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Andrej Kurkow

Kartografie der Freiheit

Roman

Aus dem Russischen von Claudia Dathe

Zum Gedenken an den litauischen Dichter
Marcelijus Martinaitis

1. Kapitel. Šeštokai. 20. Dezember 2007

Die Erde ist nicht blind, nicht einmal nachts schließt sie ihre Augen. Mit riesigen Pupillen – den Ozeanen, Meeren und Seen – schaut sie in die Dunkelheit, in den Himmel. Sie sieht alles und reflektiert alles. Ob sie das Gesehene im Gedächtnis behält, weiß allerdings niemand. Und wenn ja, dann wie? Und wo liegt ihr Gedächtnis verborgen? Vielleicht sind diese unbeantworteten Fragen der Grund, warum sich der Mensch häufig für das Auge der Erde hält und versucht, das Gesehene festzuhalten, nachzuerzählen, aufzuzeichnen und in Archiven aufzubewahren. Der Mensch versucht also, die Geschichte der Erde zu schreiben, obwohl er eigentlich nur eine Geschichte schreibt, die er mit seinen Augen gesehen hat.

Der Mensch traut seinen Augen, seinen Ohren, seinem Gedächtnis.

Der menschliche Blick ist das eine, der Blick der Erde – abgrundtief und unendlich – das andere. Schnell kann man sich darin mit den Gedanken und dem Körper verlieren. Millionen von Menschen haben sich darin – in diesen Ozeanen, Meeren und Seen – bereits verloren. Diejenigen, die die Geschichte der Erde festhalten wollten, und die, die das nicht versucht haben.

Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Blick der Erde und dem Blick der Menschen. Die Erde schaut immer nach oben, himmelwärts, der Mensch hingegen schaut um sich herum, ab und an in die Ferne, ab und an in den Himmel, wenn er einen Blick spürt, der von dort kommt. Die Erde schaut immer himmelwärts. Ihr ist alles gleichgültig außer dem, was oben, was über ihr ist. Über ihr ist immer der eine – mal blau, mal schwarz, mal grau. Ab und an Sonne, ab und an Wolken, ab und an ein blinkendes Flugzeuglämpchen oder ein leuchtender, zwischen den Sternen dahingleitender Punkt eines von Menschen ausgesandten, aus glänzendem Metall gefertigten kosmischen Spions mit der pauschalen Bezeichnung Satellit. Die Satelliten sind der einzige Versuch der Menschheit, ihren Blick nach unten, zur Erde zu richten. Die ersten Wissenschaftler haben wahrscheinlich davon geträumt, der Blick der Erde und der Blick des Satelliten würden sich irgendwann kreuzen. Und dass der Satellit die Reaktion der Erde auf diesen Scherz von klugen Menschen fotografisch fixiert. Die ersten Wissenschaftler sind längst tot. Und die nächste Generation hat diesen Wunsch der Väter vergessen oder nie gekannt. Sie wollten mithilfe der Satelliten alle Wege im Wald und alle Schiffe auf den Meeren, vor allem die Kriegsschiffe, entdecken. Und nichts hat sie so sehr an der Beobachtung der Erde gehindert wie die schneeschweren Wolken, die nichts Besseres zu tun hatten, als die Erde mit einem weißen Pelz zu überziehen, damit sie warm überwintern konnte.

Und so konnte der Satellit auch dieses Mal bei seinem Flug über Ostlitauen nichts erkennen. Ja, er hat nicht einmal registriert, wie schön die frischen Flocken auf die seit einem Monat schneebedeckte Erde fielen.

Am 20. Dezember 2007 gegen Mitternacht ließen die Wolken, nachdem sie sich des Schnees entledigt hatten, über dem Wald bei Anykščiai einen blanken Himmel zurück. Sie flogen davon, um Nachschub aufzunehmen. Und der Wald, auf den Zweigen der Fichten und den Kronen der Kiefern mit Neuschnee beladen, verstummte und lauschte. Über den verschneiten Wipfeln der hohen schlanken Kiefern auf dem einzigen Hügel in der Gegend blinkte rot ein Leuchtturm. Aus dem verhangenen Dezemberhimmel heraus antwortete ihm rot blinkend ein Flugzeug. Ein fremdes Flugzeug, das nicht von diesem Boden abgehoben hatte und nicht auf diesem Boden landen würde.

Das Stück Boden, der die Wurzeln des Waldes nährte, war nicht so klein, dass der Platz für eine Landebahn nicht gereicht hätte. Aber auch nicht so groß, dass die Flugzeuge mit eigenen Passagieren ausgelastet wären. Schließlich konnte man nicht jeden Litauer dazu verpflichten, sich einmal im Monat ein Flugticket zu kaufen und irgendwohin zu fliegen. Unmöglich und gefährlich. Wozu auch, wo es doch in Litauen ein Meer, Flüsse und Seen gab, dazu Boote und Schiffe? Und sogar einen hohen Leuchtturm mit einem roten Licht mitten im Wald von Anykščiai und dreihundert Kilometer von der Küste entfernt! Auch eine Eisenbahn gab es und sogar eine Schmalspurbahn, die von Anykščiai nach Panevėžys fuhr. Es war alles da, um sich frei fühlen und mit dieser Freiheit der Hektik entsagen zu können. Freie Menschen hetzen nicht. Deswegen kommen sie auch nie zu spät. Sie hetzen nicht und schauen öfter, wo sie hintreten. Deswegen stolpern sie auch seltener.

Am 20. Dezember 2007 gegen Viertel vor zwölf näherte sich ein alter Mann einer Schranke bei Šeštokai, einem Dorf, das verloren zwischen Kalvarija und Lazdijai im äußersten Zipfel Litauens, weit weg vom Wald von Anykščiai, lag. In einem festen und merkwürdig schaukelnden Gang lief er auf die Schranke zu. Und blieb fünf Schritte davor stehen, mitten auf der Straße, die von der Schranke mit ihrem gestreiften Balken abriegelt wurde.

In dem grün getünchten Häuschen, das linker Hand stand, waren zwei Fenster erleuchtet. Das behagliche, leicht gedämpfte Licht fiel durch die Fenster auf die verschneite Straße. Selbst die gestreifte Schranke glänzte, sie fing den reflektierten Lichtstrahl, der aus dem Fenster zuerst auf den Schnee traf und dann seine gelben Sprenkel rings um das Fenster verteilte.

Die Tür quietschte und öffnete sich. Ein Grenzer ohne Mantel trat zu ihr hin und blickt hoch. Er schaute auf die Glühbirne, die unterm Vordach hing, und streckte beide Hände danach aus. ‚Wahrscheinlich eingefroren‘, dachte er. Er griff mit der Linken nach der Fassung, mit der Rechten nach der Birne und drehte sie vor und zurück. Die Lampe, von den Händen des Grenzers wachgerüttelt, flackerte auf. Sichtlich zufrieden lächelte er, atmete die Frostluft ein und als Dampf wieder aus. Eine halbe Minute lang tat er so, als würde er den Alten, den das plötzliche Licht der aufflackernden Lampe blinzeln und zur Seite blicken ließ, nicht bemerken. Doch dann kam sich der Grenzbeamte komisch vor, er schaute den Fremden an und nickte. Der Alte, der den Grenzer beobachtet hatte, erwiderte das Nicken und holte aus seinem grauen Mantel, dessen Kragen er hochgeschlagen hatte, eine altmodische Taschenuhr hervor und ließ sie aufspringen. Acht vor zwölf.

„Wollen Sie hereinkommen?“, fragte der Grenzer höflich.

„Ja, vielleicht“, antwortete der Alte, rührte sich aber nicht von der Stelle.

„Nun kommen Sie schon“, wiederholte der Beamte. „Wir haben Tee, und was Hochprozentiges findet sich auch noch!“

„Wieso das?“, wunderte sich der Alte. „Laden Sie jeden zu sich ein? Und seit wann wird an der Grenze Alkohol getrunken?“

„Heute schon“, seufzte der Grenzer, „heute dürfen wir das ausnahmsweise.“

Er drückte die Tür weiter auf, ging hinein und drehte sich um. Der Alte stieg die drei Stufen hinauf und zog dabei sein rechtes Bein nach, das er nicht abbiegen konnte und das nicht wie das linke in einem schweren Stiefel steckte, sondern mit einem Gummiabsatz abschloss, der unter einen Holzknöchel genagelt war.

In dem großen Raum der Grenzwacht roch es nach Zimt und Nelken. Auf einer kleinen Elektroplatte stieß ein blauer Emaille-Teekessel Dampfwölkchen aus. Zwischen zwei Töpfen mit alten Aloen stand eine bauchige Flasche Žalgiris auf dem Fensterbrett. Daneben kleine Schnapsgläser. An der Wand über dem Schreibtisch hing ein Porträt des Präsidenten Adamkus.

Der Alte ließ seinen Blick vom Porträt zu den drei Grenzern wandern. Er wackelte mit dem Kopf. „Was ist denn das für ein Grenzposten?“, fragte er erstaunt.

„Wir machen dicht“, antwortete der unbekannte Offizier mit trauriger, tonloser Stimme und hob die Arme, um zu zeigen, dass da nichts mehr zu machen war.

„Sie machen die Grenze dicht?“

„Nein, umgekehrt. Die Grenze wird geöffnet. Und der Kontrollpunkt wird geschlossen“, sagte der zweite Beamte.

„Und wohin werdet ihr versetzt?“

„Hierhin und dahin“, seufzte der Dritte. „Und ich gehe wahrscheinlich rüber, auf die andere Seite.“ Er warf einen wenig erfreuten Blick durchs Fenster.

„Ja, wahrscheinlich gibt es Länder, denen Grenzpersonal fehlt“, sinnierte der Alte nach einer kurzen Pause. „Aber diese Länder sind entweder krank oder groß … Oder beides.“

2. Kapitel. Das Gehöft Pienagalys. Bei Anykščiai

Großvater Jonas kam mit zwei Eimern, die mit samtweichem frischem Schnee gefüllt waren, ins Haus und blieb auf dem Gummiabtreter stehen.

Das Licht der Flurlampe spiegelte sich in den Pfützen, die sich um die locker an der Wand aufgereihten Halbschuhe und Stiefel gebildet hatten. Aus einem Paar brauner Männerschuhe ragten die froststeifen Schnürsenkel in die Höhe.

Der alte Jonas stellte die Eimer ab. Er nahm den Besen zur Hand, der neben der Tür lag, fegte sich den Schnee von den Stiefeln und zog seine übergroßen grauen Filzpantoffeln an. Mit ihnen konnte er über den Boden schlurfen, ohne die Füße zu heben. Er nahm die Schnee-Eimer, glitt durch den Flur bis zur ersten Tür auf der linken Seite, einer Holztür, die schon viele Mal in verschiedenen Farben überstrichen worden war, weswegen alle Besucher, die in das gemütliche Häuschen auf dem Gehöft kamen, glaubten, die Tür müsste unweigerlich in eine andere, in eine Parallelwelt führen. Beim genaueren Hinsehen gaben die Farbkratzer an den verschiedenen Stellen die rote, weiße und sogar blaue Vergangenheit der Tür preis. Das letzte Mal hatte sie der alte Jonas in einem edlen matten Grün gestrichen. Alles andere im Flur war nach den Vorstellungen seiner Enkelin Renata renoviert worden, die in einer eigenen Haushälfte lebte, auf der rechten Seite des Flurs hinter einer ganz normalen, aber ebenso soliden, nicht gestrichenen Holztür. Von dorther drang Lachen, junge Stimmen waren zu hören.

Großvater Jonas kehrte mit einem Schrubber in den Flur zurück. Er wischte den Boden auf. Als er an der Anzahl der Schuhe sah, dass sich an Renatas ovalem Wohnzimmertisch sechs Personen, sie eingeschlossen, versammelt hatten, musste er lächeln. Drei Paare. Sie würden also Zukunftspläne schmieden. Was sie wohl feierten? Bis Neujahr waren es schließlich noch zehn Tage. So lange hätten sie ja noch warten können.

***

„Wir brauchen einen Hut! Geh und frag deinen Großvater nach einem Hut!“ Vitas sah Renata kess und gleichzeitig fordernd an.

„Er trägt keine Hüte! Na gut!“

Renata klopfte an die grüne Tür.

„Kann ich reinkommen, Großvater?“, rief sie und drückte die Klinke herunter. Sie schaute ins Zimmer. Großvater Jonas saß in seinem Sessel am Fenster. Über seinem Kopf brannte die Stehlampe. Auf der Nase saß eine Brille mit einer merkwürdigen, fast bernsteinfarbenen Hornfassung. Er hielt ein Buch in der Hand. „Kann ich mir einen Topf von dir nehmen?“

„Gerne. Was willst du denn kochen?“

„Die Zukunft“, spottete Renata und ging in seine kleine Küche, in der Pfannen, Töpfe, Gefäße und Geräte für die Zubereitung von Speisen an langen, nach oben gebogenen Nägeln bis unter die Decke aufgereiht hingen. Sie waren ein Blickfang gegen das kleine und leicht gedrungene Fenster, das so ganz anders aussah als die anderen Fenster im Haus.

Das Fenster erinnerte ein wenig an eine mittelalterliche Schießscharte, als hätte derjenige, der das Haus entwarf, in der Küche die letzte Bastion gesehen. Oder zeugte die Fensterform von der Abneigung des Hausherrn, sich beim Essen zusehen zu lassen?

Renata hakte den großen Topf vom Nagel und nahm ihn mit.

Großvater Jonas legte sein Buch auf die breite Sessellehne, stand auf und warf ebenfalls einen Blick in die Küche, in der unterm Fenster auf dem Holzboden der Schnee in den Eimern taute. Der Alte betrachtete den Schnee, der in der häuslichen Wärme dunkel geworden war und sich zu Wasser verwandelte, aus dem später Tee gekocht würde. Während Großvater sich umblickte, versuchte er, den Geschmack des Frühstücks auf seiner Zunge „abzulesen“. Aber sie blieb stumm wie ein zum Schweigen verpflichteter Soldat der feindlichen Armee, der in Gefangenschaft geraten war. Die Zunge gab nicht den kleinsten Hinweis auf einen Geschmack. Sie taugte nichts und war in Geschmacksfragen unzuverlässig. Das lag natürlich am Alter. Da Jonas von der Zunge nichts erfahren hatte, ging er zur Spüle, und da fiel ihm ein, dass er heute gar nicht gefrühstückt hatte! Wenn er nämlich gefrühstückt hätte, hätte er auf jeden Fall auch den Teller abgespült, und der würde jetzt auf dem Metallgitter in Augenhöhe trocknen. Und selbst wenn er ihn nicht abgewaschen hätte, müsste der Teller in der Spüle stehen.

„Komisch, und dabei habe ich gar keinen Hunger“, flüsterte der Alte.

Er schaute zum Kühlschrank, ließ seinen Blick zum Korb mit den Kartoffeln wandern, der unter dem massiven Eichentisch stand. Wie von selbst ging sein Blick weiter zum Wiener Stuhl, einem zarten, feinen Gebilde, das schon siebzig oder womöglich sogar mehr Jahre in ihrem Haus lebte. Wo war er hergekommen? Jonas setzte sich auf ihn und stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte.

Der Alte erinnerte sich, wie im Herbst 1940 ein sowjetischer Offizier auf dem Stuhl gesessen und ihm, Jonas, der damals noch ein Halbwüchsiger war, irgendein Papier ausgestellt hatte, nach dem er sofort zur Roten Armee eingezogen wurde. Danach erkundigte sich der Offizier ausführlich nach dem Weg nach Biržai. Und Jonas, der kaum Russisch konnte, zeichnete ihm eine Karte mit einem Pfad durch den Wald, der zu einem breiteren Weg führte, auf dem der Offizier zu einer anderen Straße kam, die ihn ans Ziel brachte. Und dann war der Stuhl verschwunden. Seine Mutter hatte ihn auf den Boden geschleppt, damit sich kein Fremder mehr an ihren Tisch setzte. Zum Essen holten sie sich zwei Bretter und legten sie über die Hocker zu beiden Seiten des Tischs. Jonas erinnerte sich, dass später noch ein paar Mal Sowjets kamen, sich aber nicht lange aufhielten. „Wie arm seid ihr denn! Man kann sich ja nicht mal setzen!“, sagte einmal einer verwundert. „Und dabei ist das Haus so groß! Sicher hat hier früher mal ein Gutsherr gewohnt!“

„Ja, stimmt, aber den haben wir davongejagt“, antwortete Jonas’ Vater dem Offizier. „Recht so!“, lobte ihn der Offizier und ging weg, ohne zu erklären, weswegen er eigentlich gekommen war. Als er fort war, lächelte Jonas’ Vater. Das Haus hatte nämlich dessen Vater gebaut. Wenn der Offizier das erfahren hätte, hätte er womöglich den Familienvater mit Frau und Kind aus dem Haus vertrieben und nach Sibirien geschickt. Aber so weit kam es nicht.

***

„Na los, den Topf an die Front!“, rief der rothaarige Andrius, ein Lächeln im sommersprossigen Gesicht. Verschwörerisch schaute der die Anwesenden an, streckte seine Hand aus und griff sich die Flasche Kräuterschnaps 999. „Auf unseren Erfolg?“

Die Gläser füllten sich mit dem bernsteinfarbenen Getränk.

Renata verteilte Stifte und Zettel, die sie aus einem kleinen Notizblock gerissen hatte. Jeder schrieb etwas auf seinen Zettel, faltete ihn zusammen und warf ihn in den Topf.

„Jetzt können wir!“ Vorsichtig erhob Andrius sein Glas. „Auf gutes Gelingen!“

Die Versammelten prosteten sich zu und nippten an dem fast dickflüssigen, hochprozentigen Getränk.

„Ich bin die Erste“, rief Ingrida und zog einen zusammengefalteten Zettel aus dem Topf. Sie legte ihn neben sich auf den Tisch.

Dann griffen reihum Klaudijus, Vitas und Renata, Andrius und Barbora in den Topf.

Auf einmal war es still. Nur die Wanduhr – ein Scherzartikel, den Renata vor sechs Jahren zum Achtzehnten von Freunden geschenkt bekommen hatte und dessen Zeiger sich auf einem leeren Zifferblatt drehten, während die Zahlen auf einem Haufen in der Ecke lagen, als wären sie heruntergerissen worden –, nur diese Uhr und ihr Ticken verhinderten es, dass die Stille überhandnahm. Zwar hielten die Gäste den Atem an, konnten die Stille aber nicht lange ertragen, deswegen war die Pause nur kurz, verlieh dem Augenblick aber dennoch eine bewegende Feierlichkeit.

Die Zettel raschelten. Jemand seufzte erleichtert. Andrius wahrscheinlich.

„Toll!“, flüsterte Barbora begeistert.

Renata drehte sich zu Vitas, der neben ihr saß, lächelte und wackelte keck mit dem Kopf. „Das“, sagte sie und zeigte auf ihren aufgefalteten Zettel, „ist deine Stadt! Und du hast meine – gib her!“

Mit belustigter Verwunderung beobachteten die anderen, wie Renata und Vitas ihre Zettel tauschten.

„Habt ihr etwa was Verschiedenes geschrieben?“ Barbora beugte sich vor, um zu erkennen, was denn da auf den Zetteln stand.

„Ja, aber nah beieinander!“, antwortete Renata. „Egal. Hauptsache, es hat geklappt! Hätte ich nicht erwartet.“

„Das ist doch keine Sofortlotterie!“, sagte Andrius und winkte ab. „Und wenn ich nun einen anderen Traum gezogen hätte? Was hätte ich damit machen sollen? Ich will meinen eigenen. Ich hätte ihn getauscht. Gegen meinen natürlich.“

„Unseren“, korrigierte ihn Barbora. „Ihr“, sagte sie und schaute Renata und Vitas an, „müsst euch wohl noch ein bisschen Zeit lassen! Renata will nach Venedig und er nach Rom! Ihr habt euren gemeinsamen Nenner noch nicht gefunden, anders als wir.“ Sie drehte sich zu Andrius. Barbora nahm seinen Zettel, dann ihren und hielt sie in die Runde. Auf beiden Zetteln stand in unterschiedlicher Handschrift ein und dasselbe Wort: Paris.

„Paris sehen und sterben!“, intonierte Ingrida kokett.

„Aufs Sterben können wir verzichten.“ Barbora warf ihr einen selbstbewussten, leicht hochnäsigen Blick zu. „Dann schon lieber kommen, sehen und siegen! Und übrigens ist dort auch das Klima viel besser als in eurem geliebten England.“

„Wir wollen ja auch nicht nach England“, ergriff Klaudijus statt seiner Freundin versöhnlich das Wort, „wir wollen nach London! Und welches Wetter du da hast, hängt vom Kontostand ab!“

„Oh, ich glaube, unsere Gans ist gar!“, rief Renata, der im rechten Moment der Braten in der Röhre eingefallen war. „Bin sofort zurück!“

Sie ging in die Küche, öffnete die Klappe der Backröhre aus leicht angedunkeltem, feuerfestem Glas und schaute hinein. Ein leckerer, warmer Duft lenkte ihre Gedanken in eine andere Richtung. Und sie vergaß Barbora, die sich so gern um Nichtigkeiten stritt. Und auch die Diskussionen, die sie und Vitas über Sinn und Ziel ihrer Traumreise geführt hatten. Es kam doch nicht auf die Stadt an! Es kam darauf an, dass die Reise das Leben ist. Schließlich war die Reise nicht damit zu Ende, dass man in seiner Traumstadt angekommen war und dort glücklich lebte.

Renata streifte sich dicke Ofenhandschuhe über, zog das Blech mit dem Bräter heraus und stellte es auf den Herd. Die Gans war gar. Unten im Ofen stand ein zugedeckter gusseiserner Topf mit Kartoffelwürsten.

„Hol doch deinen Großvater, dass er mit uns isst“, schlug Andrius vor und schaute auf den leckeren Vogel.

„Natürlich“, sagte Renata und nickte. „Unbedingt!“

Die Gläser wurden noch einmal mit Kräuterschnaps gefüllt, Großvater Jonas bekam auch eins.

In den Duft nach gebratener Gans mischte sich ein neues Aroma – der Kümmelduft der Kartoffelwürste. Sofort schauten die Freunde auf den Topf mit den Würsten, der eben auf den Tisch gestellt worden war.

Großvater Jonas kam und setzte sich gleich auf den freien Platz. Er zog die Brille aus seinem sackförmigen Hausjackett, setzte sie auf und beugte sich nach vorn, um das Menü besser in Augenschein nehmen zu können. „Hat jemand Geburtstag?“ Er ließ den Blick über die Gäste seiner Enkelin schweifen.

„Nein, Großvater“, Renata lächelte, „wenn du ferngesehen hättest, wüsstest du …“

„Da würde ich verblöden!“, unterbrach Großvater Jonas seine Enkelin. „Und da es für mich zum Verblöden schon zu spät ist, lese ich lieber weiter meine Bücher.“

„Heute um Mitternacht wird Litauen in den Schengen-Raum eingegliedert“, sagte Klaudijus freundlich und schaute dem alten Mann direkt in die Augen, die von den horngefassten Gläsern vergrößert wurden.

„Wie?“, fragte Jonas nachdenklich zurück und schaute an die Decke.

„Die grenzfreie Zone in Europa“, erklärte Klaudijus. Und korrigierte sich gleich darauf: „Die grenzkontrollfreie Zone.“

„Ach ja, na, ich verkrieche mich hier“, sagte der alte Jonas gelassen. „Da werde ich nicht eingegliedert. Und ihr könnt ja machen, was ihr wollt …“

„Aber das muss doch gefeiert werden!“ Vitas erhob sein Glas.

Die Gans verdrängte den Schengen-Raum. Ihr zarter Geschmack entlockte der Runde deutlich mehr allgemein verständliche und lobende Worte. Großvater Jonas wollte nicht lange bleiben. Er aß ein Stück Gans, lobte seine Enkelin für das fürstliche Abendessen, verabschiedete sich und ging, die Brille ließ er unter der Serviette liegen.

Genau um Mitternacht erhoben die Freunde noch einmal die Gläser – auf den Beginn einer neuen Ära.

Zehn Minuten später schaute Großvater Jonas herein, schon in seinem warmen blauen Flanellschlafanzug.

„Ich hab meine Brille vergessen“, sagte er. „Aber ohne Brille kann ich nicht einschlafen …“

„Schlafen Sie etwa mit Brille?“, prustete der rothaarige Andrius beschwipst los.

„Natürlich.“ Jonas fand sein gutes Stück und steckte es in die Pyjamajacke. „Ich habe schlechte Augen. Ohne Brille kann ich nicht mal im Traum was erkennen, ich sehe alles verschwommen. Und mit Brille sehe ich alles, auch die kleinsten Details. Und ich höre auch besser, wenn ich die Brille auf der Nase habe.“

„Komischer Vogel, dein Großvater“, flüsterte Andrius, als sich die Tür hinter Großvater Jonas geschlossen hatte.

Renata zuckte mit den Schultern. „Das Alter schmückt einen Menschen mit Grillen“, seufzte sie und musste über die eigenen Worte lächeln.

„Das Alter schmückt einen Menschen mit Grillen?“, wiederholte Barbora. „Ha! Das ist ja interessant. Und wenn man einfach bis ins Alter hübsch bleibt? Dann kann man auf die Grillen verzichten!“

„Wer sich bemüht, bis ins Alter hübsch zu bleiben, hat auch eine Grille“, merkte Klaudijus an.

Barbora hätte ihm gern widersprochen, aber Vitas machte sich dran, die schmutzigen Teller abzuräumen. Renata half ihm. Ingrida sprang auf und nahm die Platte mit den Resten der Gans. Also begnügte sich Barbora mit einem scharfen Blick zu Klaudijus und sammelte das Besteck ein. ‚Warum hat Ingrida nur so danebengegriffen?‘, dachte sie gehässig und brachte das Besteck in die Küche.

3. Kapitel. Šeštokai

Zwei Minuten vor Mitternacht klingelte auf dem Schreibtisch unter Präsident Adamkus’ Porträt das Telefon. Der ranghöchste Offizier des Grenzpostens nahm den Hörer ab und stellte sich vor. Er hörte seinem Gesprächspartner, der offenbar einen höheren Rang bekleidete, im Stehen und voller Respekt zu, dann seufzte er gelassen und sagte: „Gerai!“1 Traurig und mit einem nachdenklichen und leicht skeptischen Blick zum Foto-Adamkus hinauf sagte er: „Ich habe den Befehl, die Schranke zu öffnen.“

Der Alte und die beiden anderen Grenzer schauten ebenfalls zu Adamkus’ Porträt. Der ranghöchste Offizier blickte auf den Monitor, auf dem sechs Quadrate die Aufnahmen der Überwachungskameras wiedergaben. Schwarz-weißer Gries ließ die Quadrate alle gleich aussehen. Nur ein einziges zeigte hin und wieder eine besser beleuchtete Aufnahme der Schranke. Der Offizier, dessen Blick dieser Aufnahme galt, streckte seine Hand nach der Fernbedienung aus und drückte auf einen kronkorkengroßen grünen Knopf. Doch auf dem Bild tat sich nichts. Er drückte noch einmal. Fluchte. „Na los, wir kurbeln!“, befahl er den anderen und stand auf.

Der dichte Schnee des neuen Tages, der vom Himmel fiel, wich vor der aufspringenden Tür zurück. „Ganz schönes Schneetreiben!“, rief einer der Männer.

Die Stufen knarrten. Die drei Grenzer und der Alte gingen zur Schranke. Der Ranghöchste beugte sich über den Schrankensockel und öffnete die Tür zur Steuereinheit. Er hob die Sperrung auf, rief seine Kollegen, und zu dritt kurbelten sie den langen gestreiften Balken von Hand hoch.

„Danke!“, rief ihnen der Alte zu und schritt auf der nun nicht länger abgesperrten Straße aus.

„Haben Sie wenigstens einen Pass?“, rief ihm einer der Grenzer nach.

„Ja“, sagte der Alte und drehte sich im Gehen um, „natürlich.“

„Und wie heißen Sie?“

„Kukutis.“

„Ist das der Vor- oder der Zuname?“

„Sowohl als auch“, rief Kukutis und verschwand aus dem Blickfeld. Fallender Schnee füllte den Abstand zur Schranke, der mit jedem seiner Schritte wuchs. Eilends kehrten die Grenzer in ihr Diensthäuschen zurück, das keine Zukunft mehr hatte.

„Notiere!“, befahl der dienstältere Grenzer seinem Kollegen: „Als erste Person ohne Passkontrolle passierte Kukutis Kukutis die Grenze. Ist ja eine Zumutung, so ein Name.“

Der Kollege nickte lächelnd, schnell fand sein Blick den Stift auf dem Fensterbrett.

„Einen Pass!“, flüsterte Kukutis belustigt und schwang bei jedem zweiten Schritt sein steifes Bein flott nach vorn. „Sechs Stück habe ich von den Dingern, von diesen Pässen! Und sie gehören alle mir.“

4. Kapitel. Vilnius

Das Café auf der Vokiečių-Straße hielt sehnsüchtig nach Besuchern Ausschau. Außer Barbora und einem in die Jahre gekommenen Touristenpärchen, das sich an einen Fenstertisch gesetzt hatte, um Kaffee zu trinken und dem gemächlichen Treiben im winterlichen Vilnius zuzusehen, war niemand da. Niemand.

Neugierig musterte Barbora die Dame, aus deren gerötetem Gesicht das Alter längst alle Jugend getilgt hatte. Ihre blaue Pelzjacke und die schwarze Daunenjacke ihres Partners, eines Mannes mit jugendlich-sportlicher Statur und müden Augen, hingen nebeneinander an einem einbeinigen Garderobenständer aus Holz. Die Dame trank Kaffee, ihre blauen Lederhandschuhe, die sie passend zur Pelzjacke gekauft haben musste, hatte sie nicht abgelegt. Sie hielt die Tasse wie eine Schale mit beiden Händen, zu einem Schiffchen geformt, direkt vors Gesicht, um den Kaffeeduft zu genießen.

Draußen fuhren Autos vorbei, Menschen gingen vorüber.

„Entschuldige, Barbie, ich bin zu spät!“ Ein Mann um die vierzig hängte seine Jacke über die Stuhllehne und ließ sich neben Barbora nieder. „Eigentlich bist du immer zu spät! Ich dachte, ich schaff’s trotzdem, vor dir da zu sein!“

„Das ist vorbei, Boris“, sagte Barbora, entzog der Dame in den blauen Handschuhen und ihrem Begleiter ihren Blick und wand sich ihm zu.

„Hast du dir etwa vorgenommen, immer pünktlich zu sein?“

Barbora antwortete nicht.

„Einen Kognak zum Aufwärmen?“, fragte Boris.

Sie schüttelte den Kopf.

„Was ist denn mit dir los?“, wunderte sich der Mann. „Willst du etwa deinen Ritualen untreu werden?“

Barbora nickte. „Genau. Und nicht nur meinen Ritualen.“

„Wem denn noch?“, fragte Boris keck.

„Allem. Und dir auch.“

Boris’ Gesichtsausdruck änderte sich. Sein Blick wurde kühl. „Wie wär’s mit einer Erklärung?“, forderte er halblaut, aber nachdrücklich.

„Was gibt’s da groß zu erklären?“ Barbora schaute in seine grauen Augen. „Du änderst dich nicht! Immer dasselbe! Familie – Arbeit – Fitnessklub und eine junge Geliebte. Aber jemand muss sich ja ändern, damit was los ist im Leben. Also werde ich mich ändern. Und mein Leben. Zum Besseren, hoffe ich! Ich werde übrigens heiraten.“

„Wann? Wen denn? Diesen rothaarigen Clown?“ Boris überschüttete sie missbilligend mit Fragen und wunderte sich nicht im Geringsten über die Neuigkeiten.

„Richtig. Genau den! In einer Woche gehen wir nach Paris.“

„Und feiert Silvester?“

„Nein, ein neues Leben.“

„Soll das heißen, du hast in letzter Zeit gleichzeitig mit ihm und mit mir …?“

„Du hattest mir übrigens irgendwann auch mal Paris versprochen …“

„Man kann nicht alles auf einmal haben!“

„Und es kriegt auch nicht jeder“, kicherte Barbora. „Bist du nicht neulich mit deiner Frau nach Paris geflogen? Euer Selfie habe ich auf deiner Facebook-Seite gelikt. Hast du’s gesehen? Mein rothaariger Clown hat übrigens ganz ohne jegliche Versprechungen Geld verdient und zwei Bustickets gekauft.“

„Mit dem Bus nach Paris?“ Boris’ Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln.

Barbora sah draußen auf der Straße eine ungewöhnliche Bewegung. Fünf rote, zwei Meter hohe Coca-Cola-Flaschen schlenderten müde über den Boulevard. Sie holte ihr Handy raus und hatte Boris vergessen. „Andrius, ich sehe dich, aber ich weiß nicht, in welcher Flasche du steckst“, rief sie ausgelassen ins Telefon. Boris schaute Barbora entgeistert an. „Sag ich nicht. Du siehst mich sowieso nicht! Aber ihr seid zu fünft. Bleib doch mal stehen!“ Eine rote Flasche blieb stehen, drehte sich um ihre eigene Achse und schleuderte die Arme nach allen Seiten. Die anderen vier liefen weiter. „Alles klar! Danke! Küsschen! Bis heute Abend!“ Barbora steckte ihr Handy wieder in die Tasche.

Boris seufzte ziemlich laut, als wollte er die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Barbora warf ihm einen betont gleichgültigen Blick zu und schaute wieder hinaus auf den Boulevard. Die Coca-Cola-Prozession war weitergezogen. Andere Fußgänger fielen nicht weiter ins Auge.

„Und du denkst, damit kann er in Paris euren Lebensunterhalt verdienen?!“ Boris stand auf und zog seine Lederjacke an. „Wenn ihr abschmiert, ruf an! Dann schick ich dir Geld für eine Rückfahrkarte. Für den Bus. Aber nur für dich!“

Mit resoluten Schritten verließ Boris das Café und lief scheinbar absichtlich ganz dicht an den Scheiben vorbei, hinter denen das Touristenpärchen und Barbora Kaffee tranken.

„Darf’s noch was sein?“, fragte der Kellner.

„Nein“, erwiderte die junge Frau und stand auf.

5. Kapitel. London

Klaudijus’ Klassenkamerad Marijus holte sie direkt an der Victoria Coach Station ab. Während Ingrida sich umschaute, half Marijus Klaudijus den Rucksack aufzusetzen, und schulterte danach Ingridas. So fielen ihr die ersten Schritte auf Londoner Boden besonders leicht.

„In drei Stunden können wir in die Wohnung. In der Zwischenzeit gehen wir ein bisschen bummeln und trinken einen Kaffee“, beschied Marijus.

„Dann lassen wir die Sachen doch im Schließfach!“, schlug Ingrida vor und warf einen Blick in den bleischweren Himmel.

„Drei Pfund pro Gepäckstück“, sagte Marijus und schüttelte den Kopf. „Das Geld heben wir uns lieber fürs Café auf.“

„Wir haben doch fünfhundert Pfund“, brüstete sich die junge Frau und schaute weiter zum Londoner Himmel hoch, der ihr nicht anders vorkam als der Winterhimmel in Litauen.

„Zu zweit? Mehr nicht?“, wunderte sich Marijus. Als er Ingridas sorgenvollen Blick sah, wechselte er sofort das Thema. „Kommt, hier in der Nähe gibt es ein nettes Café, das hat beinahe litauische Preise.“

Marijus führte die Ankömmlinge durch die Vauxhall Bridge Road. Zehn Minuten später bogen sie in eine Nebenstraße und sahen viele kleine Geschäfte. Sie setzten sich in den hintersten Winkel einer Trattoria, die nicht gerade vor modernem Design und extravaganten Möbeln strotzte. An der Wand hing die Speisekarte, auf der ein Dutzend Pizzasorten aufgeführt waren. Rechts vom Tresen war ein Kühlschrank mit Glastür, in dem Cola- und Fanta-Flaschen standen.

„Ich lade euch ein“, verkündete Marijus.

Zwei Pizzen für drei Personen und eine Flasche Cola mit drei Gläsern. Der leichte rote Kunststofftisch wackelte auf dem unebenen Boden, der mit braunen Keramikkacheln gefliest war. Ingrida faltete das abgefahrene Busticket zusammen und schob es unter ein Tischbein.

Klaudijus beugte sich zu Ingridas Rucksack hinunter und zog eine Flasche 999 hervor. Er schaute Marijus diskret an. Der nickte.

Klaudijus füllte die Gläser zu einem Drittel und steckte die Flasche zurück in den Rucksack.

„Echt cool hier.“ Der Kräuterschnaps hatte Marijus entspannt, ein Lächeln rundete sein Gesicht. „Erst mal Arbeit finden. Und dann: Taschenrechner in die Hand und alles durchrechnen. Essen kann man für drei Pfund pro Tag, natürlich auch für fünf. Wenn ihr euch ein Fahrrad kauft, nehmt lieber ein gebrauchtes, das nach nichts aussieht, damit es nicht geklaut wird. Da spart man ordentlich.“

„Und wo arbeitest du?“, wollte Klaudijus wissen, während er an einem Stück Pizza kaute.

„Ich mach Dienst für einen Serben an der Tankstelle. Nachtschicht. Der ist nach Hause gefahren, dreißig Pfund die Nacht. Auf die Hand. Der Tankstellenbesitzer ist Araber. Der ist in Ordnung. Mit dem läuft’s super.“

„Dreißig Pfund die Nacht?“, wiederholte Ingrida nachdenklich. „Nicht übel …“

Die Wohnung, in die Marijus seine Freunde führte, befand sich im Souterrain eines schmalen vierstöckigen Reihenhauses zwei Straßenzüge von der U-Bahn-Station Islington entfernt. Das Fenster war mit Metallstäben vergittert.

Eine junge kurzhaarige Frau in Jeans und langem blauem Pullover öffnete die Tür. Sie erkannte Marijus, nickte und ließ die Gäste ein. Sie führte Ingrida und Klaudijus gleich in eine kleine Kammer mit einem schmalen Doppelbett und einem kleinen Fenster.

„So, hier können Sie sich ausbreiten“, sagte sie. „Hat Ihnen Marijus alles erklärt?“

Ingrida legte den Rucksack aufs Bett und drehte sich zu Klaudijus’ Klassenkameraden um, der in der Tür stehengeblieben war.

„Hab ich noch nicht geschafft, Tanja. Mach ich jetzt gleich.“

„Gehen wir in die Küche. Da ist es gemütlicher.“

Die Vermieterin führte sie in die kleine Küche mit einem alten Gasherd, einer Spüle, einem Kühlschrank und einem quadratischen Tisch, an dem mit Müh und Not vier Personen Platz fanden. Sie schafften es irgendwie.

Als erstes schaltete Tanja den Wasserkocher auf dem Kühlschrank ein und bot ihnen einen Hocker an.

„Hundertzwanzig Pfund die Woche“, sagte sie freundlich. „Aber gehen Sie sparsam mit Wasser und Strom um. Hier wohnen noch zwei andere Paare, Sie müssen sich absprechen, wer wann die Küche benutzt. Passt das soweit?“

Ingrida warf Marijus einen bestürzten Blick zu. Auch Klaudijus schaute seinen Klassenkameraden fragend an.

„Das sind faire Bedingungen“, sagte dieser halblaut, „besonders bei eurem Budget. Wenn ihr eine Arbeit gefunden habt, könnt ihr selbst entscheiden, ob ihr bleiben wollt oder euch was anderes sucht. Aber was Billigeres werdet ihr in London nicht finden. Ihr werdet Tanjas Angebot noch schätzen lernen.“ Er bedachte die Vermieterin mit einem dankbaren Blick.

Klaudijus schaute sie ebenfalls an, ihre Haare, die ihre natürliche Farbe nicht preisgaben. Das Fenster ließ Licht herein, ging aber auf einen schmalen Betonschacht und eine Metalltreppe hinaus, die von der Straßenebene zur Eingangstür hinabführte, und so konnte man in dem Raum nichts erkennen, wenn man nicht die Deckenlampe einschaltete. Daher erschienen Klaudijus Tanjas Haare mal rötlich, mal dunkel, mal hellblond, und er wusste nicht, ob ihm hier seine vom Küchendämmer ermüdeten Augen einen Streich spielten, oder ob sie ihre Haare so oft gefärbt hatte, dass sie scheckig geworden waren und keine Farbe mehr annahmen.

„Gut“, hauchte Ingrida.

„Dann bezahlen Sie jetzt bitte, und danach gebe ich Ihnen die Schlüssel“, sagte Tanja bestimmt. Als sie das Geld erhalten hatte, trat sie zum brodelnden Wasserkocher auf dem Kühlschrank. „Und dass Sie mir die Schlüssel ja nicht verlieren!“ Der Ring mit vier Schlüsseln klirrte, als er auf den Tisch fiel. „Und machen Sie niemandem auf. Alle, die hier wohnen, haben eigene Schlüssel.“

Ingrida nickte.

Tanjas Handy klingelte, sie ging hinaus und bat Marijus, auf sie zu warten.

„Seht ihr, sogar ohne Kaution“, sagte er stolz.

„Gehört ihr die Wohnung? Ist sie Russin?“, wollte Klaudijus wissen.

„Nein, die Wohnung gehört Arabern, sie sind irgendwo im Ausland, in der Türkei. Sie hat die Wohnung gemietet und vermietet sie weiter. Manchmal übernachtet sie auch hier.“

„Und wo schläft sie dann?“, wunderte sich Ingrida. „Hier gibt’s doch nur drei Zimmer. Und die sind alle belegt!“

„Keine Ahnung, vielleicht in der Küche. Aber sie ist in Ordnung. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen.“

Eine halbe Stunde später kam Tanja zurück. „Sie haben Glück gehabt“, sagte sie. „Ein anderes Paar wollte das Zimmer auch mieten. Aber ich habe sie woanders untergebracht. Bei Bekannten.“

6. Kapitel. Straße nach Augustów. Woiwodschaft Podlachien

Wie weit ist Europa? Dutzende Male schon hat er es von einem Ende zum anderen durchwandert. Vor dem Holzbein und danach. Am besten hat ihm Preußen gefallen. Ostpreußen. Das war ihm sehr vertraut. Wie ein Cousin. Er kannte das Land, wenn nicht von Geburt, so doch von Kindesbeinen an und bis zu dem merkwürdigen Moment, als es aus der Geschichte verschwand. Dieser Moment dauerte ziemlich lange, viele Jahre wurde Kukutis das Gefühl nicht los, irgendwo ganz in der Nähe würde eine Suppe aus Sauerkraut und Erbsen gekocht. In einem großen Kessel, der an einem Haken überm Feuer hing. Der Geruch dieser Suppe verfolgte Kukutis mal auf diesem Weg, mal auf jenem. Und das einzige Mal, als er nach Königsberg kam, führten ihn seine Beine in den Bauch von Ostpreußen, in das Restaurant Blutgericht im Kellergewölbe des königlichen Schlosses. Und als er sich an Bier und Königsberger Klopsen gütlich getan hatte, konnte und wollte er den Ort nicht verlassen. Er saß da und bestaunte die Deckenleuchter und die schwebenden Segelschiffe, die Böden der großen Fässer mit den Familienwappen der ostpreußischen Barone und die Bilder ihrer Schlösser. Und er ging erst, als sich ein mürrischer, schnurrbärtiger Kellner in Feldwebelpose neben ihm aufbaute und nur ein einziges Wort sagte: „Zeit!“,2 das wie Ordnung* klang. Da wusste Kukutis, wo er war und wie man es hier mit kurzen Wörtern hielt. Er stand auf und stieg mit Mühe die steilen Stufen aus dem Gewölbe des Restaurants mit dem merkwürdigen Namen Blutgericht hinauf nach Ostpreußen. Die Jahre vergingen, und immer wieder kam er in preußische Dörfer und Kleinstädte, sah sie, hörte sie und roch die Düfte aus ihren Küchen. Irgendwann hatte sich etwas verändert. Sie waren verschwunden. Die Preußen waren verschwunden, als hätten sie von einem Moment auf den anderen ihre Sachen und Düfte gepackt und wären fortgezogen. So hatten sie jahrhundertelang gelebt, waren sich unterwegs begegnet und hatten ihr eigenes feines Lächeln gelächelt. Als erste und lauteste in ganz Europa feierten sie die Erfindung von Karl Friedrich Christian Ludwig Freiherr Drais von Sauerbronn: den mechanischen Fleischwolf. Das quälende Schneiden von Fleisch für Klopse mit dem Messer schien ein Ende zu haben, ein neues bequemes Leben schien anzubrechen. Aber nein, ihre Freude am erfundenen Fleischwolf währte nicht lange. Wahrscheinlich erhob sich jemand in Feldwebelpose über sie, ein mürrischer schnurrbärtiger Jemand oder auch ein lächelnder bartloser Jemand. Dieser Jemand erhob sich und sagte: „Es ist Zeit.“3

Und so sind sie verschwunden. Spurlos verschwunden. Als Kukutis, unterwegs durch die früheren preußischen Lande, zum ersten Mal darüber nachdachte und einen entgegenkommenden Polen fragte, wohin denn die Preußen verschwunden seien, antwortete der Pole: „Die haben die Litauer umgebracht!“ Wahrscheinlich mochte der Pole die Litauer nicht und erkannte in Kukutis einen von ihnen. Deswegen hatte er das gesagt. Und Kukutis glaubte das anfangs auch. Er erinnerte sich, was die litauischen Bauern über die Preußen gesagt hatten. Sie hatten behauptet, die Preußen verstünden nichts von der Liebe und hätten deshalb so gut wie keine Kinder. Und tatsächlich, kein einziges Mal, wenn er durch die ostpreußischen Dörfer und Kleinstädte zog, hatte er Kinder gesehen, Kinderlachen oder Kinderstimmen gehört. ‚Ob sie ausgestorben sind?‘, fragte er sich. Und nickte. Und wenn die Preußen ausgestorben waren, erklärte sich auch, warum es Preußen nicht mehr gab. Die Polen und die Russen hatten es unter sich aufgeteilt. Und die Litauer hatten auch ein kleines Stück abbekommen – das Memelland, aber das war sowieso litauisch gewesen. Obwohl es vor den Litauern schwedisch, teutonisch und livländisch gewesen war. Doch als das Memelland litauisch wurde und sich wieder in Klaipėdos kraštas umbenannte, gab es dort keine Preußen. Es gab Deutsche, Polen und auch die merkwürdigen Memelländer, die zwar Litauisch sprachen, sich aber nicht als Litauer fühlten. Aber Preußen gab es keine. Also hatte der Pole gelogen, als er behauptet hatte, die Litauer hätten die Preußen umgebracht. Schließlich lehrte die Geschichte, dass, wenn ein Volk das andere ausrottete, das Land des ausgelöschten Volkes sofort dem Mördervolk zugeschlagen wurde, die Übriggebliebenen hingegen, die nicht umgebracht worden waren, in den Randgebieten still weiterlebten. Aber an den Rändern von Litauen gab es keine Preußen. Und mehr Land hatte Litauen auch nicht bekommen.

Litauen war klein und blieb es auch. Vor langer Zeit, viele Jahrhunderte zuvor, war das Großfürstentum Litauen allerdings das größte europäische Reich, zu dem im Übrigen auch alle späteren preußischen Besitzungen gehörten. Und damals fühlte sich Europa in diesem Fürstentum wohl: die Polen, die Preußen und all die kleinen Völker, die sich zu dem Zeitpunkt noch keinen eigenen Namen gegeben hatten.

Hinter Kukutis schnaubte unversehens ein Pferd und lenkte ihn von seinen Gedanken ab. Erschrocken trat er zur Seite, um dem Pferd Platz zu machen.

„Brr“, rief der Kutscher, zog die Zügel an und lehnte sich nach hinten. Von seinem geöffneten Mund prallten Schneeflocken ab.

„Siadaj!“4 Mit einer einladenden Geste bat der Mann Kukutis auf den Wagen.

Der Alte trat näher, sprang ungelenk auf, indem er sich mit dem gesunden Bein abstieß und das Holzbein leicht zur Seite abspreizte. Er setzte sich quer, drehte sich zum Kutscher und nickte ihm dankend zu.

Der Kutscher gab dem scheckigen Pferd einen Hieb mit einer kurzen Peitsche, und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Lautlos zog er an, was Kukutis misstrauisch machte. Er war in seinem Leben schon lautlosen Wagen begegnet, die unterwegs aufgeladene Wanderer in die Ewigkeit befördert hatten, aus der es kein Zurück gab. 1918 war das gewesen, als es so gut wie keinen Krieg, aber auch nichts mehr zu essen gab. Damals bestimmten die Dorfbewohner einen Kutscher, schmierten die Wagenräder, damit sie nicht quietschten, und schickten die Fuhre auf die nächstbeste Straße, damit der Kutscher einen möglichst jungen Fremden aufgabelte, ihn tötete, ihm den Kopf abschlug und fortwarf, den Körper aber zum Verzehr ins Dorf brachte. Ein Körper ohne Kopf ließ sich auch besser aufteilen. Ein Kopf lenkte ab, zwang hinzusehen und nachzudenken: Wo kam dieser Mensch her, welches Blut floss in seinen Adern, welche Farbe hatten seine Augen?

Kukutis beugte sich nach vorn, um die Räder zu betrachten, und wäre an einer Bodenwelle beinahe vom Wagen geflogen. Er sah allerdings noch, dass die Räder von einem Auto stammten.

Vorn wurde der Himmel heller. Die Schneewolken verschwanden, ihr Vorrat war aufgebraucht. Und obwohl die Straße mit Schnee bedeckt war, lag er ungleichmäßig, war hier und da verweht und gab scharfe Ränder von Spurrinnen frei, die noch im Herbst von anderen Rädern gezogen worden und in der eisigen Winterluft gefroren waren.

„Wo willst du denn hin?“, fragte der Kutscher, ohne sich umzudrehen.

„Geradeaus“, antwortete Kukutis. „Nach Paris.“

Der Kutscher drehte sich um. Um seinen Mund zuckte ein Lächeln. „Das ist doch weit, noch hinter Warschau. Wieso musst du denn hin?“

„Wegen einer Beerdigung.“

„Da kommst du zu spät!“

„Nein, er ist noch nicht tot.“

„Wer?“

„Der Verblichene. Er lebt noch …“

Der Kutscher zuckte mit den Schultern und starrte auf das gescheckte Pferd, das den Wagen nicht gerade flott zog. Er hieb ihm eins mit der kurzen Peitsche über, und es trabte flotter, was den Wagen auf dem gefrorenen Schotter ordentlich durchschüttelte. Kukutis wurde ein paar Mal hochgeworfen und wäre beinahe rücklings ins Stroh gefallen.

‚Der will wohl, dass ich rechtzeitig da bin?‘, sinnierte Kukutis über den Kutscher und umklammerte die Seitenwand fester.

7. Kapitel. Paris

Es war noch nicht sechs Uhr, als der Bus an einem Pariser Bordstein in Porte Maillot ankerte. Direkt gegenüber von einem Café, vor dem ein Maghrebiner die Straße fegte. Der Fahrer schaltete das Licht im Fahrgastraum ein, und die in der Nacht zusammengeklumpte Masse an Passagieren regte sich und zerfiel nach und nach in erwachende menschliche Individuen.

Andrius öffnete die Augen. Er warf einen Blick auf Barbora. Sie träumte noch. Er mochte sie nicht wecken. Obwohl ihr Traum – in Paris zu erwachen – im nächsten Moment Wirklichkeit werden konnte. Andrius zog diesen Moment in die Länge, um Sekunden und Zehntelsekunden, als er sah, wie bedächtig und glücklicherweise leise sich die anderen Passagiere von ihren Plätzen erhoben. Er drehte sich um und versuchte ein paar bekannte Gesichter zu entdecken, diejenigen, die in Vilnius mit ihnen eingestiegen waren. Aber komischerweise waren die Mitreisenden unterwegs in Polen und Deutschland ausgestiegen. Von den Litauern, die in Vilnius eingestiegen waren, waren offenbar nur er und Barbora bis nach Paris gefahren. Die anderen waren früher ausgestiegen, ihre Plätze wurden jetzt von Polen, Slowaken und Deutschen eingenommen. Dann standen sie vorm Bus und warteten auf ihre Rucksäcke und Taschen, die im Gepäckfach verstaut lagen. Der Busfahrer hatte es nicht eilig. Er saß immer noch hinterm Steuer, schaute durch den Spiegel in den Fahrgastraum und versuchte, jemanden mit dem Handy zu erreichen.

„Guten Morgen“, flüsterte Andrius Barbora ins Ohr. Sie öffnete die Augen. „Paris heißt dich willkommen!“, sagte er zu ihr und nickte Richtung Fenster.

Draußen schob sich an den Scheiben des Cafés gerade die Metalljalousie nach oben. Drinnen brannte Licht, und je weiter die Jalousie hinaufkletterte, umso heller wurde die Straße vor der Scheibe.

„Das Café öffnet extra für uns!“, flüsterte Andrius. „Wollen wir?“ Barbora nickte.

Sie nahmen ihr Gepäck und gingen hinein. Drinnen suchten sie sich ein gemütliches Eckchen.

Der Maghrebiner – jetzt hinterm Tresen – schaute Andrius fragend an.

„Espresso und Croissant. Zwei“, sagte Andrius.

Der Maghrebiner nickte und ging hinaus. Sie blieben allein zurück und sahen ihm erstaunt nach.

„Wo geht er denn hin?“, wunderte sich Andrius.

„Ist doch egal. Wir sind in Paris aufgewacht“, sagte Barbora. „Und das wird jetzt immer so sein!“

Mit einer Papiertüte kam der Barkeeper zurück. Feiner Dampf stieg auf. Am Tresen schüttete er die heißen Croissants auf ein Tablett und trat an den vernickelten Kaffeeautomaten. Der Bus, der sie nach Paris gebracht hatte, setzte sich gemächlich in Bewegung und fuhr weg, gab für Andrius und Barbora den Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite frei. Dort waren bereits die Auslagen einer Bäckerei und eines kleinen Lebensmittelgeschäfts erleuchtet. Der Barkeeper brachte ihnen den Espresso und die Croissants.

„Merci“, sagte Andrius.

Der Barkeeper antwortete mit einem langen, unverständlichen Satz. Andrius und Barbora tauschten Blicke.

„Was hat er gesagt, was glaubst du?“, fragte die junge Frau.

„Dass ich eine wundervolle Begleiterin habe, nehme ich an.“

„Nein, er hat doch zu mir gesprochen“, widersprach Barbora. „Also, wir müssen Französisch lernen! Warum haben wir das eigentlich nicht gemacht?“

„Weil wir keine Zeit hatten.“ Andrius nahm einen Schluck Espresso. „Und wenn wir welche hatten, haben wir lieber geschmust als Französisch gelernt …“

„Na, dann lernen wir jetzt Französisch. Das Schmusen kann warten …“

„Wieso denn das?“ Andrius tat entrüstet.

8. Kapitel. Anykščiai

Dieses Mal kam Renata die Kleinstadt noch kleiner vor als sonst. Als wäre sie unter dem Frost eingegangen. Ihren fast spielzeugkleinen Fiat parkte Renata bei der Bäckerei.

Sie ging zur St.-Matas-Kirche. Am Eingang bekreuzigte sie sich. Renata bewunderte die beiden symmetrischen, spitzwinkelig aufragenden Türme. Komisch, wem war es eigentlich in den Sinn gekommen, ausgerechnet in dem kleinen Anykščiai die höchste Kirche von ganz Litauen zu bauen? Warum gerade hier? Aber die Frage kam zu spät, alle, die die Kirche konzipiert und gebaut hatten, flogen längst als Engel da oben im Himmel!

Renata ließ ihren Blick von den Kirchturmspitzen zum heiteren, weder von Wolken noch von Schneeschleiern getrübten Winterhimmel wandern.

Ihre beschwingte Ruhe wurde vom Klingeln des Handys unterbrochen.