Cover

Jochen Jung

Zwischen Ohlsdorf und Chaville

Die Dichter und ihr Geselle

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Das ist nicht der Lektor/Verleger auf dem Autorenfeuer, sondern die im Erdherd gesottene Ziege, wie sie der Maler Antonio López Vega zwischen Suppe und Fleisch in mein Tagebuch gezeichnet hat (siehe Seite 142 f.).

Vorbemerkung

Entscheidend ist immer der Text – er ist es, der bestimmt, worüber in der Zusammenarbeit von Autor und Verlag nachgedacht, geredet und im Ernstfall verhandelt wird. Und da die Texte nicht von allein auf die Welt kommen, sondern von Autorinnen und Autoren erfunden und geschrieben werden, kommt es dabei immer auch zu Begegnungen von Menschen – und darum geht es in diesem Buch. Ich habe versucht zu erzählen, was ich in Gesellschaft dieser – wenn man es ihnen auch nicht immer gleich ansieht – sehr besonderen Menschen erlebt und erfahren habe. So kam es mit einer Drehung des schönen Romantitels von Joseph von Eichendorff, Dichter und ihre Gesellen, zu dem Untertitel dieser Porträtsammlung, in der – à propos erzählen – nur vorkommen kann, was auch erzählbar ist. Manches lässt sich aus Diskretion nicht weitergeben, manche Autorenpersönlichkeiten sind eher anekdotenresistent, jedenfalls in meiner Gesellschaft. Insofern ist die Auswahl der hier auftretenden Autorinnen und Autoren nicht das Spiegelbild irgendeiner Wertung oder Hochschätzung; ich vermisse selbst so manche in diesem Buch, die für mich wichtig waren. Wichtig für die Literatur waren auf ihre Art alle, mit denen ich es zu tun hatte: Mein Glaube an die Literatur und mein Vertrauen in die, denen wir sie verdanken, ist ungebrochen.

Einige dieser Texte sind zuvor an anderer Stelle veröffentlicht worden, und ich danke allen, die mich dazu angeregt und mir die neuerliche Publikation genehmigt haben. Manches wurde erst geschrieben, als die Idee, dass es ein Buch werden könnte, Gestalt annahm.

Autoren, Lektoren und Verleger sind, zusammen mit Buchhändlerinnen und Kritikern, der entscheidende Teil des Literaturbetriebs, ein Wort, das viele, die dazu gehören, nicht mögen. Auch mir gefällt es nicht besonders; das, was es meint – die Mischung aus Tratsch, Konkurrenz, Ideengedränge und Liebe zum Wort –, aber durchaus. Letztlich dreht sich alles um das Wunder der Literatur, die Möglichkeit, die uns umgebende Welt in Wörtern fassen zu können. Das, und nichts anderes, gibt unserem Getue Sinn. Es geht um die Texte: Sie und nicht wir entscheiden, was zählt, weil sie uns Herz und Augen öffnen.

Jochen Jung

Autor Foto

© Foto: Fotowerk Aichner

Zum Autor

Jochen Jung, geboren 1942 in Frankfurt am Main, lebt in Salzburg. Studium der Germanistik und Kunstgeschichte, seit 2000 Verleger des Jung und Jung Verlags. Gelegentlicher Mitarbeiter der ZEIT, der F.A.Z., der Wiener Presse und der Salzburger Nachrichten. Bei Haymon erschienen "Ein dunkelblauer Schuhkarton. Hundert Märchen und mehr" (2000), "Täglich Fieber". Erzählungen (2003), "Venezuela". Roman (2005), "Das süße Messer". Eine Novelle (2009, bei HAYMONtb 2014), "Wolkenherz". Eine Geschichte (2012) sowie zuletzt seine Erinnerungen an die Zusammenarbeit mit Dichterinnen und Dichtern unter dem Titel "Zwischen Ohlsdorf und Chaville. Die Dichter und ihr Geselle" (2015).

Impressum

© 2015

HAYMON verlag

Innsbruck-Wien

www.haymonverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-3671-9

Umschlag- und Buchgestaltung nach Entwürfen von hœretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Umschlag: hœretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Umschlagbild: www.fotowerk-aichner.at

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Cover: Inserat 1

Was hier bisweilen wie ein Märchen klingt, ist vielleicht sogar eines. Der junge Mann, von dem erzählt wird, mag Wind und Wolken, die Möwen und das Meer, aber keine Beerdigungen. So läuft er von der seiner Mutter geradewegs davon und fährt lieber dorthin, wo sie herkam, in ein kleines Dorf an der Küste im Norden. Prompt lädt ihn dort eine raue Schönheit in ihr Haus ein, das sie mit ihrer Mutter und einer jungen Blonden bewohnt. Energisch und sanft, klug und sehnsuchtsvoll – anziehend ist jede der drei Frauen, und er ergibt sich einer nach der anderen.

Mit wunderbarer Leichtigkeit und stets in der Balance zwischen Ernst und Ironie entfaltet Jochen Jung die Geschichte eines Suchenden. Gleichzeitig ist es eine Liebeserklärung an das Leben im Norden – und überhaupt.

„Jung ist ein Meister in der Sinngebung des scheinbar Beiläufigen, und er beherrscht sein Handwerk auf klassische Weise. Dazu gehört die leise Ironie, die nicht allein den Text erwärmt, sondern auch den Leser.“

DIE ZEIT, Ulrich Greiner

Jochen Jung

Wolkenherz

Eine Geschichte

ISBN 978-3-7099-7401-8

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Cover: Inserat 2

So begann sie über die Liebe nachzudenken, aber ein richtiges Nachdenken wurde wieder nicht daraus, vielmehr wiederholte sie das Wort „Liebe“ sechs-, sieben- oder achtmal in ihrem Kopf, und sie hörte erst damit auf, als sie meinte, das Wort laut ausgesprochen zu haben. Sie würde morgen, nüchtern und ausgeschlafen, mit dem Nachdenken ernst machen, schließlich war sie das zwar nicht diesen Männern, aber sich selbst schuldig, und sie beugte sich vor, um nach ihrem Glas zu greifen.

War nicht eben noch alles aufs Beste eingerichtet im Leben von Ute Cantz? Aber so schnell kann es gehen mit den Verwirrungen der Gefühle, wenn sich plötzlich die Liebe einmischt. Leicht und mit Schwung erzählt Jochen Jung die Geschichte einer folgenreichen Begegnung.

„kunstvoll und mit feinem Humor erzählt“

FALTER, Klaus Nüchtern

Jochen Jung

Das süße Messer

Eine Novelle

ISBN 978-3-7099-7511-4

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Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Vorbemerkung
Eckernförde/Salzburg oder Wie es mit mir anfing
Augustinergasse 8/Schwarzgrabenweg 3/Schönborngasse 1 oder Der Dichterdarsteller, der tatsächlich ein Dichter war
Abbazia. Eine Erzählung oder Ein Bernhard-Lektorat am Meer
Ohlsdorf oder Eine unerwartete Vollmondnacht
Obkirchergasse/Hotel Barracuda oder Letzte Zusammenarbeit mit Thomas Bernhard
Krugerstraße oder Rudolf Bayr und Gernot Wolfgruber: sehr verschieden
Imbergstraße oder Wie Marianne Fritz dann lieber doch nicht wollte
Moskau/Leningrad oder Mit Wolfgruber auf dem Weg in die Eremitage
Gaisbergstraße oder Böse Buben
Gert Jonke oder Der Dichter aus Klagenfurt
Mit Jonke am Wörthersee oder Der Wunsch, Zauberer zu werden
Schloss Mirabell/Mirabellplatz oder Heiraten und Sterben mit Kolleritsch und Jonke
Chaville/Marquemont oder Immer wieder Handke
Erzabt-Klotz-Straße oder Handkes Mütze
Durch Belgien zum Atlantik oder Arnold und Stadler
New York oder Mit Ingeborg Day im World Trade Center
Ammerland oder Das weiße Kaninchen Diana Kempff
San Miguel de Allende oder Mit Inge Merkel in Mexiko
Eine Begegnung im Römer oder Ich lerne Ursula Krechel kennen
Finnland zum Beispiel oder Etwas zu Erwin Einzinger
Noch mal Eckernförde oder Ann Cotten
Kleines, aber vollständiges Lexikon, den Lektor betreffend
Salzburg oder Das Rauschen des Verschwindens
Jochen Jung
Zum Autor
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Augustinergasse 8 / Schwarzgrabenweg 3 / Schönborngasse 1 oder Der Dichterdarsteller, der tatsächlich ein Dichter war

Er war ein Dichter, und unter den Dichtern war er ein Ariel. Ein Luftgeist.

Er war groß gewachsen, schlank und von aufrechter Haltung. Entsprechend war auch sein Gang, und so kam er mir im Frühjahr 1974 aus dem Gartenhaus im hinteren Bereich des Hauses Augustinergasse 8 in dem Salzburger Stadtteil Mülln entgegen, wo er damals mit seiner Frau Rosa Pock lebte, die dann Artmann hieß und sich später wieder Pock nannte, als sie selbst eine Dichterin geworden war. In der Müllner Kirche wurde übrigens nicht sehr viel später die Artmann-Tochter Emily Griseldis getauft.

Er hatte die Bitte des unbekannten Lektors aus dem unbekannten Heinz Moos Verlag sofort akzeptiert: Ich würde dann und dann am Nachmittag mit dem Verlagsauto nach Salzburg kommen, hatte ich mich am Telefon zu sagen getraut, würde ihm sodann einen Vorschlag machen, den er nicht ablehnen werde, und am Abend wieder nach München zurückfahren.

So ganz unbekannt war ich ihm allerdings doch nicht: Etwa ein Jahr zuvor war ich zu einer Präsentation des Residenz Verlags gegangen, die in dem Schwabinger Lokal »Meine Schwester und ich« stattfand – damals in München der angesagte Platz für so was. Ich, mehr literarisch als politisch interessiert und Leser durch und durch, freute mich sehr auf diesen Abend mit den »Individualanarchisten austriakischer Prägung«, wie Artmann Eisendle, Rosei und sich einmal genannt hatte. Ihre Literatur war naturgemäß politisch, weil eben damals alles politisch war, ansonsten aber entschieden literarischer als das Gros der bundesrepublikanischen Autoren. Peter Rosei war auch an diesem Abend dabei, zudem Jutta Schutting und H. C. Artmann als der Star. Das Haus war voll, das Publikum zufrieden und der Abend ein kleiner Triumph für den Verlag, der gerade dabei war, sich zur Erfolgsadresse zu wandeln.

Ich war neben Barbara Wehr gesessen, die viele Jahre eine inspirierende Freundin Artmanns gewesen ist, und hatte mich gut mit ihr verstanden. Als gegen Mitternacht Gertrud Frank, die richtungsweisende Lektorin des Verlags, die den Abend moderiert hatte (sie starb nur wenige Monate danach, und nie wäre ich an jenem Abend auf den Gedanken gekommen, ich könnte einmal ihr Nachfolger werden), einen Hundert-Mark-Schein schwenkend kam und sagte, Wolfgang Schaffler sei gegangen, wir sollten aber weiterfeiern, da blieb ich in der munteren Runde, und als auch die sich auflöste, forderte Artmann mich auf, noch in die nahe gelegene Wohnung Barbara Wehrs mitzukommen, da sei noch eine Flasche, die getrunken werden wolle.

Kann man sich vorstellen, wie ‚erfüllt‘ ich an jenem Morgen nach Hause ging? Wie ratlos begeistert ich davon war, dass sie mich einfach mitgenommen hatten? Wie aufregend ich von da an jede keltische Sprachwurzel fand? Und wie ich Artmanns Gedichte, die mich lange schon begeistert hatten, nun auch liebte?

Artmann erinnerte sich an jenem Nachmittag in der Augustinergasse an den Münchner Abend, ich sah es seinem Blick an, er sprach aber nicht davon. Ich hingegen packte meine Idee aus: einen Stapel Neuruppiner Bilderbögen, A2-große Plakatbögen aus dem 19. Jahrhundert, auf denen in ‚Comic‘-Form aufs Schönste und Naivste Märchen, Sagen und Abenteuergeschichten erzählt wurden, das meiste darunter von den Brüdern Grimm, manches aus entlegenen Quellen. Es sollte ein großformatiges Buch werden – und wurde es auch –, wo rechts der Bilderbogen und links eine Variante der Geschichte von einem zeitgenössischen Autor stehen sollte, und siehe da: Die Idee gefiel. Ich hatte auf dem Weg nach Salzburg schon in Bayerisch Gmain Station gemacht und dort Ilse Aichinger besucht. Ich erinnere mich an ein Haus mit großen Fenstern und einem großen Tisch in einem großen Zimmer, wo ich vor der zarten, aber bestimmten Dichterin meine Schätze nicht ohne Erfolg ausgebreitet hatte.

Artmann suchte sich die unbekannte Geschichte eines Flötenspielers aus – nicht aus Hameln, aber auch verführerisch. Wir saßen mit Rosa zu dritt und redeten aufs Munterste in Begleitung einiger Gläser, bis ich ihn fragte, ob es denn in Salzburg nicht noch andere Autoren gebe, die an solch einer Aufgabe Vergnügen hätten, und Artmann sagte sofort: der Gläserne. Und schilderte mir verlockend, wer der mir damals noch unbekannte Gerhard Amanshauser sei. Und dass er ihn sofort anrufen werde, auf dass er sein verwunschenes Haus am Festungsberg verlasse und sich zu uns geselle. Der Gläserne jedoch fühlte sich fiebrig und bat, wir möchten doch lieber zu ihm hinaufkommen, und nachdem Rosa mir ohne Umstände eine Schlafmöglichkeit angeboten hatte – ich hatte rechtzeitig begriffen, dass an dem Abend kein Rückfahren mehr möglich sein würde, sah die Angelegenheit aber als förderlich an für das Projekt und also den Verlag –, bestiegen Artmann und ich den Berg.

Der Gläserne, bekannt für seine Kopfstände, wie ich später bezeugen konnte, und seine scharfzüngigen Bemerkungen, die ich noch am selben Abend ­registrierte, holte die von uns schon getrunkenen Gläser in Windeseile nach – die Art, den Wein gleichsam barrierefrei in sich hineinfließen zu lassen, übertraf unter den Autoren später nur Gert ­Jonke, wenn auch auf weniger lustige Weise. Artmann hingegen trank einfach stetig und gründlich weiter, und ich haltlos beseligt. Im Laufe des Abends hatte H. C. Artmann mir das Du-Wort angetragen, und Amans­hauser schloss sich an: Es war für mich wie ein Ritter­schlag, und ich gestehe, dass mich seither das Gefühl, Mitglied einer Tafelrunde zu sein, nie mehr verlassen hat.

Derart geadelt stand ich am nächsten Morgen auf, versuchte mich zu orientieren, stieg in meine Hose und tat es so, dass ich – gewiss längst noch nicht nüchtern – derart in das zweite Hosenbein fuhr, dass ich fiel und dabei meinen Hosenreißverschluss ruinierte. So musste ich also die Hand vorm Schlitz an Rosas schön gedeckten Frühstückstisch treten – der Hausherr schlief sich aus – und durfte Opfer eines Lachanfalls, aber auch Zeuge ihrer (in solchen Dingen jedenfalls) schönen Unkompliziertheit werden.

Kann man sich vorstellen, wie beschenkt ich mich fühlte und wie mein Chef mich anfuhr, bei dem ich mich nicht abgemeldet hatte und der das Auto dringend für seine Bankgeschäfte brauchte. Aber mit drei wunderbaren Zusagen im Koffer – was scherte das mich!

Ich hatte mich von HC, wie ich nun sagen und denken durfte – ein Privileg, das ich, wie ich bald merkte, mit der halben Welt teilte –, nicht verabschieden können. Als ich mich auf meinen Weg machte, schlief er immer noch, und das war gerecht. Also blieb er mir als der im Kopf, als den ich ihn damals und noch so oft erlebte: als der Schlanke, Hochgereckte, die Szene Bestimmende (weshalb etwa in Gesellschaft von Peter Handke in dessen Salzburger Zeit immer beide schwächelten), der auch in der Unterhaltung ständig bewies, dass alles, was er sprach, in erster Linie Sprache war. Es war alles Pointe, Witz, Einfall, selten etwas Botschaft, Mitteilung. Auch die Zuwendung zu anderen war eher Feuerwerk als Kerzenlicht. Aber geistreich und hell war es um Ariel immer. Es war Selbstgenuss und Geselligkeit zugleich, zusammengebunden im gegenwärtigen Zauber des Augenblicks und der immerwährenden Lust an der unerschöpflichen Sprache.

Was nicht bedeutet, dass nicht neben Sympathien auch Antipathien ihren Ausdruck fanden: Als 1982 die Argentinier die Falklandinseln zu kassieren versuchten und diese Angelegenheit in einer heiteren Runde im Salzburger Lokal »Zum fidelen Affen« diskutiert wurde (oder jedenfalls beredet), machte HC sein gerades Kreuz noch gerader und zischte nur, »diese Tangojünglinge! Ich würde am liebsten runterfliegen und denen mit diesem Messer« – er griff sich eins vom Tisch – »zeigen, was Sache ist. Britain forever!«

Ich war für ein Vierteljahrhundert Artmanns Lektor, das heißt, ich war derjenige, wie er gerne sagte, der die paar fehlenden Kommas in seinen Texten nachzutragen hatte. Viel mehr war aber tatsächlich nicht zu korrigieren. Was er – nach geheimnisvoller Kopf­arbeit – in seine alte Olympia klopfte, stand, einwandfrei.

Allerdings, als ich im Februar 1975 in den Residenz Verlag kam, wurde mir schon in den ersten Tagen ein Packen Fahnen ausgehändigt: Es waren einzelne Kapitel eines neuen Artmann-Buches, deklariert als Roman, über eine Figur namens »Dr. U« (vulgo Unspeakable), Kapitel, für die der Autor selbst keinen rechten Zusammenhang mehr fand und die seit Monaten unfertig dalagen. Ich sollte eine Lösung versuchen. Und fand sie, weniger genial als praktisch, indem ich die Kapitel neu gruppierte und eine Rahmenerzählung dafür entwarf, die den Dichter wieder in Schwung brachte. In wenigen Wochen war das Buch fertiggestellt.

Zum Glück. Denn Artmann war längst wieder beim Reimen angekommen und schrieb Balladen, die er in seiner Botanisiertrommel sammelte: Verwunschenes, Heroisches, Neckisches, Inniges, es war ein literarisches Kostümfest, das dem Dichter und seinen Gesellen großes Vergnügen machte (nicht aber Peter Handke, dem wir vergeblich nahezulegen versuchten, Artmann endlich den Petrarca-­Preis zu geben, auf keinen passe er besser: Er wollte nicht, und er seinerseits wusste, was er tat). Jedes Mal, wenn wieder eine Handvoll Gereimtes gelungen war, kam HC in den Verlag (damals noch in der Imbergstraße in einer Holzbauer-Notlösung der genialen Art) und legte die Gedichte wie einen Strauß Trockenblumen dem Verleger und seinem Lektor auf den Tisch, und alle freuten sich sehr. Für meinen Klappentext zur Botanisiertrommel wollte HC mich »abbusseln«, ein Ansinnen, das dem Österreichnovizen nicht gleich einleuchtete.

In den letzten Jahren bestand meine Lektoratsarbeit mit ihm in erster und schönster Linie darin, auf seinen Anruf »Es gibt was Neues, magst du kommen?« umgehend in den Schwarzgrabenweg zu fahren und dem – man will es kaum glauben, es war aber so – unsicheren Dichter seine eigenen Texte vorzulesen und ihm aufrichtig zu versichern: »HC, das ist so traumhaft gelungen, es bricht einem das Herz.« – »Ist das dein Ernst?« – »Mehr als das.«

Das Haus im Schwarzgrabenweg war eher ein Häuschen. Keineswegs hässlich stand es zusammen mit einem zweiten, in dem die Eigentümer mit einem scharfen Hund wohnten, und doch für sich auf einer Wiese mit freiem Blick auf den Untersberg unweit eines Bachs, der dort durchs Moos zieht. Es gab ein unteres und ein oberes Stockwerk – die Dame mit Kind Emily Griseldis unten, der Herr oben –, rechterhand war eine Art Schuppen ans Haus gelehnt, und linkerhand standen Obstbäume, unter denen es sich im Sommer wunderbar sitzen ließ.

Gegen Ende des Jahrhunderts wurde Artmann krank, und nachdem er seine Ärzte in Wien hatte, stellte sein Freund, der Theaterverleger Ulrich Schulen­burg, ihm eine Wohnung in der Schönborn­gasse 1 zur Ver­fügung, in welcher der Dichter anfangs vorüber­gehend und dann endgültig für die letzten Jahre sein Quartier hatte. Gelegentlich schaute Rosa im Schwarzgrabenweg in Salzburg vorbei, in dem ja nach wie vor die Möbel und Bücher standen (die nach Artmanns Tod im Jahre des Herrn 2000 geschlossen an die Wienbibliothek übergeben wurden, darunter ein gutes Dutzend Wörterbücher, die ihm der Verlag ein paar Jahre vorher zu einem runden Geburtstag geschenkt hatte). Später überließ sie die Wohnung Adrian Brauer, genannt Zlatko, Peter Handkes ständigem Begleiter auf seinen Serbienfahrten. Gelegenheitsmaler, der er war, hatte er sich im Schuppen ein Atelier eingerichtet und fertigte dort unter anderem Dichterporträts an.

Einen Artmann habe ich, von Handke mehr oder weniger darum gebeten, für den Residenz Verlag aus der Portokassa angekauft, damit Zlatko auf der nächsten Serbienreise mit seinem Auto dabei sein konnte – für die Herren des Bundesverlags, meine damaligen Vorgesetzten, hinterher ein schöner Grund, auch damit meine Geschäftsunfähigkeit nachweisen zu können. Erfreulicher war hingegen die kleine Nachfeier anlässlich der Verleihung des Ehrendoktors der Universität Salzburg an Peter Handke (Artmann hatte diese Auszeichnung schon Jahre zuvor erhalten, übrigens auf Anregung meiner Frau). Sie fand auf der Schwarzgraben-Wiese neben dem Schuppen statt, wo Zlatko für eine Handvoll Leute an einem offenen Grill eine Unmenge ­Ćevapčići und Ražnjići herstellte, die wir uns mit viel Wein schmecken ließen. Der Tag klang in größerer Runde beim Schlosswirt in Anif aus, wo ich das erste Mal mit Peter Handke über Jesus geredet habe – das ist jetzt aber ein ganz anderes Thema.

Kann man sich vorstellen, wie wohl sich jemand wie H. C. Artmann als unverwüstlicher HC-Darsteller gefühlt hatte, und wie ungern er als kranker Mann dieses Bild schwanken ließ? Und wie schmerzhaft es war, ihm dabei zuzuschauen? Der kranke Artmann war wahrhaftig nicht der, der er für sich und andere sein wollte. Artmann als Kräuterteetrinker – brrr, aber es musste sein. Er knurrte, er schimpfte, aber klagen habe ich ihn nicht gehört. Er verwandelte sich ziemlich rasch in einen Gebeugten, der im Sessel und dann auch im Rollstuhl saß und die Wohnung nicht mehr verlassen konnte. Gern würde man sagen, dass Blick und Stimme immer noch ganz den Alten zeigten, aber es war nicht so. Er wurde zarter und vorsichtiger, leiser auch, und zeigte, wenn man ihn besuchte, nicht nur Freude, sondern auch Dankbarkeit. Und beide Gefühle schienen ihn auch zu erfüllen, wenn ihm im Reden – dann doch wieder ganz der Alte – ein guter Sager gelungen war.

HC war jemand, dem man schwer etwas übelnehmen konnte (außer vielleicht, wenn man eine einst Geliebte war). Und mit ihm im Zauberreich des Dichtens zusammen zu sein, war immer ein Glücksgefühl, um nicht zu sagen: ein Sommernachtstraum.

Als man sich 1991 entschloss, auch Salzburg in Form eines Vereins ein Literaturhaus zu bescheren, wurde H. C. Artmann zum ersten Präsidenten gewählt – er hatte schon zuvor als Präsident der Grazer Autorenversammlung einen solchen Posten üben können, der kaum jemandem ferner gelegen ist als ihm. Ein knappes Vierteljahrhundert später entschloss man sich, den Platz vor dem Haus endgültig nach ihm zu benennen, und lud mich ein, die kleine Festlichkeit mit dem vorstehenden Text zu eröffnen. Eine der Zuhörenden war Rosa Artmann, die ich lange nicht gesehen hatte und mit großer Freude begrüßte. Ich hatte noch am Vortag ein Gedicht über HC geschrieben, das ich dann auch vorlas, und es war Rosa, die mir dringend riet, die Strophen in dieses Buch hineinzunehmen, und also stehen sie jetzt hier:

HC

Abbazia. Eine Erzählung oder Ein Bernhard-Lektorat am Meer

Der jugoslawischen Post traue er nicht, so seine Worte, und anvertrauen könne er ihr schon gar nichts. Es sei daher fraglos das Beste, ich nähme am nächsten Abend den Schlafwagen Richtung Ljubljana, dann sei ich am Sonntagmorgen da, und man könne sofort mit der Arbeit beginnen. Er sei in Abbazia und wohne im Hotel Ambasador, einem äußerst angenehmen und bequemen Haus, direkt am Meer. Ein Zimmer sei bereits für mich vorbestellt.