sie wartete ab, bis sich ihre Schritte wieder entfernten, verließ das Kinderzimmer und schloss leise die Tür. Sie ging auf Wilhelm zu und sah, dass er den Mund über dem immer gleichen Leinenhemd öffnete, um etwas zu sagen. Sie fixierte den obersten Knopf unter dem sorgfältig getrimmten braunen Schnauzbart. Sie ging an ihm vorbei direkt ins Schlafzimmer. Und schloss die Schlafzimmertür ebenso sanft wie zuvor die des Kinderzimmers. Sie hörte ihn sitzen, sehr lange. Der Braten war kalt, als er sich erhob und das Haus verließ.

„Heute wird es klappen“, sagte Emine zu ihrem Mann. „Heute muss es klappen“, wiederholte sie und drohte ihm mit der Hand.

Hassan fürchtete seine Frau. Er kniff ihr in die Wange. „Heute klappt es, mein Täubchen“, sagte er und hielt ihr ein Ende des Stoffballens hin. „Greif nur, wie fest und gleichzeitig elastisch dieses Gewebe ist. Sieh, wie es selbst im Tageslicht glänzt – und doch ist es undurchsichtig.“ Sie rieb einen Zipfel prüfend zwischen Daumen und Zeigefinger. „Diesmal“, sagte er, „wird er nicht Nein sagen können.“

„Diesmal nicht“, wiederholte Emine. „Inschallah! Dein Wort in Gottes Ohren. Dann bekomme ich endlich meinen Kaftan aus Canfes1.“

„Diese Farbe!“, schwärmte er, „pişmiş ayva wird sie genannt, gekochte Quitte, wie in dem Gelee, das du so gerne kochst. Wie schön wird sie den Glanz deiner Haare zur Geltung bringen!“

„Du musst ihn nur noch überzeugen“, beschwor sie ihn. „Diesmal musst du ihn überzeugen. Seit Jahren will er nur dieses stumpfe Leinen und trägt es, bis die Ellbogen abgewetzt sind. Was heißt: fadenscheinig! Bis man durchsehen kann. Und die Manschetten speckig. Am Rücken hat es manchmal schon Löcher, wenn seine Frau es ihm entwindet und er dich endlich rufen lässt. Jedes Mal hoffe ich, dass es dieses Mal einen schönen Verschnitt für mich geben wird. Aber nein! Er wählt wieder das gleiche, kratzige Leinen und den gleichen Schnitt. Und im Winter das gleiche Hemd, nur dicker. Und ein Wams darüber. So ein reicher Mann und so wenig Geschmack!“

„Hör auf, diesmal wird es gelingen“, unterbrach er sie. „Jetzt halte mich nicht länger auf, damit ich hinaufkann zu ihm. Aber das Leinen muss mit, damit er den Unterschied sieht. Ist auch teurer, der Canfes. Da muss er mehr Geld springen lassen, der feine Herr.“

Emine klatschte in die Hände. „So mach dich los und viel Glück! – Und wehe dir, wenn du mir ohne den Canfes im Sack wiederkommst. Ich brauche den neuen Kaftan, schon seit drei Jahren hab ich kein neues Kleid.“

Hassan nahm Schere, Elle und Nadelkissen von seinem Schneidertisch, schob sich die beiden Stoffballen unter den Arm, lächelte ihr zu und ging. Sie sah, wie er über die Schwelle stolperte und beinahe gestürzt wäre. Doch er fing sich und hastete die Stufen hinauf in den ersten Stock, wo die Herrschaft wohnte.

Die Geschichte mit dem Hund muss ihm sehr zugesetzt haben, dachte Hassan sich. Einfach mit dem Knüppel erschlagen, die Bestie, wäre einfacher gewesen. Aber auch er wusste, wie sehr Maria an dem Tier gehangen hatte – das nun zum Glück für immer aus dem Haus war.

„Darf ich eintreten?“, rief er, während er das Speisezimmer, das auch als Arbeitszimmer für Wilhelm diente, schon betreten hatte. Hinter dem großen Esstisch, am Fenster, saß Wilhelm an seinem Schreibtisch und spitzte Bleistifte. Alle seine Bleistifte waren bereits gespitzt, er legte großen Wert auf gespitzte Bleistifte. Wenn er seine technischen Zeichnungen mit gestochener Handschrift beschriftete, waren die Bleistifte natürlich gespitzt. Nie hätte er einen stumpfen Bleistift verwendet, um diese Meisterstücke der Ingenieurskunst zu vollenden. Schon während der Ausbildung hatten ihn alle um diese Handschrift beneidet. So wie sie ihn später um Maria beneidet hatten. Warum hatte sich diese schöne, kluge Frau ausgerechnet für Wilhelm entschieden? Er hatte gewusst, was sie dachten.

Er prüfte die Spitze mit der Fingerkuppe des Zeigefingers und befand sie für gut. Er legte den Bleistift zurück an seinen Platz neben den Spitzer. Gedankenverloren öffnete er die geschnitzte Holzschatulle mit seinen wertvollsten Pinseln, strich über die Haare aus Dachs und chinesischer Bergziege. In seiner knappen Freizeit übte er sich in Kalligraphie. Ein Atem, ein Strich. Das half ihm, sich nach einem anstrengenden Tag auf der Baustelle zu entspannen. Anfangs hatte es ihn gestört, wenn sich seine Söhne beim Schreiben neugierig an ihn lehnten. Aber nach und nach hatte er gelernt, es zu genießen. Er nahm Hansi dabei manchmal sogar auf den Schoß, sonst standen sie links und rechts neben ihm und staunten, welche Zauberzeichen er da aufs Pergament malte. Das waren jene seltenen Momente, in denen er seinen Kindern wirklich nahe war. Aber kaum streckte Erich die pummelige Hand aus, um selbst nach dem Pinsel zu greifen, wurde es Wilhelm zu viel und er rief nach Ana, dass sie ihm die Kinder abnehme.

Hassan trat an ihn heran und wollte die Stoffballen auf dem Tisch ablegen. Aber Wilhelm wies ihn mit einer Kopfbewegung in ihre „osmanische Ecke“. Neben den westlichen Möbeln gab es in dem Raum auch einen prachtvollen Kelim, der, flankiert von drei ledernen Puffs, auf einem niedrigen Podest lag. Dort nahmen sie Platz. Wilhelm bot Hassan eine Wasserpfeife an, er selbst blieb bei seiner Lese-Pfeife aus Bruyère-Holz, ein Geschenk seines Vaters – das einzige. Er zog gedankenverloren an dem langen Mundstück, während Hassan mit der Wasserpfeife hantierte. Als sie lange genug geschwiegen hatten, rollte der das Leinen vor Wilhelm aus.

Wilhelm ergriff den Stoff und fuhr mit der flachen Hand gegen den Strich. „Es ist anders als sonst“, sagte er. „Du weißt genau, dass ich das gleiche will wie beim letzten Mal.“

„Es ist das gleiche.“

„Nein.“

„Es ist das Sommerleinen“, sagte Hassan, „nicht das Winterleinen.“

„Es ist dünner als das letzte Mal“, beanstandete Wilhelm.

„Es ist das Sommerleinen“, wiederholte Hassan, „und es ist so dünn wie immer.“

„Das kann nicht sein. Ich täusche mich nicht“, sagte Wilhelm und strich erneut über den Stoff.

Hassan bereute schon, nicht noch länger gewartet zu haben. Er hatte geahnt, dass heute ein schwieriger Tag war für Wilhelm. Wenn bloß Emine ihn nicht so bedrängt hätte! Jetzt war es zu spät, und er musste seinen Plan weiterverfolgen.

„Der Stoff ist wie immer aus Konstantinopel vom großen Bazar“, beteuerte er. „Und Monsieur İpek hat ihn wie immer persönlich ausgesucht und die Versendung überwacht.“

„Dann ist er hernach vertauscht worden. Oder du selbst hast ihn vertauscht, um mich zu betrügen.“

Hassan seufzte. Das ging zu weit! Eine derartige Beleidigung konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Der Plan war hin! Mit einer Handbewegung rollte er den Stoff ein und erhob sich. Gerade, als er hinausstürmen wollte, brachte Emine den Kaffee. Sie trieb ihn vor sich her zurück zum Podest. „Was ist hier los? Wollt ihr nicht euren Kaffee trinken?“ Wie sie es sagte, war keine Widerrede möglich. Hassan setzte sich, überschlug die Beine und legte die Stoffballen in größtmögliche Entfernung zu Wilhelm. Emine schenkte ihnen den Kaffee ein und blieb neben dem Podest stehen.

Beide nippten an den winzigen Kaffeetassen. „Der Herr könnte recht haben“, sagte Hassan. „Monsieur İpek ist alt. Seine Augen sind nicht mehr so gut. Vielleicht hat er sich getäuscht und das falsche Leinen gewählt.“

Wilhelm seufzte. „Ja, wir alle werden alt.“ Sie schwiegen eine Weile.

„Was mache ich bloß?“, fragte Wilhelm. „Das Hemd ist hin. Sieh, an den Manschetten hängt kaum mehr ein Faden. Maria hatte recht. Ich habe zu lange gewartet. Und jetzt ist es hin und kein Stoff zu bekommen.“

„Die nächste Lieferung kommt in acht Wochen“, sagte Hassan.

„So lange kann ich nicht warten“, sagte Wilhelm. Sie schwiegen. „Kommt keine Lieferung nach Kayseri?“

„Nein, nicht vor Mai“, sagte der Schneider. „Da fällt mir ein: Die gnädige Frau hatte einen Stoff für ein Tischtuch verlangt. Da ist er. Ein bisschen sehr modern, die Farbe, aber eigentlich ganz brauchbar. Und reißfest. Zur Not.“ Er ließ den Satz auf das ziselierte Tablett sinken, auf dem die Kaffeetassen standen, und betrachtete das blaurote Rautenmuster des Kelims.

Wilhelm verzog das Gesicht. „Der Stoff ist nicht weiß.“

„Doch“, erwiderte Hassan. „Naturweiß. Es wird ein Sommerhemd. Maria wird staunen.“

Wilhelm griff nach dem Ballen. „Es ist gelb.“

„Es ist sommerweiß. Ein neues Hemd. Maria wird sich freuen.“

„Und das Tischtuch?“, fragte Wilhelm.

„Machen wir aus dem falschen Leinen“, sagte Hassan und griff nach dem Ballen mit dem Canfes.

Emine verließ lautlos den Raum. Sie strahlte.

***

Sie ertappte sich dabei, dass sie lauschte. Nicht, was ihr Mann im Nebenzimmer mit dem Schneider besprach, das interessierte sie nicht. Sie lauschte, ob schon das Hufgetrappel zu hören war. Maria öffnete das Kinderzimmerfenster und beugte sich hinaus. Nicht zu weit, die Dienstboten sollten sie nicht sehen. Sie berührte mit der Hand die meterdicke Steinmauer. Immer noch eiskalt. Auch kein Geruch von Frühling. Dafür würde er schneller da sein, wenn das Pferd nicht im Morast versank. Einundzwanzig Meilen waren es von Kayseri herauf nach Bünyan. Für eine geübte Reiterin wie sie, die den Weg kannte, leicht in zwei Stunden zu schaffen. Er würde länger brauchen, mindestens drei Stunden.

Es war kalt, sie schloss das Fenster. Monsieur Bertrand. Es war Wilhelms Idee gewesen, ihn als Hauslehrer für die Buben einzustellen. Ihr war das übertrieben erschienen. Hans war erst fünf, und Erich, der war ja überhaupt noch ein Kleinkind mit seinen bald vier Jahren. Aber Wilhelm hatte darauf bestanden.

Monsieur Bertrand war beim Pascha in Kayseri angestellt und wohnhaft. Er unterrichtete dessen zwei älteste Söhne in Französisch. Daneben blieb ihm Zeit, auch die Kinder der in der Provinzhauptstadt ansässigen deutschen und britischen Ingenieure zu unterrichten. Viele waren es nicht, die ihre Familien hatten nachkommen lassen. Die meisten wären gar nicht auf die Idee gekommen, ihre Frauen diesen Strapazen auszusetzen. Nur der Rheinländer hatte Frau und Tochter da, der Brite lebte mit Gattin und zwei Söhnen in einem prächtigen Steinhaus im Zentrum. Also hatte Monsieur Bertrand eine Klavierschülerin und gerade einmal vier Zöglinge in Französisch.

„Wir können ihn fragen“, hatte Wilhelm gesagt.

„Er wird den weiten Weg nach Bünyan nicht auf sich nehmen wollen“, hatte Maria geantwortet.

„Er stirbt vor Langeweile. In Kayseri gibt es für einen Franzosen nicht viel zu tun. Und nach Angora2 sind es über zweihundert Meilen. Da kommt er nur alle heiligen Zeiten einmal hin. Er ist für jede Abwechslung dankbar. Und der Pascha ist ein weiser Mann. Er wird es ihm erlauben. Sonst ist sein Monsieur Bertrand vor dem nächsten Winter weg. Nicht alle sind für Anatolien gemacht.“

Sie hatten ihn eingeladen. Und wirklich schien Monsieur Bertrand nicht abgeneigt, den Weg einmal die Woche auf sich zu nehmen. Die Kinder waren ungewöhnlich brav gewesen. Besuch kam nicht oft nach Bünyan. Sie bestaunten den zartgliedrigen, blonden Mann, der in einer großen Ledermappe zwei Bücher mitgebracht hatte: eine Französischgrammatik, die Hans und Erich nicht interessierte. Sie konnten nicht lesen. Und einen Atlas, in dem er ihnen zeigte, wo sie jetzt lebten, wo die Eltern herkamen und woher er selbst: aus Dijon. Von so weit weg!

Die Kinder liebten ihn vom ersten Augenblick an. Maria hatte sich nicht viel erwartet. Er machte keine gute Figur auf seinem Rappen, als er das erste Mal eintraf. Hassan musste das Pferd halten, damit er absteigen konnte. Er war ein Bücherwurm – und ein Städter. Was ihn nach Anatolien verschlagen hatte, mochte Maria nicht in den Sinn. Abenteuerlust? Eher Geldmangel. Er klopfte sich den Dreck von den Stiefeln, ehe er ins Haus trat. Immerhin Manieren hat er, hatte sie sich gedacht.

Und jetzt wartete sie, ob Pferd und Reiter pünktlich auf der alten Karawanenstraße in Sicht kommen würden. Wie jeden Sonntag. Als sie das Pferd hörte, trat sie im Fensterrahmen zurück. Aber sie sah, dass er heraufschaute, bevor er Hassan das Pferd überließ. Die Kinder polterten ihm schon die Stiegen hinunter entgegen: „Frederic“, riefen sie, „was hast du uns heute mitgebracht?“ Mit Erich auf dem Arm schnaufte er die Treppe herauf, Hans hinterher.

„Was habe ich da? Einen Theodolit“, sagte er, setzte Erich auf dem Tisch im Kinderzimmer ab und holte den Schatz hervor. Ein außergewöhnliches Gerät: ein goldenes Fernrohr auf zwei Waagschalen über einer Uhr. Maria trat näher, um es betrachten zu können. Sie erkannte es. Auch Wilhelm arbeitete beim Eisenbahnbau damit. Aber nie wäre er auf die Idee gekommen, es so kleinen Kindern in die Hand zu geben. Frederic traute den Buben alles zu. Er hatte keine Angst, dass sie etwas kaputt machen könnten. Dafür liebte sie ihn. Wie sehr, darüber war sie sich noch nicht im Klaren.

***

Wilhelm hatte nicht nur zugestimmt, dass auch sie Französischunterricht bekäme – er hatte sie dazu gedrängt. Maria hatte nur die Grundschule abgeschlossen. Eine darüber hinausgehende Ausbildung war ihren Eltern als unnötiger finanzieller Aufwand erschienen. Fritz ja, der sollte auf die Höhere Technische Lehranstalt gehen, dafür sparten sich Vater und Mutter die Bissen vom Mund ab, aber Maria? Was für eine Verschwendung!

Wilhelm kannte das Potential seiner Frau. Nichts fürchtete er mehr, als wenn sie anfinge, sich in Bünyan zu langweilen. In den ersten Jahren hatte sie sich – sehr zum Unwillen der Dienstboten, die nicht verstanden, warum sich Maria partout die Hände schmutzig machen wollte – sehr mit dem Garten beschäftigt. 1896 begann sie, bereits hochschwanger, direkt vor dem Haus zwei Blumenbeete anzulegen. Emine hatte den Kopf geschüttelt: Blumen! Wozu Blumen? Die konnte man ja doch nicht essen! Und direkt vor dem Haus die Beete, wo sie alle sahen. Wie unnötig. Hinter das Haus gehörte ein Beet.

Viel gab es sowieso nicht zu ernten. Erst die ewige Schneedecke, dann versank im Frühling alles im Morast. Bald darauf war es so heiß, dass die Erde sich zu einer knöchernen Faust verschloss, der man nur mit Mühe ein Pflänzchen abringen konnte. Im Sommer verdorrte dann ohnehin alles. Kartoffeln, Mais und Kürbis hielten sich nur in der schattigen Schlucht, wo sie in karstigen Mulden vor dem Wind geschützt lagen.

Und doch hatte Maria in nicht einmal fünf Jahren dem ungünstigen Klima einen kleinen Bauerngarten abgerungen. Astern, Knoblauch und Ringelblumen wuchsen hier in schöner Eintracht mit den Feuerbohnen, die sich an langen Stangen hochrankten. Maria hatte einen Kompromiss mit Emine geschlossen: Es durfte auch Gemüse angebaut werden, im Gegenzug blieben die Beete vor dem Haus. In den letzten beiden Jahren war Marias Interesse an dem Garten erlahmt. Vielleicht waren Hans und Erich zu oft über die noch zarten Setzlinge getrampelt. Auch wenn Emine sie dann mit dem Besenstiel verfolgte und Wilhelm ihnen Prügel androhte – es half nichts. Immer wieder vergaßen sie nach dem Winter, dass die Beete gleich neben dem Eingang lagen. Oder es war ihnen egal. Wilhelm vermutete Zweiteres.

Das Wiehern eines Pferdes vor dem Haus riss Wilhelm aus seinen Gedanken. Noch lag alles unter einer hohen Schneedecke. Im Winter gab es für Maria außer gelegentlichen Besuchen bei der Frau des Paschas und Stickarbeiten nichts zu tun. Dabei hasste sie Stickarbeiten. Lieber hätte sie sich, so war er sicher, mit ihm und dem Pascha über Motorräder unterhalten. Der Pascha hatte ein Faible für Motorräder und zeigte ihm bei jedem Besuch stolz seine Sammlung. Aber da durfte Maria natürlich nicht dabei sein. Ihre geliebten Ausritte, die ihr sonst eine willkommene Abwechslung waren, kamen bei dieser Witterung auch nicht in Frage.

Lange schon lag ihm seine Frau in den Ohren, dass sie sich Kufen wünschte, die sie mit Lederriemen an die Schuhe binden könnte. Sie liebte das Eislaufen, das sie im Winter auf zugefrorenen Seitenarmen der Donau gelernt hatte. Sie wollte auch hier in der Schlucht auf dem Weiher laufen, der monatelang unter einer dicken Eisdecke lag. Bis jetzt jedoch war es Wilhelm nicht gelungen, solche Kufen auf dem Bazar in Konstantinopel aufzutreiben – wo es dort doch angeblich alles gab, was ein menschliches Auge je erblickt hatte.

Um den Haushalt und das Essen kümmerte sich Emine, um die Kinder Ana – und jetzt auch Monsieur Bertrand. Warum sollte er nicht auch Maria ein paar Sätze Französisch beibringen? So könnte sie in Kayseri, bei einem der seltenen Empfänge für die Eisenbahningenieure und ihre Familien, ein bisschen Konversation machen. Englisch sprach sie nicht – und ihr österreichischer Dialekt brachte den deutschen Kollegen immer zum Lachen. Niemand sollte seine Frau auslachen, und schon gar nicht der! Auch wenn es Maria nicht zu stören schien.

Erst hatte sie der Idee, dass auch sie mit den Kindern Französisch lernen sollte, wenig abgewinnen können. „Erinner dich, wie eifersüchtig du auf den Fritz warst, dass er auf die Technische Lehranstalt durfte und du nicht. Bis heute hast du das deinem Vater nicht verziehen“, hatte er zu Maria gesagt. „Du fandest das ungerecht. Und jetzt darfst du etwas lernen und willst nicht.“ Schließlich hatte sie zugestimmt, sich den Franzosen einmal anzusehen und dann ihre Entscheidung zu treffen.

Bei der ersten Begegnung war sie sehr zurückhaltend gewesen und hatte Wilhelm das Reden überlassen, was selten genug vorkam. Wie souverän der Franzose vom Pferd stieg. Das war sein erster Gedanke gewesen. Er selbst hatte Angst vor Pferden und hatte sich nur schwer mit der Leidenschaft Marias für diese unberechenbaren Tiere abgefunden. Schwarz-weiß gescheckt war jenes, das ihn als Kind gebissen hatte. Wilhelm erinnerte sich genau an die aufmunternden Worte des Vaters, dem Gaul das Zuckerstückchen hinzuhalten, das er doch lieber selbst gegessen hätte. „Auf der flachen Hand, es ist ganz einfach.“ Und doch hatte er im letzten Moment die Finger zur Faust geschlossen, erschreckt über die Rauheit der Zunge und das Pferdegesicht mit den großen Nüstern auf Höhe seines Gesichts. Und er erinnerte sich an die Überraschung über den Schmerz. Es tat nicht sehr weh. Schlimmer war, dass das Zuckerstück nun verdorben war durch das Blut auf seinen Fingern. Es schmeckte süß und metallisch zugleich.

Wilhelm hatte den Franzosen ins Haus und zum Kaffee hinauf in den Salon gebeten. Dieser überschlug ungeschickt seine Beine, als sie in der osmanischen Ecke Platz nahmen. Erst das rechte Bein über das linke, dann doch umgekehrt, so als wären ihm seine Gliedmaßen zu lang oder gänzlich unbekannt. Dabei war er nicht besonders groß, Wilhelm überragte ihn um fast einen Kopf und konnte ihm auf den ordentlich gezogenen Scheitel sehen, mit dem er sein blondes Haar akkurat zu teilen versuchte. Die Locken waren ihm durch den Ritt aber durcheinandergekommen, eine Strähne stand hoch. Dazu die Nickelbrille. Was für ein Träumer, hatte Wilhelm gedacht.

Erst wurde nur besprochen, ob Monsieur Bertrand bereit sei, die Kinder zu unterrichten. Wie oft im Monat es ihm möglich wäre, den weiten Weg herauf zu reiten, und wie viel Wilhelm dafür bezahlen würde. „Tant pis“, waren Monsieur Bertrands erste Worte gewesen, als Wilhelm die Summe genannt hatte. Wie meinte er das, der Franzose? Er entknotete umständlich seine Beine und Wilhelm war in Sorge, er würde das Haus sofort verlassen, er, Wilhelm, habe eine zu niedrige Summe genannt. Aber als Monsieur Bertrand seine Beine endlich in Stellung gebracht hatte, bat er freundlich um eine Hausführung. Wilhelm zeigte ihm sein Arbeitszimmer und sah mit Genugtuung, dass der Franzose seine Pinselsammlung bemerkte. Fast hätte er die Hand nach dem Dachshaar ausgestreckt, besann sich aber.

„Et les enfants?“, fragte Monsieur Bertrand, und Wilhelm schickte Maria, Ana zu holen, die mit den Kindern in der Küche saß. Er verstand nicht, warum der Franzose die Buben sehen wollte. Zweifelte er etwa an ihrer guten Erziehung? War man sich erst über den Preis einig, würde sich der Rest schon fügen. Der Franzose lächelte nicht, als Ana mit den Buben – einen rechts, einen links an der Hand – vor ihn trat. Erst als sich Hans halb hinter ihrem Rock versteckte, ging er in die Knie und brachte sein Gesicht auf die Höhe des Knaben. „Ich bin Frederic“, sagte er. Wilhelm war mehr als überrascht, dass der Franzose Deutsch sprach.

„Frederich“, sagte Monsieur Bertrand, und es klang wie Fred-Erich. „Ich auch“, sagte der Bub, entwand seine Hand der Amme und streckte sie dem fremden Mann hin, wo er sich doch sonst standhaft weigerte, brav die Hand zu geben. Maria lachte und Frederic lachte mit ihr, während Ana noch verständnislos dastand und versuchte, das freche Kind zurückzuziehen.

Als Monsieur Bertrand es nach weniger als einer Stunde geschafft hatte, erst Erich und dann auch Hans auf seinen Schultern reiten zu lassen, war klar, wie seine Entscheidung ausfallen würde. Da hatte zum ersten Mal Wilhelm den Blick seiner Frau gesehen. Es war nur ein Moment, denn sie musste gespürt haben, dass er beobachtete, wie sie den Franzosen ansah, und senkte den Blick auf die Bleistifte vor ihr auf dem Tisch.

Jedenfalls: Wenn sie jetzt ein wenig für den blonden Franzosen schwärmte, störte ihn das nicht. So war sie beschäftigt und beschwichtigt. Und damit seine größte Angst: Dass sie so plötzlich, wie sie eines Tages hochschwanger in Anatolien bei ihm aufgetaucht war, wieder verschwinden könnte. Er traute ihr zu, dass er eines Morgens neben sich ins noch warme Bett greifen würde und ihr Platz leer wäre. Und sie wäre fort für immer. Mit den Kindern natürlich. Monsieur Bertrand war dagegen das kleinere Übel. Ein sehr kleines.

***

Auch Ana war aufgefallen, wie Maria Monsieur Bertrand ansah. Während sie mühsam versuchte, den Kindern ein bisschen Disziplin abzuringen, erlaubte er ihnen zu viel. „Nicht auf dem Tisch sitzen“, sagte sie zu Hans. Frederic sah sie fragend an. Sie schüttelte den Kopf und drohte dem Kind mit der Hand. War ihr selbst die Benutzung dieser seltsamen, hohen Möbel suspekt, wusste sie doch, dass Wilhelm Wert auf deren sachgemäße Benutzung legte. Also war Sitzen auf einem Tisch verboten. Sie scheuchte Hans herunter, der heftig protestierte, und verließ den Raum. In den Unterrichtsstunden musste sie die Kinder dem Franzosen überlassen.

„Sie ist eifersüchtig“, sagte Frederic zu Maria.

„Sie fürchtet, dass du ihr den Rang bei den Kindern ablaufen könntest. Eigentlich ist sie ihre Göttin, ihre vielgeliebte, vielgefürchtete Ana. Und dann kommst du.“

„Und zeige ihnen so unnötige Dinge wie Theodoliten“, lachte er. Hans wollte wieder auf den Tisch klettern, aber er rückte ihm einen Hocker heran. „Da, setz dich hin“, sagte er. Hans gehorchte.

„Ich lasse euch jetzt allein“, sagte Maria. Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich an den Schreibtisch ihres Mannes. Er hasste es, wenn sie seine Bleistifte durcheinanderbrachte. Sie nahm einen in die Hand und prüfte seine Spitze an ihrem Handrücken. Dann legte sie ihn sorgfältig an seinen Platz zurück. Sie wollte Wilhelm nicht unnötig herausfordern. Von nebenan hörte sie das Lachen der Kinder.

Ana trat hinter sie. Sie hatte die Gabe, plötzlich irgendwo im Haus aufzutauchen wie ein Gespenst. Dabei ging sie nur leise. Im Unterschied zur dicken Emine, die man immer schon von Weitem die Stufen heraufpoltern hörte, war Ana schlank und durchtrainiert. Sie legte als Hebamme viele Meilen zu Fuß zurück, eilte auch nachts zu den Gebärenden in den umliegenden Dörfern. Sie war die Einzige im Umkreis, die die Frauen und ihre Babys versorgte. Alle schätzten sie und doch lebte sie allein. Sie, die bereits hunderte Kinder auf die Welt gebracht hatte, war selbst kinderlos.

„Was ist?“, fragte Maria. Ana legte ihr die Hand auf die Schulter. Maria erschrak unter der Berührung. Ana hatte sie nur während der Schwangerschaften berührt. Und bei den Geburten. Sie hatte ihr die verschwitzen Haare aus der Stirn gestrichen, immer wieder den Kopf lauschend auf den straffen Bauch gelegt, ihr vorgemacht, wie sie stoßweise atmen sollte. Sie hatte ihr einen Tee gebraut, als die Wehen die ganze Nacht andauerten, aber nicht stärker wurden. Maria hatte sich zuerst geweigert, das bittere Gebräu zu trinken, aber nachdem sich nach acht Stunden Hecheln, Seufzen und Stöhnen der Muttermund noch immer nicht geöffnet hatte, willigte sie ein.

Wilhelm hatte längst nach dem Arzt in Kayseri schicken lassen, aber bis er eintraf, war das Kind vielleicht tot. Oder Maria. Oder beide. Maria hatte ihr erstes Kind unbedingt zu Hause auf die Welt bringen wollen, auch wenn „zu Hause“ ein Steinhaus ohne Elektrizität und Fließwasser mitten in Anatolien war. Sie erinnerte sich genau, wie ihr Ana in der Morgendämmerung endlich Hans auf die Brust gelegt hatte: Er war winzig und über und über mit goldenem Flaum bedeckt. Wie ein kleiner Affe. Erichs Geburt war nicht minder kompliziert gewesen, weil er sich auch im neunten Monat nicht gedreht hatte und weiter stur mit dem Kopf nach oben lag. Oder hockte. Maria stellte sich das Kind gern in ihrem dicken Bauch in Denkerpose vor, das kleine Kinn auf der kleinen Faust.

Ana hatte ihr täglich den Bauch abgetastet. Der Kopf blieb oben. Ana war sehr beunruhigt. Sie machte ihr Kräuterwickel an Bauch und Beinen, ließ sie diverse Tinkturen trinken – umsonst. Schließlich musste sich Maria auf dem Bett hinlegen und Ana räucherte ihre Füße, indem sie ihr Blätterrollen mit Kräutertabak zwischen die Zehen steckte und anzündete. Wilhelm protestierte, aber Maria war inzwischen so überzeugt von Anas Künsten, dass sie alles tat, was die Hebamme ihr sagte. Auch das Räuchern half nicht. Erich blieb sitzen.

„Das sind sehr eigenwillige Kinder“, sagte Ana, „die mit den Beinen zuerst kommen. Glückskinder, aber auch sehr gefährlich – für die anderen. Für dich. Du wirst sterben, wenn er sich nicht dreht.“ An Schlaf war für Maria nicht mehr zu denken, weil sie in keiner Position schmerzlos liegen konnte, der Kopf des Kindes drückte an ihren Rippenbogen und nahm ihr die Luft. Sie konnte die Stiegen in den ersten Stock kaum mehr gehen und lag die meiste Zeit auf dem Diwan im Schlafzimmer. Aber Erich drehte sich nicht.

„Heute ist es so weit“, sagte Ana an einem Dienstag.

„Warum weißt du das?“, fragte Maria.

„Weil ich es beschlossen habe“, sagte Ana. „Wenn wir weiter warten, wird er dich vergiften.“

„Warum weißt du, dass es ein Bub ist?“, fragte Maria.

Ana sagte nichts. „Hab keine Angst. Ich lasse Emine das Wasser heiß machen. Dann trinkst du, was ich dir bringe. Es nimmt dir die Schmerzen. Ich werde ihn umdrehen und dann kommt er auf die Welt.“

Maria erinnerte sich nur sehr undeutlich, was Ana mit ihr gemacht hatte. Nachdem sie den Tee getrunken hatte, war ihr angenehm kühl geworden und schläfrig betrachtete sie ihren dicken Bauch, als gehörte er zu einer anderen. Es tat gar nicht weh. Es war nur ein schneller Griff, Ana hatte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf sie gelehnt. Dann spürte sie Erleichterung, die Presswehen gingen los und die Geburt selbst dauerte viel kürzer als bei Hans. Erich war in die Plazenta eingesponnen wie in einen Kokon. Aber er brüllte gleich los, als hätte man ihn bei einem wichtigen Gedanken gestört.

Traudls Geburt ein Jahr später war völlig unproblematisch gewesen, wie schon die Schwangerschaft mit ihr völlig unproblematisch gewesen war. So ein braves Kind! Maria schob den Gedanken zur Seite. Anas Hand lag noch immer auf ihrer Schulter. Warm und schwer. Wie sie es bloß herausgefunden hatte? Man sah noch gar nichts, sie konnte erst im dritten Monat sein. Und doch wusste die Hebamme mit Sicherheit, dass sie wieder schwanger war.

***

Wilhelm hatte bemerkt, dass Maria frühmorgens manchmal aus dem Bett hochfuhr und aus dem Schlafzimmer huschte. Sie dachte wohl, er schliefe noch, aber er hörte, wie sie sich nebenan in einen Eimer übergab. Danach spülte sie sich in der Waschschüssel auf der Kommode Hände und Mund ab, während er laut weiterschnarchte. Wenn sie wieder zu ihm ins Bett stieg, achtete sie darauf, ihm den Rücken zuzuwenden.

Sie war also wieder schwanger. Er freute sich sehr. Er dachte daran, wie sie an jenem Junitag 1896 vor ihm gestanden war: hochschwanger, erschöpft und rot im Gesicht. Omar hatte ihm bereits gemeldet, dass eine Pferdekutsche aus Kayseri herauf unterwegs war. Wilhelm war gerade dabei, seinen monatlichen Bericht an die Studienkommission für die Gesellschaft für den Bau der Eisenbahn Eskischehir – Konia GmbH zu verfassen, und gar nicht erfreut über die überraschende Störung. Eine Kutsche kam herauf aus Kayseri. Na und? Was ging ihn das an? Er scheuchte Omar aus seinem Arbeitszimmer.

Erst als die Kutsche tatsächlich die alte Karawanenstraße heraufwackelte und genau vor seinem Haus stehenblieb, legte er seinen Koh-i-Noor-Stift, Härtegrad sechzehn, zwischen jene der Härtegrade fünfzehn und siebzehn und trat ans Fenster. Omar diskutierte wild gestikulierend mit dem Kutscher, bevor er den Verschlag öffnete. Es war eine gedeckte Kutsche, die beste, die es in Kayseri zu bekommen gab. Die meisten Gefährte hier waren einfache Eselskarren. Wilhelm sah, dass sich Omar bückte, um die dreistufige Leiter auszuklappen.

Da war sie. Sie sah klein aus neben Omar, winzig. Fast verdeckt von ihrem eigenen, riesigen Bauch, der sich spitz nach vorne wölbte und ihren ihm wohlvertrauten Umriss aus dem Gleichgewicht brachte. Sie sah monströs aus. Jeden Moment würde sie umkippen und aus seiner Sicht verschwinden. Aber sie verschwand nicht. Sie blieb. Stützte die Hände in den Rücken, hieß Omar einen Koffer abladen.

Er widerstand dem Impuls davonzulaufen nur schwer. Aber wohin hätte er denn laufen sollen? Noch weiter ins Taurusgebirge? Oder bis auf den Ararat und wieder hinunter nach Mesopotamien?

Wilhelm beschloss, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen. In Marias Gesicht. Seine Geliebte hatte ihn also aufgespürt, mitten in Anatolien. Und das, obwohl er sich in seinen Briefen immer sehr vage über seinen Aufenthaltsort geäußert hatte: Er wohne in den Unterkünften der Eisenbahngesellschaft, mal an diesem, mal an jenem Streckenabschnitt der Anatolischen Eisenbahn. Wo er eben gerade gebraucht würde.

Wie hatte sie herausgefunden, dass er sich nach den Monaten in dreckigen Baracken, durch die der Wind pfiff, doch für eine eigene Bleibe entschieden hatte? Es blieb ihm keine Zeit zum Nachdenken, weil bereits der völlig verstörte Omar vor ihm stand und an seinem Ärmel zerrte: „Eine Wahnsinnige“, stieß er hervor. „Sie will Sie sprechen.“

Wilhelm ging an ihm vorbei hinaus. Und da stand sie in der Nachmittagshitze und zitterte vor Erschöpfung. „Willst du Tee oder Kaffee?“, fragte er.

„Ich will Schatten“, sagte sie und ging ins Haus, das zu diesem Zeitpunkt – so viel war klar – bereits ihres war. „Warum hast du mich nicht vom Bahnhof abgeholt? Ich hatte eigens telegrafieren lassen.“

Er konnte sein Glück nicht fassen: Dass er sie hatte sitzen lassen, erwähnte sie mit keinem Wort. Das sollte auch in den kommenden Jahren so bleiben. Sie tat vor sich, ihm und allen anderen so, als wäre immer verabredet gewesen, dass sie ihm nach Anatolien folgen sollte. Keine Rede davon, dass er plötzlich aus Linz verschwunden und erst nach Wochen der erste Brief mit vagen Entschuldigungen eingetroffen war: Er müsse erst einmal Geld verdienen, eine Existenz aufbauen, er käme wieder, gewiss. Wann aber, stehe in den Sternen. Bald, sehr bald, nur ein paar Jahre. Er sendete keine Adresse, sie konnte nicht antworten, das hätte er nicht ertragen.

Statt einer Antwort stand sie jetzt vor ihm. Hochschwanger. Sie machte ihm keinen Vorwurf. Nach einer Heiratsurkunde fragte hier keiner. Sie reiste an als Wilhelms Frau und damit war sie es. Sie tat, als sei alles in Ordnung. So lange, bis es alle glaubten. Sogar sie beide.

***

Beim ersten Anlauf traf sie ins Nadelöhr. Und das bei Kerzenlicht. Maria war stolz auf ihre guten Augen. Mit fünf Stichen nähte sie den Knopf an, nicht zu knapp am Revers, so wie sie es von ihrer Großmutter gelernt hatte: „Immer dem Knopf einen Hals aus Faden lassen, sonst reißt er bald wieder ab“, hatte sie gesagt. Maria wusste, dass sich Hassan ärgern würde. Er hasste es, wenn sie Näharbeiten selbst übernahm. Da haben sie einen Schneider im Haus und sie näht selbst, würde er denken, der Liebe. Dabei mochte sie Näharbeiten nicht.

Mit Abscheu erinnerte sie sich daran, wie die Mutter sie zum Ausbessern der immer an denselben Stellen an den Knien aufgerissenen Hosen des Bruders gezwungen hatte, während dieser draußen mit den anderen in der Sonne spielen durfte. Sie hatte das ungerecht gefunden. Wenn die Stiche nicht exakt waren, hatte die Mutter sie wütend wieder aufgetrennt: „So findest du nie einen Ehemann! Kochen kannst du auch nicht! Die Kartoffelknödel zerfallen dir im Topf, obwohl ich dir schon hundertmal gezeigt habe, wie die Konsistenz sein muss: nicht zu hart und nicht zu weich.“ Nicht zu hart und nicht zu weich. Wie ging das? Der Teig klebte ihr pampig an den Fingern. Niemals kochen und nähen zu müssen, das war der Traum ihrer Kindheit. Ein sehr vager Traum. Sie hatte keine exakte Vorstellung von einem besseren Leben, sie kannte nichts anderes als den Alltag ihrer Handwerkerfamilie in bescheidenen Verhältnissen.

Trotzdem war Maria zuerst dagegen gewesen, als die Köchin mitsamt ihrer Familie hier in Anatolien bei ihnen im Haus einziehen wollte. Sie konnte ihr Glück nicht fassen, sie fand es unangemessen, Dienstboten zu haben. Neben der zentralen Küche im Erdgeschoss gab es links und rechts je ein Zimmer, Platz genug für Emine, Hassan und die drei Kinder, hatte Wilhelm gesagt. Sie war gegen Dienstboten. Sie wollte auf einmal selbst kochen, sogar Kartoffelknödel. Aber hier in Anatolien waren sie wohlhabend. Niemand im Dorf hätte verstanden, warum sie geizig waren und niemandem Arbeit gaben. So zogen Emine und ihre Familie nach langen Diskussionen doch bei ihnen ein. In ein Zimmer. Das zweite Zimmer machte Hassan zu seiner Schneiderstube. Maria mochte den Mann, der nur so lange tollpatschig wirkte, bis man ihn mit winzigen, flinken Stichen wahre Kunstwerke schaffen sah. Sie liebte die Kleider, die er für sie nähte.