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Thomas Baum

Tödliche Fälschung

Kriminalroman

ALLEGRO

1

Gestern hatte sie so richtig schwere, müde Füße. Dabei lief sie gar nicht schnell. Dennoch wurde ihr jeder Schritt zu einer solchen Mühe, dass sie sich zwingen musste, bis zum Ende durchzuhalten. Heute hingegen flogen ihre Beine wie von selbst über den Asphalt.

Wäre das Ausüben sportlicher Tätigkeiten ausschließlich von mechanischen Abläufen bestimmt, müsste sich ein zweistündiger Lauf jeden Tag in exakt der gleichen Stimmung und mit genau derselben Kraft absolvieren lassen. Aber wir Menschen sind nun einmal auch von unseren Stimmungen beeinflusst, dachte sich Nina, während sie leichtfüßig in die Papaveri-Kurve einbog.

Schon beim Aufstehen in der Früh hatte sie gewusst, dass ihr das Trainieren heute keine Probleme bereiten würde. Keine Ahnung warum, aber kaum klappte sie die Augen auf, war sie auch schon guter Laune. Vielleicht, weil sie kurz davor vom Geruch der Farben in der Druckerwerkstätte ihres Großvaters geträumt hatte.

Dieses Beißen in der Nase. Der von den Lösungsmitteln verursachte Schwindel beim Einatmen. Ihr „Eau de Nonno“, wie sie es nannte, weil es so ganz und gar nach Opa roch. Das war sein Reich, sein Universum, mit dem die 22-jährige Nina Bertini aus unzähligen guten Gründen das Gefühl von Geborgenheit verband.

Geborgen durfte sich an diesem Morgen auch Haku fühlen, dem sie wegen ihrer fabelhaften Laune ausnahmsweise erlaubte, zu ihr ins Bett zu springen und mit ihr ausgiebig zu kuscheln. Ein Erziehungsfehler, den sie ihnen beiden manchmal ganz bewusst vergönnte. Musste sie ihm morgen eben erneut beibringen, dass ihr Bett für ihn tabu war.

„Hei, Haku, alles okay?“

Als Bestätigung kam ein Bellen. Darüber hinaus ließ sich der Golden Retriever weder irritieren noch aus der Ruhe bringen. Mit dem Anlegen des Geschirrs stieg er jedes Mal ganz und gar in seine Arbeitsrolle ein. Sie bestand unter anderem darin, Nina in diesem Augenblick verlässlich und sicher aus der Papaveri-Kurve zu führen.

Am kleinen Mohnfeld vorbei. An prächtigen orange­roten Blüten, grazil und im Wind etwas flattrig, hatte Großvater erklärt. Genauso, wie er ihr bei den gemeinsamen Spaziergängen auch alle anderen Pflanzen und Sträucher beschrieben hatte, die ihren täglichen Laufweg säumten. Nach ihnen hatte Nina die einzelnen Streckenabschnitte benannt.

So standen links und rechts der vor ihr liegenden Cipresso-Steigung schlanke und stramme Säulenzypressen Spalier, und über die darauf folgende, etwas längere Pino-Passage wachten die majestätischen Kronen ausladender Pinien.

Von dort aus war dann laut Ninas Großvater die Fattoria Bertini für ein paar Minuten nicht zu sehen, bis sie nach der Überwindung des Oliva-Hügels jenen Weg erreichte, den sie Papaveri Secondo nannte. Dort, so ließ sie sich beschreiben, tauchte man, wenn der Mohn in Blüte stand, in ein feuerrotes Meer aus züngelnden Flammen ein.

Haku passte sich wie immer exakt ihrem Tempo an. Trabte unbeirrbar vor ihr her. Der mit Leder umwickelte Griff des Führbügels lag angenehm in ihrer Hand. Ihr Laufrhythmus und der von Haku folgten einer perfekt eingespielten Metrik. Einem genau abgestimmten Trainingsplan. Nina hatte sich die bevorstehenden Laufeinheiten mathematisch eingeteilt. Genauso die damit verbundene Steigerung der zu bewältigenden Kilometer. Kam es zu Unregelmäßigkeiten, war sie mit sich höchst unzufrieden.

Jedes Ziel verursacht Kosten. Man bekommt im Leben nichts geschenkt. Sätze ihres Großvaters, die sich Nina zu Herzen nahm. Mantras, die sie sich in verzweifelten oder kraftlosen Momenten immer wieder ins Bewusstsein rief, um nicht aus den Augen zu verlieren, worauf sie sich vorbereitete, was sie sich vorgenommen hatte, welchen Traum sie sich erfüllen wollte.

Die Anmeldung hatte sie schon weggeschickt. In genau sechs Wochen und zwei Tagen, exakt um neun Uhr früh, würde sie auf einer Anhöhe über dem linken Arno-Ufer, am Piazzale Michelangelo, beim Marathon in Firenze starten. Als eine unter Hunderten. Aber Nina dachte keinesfalls daran, im hinteren Feld durchs Ziel zu laufen und mit dem Mitleidspokal abgespeist zu werden. Nein, sie wollte ganz vorne mitmischen und am Ende, ganz ohne Behinderten-Bonus, vielleicht sogar unter die ersten zwanzig kommen.

Dabei hatte sie erst vor sechs Jahren mit dem Laufen angefangen. Bis dahin hatte sie sich nur mit dem Stock voranbewegt. Weil sie damit ihrer Meinung nach ein weitaus unauffälligeres Bild abgab als mit einem Blindenhund. Wer hinter einem Vierbeiner mit diesem auffälligen Geschirr dahintrottet, wird ganz automatisch als behindert eingestuft. Dem drücken die anderen augenblicklich einen Stempel auf, den halten sie sich ganz automatisch auf Distanz. Womit sich die Chance auf ganz normale Begegnungen verringert.

Aber Nina war ein junges, attraktives Mädchen, das Freundinnen haben, Burschen kennen lernen, Spaß haben wollte. All das kam ihr mit Hund weitaus komplizierter vor als mit ihrem weißen Stock.

Dabei war genau das Gegenteil der Fall. Seit Großvater ihren Widerstand ignoriert hatte und eines Tages mit Haku in der Tür stand, hatte sich ihr Leben zum Besseren verändert. Weil sie mit dem süßen Hund nun weitaus mobiler war. Weil sie sich viel sicherer und schneller von A nach B bewegen konnte. Weil sie mit Haku einen Begleiter hatte, dem sie tatsächlich blind vertrauen konnte.

Ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Das war nach Ninas Einschätzung Hakus hervorstechendste Eigenschaft. Ihr inzwischen nicht mehr ganz so neuer Freund ließ sich weder vom dichtesten Verkehr noch von der belebtesten Fußgängerzone oder der schlimmsten Hektik in einer U-Bahn-Station irritieren. Unbeeindruckt und sicher schlängelte er sich durch jedes Bein- und Füßedickicht, zeigte alle Hindernisse und Bordsteinkanten an, spürte Treppen, Lifte und Türen auf, steuerte Ausgänge, Haltestellen und Parkbänke an und brachte Nina verlässlich über jede Passagio Pedonale.

Ihre vier Kilometer lange verkehrsfreie Hausstrecke, ein ehemaliger Feldweg, der rund um die Fattoria Bertini durch die toskanische Landschaft führte, und den ihr Großvater extra für Nina asphaltieren ließ, war für Haku ein Kinderspiel. Für diese leichte Übung mussten sie keinen jener Sportler engagieren, von denen sich Nina bei ihren Überlandläufen mittels eines von Hand zu Hand gespannten Schnürsenkels begleiten und lenken ließ.

Aber jetzt, beim Überwinden der Cipressi-Steigung, reichte Hakus Führung völlig aus. Hätte Nina ihn sehen können, hätte sie ihn alleine wegen seines entzückenden Aussehens ins Herz geschlossen: helles Fell mit dunklen Flecken, freundlich spitzbübischer Blick, die Schnauze keck nach vorn gereckt oder schnüffelnd dicht am Boden.

Während sich Nina anspornte, auch bergauf ihr Tempo zu halten, bemerkte sie plötzlich eine Veränderung. Nein, keinen Fehltritt, nicht einmal ein kleines Stolpern. Vielmehr ein Rucken, ein kaum spürbares Ziehen nach rechts, das gleich darauf stärker wurde.

Hakus zunehmende Anspannung war über den Führbügel zu spüren. Vielleicht flogen Vögel hoch, womöglich flüchtete eine Katze in die Äste eines Baumes oder ein Marder duckte sich ins Gras. Natürlich konnten es auch Menschen sein, gute Bekannte oder Fremde, die Haku hier schon oft oder eben noch nie gesehen hatte. Aber Nina vermochte neben ihrem heftigem Atmen und dem Aufschlagen ihrer Schuhe nichts Außergewöhnliches zu vernehmen. Keine Stimmen, kein Lachen, nichts. Ihrer Einschätzung nach waren sie beide ganz allein.

Oder auch nicht. Denn jetzt schien das Neue, Ungewöhnliche, Befremdliche auch Hakus Beschützer­instinkt zu wecken. Plötzlich wurde er langsamer, hielt sogar inne und stieß ein leises Knurren aus. Ein klares, unmissverständliches Zeichen: Haku witterte Gefahr.

Auch Nina machte keuchend halt, trabte am Stand.

„He, Haku, was ist los? Ist da jemand? Siehst du etwas?“

In Momenten wie diesen verfluchte Nina die völlige Abwesenheit ihres Augenlichts. Wer nicht weiß, was ihn erwartet, hat keine Ahnung, wie er am besten darauf reagieren soll. Sich ducken, ins Gras werfen, verstecken, losrennen, brüllen oder mit dem Handy Hilfe herbeirufen? War irgendeine dieser Reaktionen jetzt überhaupt angebracht?

Hätte ihr Haku doch nur irgendwie erklären können, was ihn derart alarmierte. Hätte ihr diese Kulisse aus verschiedensten Geräuschen doch nur einen Hinweis darauf gegeben, was ihr Hund sah und sie eben nicht. Akustisch deutete nach wie vor absolut nichts auf etwas Besonderes hin. Da war nur dieses Duett aus warnendem Knurren und dem Sirren von Zikaden, untermalt vom leisen Rauschen eines sanften, warmen Windes.

Der Knall kam plötzlich. Wie aus dem Nichts. Trocken, mit kleinen Echowellen. Haku jaulte auf, wehklagend, schmerzvoll und erbärmlich.

Nina zuckte zusammen, als hätte der Schuss nicht Haku, sondern sie selbst getroffen. Sie sank auf die Knie, griff mit den Händen zuerst in Leere, konnte Hakus Wimmern kaum ertragen, spürte endlich sein weiches Fell, seine Schnauze, seine Ohren, und dann, an der Seite gleich hinter dem rechten Vorderlauf, die warme, klebrige Flüssigkeit. Blut, dachte sie noch, als sie hochgerissen wurde. Ihr eine Hand brutal den Mund verschloss. Und dann wurde sie, wild um sich strampelnd, davongezerrt. Fort von Haku, dessen hilfloses Winseln schwächer und schwächer wurde.

2

Es muss nicht immer so schnell gehen, wie die anderen es haben wollen. Ein Wunsch, ein Anliegen oder auch eine Anweisung braucht nicht sofort erledigt zu werden. Um die Überbringer der Botschaft dennoch zufriedenzustellen, kann es nicht schaden, eine gewisse Geschäftigkeit an den Tag zu legen und dabei einigermaßen entspannt zu bleiben.

Diese Balance zwischen umtriebigem Außenverhältnis bei gleichzeitig gemächlichem Innenverhältnis war für Saalmeisterin Tanja Lindinger das wichtigste Handwerkszeug, um in einer Irrenanstalt wie dem Linzer Konzerthaus mit heiler Haut davonzukommen.

Ihrer Meinung nach war ihr unmittelbarer Chef, der Leiter des Facility-Managements, ein versteckter ADHSler. Wirklich! Der Wahnsinnige stand ständig unter Strom und verlangte das auch von seinen Mitarbeitern. Wäre es nach ihm gegangen, hätte Tanja den großen Saal vor einer Stunde im Laufschritt inspizieren müssen. Und das gebrauchte und zerknüllte Papiertaschentuch, das die unfähige Truppe der externen Putzfirma in der achten Stuhlreihe liegen gelassen hatte, hätte sie nach seinem Arbeitsverständnis am besten mit einem Hechtsprung aufgehoben.

Und dann diese Künstler. Lauter Diven, für die jeder kleine Pups gleich eine riesige Katastrophe war. Je nach Tageslaune konnten die aus einer noch so winzigen Mücke im Handumdrehen einen riesigen Elefanten machen und erwarteten dann selbstverständlich, dass sich die ganze Welt ausschließlich damit beschäftigte.

Wie ewig lange die darüber diskutieren konnten, ob die Fermate der Oboen im dritten Satz irgendeiner Wischi-Waschi-Symphonie nicht um einen Hauch zu lange gehalten wurde. Oder ob ein junger Gastdirigent durch sein ungestümes Vorantreiben der jeweiligen Tempi nicht den ursprünglichen Intentionen des Komponisten fahrlässig in den Rücken fiel. Echt unglaublich, über welche Kinkerlitzchen sich die Gedanken machten.

Da hatte es Tanja Lindinger schon mit handfesteren Problemen zu tun. Angefangen bei einem kaputten Notenpult über ein verstopftes Garderobenklo bis zu knarrenden Bühnenelementen landeten so ziemlich alle Störfälle zuerst bei ihr. Sie legte entweder selbst Hand an oder leitete die Fragestellung an eine entsprechende Fachkraft weiter.

Heute war die Lüftung dran. Weil die Cellistin Clarissa Bianchi beim Fiedeln etwas seltsam Kühles auf ihrer linken Schulter spürte. So exzellent sie ihr Cello beherrschte, so penetrant konnte die gute Dame auf Tanjas Nerven sägen. Das eine Mal fühlte sie sich vom Licht eines Scheinwerfers um die Spur zu sehr geblendet, das andere Mal klagte sie über ein beeinträchtigtes Sitzgefühl und verlangte unverzüglich einen neuen Stuhl, und heute spürte sich ihre linke Schulter um einiges luftiger als gestern an, was ihrer Meinung nach nur an der Zugluft liegen konnte.

Tanjas Erklärung, dass die Lüftung des gesamten Hauses und somit auch des großen Konzertsaals digital gesteuert wurde und dass die heutige Temperatur exakt der gestrigen und der vorgestrigen entsprach, wies die Bianchi harsch zurück. Wenn sie einen persönlichen, subjektiven Eindruck schilderte, musste ihr nicht irgendein Hausmeistertrampel mit irgendwelchen Zahlen kommen! Als ob die noch so hoch entwickelte Elektronik eines Computers das Feingefühl einer Künstlerin ersetzen könnte.

Auf so eine beschissene Antwort hätte Tanja in jüngeren Jahren noch sehr heftig reagiert. Wahrscheinlich hätte sie der Bianchi das Cello aus der Hand gerissen, es auf den Boden gedroschen und so lange darauf eingetreten, bis es nur noch als Brennholz taugte. Oder sie hätte dieser Cellistin mit solcher Wucht eine gescheuert, dass sich die nie wieder im Leben über Zugluft beschwert hätte. Im besten Fall hätte sie das arrogante Weib angebrüllt und wüst beschimpft, wäre dann ohne jede Erklärung zur Tür hinaus und hätte sich mit einem Schuss Heroin wieder halbwegs eingekriegt.

Leider waren das alles Strategien, die für Tanja zu keinem glücklichen Ergebnis führten. Zum Beispiel, als sie knapp vor der Matura den Mathematikprofessor ein verficktes Arschloch nannte und deshalb von der Schule flog. Oder als sie sich beim Trampen in Südfrankreich mit einem notgeilen Polizisten anlegte und deswegen zwei Monate in einer französischen Zelle saß.

Der Knopf ging ihr erst auf, als ihre Eltern wieder einmal Tanjas Zimmer durchsuchten und dort schon wieder Drogen fanden. Da zuckte Tanja so richtig aus. Angefeuert von einer tüchtigen Portion Crystal Meth lieferte sie sich einen knallharten Fight mit ihrer Mutter und bedrohte ihren Vater mit einem Küchenmesser.

Daraufhin landete sie nicht nur in der geschlossenen Abteilung des hiesigen psychiatrischen Krankenhauses, sondern auch fett und prominent auf den regionalen Zeitungs-Titelseiten und in den Fernsehnachrichten. Inklusive Namensnennung und den Fotos ihrer Eltern.

Als sie diesen Wahnsinn realisierte, war sie so geschockt, dass sie beschloss, sich niemals wieder so sehr über sich selbst zu schämen. Mit einem Glücksfall von Psychotherapeutin arbeitete sie hart am Zähmen ihrer Aggressionen.

Die Therapeutin empfahl ihr außerdem, anstelle der Drogen mit dem Klettern anzufangen, weil dieser Sport nur mit bestmöglicher Selbstbeherrschung funktioniert. Wenn man an einer Wand mit Schwierigkeitsgrad 6 nicht mehr weiterweiß, macht ein Wut- oder Verzweiflungsanfall nicht den geringsten Sinn. Da gilt es, das Problem als Herausforderung zu betrachten, es von mehreren Seiten zu beleuchten, kühlen Kopf zu bewahren, nachzudenken, zu entscheiden und dann den nächsten Schritt zu setzen.

Tanja folgte diesem Rat, schrieb sich in einen Verein ein, trainierte zweimal die Woche in der Halle, bezwang immer schwierigere Wände und damit auch sich selbst, schloss ihre Therapie ab, absolvierte eine Lehre zur Elektrotechnikerin und schaffte es schließlich mit Hilfe ihrer Eltern, als technische Assistentin im Konzerthaus anzuheuern.

Die Arbeit machte ihr vorwiegend Spaß, ihre Aufgaben erledigte sie im Großen und Ganzen tadellos. Allerdings gab es eben auch ihren Chef. Und dieses Arschloch triggerte ihre alten Wutpotentiale dermaßen an, dass sie sehr schnell an ihre Grenze kam. Kein Wunder, dass sie in diesen Fällen hin und wieder zu ihren bewährten Methoden griff und sich zwischendurch einen Joint vergönnte.

Wenn der Chef ihr so richtig saublöd kam, atmete sie durch, verzog sich bei nächster Gelegenheit aufs Klo und drehte sich einen flotten Ofen. Das ging zwar ins Geld, half ihr aber, die Balance zu halten.

Genau so hatte Tanja heute auch das Zugluftproblem der Clarissa Bianchi gemanagt. Sie schluckte ihren Zorn hinunter, flüchtete in eine Kabine des Damenklos, sperrte ab, setzte sich auf den Klodeckel, zog sich das Gras möglichst tief in ihre Lunge, ließ sich dafür extra Zeit, verschwendete keine Sekunde mit der Lüftung, kehrte zurück auf die Bühne, entschuldigte sich hochoffiziell bei der Bianchi und erklärte ihr, dass sie völlig Recht gehabt hatte, weil die Lüftung tatsächlich anders als gestern eingestellt gewesen war. Aber sie hätte das jetzt wieder korrigiert, und eigentlich sollte keine kühle Zugluft mehr zu spüren sein.

Worauf Clarissa Bianchi von einer Welle aus Genugtuung und Erleichterung erfasst wurde, die in der Bemerkung gipfelte, dass es nun eindeutig besser als vorher sei und dass Tanja solche Angelegenheiten in Zukunft hoffentlich ohne Widerspruch in Angriff nehmen ­würde.

Na eben! Du musst Künstlern nur vermitteln, dass ihr aktuelles Problem auf deiner Prioritätenliste an oberster Stelle steht, dann kehrt sofort Friede ein, dachte sich Tanja, als sie den Gang mit den Garderoben entlangschritt.

Gerade vorhin hatte man hier noch den einen oder anderen Flöten- oder Geigenton gehört, aber jetzt war es ruhig, weil alle zum letzten Einspielen in den Konzertsaal gegangen waren. Nur einer dürfte sich verspätet haben, weil sich über die Lautsprecher auf dem Gang eine gepresst klingende Stimme meldete, die Herrn Holl ganz dringend auf die Bühne bat.

Eigenartig. Als stimmführender Bratschist hatte Holl doch Vorbildfunktion und sollte als einer der Ersten hinter dem Notenpult sitzen. Immerhin war es halb sieben, in 40 Minuten würde Einlass sein, und dann war bis zum Auftritt nur noch eine halbe Stunde Zeit.

Außerdem war Unpünktlichkeit etwas, das die junge Gastdirigentin aus Saarbrücken flippig machte. Wobei sie sich ganz schnell abgewöhnte, einzelne Musiker oder gar das ganze Orchester dafür schulmeisterlich zu schelten.

Den Widerstand, den ein Orchester einer jungen und noch dazu weiblichen Dirigentin entgegenzubringen vermag, darf man keinesfalls unterschätzen. Selbst die berühmtesten Klangkörper können ihre Dirigenten bei zu autoritärem Gehabe jämmerlich verhungern lassen. Die junge Saarbrückerin kratzte nach erheblichen Anfangsschwierigkeiten gerade noch rechtzeitig die Kurve und passte sich den Gepflogenheiten des Linzer Kammerorchesters beinahe etwas zu ergeben an. Aber wer den Taktstock schwingen will, muss sich dafür erst einmal die Erlaubnis und das Mandat erwerben.

Schwer vorstellbar, dass sich Holl tatsächlich noch in seiner kleinen Einzelgarderobe am Ende des Ganges befand. Hierher zog er sich gern zurück, um sich optimal einzustimmen.

Tanja klopfte an die Tür, horchte, klopfte noch einmal, drückte dann die Klinke hinunter und trat vorsichtig ein. Noch nicht über der Schwelle, blieb sie wie angewurzelt stehen. So etwas wie hier hatte sie schon öfter gesehen. In Fernseh- oder Kinofilmen.

Nur jetzt, im realen Leben, führte der Anblick des stimmführenden Bratschisten dazu, dass sie ein noch nie gekanntes Grauen überfiel.

3

Schwarzrote Färbung. Fest und prall. Glatte Haut.

Giuseppe Bertini pflückte eine Beere von der Traube und schob sie in seinen Mund. Schmeckte noch etwas sauer, zugleich voluminös und vielversprechend. Hinterließ am Gaumen die Kraft eines selten heißen Sommers.

Maledetto! Scheiß Zahnlücke! Da verfängt sich wieder alles. Alterserscheinung. Ohne Zahnseide ging gar nichts mehr. Aber Hauptsache, der Sangiovese wurde perfekt.

Giuseppe fischte mit dem Zeigefinger den größeren Teil der Schalenreste aus seinem Mund und schritt weiter die Rebzeile entlang. Wenn das Wetter mitspielte, konnte sein Wein endlich jene Qualität erreichen, mit der er als Quereinsteiger auch alteingesessenen Winzern Paroli bieten würde.

Dabei hatte er mit seinem „Bertini Reserva“ bei regionalen Wettbewerben bereits mehrere Auszeichnungen eingeheimst. Zum ersten Mal exakt zweiundzwanzig Monate, nachdem er mit fünfundsechzig Jahren das Weingut in einem beinahe verwahrlosten Zustand gekauft und übernommen hatte. Noch vor der Renovierung des Hauses widmete er sich der Pflege und Kultivierung der Weingärten, die sich über zwölf Hektar erstreckten. Wie in seinem früheren Beruf strebte der noch immer drahtige Giuseppe auch im Ruhestand nach höchster Qualität und absoluter Perfektion.

Auch wenn er sich mit seinen Weinen an Wettbewerben beteiligte, zog es ihn nicht ins Rampenlicht. Ganz im Gegenteil. Er bevorzugte den Hintergrund. Ein solides und nettes Plätzchen in einer Seitengasse war ihm weitaus lieber als der Rummel einer belebten Einkaufsstraße. Seit jeher gehörte er zu jenen Künstlern, die den Applaus des Publikums als angenehmen, aber nicht notwendigen Effekt betrachteten. Weil sie ihren Selbstwert fast ausschließlich aus der Vollkommenheit des von ihnen geschaffenen Produkts bezogen.

Im Falle des Weins ging es um das brillante Zusammenspiel zwischen mediterranem Klima, feuchter Meeresluft und einer trockengelegten Sumpflandschaft mit kalkhaltigen Böden. Und um das unverwechselbare Aroma der Beeren und eine möglichst körperreiche, kernige Textur. Giuseppes charakterlichen Eigenschaften kam es sehr entgegen, dass am Ende einer intensiven Reise von der Traube bis zum ausgereiften Destillat nicht er selbst im Mittelpunkt stand, sondern sein tiefroter, ausgewogener, gehaltvoller Sangiovese.

Der Winzer blieb stehen und zog seine Hose hoch, die ihm beinahe über die Hüften rutschte. Nina ermahnte ihn immer wieder, doch bitte mehr zu essen, aber solange sich ihr Großvater jeden Tag draußen aufhielt, durch die Weingärten streifte und nach wie vor selbst Hand anlegte, nahm er kein einziges Gramm zu.

Seine magere und zugleich zähe Statur hatte auch keine Fettpolster angelegt, als er noch seine kleine Druckerei am Stadtrand von Florenz betrieb. Unscheinbares Stadthaus. Hinterhof. Dabei bewegte er sich dort höchstens zwischen den Regalen mit den unzähligen Farbtiegeln und der Offsetdruckmaschine hin und her. Das aufwändige Reproduzieren edler Kunstdrucke und das Herstellen möglichst origineller Visitenkarten verlangte weniger nach körperlichem Einsatz als nach erstklassigem Handwerk, klugem Köpfchen und enormer Kreativität.

Darüber hinaus stellte Bertini auch Produkte her, die ein noch höheres Maß an professioneller Qualität verlangten. Damit waren nicht die Werbeprospekte gemeint, die er für bestimmte Firmen und ihre Produkte druckte. Dafür reichten die üblichen Fachkenntnisse über die Arbeitsschritte am neu erworbenen, hochqualitativen Scanner und der Fotosatzmaschine völlig aus. Ging es jedoch ums Anfertigen eines Kunstkalenders oder die möglichst originalgetreue Wiedergabe eines Ölgemäldes, verlangte das hochgradiges Fingerspitzengefühl und einen versierten, äußerst präzisen Umgang mit den jeweiligen Farben.

Der Kunstdruck war schon immer Giuseppes Leidenschaft gewesen. Nur konnte er sich die mit dem allgemeinen Niedergang des grafischen Gewerbes nicht mehr leisten. Computer und Digitalisierung hatten aus jedem halbwegs cleveren Staatsbürger kleine Schriftsetzer gemacht. Für unzählige Drucksorten lieferten die verschiedenen Textverarbeitungsprogramme durchaus brauchbare Vorlagen. Der Weg zum Spezialisten erschien vielen also nicht mehr nötig, womit sich die Auftragslage dramatisch verschlechterte. Mit dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 gingen etliche Betriebe einfach sang- und klanglos unter.

Nicht so die „Stampa Bertini“. Ihr Betreiber schien sogar über einige Rücklagen zu verfügen, weil er hundert Kilometer südlich von Florenz ein Weingut erwerben, seine wichtigsten Maschinen dorthin übersiedeln und sich nur mehr ausgesuchten Aufträgen und dem Weinbau widmen konnte.

Fragte ihn jemand, wie er das trotz der misslichen Wirtschaftslage deichselte, gab er jene Antwort, die er auch Nina gegenüber gern gebrauchte: „Der Giuseppe hat eben ein glückliches Händchen fürs Geld gehabt.“ Das entsprach zwar nicht der ganzen, aber immerhin der halben Wahrheit. Hin und wieder erwähnte er auch eine Art Alleinstellungsmerkmal in Marktnischen, in denen ihm fachlich kaum jemand das Wasser reichen konnte.

Um welche Nischen es sich handelte, konnte ihm Nina bislang nicht entlocken. Inzwischen spielte das aber keine Rolle mehr, weil Giuseppe diese Geschäfte nur mehr fallweise betrieben und vor wenigen Monaten vollkommen eingestellt hatte. Sehr zum Leidwesen seiner Auftraggeber, die ihn förmlich beknieten, die Zusammenarbeit fortzusetzen.

Aber das wollte Giuseppe schon wegen Nina nicht. Wer es so lange geschafft hatte, seine nicht ganz legalen Geschäfte im Verborgenen zu halten, sollte nicht mit dem Feuer spielen. Und er wollte seiner Enkelin die Erkenntnis ersparen, dass sich ihr Großvater, um sich, seine Familie und seinen Betrieb zu retten, mit äußerst zweifelhaften Personen eingelassen hatte.

Die junge und wissbegierige Frau würde nach dem ersten Schock sicher von ihm wissen wollen, ob es das wirklich wert gewesen war. Könnte sein, dass sie sein eindeutiges Ja enttäuschen würde. Womöglich würde sie dann an seiner Lauterkeit zweifeln. An seiner Fähigkeit, über zurückliegende Schurkenstücke nachzudenken und mit sich selbst darüber ins Gericht zu gehen. Nur müsste er sie dann an den fatalen Autounfall ihrer Eltern erinnern, der ihren Vater ins Grab und ihre Mutter in ein betreutes Wohnheim für Schwerstbehinderte befördert hatte.

Worauf der verwitwete Giuseppe, noch mit Krediten belastet, die Verantwortung für die damals zwölfjährige, von Geburt an blinde Nina übernommen hatte. In dieser Situation musste es ihm als Glücksfall erscheinen, dass ihn ein gewisser Federico aus Neapel aufsuchte und ihm erzählte, dass sich Giuseppes gekonnter Umgang mit Prägestempeln und Gravuren bis in den äußersten Süden von Italien durchgesprochen hatte. Wie es der Zufall wollte, suchte Federicos unternehmerisch tätige Familie ausgerechnet in diesen Belangen nach einem absolut vertrauenswürdigen Spezialisten. Für die Herstellung eines einzigartigen, weltweit vermarktbaren Produktes.

Als Giuseppe hörte, um welches Produkt es sich dabei handelte, sicherte er einerseits hundertprozentige Verschwiegenheit zu und bat sich andererseits drei Tage Bedenkzeit aus. Dann überflog er seine wirtschaftliche und finanzielle Situation, wägte die wahrscheinlichen Vor-und Nachteile einer Zusammenarbeit ab und sagte am Ende des dritten Tages zu.

Nach fünf Jahren intensiven und ausgesprochen erfolgreichen Kooperierens trat insofern eine Trübung ein, als Bertini seinen süditalienischen Auftraggebern mitteilte, dass er seine Tätigkeit in Kürze beenden würde. Federico fiel aus allen Wolken, aber Giuseppes Plan stand fest. Er hatte so viel Geld verdient, dass es für ihn und Nina, neben dem Erwerb einer Fattoria, eine ganze Zeit lang reichen würde. Und er hatte nicht vor, seine noch sehr junge Verbrecherkarriere bis an sein Lebensende auszudehnen. Federicos Enttäuschung sowie sein Zorn waren ihm verständlich, brachten ihn aber von seinem Vorhaben nicht auch nur einen ­Millimeter ab.

Mit dem ihm zur Verfügung stehenden Geld hätte sich Giovanni drei Weingüter kaufen können. Und noch ein paar Weingärten dazu. Aber er wollte sich in seinem wohlverdienten Ruhestand nicht mit der Betreuung von unnötigem Besitz belasten. Konsequent und bestimmt hielt er den vehementen und in den letzten Wochen wieder häufiger gewordenen Aufforderungen von Federico stand, doch endlich wieder einzusteigen. Weil Giuseppes Know-how zwingend vonnöten war.

Aber der Alte blieb auch stur, als ihm Federico unmissverständlich drohte, sein Weingut anzuzünden, seine Gärten zu vernichten und ihn vollkommen zu ruinieren. In jüngeren Jahren hätte ihm das vermutlich Angst gemacht. Aber jetzt, am Ende seiner Sechziger, sah er das sehr gelassen. Noch dazu, wo er über Federico und dessen Familie wirklich jede Menge wusste. Er hatte gegen sie ganz einfach zu viel in der Hand. Nein, fürchten musste er sich nicht vor ihnen.

Ein gravierender Irrtum. Aber das begriff Giuseppe erst, als er sich dem eisernen Tor bei der Einfahrt seiner Fattoria näherte und plötzlich sah, dass da etwas lag. Mitten auf Ninas Laufstrecke.

Verfluchte Kurzsichtigkeit! Seine Schritte wurden schneller, bis er schwer atmend vor dem leblosen Fellbündel stand, ein kehliges Wimmern ausstieß, sich kraftlos nach unten beugte und versuchte, in Hakus Brusthöhe dessen Herzschlag zu ertasten.

Dabei hätte er beinahe den zusammengerollten, funkelnagelneuen 50-Euro-Schein übersehen, der mit einem Bindfaden an Hakus Halsband befestigt war.

4

Karolines Idee, das Cellokonzert zusammen mit den Kaminskis zu besuchen, erschien Hauptkommissar Robert Worschädl anfangs durchaus sympathisch. Die Kaminskis waren zwar etwas anhängliche, aber insgesamt sehr nette Nachbarn, mit denen man genauso leidenschaftlich diskutieren wie auch entspannt plaudern konnte.

Man durfte also mit einem anregenden Abend rechnen, hätte sich die gute Frau Kaminski nicht wenige Tage vor dem Ereignis von ihrem Mann gewünscht, dabei seinen neuen Smoking auszuführen, worüber sie auch Karoline informierte. Worauf Karoline den seltsamen Einfall hatte, dem Mann an ihrer Seite ebenfalls ganz dringend das Tragen eines Smokings zu empfehlen.

Dieses Ansinnen wehrte Worschädl vorerst ab, weil es ihm absurd vorkam, sich für einen einzigen Konzertabend eine völlig neue Garderobe zuzulegen. Von der daraus resultierenden Schieflage des Ehelebens befreite ihn seine Kollegin Sabine Schinagl, indem sie ihn auf einen Kostümverleih hinwies, bei dem man auch Abendkleidung buchen konnte.

Tatsächlich wurde Worschädl dort von einer geduldigen Beraterin von den Manschetten bis zur Fliege mit einem kompletten Smoking ausgestattet. Inklusive einem sogenannten Kummerbund, den Karoline als ausgesprochen attraktiv empfand, was Worschädl nicht begreifen wollte.

„Wenn du dich als Psychotherapeutin Woche für Woche mit deinen Klienten triffst und mit ihnen einen Weg aus ihren Problemen suchst, geht es doch um Heilung und nicht um Verkümmerung.“

„Bertl, kann es sein, dass du mir damit etwas Bestimmtes sagen willst?“

„Und dann gibt es neben den diversen persönlichen Komplikationen ja auch noch den ganzen Wahnsinn, der uns ununterbrochen aus den Medien entgegenbrüllt.“

„Robert, worauf willst du hinaus?!“

„Krieg, Flucht, Hunger, Staudammbruch, Verfolgung, Atomraketen, Wirtschaftskrise, Klimawandel!“

„Robert Worschädl, bitte bring es auf den Punkt!“

„Ich frage mich, welchen Sinn es macht, sich den Kummer auch noch um den Bauch zu wickeln und mit sich herumzutragen. Wäre doch nicht verwunderlich, dass einen dieses depressive Gewicht vollends in den psychischen Abgrund zieht.“

Karoline reagierte mit diesem für sie typischen Schmunzeln. Einerseits tolerant, weil sie großzügig über Worschädls Unwissenheit bezüglich der historischen Herkunft der schmalen Bauchbinde hinwegsah, andererseits mit sich zufrieden, weil sie genauer und besser Bescheid wusste als er.

„Entschuldige, aber mit Kummer hat der Kummerbund leider gar nichts zu tun.“

„Sondern?“

„Mit britischen Soldaten, denen während der Kolonialzeit die Weste unter dem Jackett zu heiß war. Deshalb griffen sie zur Bauchbinde der Inder, dem sogenannten Kamarband. Die Engländer machten daraus dann das Cummerband …“

„… und daraus wurde im Deutschen der Kummerbund?“

„Und das ganz ohne den uns bekannten Kummer.“

„Also gut, du hast gewonnen, Karoline.“

Damit hatte Worschädl sein letztes Argument gegen das Tragen des Kummerbunds verspielt.

Als sie jedoch an jenem Frühsommerabend bei milden Temperaturen vor dem Konzerthaus aus dem Taxi stiegen, Karoline mit hochgesteckten Haaren, in einem weich fallenden, dunkelblauen Kleid, gewagten Stilettos und einer Halskette aus Haitiperlen, und Worschädl in einem perfekt sitzenden Smoking inklusive Kummerbund, und als sich in den riesigen Glasfenstern die rotierenden Blaulichter von drei Polizeiwagen und zwei Krankenwagen spiegelten, ahnte der Hauptkommissar, dass ihn anstelle eines erbaulichen Cellokonzerts womöglich doch erheblicher Kummer erwartete.

Diese Vorahnung nahm Form an, als ein etwa 165 Zentimeter großer beziehungsweise kleiner Mann, den Worschädl beim Näherkommen als Stadtrat Raimund Sedlak identifizierte, auf ihn zuwieselte und fragte, ob er nicht dieser renitente Kommissar sei, der erst kürzlich diesen Wettskandal rund um den Fußballclub FC Donau aufgeklärt hatte. Falls Ja, werde unverzüglich sein Typ verlangt, und zwar in einer der Künstlergarderoben.

In einer ersten Reaktion ärgerte sich Karoline über den arroganten Ton, den der politische Rechtsausleger Sedlak an den Tag legte. Sein politisches Amt hatte dieser Emporkömmling keinesfalls seinen besonderen persönlichen Fähigkeiten zu verdanken. Das Mitglied einer schlagenden Burschenschaft wurde bei den letzten Wahlen nur von der Welle frustrierter Protestwähler nach oben gespült. Seither riss Sedlak bei jeder Gelegenheit seine unsoziale Klappe auf und war jetzt auch noch drauf und dran, ihr den Abend zu verderben.

„Es darf nicht zu lange dauern. Wir gehen ins Konzert“, stellte sie klar.

„Sie meinen das Cellokonzert? Genau dorthin wollte ich auch“, antwortete Sedlak bemüht charmant. „Aber ehrlich gesagt bin ich auf Grund der aktuellen Umstände der Meinung, dass wir das vergessen können.“

„Jetzt sagen Sie nicht, dass es einen Toten gibt“, meldete sich Worschädl zu Wort.

„Sieht leider ganz so aus.“

„Na toll“, meinte Karoline und wandte sich an die Kaminskis. „Immer dasselbe. Da freut man sich auf Antonín Dvořák in h-Moll, aber wenn man mit dem Bertl hingeht, muss man mit einer Leiche rechnen.“

5

Etwa drei Stunden davor konnte der 46-jährige, bierbauchige Edi Seipel noch nicht ahnen, dass er seine äußerst starre, von Berufs wegen eingeengte Position in Kürze auf Grund unvorhersehbarer widriger Umstände sehr hastig verändern würde. Aber diese Aussicht hätte ihn genauso wie seine gegenwärtige weder beunruhigt noch aus dem Gleichgewicht gebracht.

Denn Edi Seipel war ein Spezialist für das gelassene Bewältigen gleichzeitig auftretender, unterschiedlicher oder sogar gegensätzlicher Gemütszustände. Wäre er redselig gewesen, hätte er ganze Vorträge darüber halten können, dass man sich unglaublich frei und zugleich hoffnungslos gefangen fühlen kann. Einerseits tief verbunden mit der Welt, andererseits einsam und verloren.

Nun stand dem Edi Seipel aber kein differenzierter Sprachschatz zu seinen emotionalen Befindlichkeiten zur Verfügung. Wenn also seine Frau am Abend fragte, wie der Tag heute gewesen sei, beschrieb er diese von ihm erlebten Ambivalenzen mit Antworten wie „eh nicht so schlecht“, „gut und beschissen, je nachdem“ oder „hat schon gepasst … und dann halt wieder einmal nicht.“

Aber weil die Rosi Seipel ihren Mann doch etwas besser kannte, spürte sie ganz genau, dass die sieben, acht oder manchmal sogar neun Stunden ganz allein in zwanzig bis fünfzig Metern Höhe allmählich an seinen Kräften zehrten. Schade war nur, dass er nicht darüber reden wollte. Dass sich das Wortkarge seiner Tätigkeit auch in den Abend hinein fortsetzte. Beim gemeinsamen Essen. Oder wenn sie vor dem Fernseher saßen und einen Film anschauten, dessen Ende Rosi kaum mitbekam, weil die Schauspieler wegen Edis Schnarchens nur schwer zu verstehen waren.

Aber wer dem Edi Seipel unterstellt hätte, dass er seinen Job nicht mochte, wäre völlig falsch gelegen. Ganz im Gegenteil. Prinzipiell passte ihm seine Tätigkeit. Aber dann eben auch wieder nicht.

Das hing zum Beispiel vom Wetter ab. Und dem war er ja auf eine ganz eigene Weise wirklich tagtäglich ausgesetzt. Erst gestern hatte es Windböen gegeben, bei denen selbst einem geübten Kranführer wie ihm ein wenig mulmig wurde.

Als er dabei das Schwingen des mächtigen Stahlgerüstes spürte, erinnerte er sich da oben, hoch über seiner kleinen Welt mit dem Bahnhofsgelände, dem Wissensturm und dem Volksgarten, ganz automatisch an den riesigen Baukran, der vor nicht allzu langer Zeit in Lower Manhattan in New York – vermutlich wegen des starken Windes – umgestürzt war und dabei einen Mann in seinem Auto erschlagen hatte.

Auch der 55 Meter hohe Turmkran fiel ihm ein, der Jahre zuvor in Wien beim Umbau der Zentralfeuerwache von starken Sturmböen zuerst ins Wanken und schließlich zu Sturz gebracht wurde und ins Dachgeschoss eines benachbarten Hauses krachte.

Heute hingegen war der Tag vom Aufstieg am Morgen bis in den späten Nachmittag hinein sonnig und klar gewesen. Als besonderen Höhepunkt hatte er aus einem Fenster im obersten Stock jenes Wohnhauses, das gerade zur Renovierung anstand, beeindruckende Geigenmusik vernommen. Überhaupt nicht sein Geschmack. Und immer dieselbe Stelle. Aber so virtuos, dass es selbst Edi Seipel, einem glühenden Anhänger leicht bekömmlicher Schlagermusik, gefallen musste.

Da spielt also eine echte Himmelsgeige für mich auf, sagte sich Edi und stellte gleichzeitig fest, dass er dem lieben Gott rein örtlich fast immer näher als die meisten anderen Menschen war. Ein zufriedenstellender Gedanke. Sah so aus, als würde er heute einen durch und durch erfreulichen Tag ohne beunruhigende Ereignisse erleben.

Dabei bedachte er allerdings nicht, dass er noch an die riesige Komfortkabine gewöhnt war, in der er bis vor zwei Tagen auf einem 40 Meter hohen Kran in Steyr gearbeitet hatte. Dieses exklusive Führerhaus verfügte über ein Trocken-WC, weshalb zum Verrichten der Notdurft kein Abstieg vonnöten war. Ein Umstand, der Edi Seipel in Steyr von dem Stress befreite, sich die Einnahme von Flüssigkeit diszipliniert einzuteilen.

Nun saß er aber in einer weitaus kleineren Kabine, in der gerade einmal Platz für den luftgefederten Sitz und die Steuerinstrumente war. Und eigentlich hätte er wissen müssen, dass er beim ersten Anzeichen eines gewissen Drangs auch die nötige Zeit für den Abstieg mitberechnen musste. Aber sein Denk- und Zeitsystem war noch zu sehr auf die Komfortkabine samt den damit verbundenen, rasch erreichbaren Möglichkeiten programmiert.

So kam es, dass er etwa 45 Minuten vor Dienstschluss, obwohl ihm sein Körper zu diesem Zeitpunkt schon eindeutige Signale sandte, den Kreuzhebel auf seinem Steuerfeld gelassen nach links drückte, den Ausleger ausfuhr und damit die Ladefläche eines Lastwagens anpeilte, um von dort eine nächste Palette mit Rigipsplatten zur Abladestelle an der Hausfassade zu transportieren. Gut, in der Bauchgegend war da ein Ziehen, aber groß beeilen musste man sich deshalb noch lange nicht.

Bis die Ketten und Gurte an den Paletten befestigt waren, vergingen weitere 12 Minuten. Zeit genug, um den Druck bei Edi doch sehr deutlich zu erhöhen. Vielleicht eine Magenverstimmung. Jedenfalls etwas Dringendes, sagte sich Edi Seipel und begriff in jenem Moment, in dem er den Ladevorgang fortsetzen wollte, dass ihm die Steyrer Annehmlichkeiten heute erst ganz unten, nach einem längeren Abstieg, zur Verfügung stehen würden.

Leichte Panik, Schweißausbruch. Himmel, Arsch und Wolkenbruch! Nun musste alles, aber hallo, sehr viel rasanter vonstattengehen! Flott mit den Paletten zur Fassade. Und dann abladen, ausschalten und unverzüglich ab nach unten.

Um eventuelle Befürchtungen zu zerstreuen: Edi Seipel brachte alles noch rechtzeitig unter Dach und Fach. Hätte er im beinahe halsbrecherischen Hinuntersteigen nur einmal kurz nach oben geblickt, hätte er jedoch bemerkt, dass ihm auf Grund der Eile ein kleines Missgeschick passiert war. Eine normalerweise unbedeutende, nicht zum Tragen kommende Nachlässigkeit. Aber es ist ja allgemein bekannt, dass sich selbst eine Nichtigkeit zu einem veritablen Problem entwickeln kann.

6

Worschädl stellte sich der uniformierten Polizistin vor, die mit zwei Sanitätern vor der Garderobe stand. Etwas abseits wischte sich jene Reinigungsdame, die eigentlich die Papierhandtücher nachfüllen wollte und dabei den Toten entdeckt hatte, ein paar Tränen aus dem Gesicht.

Stadtrat Sedlak stieg wie ein aufgeregter Gockel von einem Bein aufs andere und wollte mit Worschädl die Garderobe betreten, wurde aber von der Beamtin mit der Erklärung daran gehindert, dass dadurch wertvolle Hinweise vernichtet werden könnten. Ja, das gelte selbst für einen Stadtrat für Finanzen.

Als Sedlak mit hörbar gestiegenem Blutdruck lautstark nach der Dienstnummer und dem Namen der Polizistin verlangte, griff Worschädl ordnend ein.

„Keine Sorge, Frau Kollegin, das ist nur ein Test. Der Herr Stadtrat will überprüfen, ob Sie sich an die gesetzlichen Vorschriften halten oder vor ihm in die Knie gehen. Aber Sie haben vorbildlich bestanden, wir gratulieren! Wenn Sie jetzt auch noch meine Kollegin Sabine Schinagl verständigen, sind Sie fast reif für eine Beförderung“, schloss Worschädl mit einem Lächeln ab, schüttelte der Polizistin die Hand, nickte dem verdatterten Sedlak zu und betrat ohne ihn die Garderobe.

Die Szenerie, die sich ihm in den drei beleuchteten Spiegeln über einem langen Schminktisch darbot, wirkte beinahe friedlich und entspannt: Der stimmführende Bratschist Markus Holl saß auf einem karminrot tapezierten Stuhl und wirkte mit seinen weit von sich gestreckten Beinen wie jemand, der sich ein kleines Nickerchen vergönnte. Allerdings war sein Kopf mit dem bereits dünnen, aber schulterlangen hellbraunen Haar nach hinten gekippt, als ob er aus den Scharnieren gesprungen wäre und keinen Halt mehr hätte. Holls geöffnete Augen starrten nach oben zur Deckenleuchte, und seine Arme hingen neben den Stuhlbeinen nach unten.

Naive Gemüter hätten sich bei diesem Bild vielleicht noch immer nichts Schlimmes gedacht, aber als Worschädl ein paar Schritte näher trat, bemerkte er die blutige Wunde an Holls Hinterkopf und den auseinanderklaffenden, schmalen Strich quer über seinem Hals. Da war jemand auf Nummer sicher gegangen und hatte den stimmführenden Bratschisten des Linzer Kammerorchesters nicht nur niedergeschlagen, sondern auch noch stranguliert.

„Der kann sich leider nur mehr auf seinen Holzpyjama freuen“, meinte der zwanzigjährige Zivildiener in Sanitätsuniform, der neben dem Toten hockte und sich beim Eintreten von Worschädl erhoben hatte.

Ein schlaksiger, sportlicher, großer Kerl, der seine Betroffenheit mit einer pseudowitzigen Bemerkung überspielen musste. Ist ja gar nicht selten, dass Menschen in den Zynismus flüchten, um Gefühle der Überforderung, Fassungslosigkeit oder Traurigkeit in den Griff zu kriegen.