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Peter C. Huber

Blutroter Veltliner

Ein Weinviertel-Krimi

Prolog: Das erste Mal

„Oh what a beautiful mornin’, oh what a beautiful day …“ Hell und laut erklang die Stimme Marija Nemcovas aus der dampfenden Dusche. Rodgers und Hammersteins fröhlicher Schlager aus dem alten Oklahoma Musical war gerade recht für diesen herrlichen Tag! Als sie sich mit der duftenden Kräuterseife einrieb, war ihr ganzer Körper in Schaum gehüllt. Genüsslich drehte sie sich ganz langsam unter dem Duschstrahl und wusch sich die Seife ab, die in weißen Strömen an den feinen Konturen ihres Körpers hinunterfloss. Ein kleiner Berg aus Schaum drehte sich wie ein Ringelspiel über dem Abfluss.

Marija stieg aus der Dusche und begann sich mit einem Handtuch kräftig abzutrocknen. Ihre Haut war ganz rot vom warmen Wasser geworden und errötete noch stärker beim Abreiben mit dem Frotteetuch, das auch die letzten Tropfen Nässe auf ihrer Haut aufsog. Vor dem Waschbecken stehend nahm sie den Föhn in die eine und die Bürste in die andere Hand, begann die Haare auszubürsten und zu trocknen. Bei der Länge ihrer dichten kastanienbraunen Haare war das eine Prozedur. Doch „wer schön sein will, muss leiden“ und „von nichts kommt nichts“! Gut dreißig Minuten später waren die Haare trocken und sie ging leise vor sich hin summend zum großen Wandspiegel. Marija ließ das Handtuch, das sie um sich gewickelt hatte, auf den Boden fallen. Zufrieden studierte sie ihr Spiegelbild. Prachtvolle einhundertzweiundsiebzig Zentimeter perfekt geformter Weiblichkeit schauten ihr entgegen. Heute wollte sie wunderschön sein! Nicht, dass es ein großer Aufwand war. Im Abschlussjahr ihrer Schule war sie zur Miss Záhorie gewählt worden. Und auch jetzt, fünfzehn Jahre später war sie stolz auf ihre Figur. Sie war inzwischen etwas fraulicher, gleichwohl schlank. Durch ihre Arbeit als Physiotherapeutin war sie auch etwas muskulöser geworden, aber das hob nur die sanften Formen ihres Körpers mehr hervor. Und dann ihre Haare, voluminös, braun glänzend und lockig hingen sie bis zu ihren Brüsten herunter, die fest und voll zwischen den Haarsträhnen hervorkamen. Marija drehte sich etwas, damit sie auf ihren Po schauen konnte. Auch perfekt! Übermütig und glücklich lachte sie auf und warf ihren Kopf nach hinten, sodass ihre Haare in großem Bogen flogen.

Heute sollte der große Tag sein! Seit Wochen war sie verliebt wie ein Teenager – wollte gerade heute die Versuchung in Person sein. Normalerweise begann sie keine Affäre mit einem Patienten, aber dieser eine war anders.

Sie hatte ihn vor drei Monaten bei einem ihrer burgenländischen Patienten, bei dem er auf Kundenbesuch war, kennengelernt. Einmal in der Woche fuhr sie über die Grenze nach Österreich und behandelte dort privat einige Patienten im Grenzgebiet zwischen dem Burgenland und Niederösterreich. Sie nahm die etwas längere Fahrt über Bratislava auf sich, weil dort der einzige hochwassersichere Grenzübergang zu Österreich war. Die beiden anderen Grenzübergänge, die Brücke bei Hohenau und die Fähre bei Záhorská Ves, wurden bei Hochwasser rasch geschlossen. Immer wieder ärgerte sie sich, dass es fast dreißig Jahre nach der Öffnung der Slowakei noch immer keine anständigen Verkehrsverbindungen zwischen den beiden Nachbarländern gab. Und so war ihr die etwas umständlichere Anreise lieber, als eventuell über Wochen entweder auszufallen oder ein Mehrfaches der Wegstrecke zurücklegen zu müssen. Finanziell gesehen war die Österreich-Tour für sie immer eine kleine Goldgrube. In Österreich verlangten Physiotherapeuten etwa siebzig Euro die Stunde, sie war mit fünfundzwanzig glücklich. Für slowakische Verhältnisse war das eine fürstliche Entlohnung.

Er war gleich interessiert, und da er in der Nähe von Hohenau zu Hause war, bot er an, zu ihr zu kommen. Sie hatte eine kleine Praxis in dem alten Haus eingerichtet, das sie von ihren Eltern geerbt hatte. Das Haus lag zwar sehr entlegen im Nordostteil der Záhorie in der Borská Nížina mitten im Wald, doch waren es kaum zwanzig Kilometer von Hohenau – vorausgesetzt es gab kein Hochwasser.

Als Kind hasste es Marija, hier leben zu müssen. Der Schulweg war beschwerlich, Freunde kamen selten. Doch nach ein paar Jahren in Bratislava war sie nun glücklich, wieder hier zu sein. Die Stadt war ihr zu laut und sie konnte dort keine richtigen Kontakte knüpfen. Zwar wurde sie immer begehrt und auch umworben, aber sie empfand die meisten Avancen als oberflächlich und wehrte sie ab. Schließlich zog sie sich mehr und mehr aus dem Gesellschaftsleben zurück, verbrachte die meiste Zeit alleine in ihrer kleinen Wohnung. Als ihre Eltern bei einem Autounfall gestorben waren, hatte sie nicht lange überlegt und war wieder in das Haus ihrer Kindheit zurückgekehrt.

Záhorie bedeutet übersetzt ins Deutsche „Land hinter den Bergen“. Die Bergkette der Kleinen Karpaten begann wenige Kilometer weiter östlich. Die Berge waren auch für die Besonderheit dieses nördlichen Teils der Záhorie, der Borská Nížina, verantwortlich. Dieses Gebiet bestand vornehmlich aus angewehtem Sand und Sanddünen. Genau wie in der Sahara vor dem Atlasgebirge entlud der Wind mitgeführten Sand, bevor er über die Berge aufstieg. Es ist für Mitteleuropa ein einzigartiges Phänomen, eine riesige Sandkiste. Um die natürlichen Verwehungen des Sandes zu stoppen, wurden hier seit dem siebzehnten Jahrhundert Kiefern angepflanzt. Marija liebte es, barfuß ihre morgendlichen Waldläufe zu absolvieren, sie liebte das Gefühl des weichen Sandes, der sich ihren Füßen anpasste.

Allein durch die Lage blieb die Praxis klein, nur wenige Patienten nahmen den Weg dorthin auf sich. Doch Marija war geschickt in ihrem Beruf, alle ihre Patienten entwickelten sich mit der Zeit zu Stammkunden. Sie hatte auch keinen hohen finanziellen Bedarf. Das Haus war günstig im Erhalt, ein großer Gemüsegarten versorgte sie mit den nötigen Vitaminen. Als einzigen Luxus leistete sie sich einen kleinen Škoda. Die wenigen Patienten hier und die Einnahmen aus der wöchentlichen Österreich-Tour genügten ihr vollkommen.

Als er dann vor drei Monaten begann, nach seiner Arbeit zu ihr zu kommen, um sich massieren und wegen einer früheren Verletzung behandeln zu lassen, fühlte sie von Beginn an, dass es mit ihm etwas Besonderes war. Sie liebte seine offene, warme Art, und doch war er zurückhaltend, nicht forsch, fast schüchtern. Sie mochte seinen Körper sehr, genoss es, ihn zu massieren, seine Muskeln unter ihren Händen zu spüren. Seit jeher saßen sie nach der Behandlung noch bei einem Kaffee oder Tee zusammen, plauderten und lachten. So waren rasch Gefühle aufgekommen, die Marija schon lange nicht mehr zugelassen hatte. Und auch wenn es schon regelrecht knisterte vor Spannung, war er nie fordernd, er ließ sich und ihr Zeit. Doch nach seiner letzten Behandlung, als sie sich vor seinem Auto verabschiedet hatten, war es wie ein Dammbruch passiert. Plötzlich hatten sie sich umarmt und festgehalten, ein ums andere Mal geküsst. Er hatte immer wieder nur ihren Namen genannt.

„Marija, ich kann es kaum erwarten, wieder zu dir zu kommen!“, waren seine Abschiedsworte, bevor er, nach einem letzten zärtlichen Kuss, zurückgefahren war.

„Heute krieg ich dich, mein Schatz, heut will ich dich endlich für mich haben“, sprach sie laut zu sich selbst und lachte fröhlich auf. Schon beim Gedanken spürte sie ein leichtes Anspannen im Unterleib, ihr Gesicht wurde warm und die Wangen leicht rot.

„Heute sorge ich dafür, dass du mir nicht mehr widerstehen kannst!“, verschwörerisch zwinkerte sie ihrem Spiegelbild zu und begann mit den Vorbereitungen.

Ein bisschen Rosenwasser, etwas Lippenstift, das genügte. Marija trug nie Make-up. Sie hatte sich ein Höschen zurechtgelegt, eines mit einem Tangaschnitt. Rot. Leicht durchsichtig. Kein BH heute. Ihre Brüste waren fest und sollten sich durch den Stoff abheben. Sie nahm ihr weißes Arbeitskleid und schlüpfte hinein. Es hatte vorne Druckknöpfe zum Verschließen. Oben ließ sie es offen, sodass ein Blick ins Dekolleté möglich war, sie wollte jedoch nicht zu offenherzig oder gar billig erscheinen, schließlich sollte ja lediglich seine Phantasie angeheizt werden.

Marija schaute sich noch schnell im Bad um: Alles sah nett und aufgeräumt aus. Wahrscheinlich kamen sie später gemeinsam hierher, dann sollte auch alles passen. Noch schnell zwei Hübe aus dem Inhalator, verdammte Pollenallergie. Aber das Letzte, das sie wollte, war ein Asthmaanfall heute Nachmittag. So, ihrerseits war alles bereit, jetzt konnte er kommen. Gemütlich ging sie Richtung Eingang und trat aus dem Haus hinaus auf die Veranda. Dort setzte sie sich auf die Bank und genoss die ungetrübten Sonnenstrahlen des Nachmittags.

Lange brauchte sie nicht zu warten, da hörte sie schon das Geräusch eines näherkommenden Autos. Marijas Herzschlag stieg an. Rasch griff sie sich noch an die Brust und massierte ihre Brustwarzen. Sie wollte, dass sie sich deutlich unter dem Stoff abheben. Unglaublich, sie fühlte sich wie ein Teenager, so verliebt, so aufgeregt. Langsam ging sie dem herannahenden Auto entgegen, wartete, bis er es geparkt hatte und stellte sich neben die Fahrertüre. Kaum war er ausgestiegen, umarmte sie ihn, kuschelte sich an ihn heran, drückte ihren Körper fest gegen seinen. Sie spürte, wie ein Ruck durch seinen Körper ging, wie er auf sie reagierte, seine plötzlich einsetzende Erregung. Lachend stieß sie ihn sanft weg.

„Ach, ist das schön, dass du da bist! Aber erst kommt die Arbeit. Ich will ja, dass du wieder fit und gelenkig bist und nicht bei jeder Bewegung wie ein alter Mann jammerst!“

Sie nahm ihn an der Hand und ging zum Haus. Sie merkte, wie fasziniert er sie anschaute, wie sein Blick über ihren Körper glitt. Zufrieden beschleunigte sie ihren Schritt, zog ihn fast hinter sich her. Im Haus, bei der Massagebank angekommen, half sie ihm, die Knöpfe am Hemd aufzumachen. Ihre Hände strichen über seine Brust, glücklich strahlte sie ihn an. „Jetzt aber rasch auf die Bank, damit ich mit meiner Arbeit beginnen kann.“ Nur mit einer Unterhose bekleidet lag er nun auf der Massagebank. Sanft begann sie mit ihrer Arbeit an seinem Rücken. Sie fing an, vom Nacken her über seinen Rücken zu streichen und die Muskeln an den Schultern zu kneten. Hier war eine seiner Problemzonen. Die harten Muskelknoten waren deutlich spürbar. Fest drückte sie auf einen Punkt im Schulterbereich und hielt den Druck eine Weile. Von ihm kam ein leises Stöhnen, tja, das tat erst einmal weh, aber dann wurde es besser. Er hatte den Kopf auf die Seite gelegt und seine Augen folgten ihren Beinen. Seine zweite Problemzone war im Lendenwirbelbereich, hier mussten auch die Oberschenkelmuskeln gedehnt werden, die zur Hohlkreuzbildung beitrugen. Sie schob den Bund der Unterhose nach unten und drückte am oberen Bereich des Pos auf die Punkte, die den Ischiasnerv betrafen. Wieder stöhnte er leicht, bis der Schmerz langsam nachließ. Nun folgten die Innenseiten der Oberschenkel. Marija ließ ihren Handrücken dabei über seine Hoden streichen, während sie den Muskel knetete. So, genug der Arbeit, jetzt fängt das Vergnügen an, dachte sie sich.

Sie stellte sich wieder an das Kopfende der Bank, trat etwas zurück und beugte sich über ihn. Jetzt war ihr Busen recht nahe an seinem Kopf. Sie merkte, dass er schneller atmete, die wohlige Wärme ihrer Brüste zeigte Wirkung. Zart glitten ihre Hände über seine Schultern und seinen Rücken. Langsam ging sie an die Seite der Liege und ließ ihre Hände zum Bund seiner noch heruntergezogenen Unterhose wandern. Ihre Fingerspitzen schoben ihn in die Höhe und sie fühlte seinen festen Po unter ihren Händen.

Sie spürte seine Hand an der Innenseite ihrer Schenkel. Marija nahm den Bund seiner Unterhose und zog sie ihm aus. Dann griff sie an ihren Arbeitsmantel, mit einem Ruck öffnete sie die Druckverschlüsse und ließ ihn hinter sich auf den Boden fallen. Er folgte jeder ihrer Bewegungen mit seinen Augen.

„Komm, mein Lieber, komm mit mir, in meinem Bett ist es bequemer.“

Sie half ihm auf und umarmte ihn, genoss das Gefühl seines Körpers an ihrer nackten Haut, den Druck seiner Arme um sie. Glücklich sahen sie einander an und küssten sich lang und intensiv. Engumschlungen gingen sie zum Schlafzimmer. Dort zog er ihr den Tanga aus. Jetzt wurde er aktiv. Er küsste ihren Körper, erkundete ihn. Er legte sie ins Bett, legte sich zu ihr, umarmte sie, küsste sie. Innig verschmolzen liebten sie sich im Bett. Marija war glücklich, diesen Moment hatte sie sich so sehr gewünscht. Beide kamen rasch, fast gleichzeitig, für Marija in einer Intensität, die sie noch nicht erlebt hatte. Als sie danach dicht aneinander gekuschelt im Bett lagen, wusste sie mit jeder Faser ihres Körpers:

„Das ist mein Mann fürs Leben …“

Kapitel 1: Wenn der Tag schon so beginnt …

Langsam verblassten die Sterne am morgendlichen Himmel. Über der Silhouette der nahen Kleinen Karpaten stieg ein zartblauer Lichtkegel im Nordosten höher. Andi Mück liebte diese Phase des Morgengrauens, in der die Landschaft fast unendlich sanft aus dem Dunkel auftauchte, diesen Wandel von Nacht zu Tag.

Es war eine sternenklare Nacht gewesen, als Andi im Finstern von seinem Hof im Ort über den Marchdamm in die Nähe seines Hochsitzes gefahren war. Jetzt im Sommer war er um diese Zeit nicht als Einziger unterwegs. Am Weg aus dem Ort sah er auf zwei Feldern bereits Traktoren im Einsatz. Viele Bauern zogen es vor, in der Nacht zu arbeiten, um so der brennenden Hitze untertags zu entgehen. Seit Tagen zeigte das Thermometer in Hohenau fast vierzig Grad Celsius – wieder einmal Hitzepol Österreichs!

Aber jetzt, nach der klaren Nacht, war die Luft frisch und geprägt von den Gerüchen der taufeuchten Au. Etwa zweihundert Meter von seinem im Schutz einer Pappel gebauten Hochstand entfernt floss die March. Fast drei Meter tief brach das Ufer steil zum Fluss und seinem dunklen Wasser ab. Nicht einmal fünfunddreißig Kubikmeter führte die March gegenwärtig. Immer wieder traten nun die Sandbänke hervor. Zu Fuß konnte man derzeit durchwaten. Es war so schwer, sich jetzt vorzustellen, wie sehr und wie schnell der Fluss sich ändern konnte: 2006, beim großen Hochwasser nach der Schneeschmelze, führte die March über eintausendvierhundert Kubikmeter in der Sekunde! Dann war es hier wie an einem Binnenmeer. Damals hatte es Norbert im Ort schwer getroffen. Sein Hof lag an der nächsten und tiefsten Stelle zum Hochwasserdamm, der an mehreren Stellen gebrochen war. Aber in Jedenspeigen hatte es noch mehr Leute erwischt. Danach wurde der Damm saniert. Immer muss erst ein Unglück passieren, bevor etwas unternommen wird! Den Slowaken ging es damals besser, dort wurde rechtzeitig vorgesorgt. In den Jahren mit starken Überschwemmungen entwickelten sich danach Gelsenschwärme in biblischem Ausmaß. In dunkle Wolken geformt legten sie sich flächendeckend auf Tier und Mensch. Wer hier in der schattigen Au oder gar in der Dämmerung unterwegs war, wurde zum wehrlosen Opfer der Abermillionen von kleinen Blutsaugern. Ihr schrilles Summen war dann wie ein Tinnitus der Aulandschaft. Aber nun, im fahlen Licht des beginnenden Tages, bot die March ein Bild des Friedens. In trockenen Jahren waren nur wenige Gelsen unterwegs, was das Leben erträglicher machte. Zarte Nebelfetzen stiegen vom dunklen Wasser auf, und auch die Wiese, die sich zwischen der March und dem Bahndamm ausbreitete, dampfte im Schein des heller werdenden Himmels.

Andi war stolz auf seinen Hochstand, der Platz dafür war gut gewählt. Der Stand war an eine hohe Pappel gebaut, von unten durch einen großen Holunderstrauch geschützt. Vor Blicken verborgen und trotzdem ungehinderte Sicht in fast alle Richtungen! Andi schmunzelte in sich hinein. Hier in seinem Revier war er ein Voyeur der Landschaft und ihrer Bewohner. Das war sein privates Königreich. Er war jetzt Ende vierzig und durchaus zufrieden mit seinem Leben. Mit seiner Rosi verbanden ihn bereits fünfundzwanzig Ehejahre und die beiden waren privat wie beruflich ein eingespieltes Team. Jeder hatte auch seine persönlichen Interessen, denen er nachgehen konnte. Ihre Beziehung zueinander war lebendig und gefestigt. Bei der Arbeit im gemeinsamen Winzer- und Heurigenbetrieb waren sie unschlagbar, dort konnte sich jeder gemäß seinen Stärken betätigen.

Ihr Sohn Heinrich, genannt Heini, war jetzt einundzwanzig und in allen Belangen ihr gemeinsamer Stolz. Er hatte höchst erfolgreich die Weinbauschule in Klosterneuburg besucht und brachte sich in den elterlichen Betrieb durch eigene, durchaus überzeugende Ideen ein. Die Jagdprüfung hatte er schon längst positiv absolviert und half daher verlässlich mit, das Schwarzwild zu jagen. Für Andi war die Vorstellung, seinen Betrieb und alles damit Verbundene einmal an ihn zu übergeben, sehr wohltuend, insbesondere in Anbetracht der schon in jungen Jahren gezeigten Kompetenz und Einsatzbereitschaft seines Sohnes.

Andi riss sich aus seinen Gedanken, denn gerade war seine Rolle als Voyeur der Au wieder aktuell geworden. Im matten Licht des beginnenden Tages konnte er eine Bewegung am Fluss wahrnehmen. Langsam griff er nach seinem Feldstecher. Rasch aufeinanderfolgende, dumpfe Geräusche drangen zu ihm, das laute Knacken eines Astes. Plötzlich war der Umriss eines mächtigen Au-Hirschen als schwarzer Schatten am Rand des Ufers unter den Bäumen zu sehen. Da half es auch nicht, dass sein Feldstecher von einem namhaften Hersteller war, noch konnte Andi keine Details durch das Astwerk erkennen. Doch nach einer kurzen Pause, in der der Hirsch sorgfältig die Lage auf der Au-Wiese erkundet hatte, trat er vorsichtig aus dem Schutz des Uferholzes auf die taufeuchte Lichtung hinaus. Ein zufriedenes, stolzes Lächeln machte sich auf Andis Gesicht breit: Ja, das war er, sein Achtzehnender! Der Hirsch trat wenige Schritte auf die Wiese hinaus, blieb wieder stehen und prüfte sorgfältig seine Umgebung. Für Andi war es ein Moment der Meditation, der ihn mit Glück und innerer Ausgeglichenheit erfüllte. Der Hirsch ging nochmals einige Schritte vor und begann zu äsen. Durch sein Glas beobachtete Andi, wie er mit kräftigen Bissen das Gras ausriss und es rhythmisch zerkaute. Das Tier blieb wachsam, prüfte immer wieder die Lage und äste weiter. Er war für Andi wie ein Freund, er war stolz auf den prächtigen Kerl in seinem Revier, einen der größten seiner Art in Mitteleuropa. Schießen war kein Thema. Für heute war wieder einmal ein Wildschwein an oberster Stelle der Abschuss-Wunschliste.

Am ehesten hielten sich die Viecher ohnehin weiter drüben an den Abhängen oberhalb der March-Altarme auf. Drüben im Schilf war eine beliebte Schlammsuhle, dort waren sie fast jeden Tag anzutreffen.

Inzwischen war das Schwarzwild zur Plage geworden und Dauergesprächsthema am Kellerberg und im Wirtshaus. Auch in seinem Heurigen konnte er sich darauf verlassen, dass die Gäste mit eigenen Landwirtschaften ihre Buffet- oder Weinbestellung mit einer Beschwerde übers Schwarzwild kombinierten. Dafür kamen die vom Fleischhauer verarbeiteten Wildschwein-Wurstwaren sehr gut bei den Gästen an. Rache für den erlittenen Flurschaden quasi. Es gab wirklich zu viele Schwarzkittel inzwischen, da war es schon seine Aufgabe, sich um die Abschüsse zu kümmern.

Der Hirsch äste noch immer auf der Wiese. Über den Kleinen Karpaten hatte sich der Himmel hellrot und orange gefärbt. Am Abbruch oberhalb des Bahndammes leuchteten die Bäume im ersten Licht des Tages. Nur Minuten später brachen die ersten Sonnenstrahlen wie eine Feuergarbe über den Horizont. Die vom Tau benetzte Wiese leuchtete im flachen ersten Licht des Tages, als sei sie von unzähligen Kristallen bedeckt. Der Hirsch hob den Kopf und drehte ihn in Richtung des Flusses. Dann fiel er in einen leichten Lauf und kam direkt auf Andi zu. Still und gespannt freute sich Andi über die nahende Begegnung, als der Hirsch nur wenige Meter neben ihm im lichten Auwald verschwand.

Andi gab sich innerlich einen Ruck. Hier waren keine Schwarzkittel zu erwarten, Zeit für einen Standortwechsel. Wahrscheinlich war eine Rotte gerade am Weg zurück von einem nächtlichen Gelage im Kukuruzfeld vom Steininger. Selber schuld, wenn er so nah am Rückzugsgebiet der Viecher Kukuruz anbaut. Da gab es regelmäßig Schadensersatzforderungen. Langsam stieg Andi vom Hochstand hinunter und ging die wenigen Meter zum Damm hinüber. Oben hatte er sein Auto, einen alten Lada Geländewagen, abgestellt. Von dort hatte er freie Sicht auf die andere Seite, wo mehrere Altarme sich in das Hügelland des Weinviertels eingeschnitten hatten. Wie eine fast senkrechte Wand aus Urwald bot sich dieser Abschluss des Augebietes dar. Und trotz der Steilheit führten viele Wildwechsel vom Kulturland oberhalb in die darunterliegende ursprüngliche, wilde Auenlandschaft. Hier am hufeisenförmigen Teich, da war er sich sicher, sollten die Viecher gleich von ihrem nächtlichen Beutezug heimkehren. Die Suhle am Rand des Schilfgürtels war einer ihrer Lieblingsplätze. Andi musste nur den Moment abpassen, in dem sie aus dem Wald herauskamen. Da würde er kurz freie Sicht und eine gute, sichere Schussmöglichkeit haben. Am Wagen angelehnt wartete er.

Ein paar Graureiher flogen heran und landeten elegant im flachen Uferbereich. Andi glaubte eine Unruhe im oberen Teil der grünen Wand vor ihm bemerkt zu haben. Vorsichtig entsicherte er seine Waffe und machte sich bereit. Durch das Zielfernrohr beobachtete er den Waldrand. Immer noch drangen Geräusche aus dem Steilabbruch zu ihm. Jetzt wurde es still. Andi rückte sich zurecht und wartete voller Konzentration auf den nächsten Moment. Schon sah er eine Bewegung im Dunkeln des Waldrandes und die ersten Tiere traten in das flache Licht des Morgens, das jetzt noch bis ins Unterholz schien. Aus der Rotte kam eine kräftige Bache heraus, blieb stehen und musterte den Bereich vor dem Waldrand. Super! Andi visierte die Bache an, zielte genau und zog sanft am Abzug. Ein kräftiger Knall zerriss die Stille des Morgens. Von der Halbinsel links von ihm kamen die simultanen Schreie zweier menschlicher Stimmen. Vor ihm stob die Rotte in wilder Flucht und mit lautem Gequietschte wieder in den Wald hinein. Die getroffene Bache lag still am Waldrand.

Hoppla, nicht ganz ohne Schadenfreude schmunzelte Andi in sich hinein.

Hom do zwa auf da Hoibinsl ibernocht? Naujo, jetzt sans munta!

Andi stieg vom Damm hinunter, überquerte die Bahngleise und ging zum Altarm vor.

„Hallo da drüben! Habe ich euch erschreckt?“, rief er hinüber. Ein bärtiger Mann in Badehose stieg vom Spitz ins seichte Wasser und watete vor, bis sich die beiden gut sehen konnten.

„Morgen, Andi, du bists! Du ja, da hat es uns ganz schön gerissen! Ich habe gerade versucht, einen Eisvogel zu fotografieren, aber er war eh zu weit weg. Was hast denn gschossen?“

„Ah so, de Weaner Summafrischla …“

Vor ein paar Jahren hatten die beiden, Michl und Helga Metzger, zwei nebeneinanderliegende kleine Presshäuser in der Kellergasse gekauft und in der Folge Zug um Zug saniert. Er, der Michl, war gerade etwas über fünfzig, von kräftiger Statur und mit einem Hang zum Wohlstandsbauch. Er war von einem unkontrollierbaren Bewegungsdrang besessen. Immer arbeitete er am Haus, am Keller oder an der Gestaltung der Wiesenfläche davor. Ansonsten traf man ihn oft mit seinem Fahrrad und der Kamera in den Weingärten, im Wald oder in der Au. Sie hatten sich rasch am Kellerberg eingelebt und auch ihre Kellertüre stand Gästen immer offen. Es war dann im Ort aber eine Überraschung, als seine Bilder in Büchern und Magazinen prominent auftauchten, es gar eine Doppelseite im großen Boulevardblatt gab, hauptsächlich mit Motiven aus der Gegend. Das lenkte positive Aufmerksamkeit auf die Region, die von den offiziellen Stellen ohnehin recht stiefmütterlich behandelt wurde. Schließlich war die Region eines der wenigen „roten“ Gebiete in dem ansonsten „schwarzen“ Niederösterreich. Das machte es den Gemeinden hier manchmal etwas schwerer.

Ein wenig waren die beiden wie Rosi und er: auch schon ein länger verbundenes Paar, das gemeinsam eine kleine Agentur in Wien betrieb. Sie boten Marketing-Dienstleistungen an, Textierungen und Grafikleistungen. Kurzum, eine kleine Allroundagentur. Im Sommer schliefen sie öfters im Presshaus, ein besseres Camping halt, um der Hitze der Stadt zu entgehen. Das Morgenbad im Altarm ersetzte das fehlende Badezimmer in der Kellergasse.

„Servas Michl, seids es heit scho so frua do? I hob grod a Wüdsau gschossen, se liegt duat unten. I muass se eh no aufbrecha und zum Auto bringa. Wüst mit? Host jo gsogt, dass du amoi zum Fotografian dabei sei wüst.“

„Gerne Andi, wenns dich nicht stört, dass ich nur in der Badehose unterwegs bin. Ich geb die Kamera und Sandalen in die Transportbox und schwimm damit hinüber – da bin ich schneller, als wenn ich außen herum gehe. Treffen wir uns vis-à-vis, wo der Weg nach hinten geht!“

„Passt!“

Andi war zufrieden: Das waren zwei Fliegen mit einer Klappe. Der Michl konnte ein paar gute Fotos von seinem Jagderfolg machen und das bei hervorragendem Wetter und Lichtbedingungen. Die konnte er dann auch im Heurigen aufhängen. Und außerdem würde Michl helfen, die Sau zum Auto zu bringen.

Der Tag versprach perfekt zu werden.

Andi verstaute zuerst das Gewehr im nahen Auto und machte sich dann auf den Weg, der rasch als schluchtartiger Gang im gut drei Meter hohen Schilf verschwand. Der Weg wurde von den Fischern offengehalten, die auch im Abstand von circa einhundert Metern am Ufer Angelplätze freihielten. Trotzdem kam hier nur selten jemand vorbei. Vor dem Damm fiel das Wasser gleich etwas tiefer ab und dort war der bevorzugte Platz der Fischer – wenige Meter vom Auto entfernt. Nur nicht gehen müssen! Wenige schleppten ihr Kramuri den engen Weg bis nach hinten. Und wenn, waren es häufig Pärchen, denen es weniger ums Fischen ging …

Nach ein paar Minuten kam Andi zum Angelplatz gegenüber der Halbinsel. Michl stand schon dort, fast wieder trocken, die kompakte wasserdichte Plastikbox in der Hand, ein breites Lächeln im Gesicht.

„Servus Andi! Jetzt freu ich mich, wenn ich dabei sein kann. Wieder ein paar neue Bilder für mein Weinviertelarchiv. Aber irgendwann nimmst mich auch zum Ansitzen mit. Ich weiß schon, das sind sicher besondere Momente für dich, aber ich möchte so gerne einmal diese Stimmung einfangen und es auch besser verstehen lernen.“

Andi lächelte leicht gequält als Antwort. Tja, da hatte er nicht ganz Unrecht, der Michl. Gerne teilte er seine Pirschgänge nicht mit anderen. Das war seine persönliche Zeit der Reflexion und des Kräfteschöpfens. Aber Michl zeigte immer wieder viel Einfühlungsvermögen und Andi hatte ihn schon oft in der Au beim Fotografieren getroffen. Einen guten Blick hatte er schon und einen Riecher für besondere Stellen, der Michl.

„Jo, jo, moch ma scho.“

Steter Tropfen höhlt den Stein, dachte er sich. Irgendwann nehme ich ihn schon mit.

„Oba jetzt schau ma amoi noch da Sau, gemma?“

„Allzeit bereit, als alter Pfadfinder! Aber du gehst vor, und bitte tritt die Brennnesseln ordentlich nieder – siehst ja, ich habe die Socken vergessen …“

Andi schmunzelte und zog los. Die paar Meter zurück aus dem Schilfgürtel waren normal noch dichter verwachsen, hier kamen fast nur noch Tiere durch, um am Teich zu trinken. Heute ging es aber recht gut und der Weg, so man hier von einem sprechen konnte, ging halbwegs gut weiter. Nach etwa fünfundzwanzig Metern öffnete sich das Schilf und sie standen vor einem der imposantesten Bäume der Gegend: einer uralten Weide mit einem meterdicken Stamm.

„Ich kann mich an dem Baum nicht sattsehen“, meinte Michl.

„Das Ding ist schon fast wie ein amerikanischer Mammutbaum vom Stamm her!“

Auch Andi sog den Anblick des gewaltigen Stammes und seiner mächtigen Äste in sich auf. Doch war es jetzt Zeit für die Sau. Vor ihm lag nun die Suhle. Sein Blick ging nach vorne, prüfte den Weg dahinter zum Waldrand, wo er bereits die Sau liegen sah. Energisch zog er los, Michl gleich wieder hinter ihm.

„ANDI!!!!“

Der Schrei ging ihm durch Mark und Bein, trotzdem war sein erster Gedanke: Die Retourkutsche für den Schuss von vorhin.

Er drehte sich um und folgte mit dem Blick Michls ausgestreckter Hand zur mächtigen Weide. Dort, an der Rückseite, saß eine Frau in einem farbenfrohen Kleid. Der Kopf mit den langen braunen Haaren war herabgesunken, die Arme hingen wie hingeworfen herunter. Die Beine waren ausgestreckt und wirkten wie aneinandergelegte Soletti. Die Gesichtsfarbe sagte alles: Hier war nichts mehr zu machen, da saß eine Tote.

Michl war schon wieder am Weg zurück. Ein paar Schritte vor dem Baum blieb er stehen und musterte die Lage. Andi trat neben ihn. Still standen die Männer und nahmen die Situation in sich auf.

„Andi, die ist nicht hier gestorben …“

„Hmmmm“

„Schau, das Kleid ist trocken, aber die Haare kleben noch feucht zusammen. Die hat jemand hierhergesetzt, so mit dem Rücken zum Baum. Und schau, die Augen sind zu, ich glaube, da hat ihr jemand noch die Augen geschlossen. Ob sie ertrunken ist, oder hat sie jemand erwürgt? Am Hals sehe ich nichts. Blut ist auch nirgends …“

Auch Andi versuchte sich das Bild und die Umgebung präzise einzuprägen.

„Daher woa da Weg noch hinten so frei. Wohrscheinli hot ma se vom Teich her gschleppt. Schwa is se sicha ned, do wiad mei Sau do hinten schwara sei.“

„Pass auf, Andi, ich sag der Helga, sie soll die Polizei rufen. Sie ist eh am Spitz und liest dort noch.“

Michl ging wieder den Weg zurück durch das Schilf zum Angelplatz. Am Ufer gegenüber stand schon Helga und schaute neugierig herüber:

„Was ist? Wieso hast du so geschrien?“

„Helga, stell dir vor, drüben am großen Baum, da sitzt eine tote Frau. Du musst die Polizei rufen. Ich glaube, die ist umgebracht worden!“

„Jessas, nein, wirklich? Ja, mach ich gleich. Ich gehe auf den Damm, dort ist der Empfang besser. Soll ich zu euch kommen?“

„Nein, musst nicht. Bleib dort und zeig der Polizei, wo wir sind. Ich denke, aus unserer geplanten Fahrradtour wird damit nix. Ich gehe wieder zum Andi! Bussi!“

Zurück am Baum schauten die beiden Männer stumm auf das Bild, das sich ihnen bot. Die Frau war noch nicht alt, vielleicht gute dreißig. Sie hatte lange braune Haare, die jetzt strähnig an ihr klebten. Das Gesicht hatte feingeschnittene Züge, der Hals war lang. Sie war schlank, aber mit deutlich muskulösen Ansätzen. Ihr Kleid war ein fröhliches, luftiges Sommerkleid, gelb in der Grundfarbe, mit vielen bunten Blumen überall. Es hörte fast zwei Handbreit über dem Knie auf und zeigte schöngeformte Beine, auch wenn diese jetzt etwas unnatürlich gerade lagen. Ihre Lebenslust sah man ihr auch im Tod noch an.

„Schod um se …“ murmelte Andi.

„Ja, wirklich … Was tun wir jetzt?“

„Nojo, do soit ma nix mocha, sunst wiad uns de Polizei granti. Kumm, de Sau miass ma no fertig mocha. De kon do ned liegen bleim. Und a wengerl dauerts eh no, bis de Polizei do ist. Swo hoit schod drum …“

Es ist eine Eigenheit dieses Landstriches, nichts verkommen zu lassen. Als Jäger kannte Andi den Tod. Und bevor er jetzt bis zum Eintreffen der Polizei still eine Leiche anstarren sollte, dachte er lieber praktisch. Die beiden gingen nach hinten zum Waldrand, wo die geschossene Bache lag. Andi hatte einen Prachtschuss abgegeben. Zwischen den Augen war das Einschussloch. Die Bache war tot, bevor sie umfiel.

„Supa, de hot leicht ihre siebzig Kilo. Schau, Michl, des passt a. Duat drüm is glei a Oacha mit an stoakn niedern Ost. Duat brech ma se auf.“

Andi ging zur Eiche und holte aus seinem Rucksack zwei Seile mit Schlingen am Ende. Die warf er über den Ast und hängte je einen mitgebrachten Haken in die Schlinge ein.

„Kumm Michl, Fotopause, jetzt konnst gach höfn …“

Zu zweit zogen sie die Bache das kurze Stück unter die Eiche. Dort nahm Andi sein Messer und schnitt damit bei den Hinterläufen zwischen Knöchel und Achillessehne hinein. Jetzt hängte er die Haken in die Schnitte und zu zweit zogen sie an den Seilen die Bache in die Höhe, bis sie frei hing. Die anderen Seilenden wurden an Bäumen dahinter befestigt.

„So hängend und kopfüber aufbrechen nennt man Ringeln.“ Förmlich wie ein Lehrer begann Andi zu erklären:

„Diese Methode ist die sauberste Aufbrechart. Schau, ich öffne jetzt mit feinen Schnitten die Bauchdecke und ziehe den Schnitt anschließend bis zum Schlund. Das Brustbein muss ich mit dem Messer oder wenn ich sie dabei hätte, mit einer Säge öffnen. Jetzt wirds für Außenstehende grauslich. Schau, ich greife mit der Hand in den Wildkörper in das Gescheide und ziehe den Darm von innen durch den Beckenknochen heraus. Wart, da muss ich noch leicht mit dem Messer nachhelfen. Därme, Pansen beziehungsweise Waidsack werden so nach unten herausgezogen; allein durch die Schwerkraft fällt der Aufbruch relativ leicht hinunter. Außerdem geht der Aufbruch und Schweiß nicht unnötig über die Lenden und Keulen, sondern fließt ab und fällt zu Boden.“

Michl stand vor dem aufgehängten Wildschwein und dokumentierte jeden Handgriff von Andi mit der Kamera.

„Na“, schmunzelte Andi, „host, glaub i, an guadn Mogn!“

„Kein Problem, ich habe ein paar Jahre in der Medizintechnik gearbeitet. War eine interessante Zeit. Da war ich auch fast alle Tage im Operationssaal und habe dort die Geräte bedient. So was stört mich nicht.“

„Na, donn bist jo fost a Fochmau! Soi eh ka großa Untaschied sei zwischen Mensch und Sau. Ongebli nua a hoibats Gen. Waßt eh, wos des bewirkt? Na? Dass si der Schwonz ned kringlt, beim Mau …!“

In das gelöste Lachen der beiden Männer mischten sich ferne Sirenentöne.

„Do schau au, do kumman se scho. Jetzt woans eh schnö, wos weans gwesen sei, zwanzg Minuten?“

Lachend deutete Michl an sich hinunter, schließlich hatte er nur die Badeshorts und Sandalen an: „Tut mir leid, aber mir fehlt die Uhr!“

Andi deutete auf das ausgeweidete Tier: „Des muass i jetzt rosch zum Beschauen und Vaorbeiten bringa, ibahaupt heit, wonn es wieda so woam wiad. Jetzt is bled, weu do untn weans uns wos dazön, wonn ma d’ Sau bringan. Oba i drog se jetzt vo da weg und ibas Föd firi. Do passiat nix. Is zwor länga, oba bessa. Pass auf. I geh jetzt glei, bleib du do. I red mit eana aum Damm und kum donn wida zruck, wonns sei muass. Passt des fia di?“

Michl nickte bestätigend. Andi stellte sich zum Ast und schulterte das ausgeweidete Schwein, während Michl die Seile löste.

„Kruzitirkn“, fluchte Andi in sich hinein, „imma no wira Sock Zement und jetzt do ka Zweiter zum Schleppen!“

Während Andi loszog, schaute Michl hinüber zum Damm. Dort kamen gerade mehrere Polizeifahrzeuge heran. Michl konnte sehen, wie Helga mit einem Polizisten sprach und in seine Richtung deutete. Einige Fahrzeuge fuhren kurz darauf wieder zurück.

Aha, dachte sich Michl. Die nehmen jetzt die Zufahrt auf dieser Seite und parken dann vorne am Fischerplatz. Das dauert auch wieder zehn Minuten.

Immerhin war der Platz hier in der Morgensonne durchaus angenehm. Die Temperatur stieg rasch, es würde wieder ein sehr heißer Tag werden. Michl beobachtete, wie eine Gruppe von vier Polizisten sich vom Damm her auf den Weg machte. Deutlich konnte er ihren Fortschritt im hohen Schilf erkennen. Als sie bei dem Angelplatz angekommen waren, stieg Michl langsam hinunter zur Suhle und wartete dort. Schon trennte sich das Schilf und die Polizisten kamen heraus. Noch fröhlich und im Gespräch miteinander, von dort sahen sie die Leiche ja nicht. Michl schaute erfreut: Den stämmigen, untersetzten Herren da kannte er! Das war der Erich Zillinger, der hiesige Polizeipostenkommandant. Mit ihm war er schon öfters im Nachbarskeller gesessen.

Erich schaute mit einem Schmunzeln im Gesicht zum Michl und rief ihm im Näherkommen barsch entgegen:

„Ausweiskontrolle! Bei deiner Figur ist das Erregung öffentlichen Ärgernisses! Was hast du da? Eine tote Leich? Wo soll die denn sein?“

„Na dann drehts euch um – da sitzt sie!“

Das Schmunzeln gefror Erich im Gesicht. Still schauten die Fünf auf die tote Frau, die an die Rückseite des dicken Baumstammes angelehnt saß.

„Ich sags euch gleich, Andi und ich sind gar nicht näher hin. Wir sind hier vorne geblieben.“

„Was, habt ihr gar nicht gschaut, ob sie wirklich tot ist? …. Na, hast Recht, die ist tot.“

Wieder still standen die Männer zusammen und schauten weiterhin auf die tote Frau.

Erich räusperte sich: „Ja, schad ists schon um sie …“

Von den anderen kam ein bestätigendes Murmeln.

Erich nahm Haltung an: „Michl, du und der Andi habt sie gefunden? Habt ihr was gesehen? Wo ist der Andi jetzt?“

„Der Andi und ich wollten zur Wildsau, die er dort geschossen hat. Als wir am Baum vorbei sind, habe ich mich umgedreht und sie dann gesehen. Wir glauben, sie ist vom Teich hergezogen worden. Sonst haben wir nichts gesehen und es war sicher niemand da, als wir gekommen sind, das hätten wir vom Spitz aus bemerkt. Nachdem Helga euch gerufen hat, haben wir die Sau fertiggemacht und der Andi hat sie jetzt gerade weggebracht. Wahrscheinlich seid ihr aneinander vorbei, aber eure Kollegen vorne werden ihn schon noch gesehen haben. Er muss die Sau bei dem Wetter recht rasch wegbringen, bevors zu warm wird.“

„Stimmt, Recht hot a, wa schod um de Sau …“

„Und jetzt?“

„Naja, das wird eine größere Sache, da brauchen wir die Tatortgruppe und die Techniker und das ganze Drumherum. Wir sichern jetzt einmal alles hier ab, einen Arzt müssen wir rufen, auch wenns schon zspät ist, und dann dokumentieren wir alles fotografisch. Wenn die Tatortgruppe da ist, machen sie weiter. Die sind für größere Sachen die Zuständigen, wir übernehmen nur, wenn die Sachlage ganz klar ist. Im Prinzip entscheiden dann die Kollegen beim Landeskriminalamt, wer für den Fall zuständig ist. Aber ich werde dich und den Andi noch brauchen. Trotzdem wäre es blöd, wenn du jetzt herumhängen würdest den halben Tag. So ein schöner Anblick bist wirklich nimmer … Bist am Nachmittag beim Keller?“

„Ja, ich werd dort sein.“

„Gib mir deine Nummer, dann rufe ich dich an, wenn etwas ist oder ich eine Frage habe. Ist zwar nicht ganz nach ‚Vurschrift‘, aber viel einfacher. Und wahrscheinlich wird es den Kollegen vom Landeskriminalamt eh recht sein, wenn wir hier die hiesigen Erhebungen machen. Außerdem ist der Andi am Nachmittag auch am Kellerberg, weil er ja seinen Heurigen aufmacht. Ich hol dich ab und wir gehen zum Andi. Und jetzt ab mit dir. Und am Nachmittag bist salonfähig angezogen!“

„Gut, wird gemacht! Kann ich jetzt wieder zurückschwimmen?“

„Nein, keine gute Idee: wenn die hübsche Maid dort im Wasser war, haben die Taucher was zum Tun. Und jetzt schau, dass du weiterkommst!“

Während Erich begann, die Ermittlungsarbeiten zu organisieren, verabschiedete sich Michl und machte sich auf den Weg durch das hohe Schilf zurück zur Halbinsel. Vorne am Damm herrschte inzwischen hektische Betriebsamkeit. Michl ging an allen vorbei über den schmalen Pfad zur Spitze der Halbinsel. Dort auf der Holzbank lag Helga, ein Buch in der Hand.

„Hallo Schatz! Bin wieder da!“

„Und?“

„Ist eine lange Geschichte. Ich will jetzt weg hier. Komm, gehen wir zurück zum Keller. Ich will endlich ein Frühstück! Dann erzähle ich dir alles.“

Helga lächelte ihren Mann an, umarmte ihn fest und hielt ihn an sich gedrückt. Nach einer kleinen Weile gaben sich die beiden einen sanften Kuss und ließen einander los. Ihre Fahrräder standen an einem Baum angelehnt. Michl und Helga nahmen die Räder und schoben sie den Pfad nach vorne. Am Bahndamm schulterten sie sie, um über den steilen und steinigen Abhang zu steigen. Oben angekommen radelten sie gemütlich zurück zur Kellergasse.

Kapitel 2: Dann endet der Tag wie so oft

Nachdenklich bog Erich von der Hauptstraße kommend in den Ort ein. Der Tag war lang und heiß gewesen. Die Tatortgruppe hatte den Fundort gründlich abgesucht, aber die bisherigen Ergebnisse waren mager. Der Leichnam der unbekannten Schönen war nach Wien zur Obduktion abtransportiert worden. Der Tod einer jungen, hübschen Person nagte mehr am Gemüt, als wenn es jemand Älteres, Hässlicheres gewesen wäre … Swo hoit schod drum … Der Gedanke war den Tag über omnipräsent. Erich bog mit Schwung in die anfangs steile Kellergasse ein und parkte sein Auto im Schatten einer ausladenden Kastanie am Beginn der kleinen Presshäuserzeile.

Helga und Michl saßen unter einem großen Sonnenschirm vor ihrem Presshaus bei einem Espresso und einer Melange, als er die paar Meter vom Auto zu ihnen ging.

„Na, Herr Postenkommandant, ganz frisch schaust nicht mehr aus,“ rief ihm Michl zum Gruß entgegen. „Willst auch einen Kaffee? Weißt eh, ich habe drinnen eine Espressomaschine. Ohne die läuft bei mir nichts!“

„Nein danke, aber ein G’spritzter wär jetzt fein. Das war heute elendig heiß unten in der Au. Und bis alle fertig waren, hat es bis vorhin gedauert. Schon gut, dass so was bei uns selten vorkommt.“

„Gerne, was ist dir lieber für den G’spritzten: der Welsche vom Fritzl oder ein Grüner vom Norbert?“

„Der vom Norbert, der ist rescher, das brauch ich heute. Dem Fritzl sein Welscher hat noch ein bisserl Restzucker, nach dem Tag brauch ich eine frische Säure!“

„Passt! Setz dich schon her, ich hole dir alles.“

Erich setzte sich auf einen Sessel im Schatten und schaute kurz der Helga zu, die konzentriert an einem bunten Stück Stoff nähte.

„Na, du bist aber auch immer beim Handarbeiten, wenn ich dich sehe. Was wird das überhaupt? Schaut aus wie ein Flickwerk!“

„Das wird ein Quilt“, fing Helga an.

„Ein Kilt?!? Ich habe gedacht, nur Schotten machen so etwas …“

Aus Helga platzte schallendes Gelächter heraus, sie konnte sich gar nicht fangen. Michl kam mit Wein, Soda und Gläsern zu ihnen.

„Na, was gibt es hier so zum Lachen?“

„Erich meint einen Kilt, einen Schottenrock …“ und lachte weiter.

Auch Michl lachte kurz auf und wandte sich weiter schmunzelnd Erich zu.

„Ah so, ja das muss ich dir erklären. Helga nimmt schöne und teure Stoffe und zerschneidet sie in kleine Teile.“

Erich zog die Brauen fragend hoch.

„Dann näht sie die bunten Fetzerl wieder zu einem Stück zusammen. Das nennt man dann Patchwork. Jetzt wird das Fetzerlwerk mit einer Füllmasse, einem Vlies, hinterlegt und bekommt eine Rückseite aus Stoff. Die drei Lagen werden vernäht, dabei werden Muster eingearbeitet. Das ist dann der Quilt – auf Deutsch a Fleckerlsteppdecken! Und unter der darf dann ich großer Depp stecken …“

„Jetzt weiß ichs genau! Nix is mit einem Schottenrock fürn Michl. Wobei, bei den Beinen …“

Schmunzelnd nahm Erich sein Glas, das vom kühlen G’spritzten angelaufen war, schaute es in Vorfreude an und prostete den beiden zu:

„Auf euch und danke schön! Hmmmm – das habe ich jetzt gebraucht – herrlich!

Aber jetzt zur Sache. Ich muss deine Aussage aufnehmen, habe mir gedacht, das machen wir jetzt gleich hier. Erzähle einmal und ich schreibe mit.“

„Wirst nicht viel zum Schreiben haben. Helga und ich sind gleich in der Früh mit den Rädern in die Au, eh wie immer, wenn wir hier sind. Die Räder nehmen wir mit nach vorne zur Spitze. Dort schaue ich erst vorsichtig herum und bin still, weil fast immer irgendein Tier oder Vogel dort ist und ich gute Fotomotive brauche. Heut war ein Eisvogel am Teich, ich habe die Kamera und das Tele ausgepackt und still gewartet. Wir haben dann die Wildschweine kommen hören, aber sonst war nichts. Den Andi haben wir nicht gehört und es hat uns ganz schön gerissen, als er geschossen hat. Der Andi hat dann gemeint, ich kann mit ihm mit zur Sau und ich bin mit der Kamerabox hinübergeschwommen. Vom Angelplatz an ist er vorgegangen, auch um das Gras runter zu treten, aber es war nicht so hoch wie sonst. Am Baum sind wir stehengeblieben und haben kurz geschaut, dann sind wir weiter. Andi hat sich auf die Sau am Waldrand konzentriert und ich schaue immer um mich herum. Und wie ich mich etwas umdrehe, da habe ich sie an der Rückseite vom Baum gesehen. Irgendwie wars ein Mordsschreck. Das wars. Wir haben kurz noch geschaut, haben aber nichts angegriffen, sind auch gar nicht ganz hin. Hast ja gesehen, dass sie tot war. Dann habe ich der Helga gesagt, sie soll die Polizei rufen.“

„Und sonst, bist sicher, hast du nichts gesehen?“

„Ja, absolut, wir waren vielleicht schon fünfzehn Minuten da, als der Andi geschossen hat. Da war vorher nichts, ganz sicher nichts.“

„Okay, danke. Ich schreibe das im Büro ordentlich auf, kommst dann bitte am Montag zum Unterschreiben, so ab dem späten Vormittag, passt das? Aber wie ists? Kommt ihr beiden mit zum Andi? Ich habe langsam Hunger und er hat ja heut offen.“

„Sicher, war ja so vereinbart. Wir verräumen nur schnell die Gläser, dann kanns losgehen.“

Wenig später spazierten die drei gemeinsam den Weg hinauf zum Heurigen von Andi. Der Platz davor war schon gut besucht. Sie setzten sich an einen freien Tisch und studierten gleich die Weinkarte. „Na, der Andi ist wirklich kein schlechter Winzer. Bei der Auswahl weißt du nicht, womit du beginnen sollst!“, zeigte sich Erich erstaunt.

Gabi, die Kellnerin, war an den Tisch gekommen, lächelte und meinte: „Na, braucht ihr noch etwas Zeit oder wisst ihr schon, was ihr wollt?“