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Thomas Buchner

Donaudämmerung

Ein Krimi aus dem Jahr 1939

1

Freitag, 13. Mai 1938, 11 Uhr

Im Großen und Ganzen war Leopold Keplinger gerne Polizist. Schon als Kind, als er mit den Buben aus der Eisenhandstraße in der schütter verbauten Umgebung der Kasernen ‚Räuber und Gendarm‘ gespielt hatte, war er, der Poldl, der Ordnungshüter gewesen. Bereits mit sieben Jahren war ihm klar geworden, dass er Polizist werden wollte.

Damals musste er eine Mutprobe bestehen, um – wie zuvor seine älteren Brüder – von Häuptling Dunkler Blitz, das heißt vom Rennhofer Ferdl, in den Stamm der Sioux aufgenommen zu werden. Poldl sollte aus einer vor der Greißlerei Schierhuber stehenden Kiste zwei Äpfel stehlen. Zuvor hatte schon der Scheuringer Sepp, der ein halbes Jahr jünger war als Poldl und ungeschickt obendrein, diese Aufgabe mit Bravour erledigt, weshalb es auch ihm als ein Leichtes erschien, die Äpfel zu entwenden. Doch als er in einem passend scheinenden Moment die Hand nach der Kiste ausstreckte, trat ein Polizist aus einem dunklen Hauseingang und ließ ihn mit eisenhartem Griff erstarren. „Mach keinen Schmarrn!“, hatte der großgewachsene Mann mit dem stechenden Blick gebrummt und dem vor Angst schlotternden Poldl eine Ohrfeige gegeben, wie er sie selbst von seinem Vater nicht gekannt hatte. In den Stamm der Sioux wurde Poldl dennoch aufgenommen, nachdem er gewissermaßen als Ersatz für den missglückten Apfeldiebstahl dem Trafikanten Kowacek mit der Steinschleuder eine Scheibe eingeschossen hatte.

Die Ohrfeige und der stechende Blick hatten in Poldl den Wunsch reifen lassen, selbst einmal für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Sein Vater, ein einfacher Schweißer in der Schiffswerft, hatte nach anfänglichem Zögern den Berufswunsch seines Sohnes akzeptiert. Nach der Angelobung schließlich, als Poldl das erste Mal in Uniform heimkam, meinte er sogar Tränen in den Augenwinkeln des Vaters gesehen zu haben. Das war der Moment, in dem auch die Mutter stolz auf ihn war – sie, die immer Angst hatte, dass ihrem Lieblingssohn etwas zustieß.

Poldl mochte es, in seinem Revier auf Streife zu gehen und von den meisten respektvoll gegrüßt zu werden. Es machte ihm auch nichts aus, in der Nacht in dunklen Kellerlokalen nach dem Rechten zu sehen und auffällige Subjekte zu kontrollieren. Natürlich war nicht alles Sonnenschein, und auch die Bezahlung ließ zu wünschen übrig. Er hätte etwas mehr Geld nötig gehabt, aber weniger für sich, als vielmehr, um seiner Familie aushelfen zu können.

Aber im Großen und Ganzen gefiel es Poldl, Polizist zu sein. Wie den meisten seiner Kollegen war ihm daher der Anschluss Österreichs an Deutschland recht gewesen. Endlich hatte man das Gefühl, es werde nun tatsächlich etwas gegen die Arbeitslosigkeit getan. Dass die Leute zu wenig Geld und zu viel Zeit hatten, war ja schuld an den vielen Diebstählen, die bei Poldl und seinen Kollegen ein Gefühl der Machtlosigkeit erzeugten. Auch war es ihm gar nicht unsympathisch, nun tatsächlich so durchgreifen zu dürfen, wie man es in den Reihen der Polizei schon lange gefordert hatte. ‚Waffengleichheit mit der Unterwelt‘, lautete das Schlagwort, das auch in den Gängen der Linzer Polizeidirektion populär war.

Endlich hatte man die Mittel in der Hand, um wirksam gegen die Kriminellen vorgehen zu können, und die ganze Stadt schien – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nur darauf gewartet zu haben. Dachau war ein Ort, an dem sich manches abspielte, das man lieber nicht so genau wissen wollte. Aber viele Polizisten sahen zunächst einmal das Praktische daran, denn es ließ sich mit einem Konzentrationslager recht wirkungsvoll drohen, was auch dem Poldl durchaus behagte.

Ausgerechnet heute fühlte sich Leopold Keplinger nicht recht wohl. Erstens einmal, weil es ein Freitag war, der auf den 13. fiel. Von seinem Onkel mütterlicherseits hatte er ein Quäntchen Aberglauben geerbt. Der Onkel hatte mit dem Verweis auf allerlei unheilvolle Symbole und Konstellationen seine erstaunliche Unfähigkeit in alltäglichen Dingen zu kaschieren getrachtet. Dem Poldl war auch eine übergebührliche Scheu vor schwarzen Katzen und kaputten Spiegeln eigen. An sich trachtete er danach, an einem Freitag, den 13. keinen Dienst zu machen, aber diesmal war ihm das nicht gelungen. Ein weiterer Grund für sein Unbehagen hatte unmittelbar mit dem Anschluss zu tun: Er hatte sich an seine neue grüne, dem reichsdeutschen Standard entsprechende Uniform noch nicht gewöhnt. Besonders der Tschako drückte ganz gehörig auf den Kopf, zumal an warmen Tagen wie diesem. Der dritte Grund für sein Unwohlsein lag in unmittelbarer Zukunft, denn am Sonntag war Muttertag. Bis dahin war im Hause Keplinger wenig Wert darauf gelegt worden, aber seitdem in den Zeitungen häufiger auf die Bedeutung des ‚Ehrentags der deutschen Mutter‘ hingewiesen wurde, wollte natürlich auch Poldls Mutter geehrt werden. Das passte ihm gar nicht, zumindest heuer nicht, wo er doch mit seinem Bruder Peter und einem Freund eine Radpartie unternehmen wollte.

So zerbrach sich Keplinger den Kopf über einen möglichen Ausweg aus dieser Zwickmühle und war demgemäß nicht recht bei der Sache. Dabei hatte er gerade an diesem Freitag eine besondere Aufgabe: Generalfeldmarschall Hermann Göring, Beauftragter des Vierjahresplans, wurde in Linz erwartet, um den Spatenstich für das geplante, nach ihm benannte Hüttenwerk im Südosten der Stadt vorzunehmen. Auf dem fahnengeschmückten Gelände tummelten sich bereits seit dem Morgen zahlreiche Formationen der Hitlerjugend, der SA, der SS und anderer Parteigruppierungen. Poldls Aufgabe war es, gemeinsam mit anderen Schutzpolizisten für Ordnung und besonders für die Sicherheit des mächtigen Mannes zu sorgen. Tagelang waren er und seine Kollegen instruiert worden, wie dies zu bewerkstelligen sei. Hauptsächliches Augenmerk war auf die Vermeidung unvorhergesehener Zwischenfälle zu legen. Obwohl in den beiden vergangenen Monaten tüchtig gearbeitet wurde – wie Major Schallert, der Kommandeur der Schutzpolizei, in seinen einleitenden Worten betont hatte –, gebe es nach wie vor „verbohrte Sozialisten“ und Anhänger der „Systemregierung“, die nicht begreifen wollten, dass ihre Zeit endgültig vorbei war. Alles, was auch nur ansatzweise als Terror betrachtet werden könne, sei bereits an der Wurzel zu packen und auszurotten. Poldl hatte seufzen müssen, so oft hatte Schallert das Wort „radikal“ in den Mund genommen. Andererseits aber – hatte Schallert weiter ausgeführt – seien spontane Beifallskundgebungen der anwesenden Volksgenossen nicht zu behindern. Immerhin solle dem befreiten Volke die Gelegenheit gegeben werden, einem der größten Männer Deutschlands Dank für die Erlösung vom „Schuschniggjoch“ abzustatten.

Die Uniformierten hatten einander ratlos angeblickt. Wo endete eine spontane Beifallskundgebung und wo begann ein unvorhergesehener Zwischenfall? Darüber hatten die Instruktionen geschwiegen und Poldl hoffte, dass die Zeremonie schnell und ohne gröbere Vorkommnisse vorübergehen würde. Tatsächlich sollte Göring ja auch noch das Flugfeld in Hörsching eröffnen, allzu lange würde er sich in Linz nicht aufhalten.

Bereits Stunden vor dem eigentlichen Festakt strömten hunderte Menschen auf das Gelände. Eine Kapelle spielte das ‚Horst-Wessel-Lied‘, gefolgt von ‚Es zittern die morschen Knochen‘ und dem ‚Radetzky-Marsch‘. Poldl versuchte, volksnah und ordnungsstiftend zugleich zu erscheinen, ganz im Sinne der Anweisungen. Tatsächlich mochte er keinem der vielen Menschen, die nach St. Peter-Zizlau kamen, zutrauen, dem Reichsfeldmarschall etwas anzutun, nicht einmal den hiesigen Bewohnern, deren Dorf schon bald dem Erdboden gleichgemacht sein würde.

Bei der Zufahrt zum Festgelände brausten plötzlich ‚Heil‘-Rufe auf. Poldl konnte von seinem Standpunkt aus nichts erkennen, aber offenbar näherte sich Görings Konvoi dem riesigen Kran-Bagger, auf dem die Ansprache gehalten werden sollte. Man hatte der Zeitung entnehmen können, dass der Bagger extra aus Essen herangekarrt wurde. Poldl sah wenig, sein Blick hatte der Menschenmenge und nicht dem Generalfeldmarschall in seinem Rücken zu gelten. Allerdings war ihm trotz aller Muttertagsgrübelei doch bewusst, an einem historischen Moment teilzuhaben. Ein Mikrophon quietschte und aus den Lautsprechern quoll blechern die Stimme eines Mannes, die Poldl nicht zuordnen konnte. Die ‚Heil‘-Rufe ebbten ab, der Mann in seinem Rücken sprach von der neuen Zeit, die angebrochen sei, und Ähnlichem, dem Poldl nicht mehr folgen konnte, weil er es in den letzten Wochen schon zu oft gehört hatte. Den Menschen vor ihm mochte es ähnlich gehen, manche unterhielten sich gedämpft mit ihren Nachbarn, manche blickten sich um. So wie Poldls Mutter konnten wohl manche nicht glauben, dieses Dorf binnen kürzester Zeit verschwinden zu sehen.

„Und stinken wird’s, wenn die da erst einmal die Fabrik hingestellt haben“, hatte sie erst gestern wieder gejammert.

Poldl musste lächeln. Wovor sich die Mutter da nur wieder fürchtete! Natürlich würde es zu bemerken sein, wenn da erst einmal dieses Werk, noch dazu in den geplanten Ausmaßen, stehen würde, aber was galt das gegen den Aufschwung, den Linz damit nahm?

„Und überhaupt“, hatte er der Mutter entgegnet, „wo der Führer Linz so gern hat, wird er doch die Stadt nicht ruinieren.“

Poldl, immer noch lächelnd, wurde von einigen Leuten vor ihm böse angeschaut. Sofort bemühte er sich, wieder ausdruckslos, aber wachsam dreinzublicken, ganz so, wie er es sich im Laufe seiner bisherigen Polizeilaufbahn angewöhnt hatte. Die Leute hatten sich verändert, ihre Haltung war strammer, die Augen waren erwartungsvoller geworden. Auch die Stimme in Poldls Rücken kam nun von jemand anderem. Das musste Göring sein.

„Hier wird sich dies Werk dehnen“, führte der Feldmarschall aus, „und dann einmal Kunde bringen von dieser gewaltigen Zeit. Wo heute noch blühende Wiesen sich dehnen, wird dann dieses Werk stehen.“

Da dehnte sich aber manches bei dem dicken Hermann! Poldl erschrak. Scherze verboten! Heute mehr denn je! Er lenkte sich mit einem Blick auf die ältere Frau ab, die unmittelbar vor ihm stand und versunken den Worten des Feldmarschalls lauschte. Ob auch sie am Sonntag geehrt werden würde? In ihrer Hand hielt sie einen Strauß Frühlingsblumen, der wohl auf dem Weg zum Festplatz auf einer Wiese mit besonderer Sorgfalt gepflückt worden war. Für die ältere Frau in dem abgetragenen Mantel schien bereits heute ein Ehrentag zu sein. Es dauerte nicht lange und der Feldmarschall hatte geendet. ‚Heil‘-Rufe brandeten wieder auf, und eine Kapelle intonierte das ‚Deutschlandlied‘.

Unweit von Poldls Platz war alles für den nun vorgesehenen Spatenstich vorbereitet. Ein neuer Spaten stak in einem Erdhaufen neben einem quadratischen Feld mit gelockerter Erde. Fotografen und Zeitungsredakteure drängten sich zwischen Poldl und seinem uniformierten Nebenmann vorbei, um den historischen Moment besser in den Blick zu bekommen. Ein Journalist der ‚Tages-Post‘, den Poldl von mehreren Einsätzen her kannte, nickte dem Polizisten zu. Einige Zuschauer nutzten die Gunst der Stunde und versuchten ebenfalls, zu Feldmarschall Göring vorzudringen. Poldl bemühte sich, keine Lücke zwischen sich und den benachbarten Schutzpolizisten entstehen zu lassen, doch ein ungehobelter Kerl rammte ihm das Stativ einer Filmkamera mit der Aufschrift ‚Fox Wochenschau‘ in die Kniekehlen. Poldls Beine knickten ein und er sackte zu Boden. Einige nützten das Loch in der Kette und drängten sich an ihm vorbei. Nur mit Mühe konnten sie von rasch herbeigeeilten Schutzpolizisten daran gehindert werden, Göring zu nahe zu kommen. Im Aufrappeln konnte Poldl erkennen, wie es einer Frau doch gelang, sich zum Feldmarschall durchzuschlängeln. Es war jene Alte, die unmittelbar vor Poldl gestanden war. Sie streckte dem neben ihr wuchtig wirkenden Göring die Blumen hin, Kameraobjektive nahmen beide in den Fokus, und als Göring den Strauß mit einem breiten Grinsen entgegennahm, schlug die Frau gar ihre Arme um ihn. Das rasch aufeinanderfolgende Klicken der Fotoapparate bannte die Szene. Poldl riss die Augen auf. War das nun einer jener Zwischenfälle, die zu unterbinden seine Aufgabe gewesen wäre? Ein paar Polizisten wollten die Frau wegziehen, doch Göring, dem mittlerweile die Uniformmütze vom Kopf gerutscht war, winkte lachend ab und drückte nun seinerseits der Alten einen Schmatz auf die Wange.

Poldl hätte sich ohrfeigen können. Bei seinem bisher wichtigsten Einsatz versagte er! Wutentbrannt rappelte er sich auf. Grimmig dreinblickend, versah er den restlichen Dienst.

Am Nachmittag, als die Schutzpolizisten auf ihren Saurer-Lkws wieder in den Kasernenhof einbogen, hatte sich Poldl immer noch nicht beruhigt. Was, wenn die Frau eine Kommunistin gewesen wäre? Wenn sie Göring vor laufender Kamera ermordet hätte, und das, wo der Tumult ausgerechnet durch seinen Fehler entstanden war? Die Kameraden klopften ihm aufmunternd auf die Schulter.

„Ist noch mal gut gegangen“, murmelte einer.

„War ja nicht deine Schuld“, meinte der Horak Franz. „Schau, am End ist’s vielleicht sogar eine Verwandte von ihm!“, lachte er.

Poldl wollte nicht recht daran glauben, aber die Anteilnahme seiner Kameraden rührte ihn. Auch Oberleutnant Rittner, der am Abend den Appell im Kasernenhof abnahm, erwähnte die Szene nur am Rande. Dies beruhigte Poldl aber nicht vollends. Was, wenn Göring empört war über den Umstand, dass eine ältere Frau einen Polizeikordon durchbrechen und mit ihm auf Tuchfühlung hatte gehen können? Was, wenn in diesen Minuten schon ein Mann aus Görings Stab den Linzer Polizeipräsidenten aufforderte, den – wie es nun oft zu hören war – schlappen Ostmärkern Dampf zu machen? Was, wenn Polizeipräsident Plakolm seinerseits wiederum den Kommandeur der Schutzpolizei für die Maßnahmen verantwortlich machte?

Den restlichen Tag war Poldl in Gedanken und antwortete auf Fragen nur einsilbig. Am Abend stocherte er lustlos in seinem Essen und das, obwohl die Mutter sein Lieblingsgericht gekocht hatte. Auch nachdem er ins Bett gegangen war, wollte ihm sein Malheur nicht aus dem Kopf gehen.

So verbrachte Poldl ein paar schlaflose Nächte. Wirklich beruhigen konnte ihn erst der Wochenschaubericht über die Spatenstichfeier im Kino. Da waren doch tatsächlich ausgerechnet jene Bilder ausgewählt worden, auf denen zu sehen war, wie die Menge den Ring der Uniformierten durchbrach und er am Boden lag! Poldl erbleichte. Kurz kam ihm der Gedanke, den Polizeidienst zu quittieren, als er die sich überschlagende Stimme des Kommentators hörte: „Kaum zu bändigender Jubel der befreiten Ostmark“ und „Auch diese Frau weiß, wem sie für die Befreiung der Ostmark zu danken hat“. Verhaltenes Gelächter im Kinosaal, als dem grinsenden Göring die Uniformmütze zu Boden fiel. Die Frau, die rechts neben Poldl saß, lächelte entzückt und stieß ein „Nein, so was!“ hervor, und sein Nachbar zur Linken flüsterte ihm zu: „Der Hermann ist halt wirklich einer von uns!“

Allmählich begann es, Poldl zu dämmern: Sein Missgeschick war den Propagandaleuten sogar recht gewesen, eine spontane Beifallskundgebung, die den ‚dicken Hermann‘ noch leutseliger wirken lassen sollte. Er atmete erleichtert auf. Vor Freude wollte er die Frau neben sich küssen. Er wartete den Hauptfilm mit Kristina Söderbaum nicht mehr ab und beschloss, sich stattdessen in einem Gastgarten ein Bier zu leisten. Leopold Keplinger fühlte sich so beschwingt wie lange nicht. Vergessen war seine Angst vor Hermann Göring, vergessen die Gedanken an ein Ende seiner Laufbahn. Die neue Zeit, sie konnte kommen.

2

Sonntag, 13. August 1939, 13 Uhr

Wirklich wohl fühlte sich Kriminalassistent Adolf Ertl in der Südtirolerstraße 8 nicht. Er zögerte kurz, klopfte dann aber kräftiger als nötig, so als könnte er sich damit überzeugen, hier das Richtige zu tun. Dabei glaubte er, nein er wusste, es war ein Fehler, an einem Sonntagmittag mit einem Strauß Blumen vor der Tür der Postratswitwe Bremstaller zu stehen. Es war falsch, ganz und gar falsch, denn Ernestine Bremstaller, bei der er mehrere Jahre lang Untermieter gewesen war, hatte ihm das Leben zur Qual gemacht. In seiner Erinnerung bestand diese Zeit vor allem aus quälend langen Abenden im muffigen, mit staubigen Nippesfiguren vollgestopften Salon bei lauwarmem Tee und Likör. „Konversation treiben“, hatte das die Bremstaller genannt, doch dabei war es nur darum gegangen, möglichst blutrünstige Details aus der Polizeiarbeit Ertls zu erfragen, bevor das Gespräch regelmäßig zu einem endlosen Monolog der Witwe über Weitsicht und Güte ihres verstorbenen Postratsgatten ausartete.

Umso rascher wollte er es hinter sich bringen. Noch einmal klopfte er. Das Geräusch hallte dumpf im Stiegenhaus nach, in dem, abgesehen von seinen knarrenden Schuhen, nur gedämpfte Straßengeräusche zu hören waren. Alles wegen Klara!, dachte Ertl grimmig. Alles für Klara!, dachte er mit dem Anflug eines Lächelns.

„Es gehört sich“, hatte Klara gemeint, „du hast vier Jahre bei ihr gewohnt. Sie weiß ja gar nicht, was aus dir geworden ist.“

Wenn sich Klara etwas in den Kopf setzte, war an Debattieren nicht zu denken, so viel hatte Ertl in dem einen Jahr ihrer Ehe gelernt.

„Und außerdem ist das kein Beinbruch, du gehst zu ihr und lädst sie für nächsten Sonntag zu einer Kaffeejause ein. Sie kann sich die Inge anschauen, ist zufrieden und geht wieder.“ Seufzend hatte er das schlafende Kind in der Wiege angeblickt. Wollte er seine Tochter wirklich der alten Bremstaller aussetzen, wenn es auch nur für ein paar Stunden und unter Aufsicht wäre?

„Na, komm schon, Dolferl“, hatte Klara augenzwinkernd nachgesetzt und mit dem Handrücken über seine Wange gestreichelt. „Immerhin hat sie dafür gesorgt, dass dich keine andere bekommt. Schon allein dafür muss ich ihr noch Danke sagen.“

Diesem Augenzwinkern war Ertl zum ersten Mal beim Wohltätigkeitsball der Linzer Fleischhauer verfallen, zu dem ihn sein Kollege Haslinger geschleppt hatte. Vor gut drei Jahren war das gewesen, und Ertl hatte es binnen einer halben Stunde geschafft, Haslingers Schwester die Füße blutig zu tanzen und ein ganzes Glas Bowle auf seinen Anzug zu schütten. Die Fleischhauergesellen, an deren Tisch Ertl zu sitzen gekommen war, hatten laut lachend jedes Missgeschick des jungen Kriminalbeamten kommentiert. Nur eine der jungen Frauen am Tisch hatte ihm ein aufmunterndes Lächeln geschenkt, das ihn nicht beschämte, und ihm zugezwinkert. Drei Stunden später hatte er gewusst, dass die junge Frau Klara Drabek hieß und der imposante Mann, der sie immer wieder um die Schulter fasste, ihr Bruder war. Drei Tage später hatten sich im Café Derflinger erstmals ihre Hände berührt und drei Wochen darauf waren sie offiziell miteinander gegangen. Schließlich hatte ihn ihr Zwinkern vor den Traualtar geführt.

Es hatte auch heute nichts von seiner Wirkung auf den Kriminalassistenten eingebüßt, weshalb er nun vor der Türe seiner ehemaligen Zimmerwirtin stand. Aus der Wohnung war nichts zu hören. Vielleicht hatte sich die Bremstaller ja hingelegt. Im Stiegenhaus war es angesichts des hochsommerlichen Wetters stickig. Auf seinen Schläfen bildete sich Schweiß. Er klopfte noch einmal. Als sich immer noch nichts rührte, holte er ein Notizheft hervor, riss ein Blatt ab und schrieb darauf ein paar Zeilen. Als er es in den Spalt zwischen Tür und Türstock stecken wollte, bemerkte er, dass sich die Tür leicht bewegte. Sie war, ganz gegen die Gewohnheit der ängstlichen Frau, nicht geschlossen. In Ertl wurde der Kriminalist wach.

Der kleine Gang der Wohnung war dunkel. Ertl erkannte sofort wieder den Geruch nach Bohnerwachs, Naphthalin und verbrauchter Luft, der in der Wohnung hing. Er stolperte fast über eine Falte im weinroten Läufer. Beim Versuch, sich abzustützen, riss er die Messingschale vom Vorzimmerschränkchen zu Boden. Mit einem dumpfen Klirren landete der Schlüsselbund Bremstallers auf dem Teppich. Das mulmige Gefühl in der Magengegend verstärkte sich.

„Frau Bremstaller?“, fragte Ertl mit gedämpfter Stimme in das Dunkel der Wohnung hinein. Vielleicht war sie nur rasch zur Nachbarin gegangen? Er verwarf den Gedanken sofort wieder. Auch wenn sie nur auf einen Sprung zur Frau Schoiswohl geschaut hatte, hatte sie den Schlüssel stets mitgenommen. Sie ging nicht einmal in den Keller, ohne zuvor die Wohnung sorgsam abzusperren. Vielleicht war sie unwohl, das schwüle Wetter der letzten Wochen machte manchen zu schaffen.

„Frau Bremstaller?“, fragte Ertl noch einmal, diesmal mit festerer Stimme. Ratlos stand er im Vorraum. Er wagte es nicht, an die Schlafzimmertür zu klopfen. Auch als er noch in der Wohnung gelebt hatte, hatte er es peinlichst vermieden, nur einen Blick in dieses Zimmer zu werfen. Zu deutlich waren ihm die feixenden Gesichter seiner Kollegen vor Augen gestanden, die ihm immer wieder ein Verhältnis mit der Bremstaller angedichtet hatten.

Er klopfte an die geschlossene Küchentür. Auch das ganz anders als üblich, dachte Ertl. Die Zimmerwirtin war stets darauf bedacht, von der Küche aus möglichst alle Bewegungen ihrer Untermieter verfolgen zu können. In Ertl stiegen wieder jene Gefühle hoch, die nach dem Auszug von ihm abgefallen waren wie ein schwerer Mantel: Angst und Wut. Nie hatte er heimkommen können, ohne von der in der Küche – wie er sicher war: zum Schein – hantierenden Bremstaller bemerkt und über seinen Tagesablauf ausgefragt zu werden.

Zögernd öffnete er die Tür. Er sah Ernestine Bremstaller auf einem der alten, weiß lackierten Sessel sitzen. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, und er konnte erkennen, dass die rüschenbesetzte Schürze, die sie in der Küche zu tragen pflegte, an einem Haken neben dem Herd hing. Und noch etwas war anders als erwartet: Frau Bremstaller saß nicht aufrecht („Gerade wenn man älter ist, hat man als Witwe eines Postrats auf Haltung zu achten, Herr Ertl! Man hat schneller eine Nachrede, als man glaubt!“), sondern schräg vornübergebeugt. Ihre Augen fixierten den zur Hälfte aufgegessenen Guglhupf auf der Kredenz. Eine Fleischfliege vermochte sich nicht zwischen der Mehlspeise und den Augen der Frau zu entscheiden und surrte gemächlich hin und her. Ernestine Bremstaller lebte nicht mehr, und die Blutlache am Boden deutete auf einen vorzeitigen Tod hin.

Ertl sollte diese Szene in den folgenden Wochen hunderte Male rekapitulieren. Was ihn ärgerte, war der Umstand, dass ihm zunächst weder die beiden Teller mit Kuchenbröseln noch das Messer auf dem dunkel gebeizten Boden aufgefallen waren. Was er stattdessen als Erstes bemerkte, war die Schnapsflasche auf dem Tisch. Das passt doch nicht, dachte Ertl, als er wie angewurzelt in der Küchentür stand. Die Bremstaller trank doch keinen Schnaps! Wo war der giftgrüne Likör, mit dem sie ihn jahrelang malträtiert hatte, wo die Gläser? Suchend blickte er sich um, so als gerate die Szenerie erst mit Pfefferminzlikör in Ordnung.

Ertl vermochte später nicht zu sagen, wie lange er so in der Küche gestanden war und sich über den Schnaps gewundert hatte. Er fürchtete, in Ohnmacht zu fallen, hielt sich aber mit dem Gedanken an seine Pflicht als Beamter auf den Beinen. Und für seine Pflicht hielt er zu diesem Zeitpunkt zwei Dinge: die Kollegen zu verständigen und ihnen zu versichern, Bremstaller nicht selbst umgebracht zu haben.

3

Sonntag, 13. August 1939, 13 Uhr 30

„Also Pepi, wennst glaubst, dass wieder mit dem Schippel rennen musst, bitteschön, aber beschwer dich nachher nicht, dass das ein Geld kostet und man eh nix hat davon!“

Josef Steininger fühlte sich auf der sonst so behaglichen Küchenbank unwohl. Gerade hatte er es sich nach dem sonntäglichen Braten gemütlich gemacht. Den vom Frühschoppen durchschwitzten Kragen hatte er bereits vor dem Essen abgenommen, nun hing auch das Oberhemd über der Rückenlehne des Sessels, die oberen Hosenknöpfe waren geöffnet und die Pantoffeln abgestreift. Alles war für den Mittagsschlaf bereit.

„Nichts ist einem vergönnt!“, schimpfte er, freilich nur in Gedanken. Nicht einmal jetzt konnte man seine Ruhe haben. Akkurat jetzt fing die Mizzi schon wieder mit der Parteimitgliedschaft an. Wie ein Schulbub, der seine Hausübungen nicht gemacht hatte und dafür vom Lehrer zum Katheder zitiert wurde, war er sich in den letzten Wochen daheim vorgekommen. Hatte er das nötig? Musste erst immer und immer wieder deutlich gemacht werden, wer hier das Geld nach Hause brachte? Das ungeduldige Geschirrklappern seiner Frau ließ ihn erneut um seinen gemütlichen Nachmittag bangen.

„Müssen wir das ausgerechnet jetzt besprechen?“, startete er einen zaghaften Versuch, dem Gespräch zu entkommen.

„Wann denn sonst? Bist ja nie da! Entweder habts wieder wo wen zum Verhaften oder du bist beim Stammtisch. Grad zum Essen und zum Schlafen bist noch daheim.“

„Eh gscheiter so“, brummte er.

„Wie bitte?! Was sagst?!“

„Nix. Mein Gott, Mizzi, kann ich da was dafür, dass ich so viel arbeiten muss? Wo wir doch keine Leute mehr haben! Der Strasser, der Haslinger, alle weg! Arbeit über Arbeit gibt’s. Und wen krieg ich dafür? Eine ganz Junge, die nicht einmal Kriminalistin ist. Aus Wien noch dazu!“

„Also Pepi, wenn du glaubst, ich lass mich mit dir jetzt wieder auf einen Disput wegen der neuen Kollegin von dir ein, dann hast du dich geschnitten. Die wird schon was können. Und nur weil dir eine Frau nicht hineinpasst, brauchst nicht Zeter und Mordio schreien.“

Steiningers Personalsorgen waren in der Tat nicht übertrieben. Nach dem durch die Nazis erzwungenen Ausscheiden der beiden Kriminalbeamten Strasser und Haslinger, der Pensionierung Lampelmaiers und dem Wechsel Sedlaks zur Gestapo war der Personalstand der Linzer Kriminalpolizei arg zurückgegangen. Nach langem Drängen Steiningers hatte ihm Polizeipräsident Plakolm schließlich Verstärkung zugesagt. Vorerst aber sollte Steiningers Gruppe mit dem von der Asservatenkammer zur Kriminalpolizei versetzten Franz Heumader sowie der jungen Kriminalassistentin Anna Rabitsch das Auslangen finden. Rabitsch hatte sich ihre ersten Sporen bei der Sittlichkeitsabteilung der Wiener Kriminalpolizei verdient und war „aus persönlichen Gründen“, wie es geheißen hatte, nach Linz gekommen. Persönliche Gründe waren Steininger grundsätzlich suspekt. Ein Polizist hatte keine persönlichen Gründe zu haben. „Wo käme man denn da hin, wenn ein Beamter persönliche Gründe hätte?“, hatte er seinen Vorgesetzten, den Polizeipräsidenten, gefragt. Der aber hatte nur abgewunken. Steininger fühlte sich schon mit dem schwerhörigen Heumader nicht wohl, auch wenn dieser in erster Linie den Innendienst zu übernehmen hatte. Über den weiblichen Zuwachs in der Abteilung war Steininger noch unglücklicher. Gegenüber Plakolm und seiner Frau klagte er über die mangelnde Erfahrung dieser Rabitsch. Tatsächlich aber war die von ihm vage empfundene Verpflichtung, sich in Gegenwart einer Frau weniger ungezwungen zu verhalten als bisher, der eigentliche Grund seiner Ablehnung.

„Aber eigentlich musst eh du schauen, wie du mit der Frau zurechtkommst. Mir geht’s jetzt um was ganz anderes.“

Steininger schaute bekümmert. Er hatte die Personalsituation nur ins Gespräch gebracht, um seine Frau von einem noch unangenehmeren Thema abzulenken: seiner angestrebten Mitgliedschaft bei der NSDAP. „Also, Mizzi. Ich steh die ganze Woche im Geschirr. Ist’s zu viel verlangt, wenn ich wenigstens einmal in der Woche eine Ruh haben möcht?“

„Ganz und gar nicht! Mir tät das auch einmal gefallen! Komm mir selber schon vor wie ein Ochs“, kam es giftig von der Abwasch zurück. „Mir wird die Hausarbeit auch nicht einfacher! Bin schließlich nicht mehr die Jüngste.“ Wie um ihre Worte zu unterstreichen, seufzte sie und stemmte den rechten Arm in den Rücken. „Das Kreuz hört und hört nimmer auf zum Wehtun“, klagte sie. „Helfen tut auch keiner.“

„Ja, soll ich vielleicht abwaschen?“ Steininger war empört.

„Warum nicht. Soll schon vorgekommen sein, dass ein Mannsbild seiner Frau ein bisserl hilft.“

„So weit kommt’s noch!“ Steininger schnaufte empört. Sein Bärtchen begann zu jucken. Gleich nach dem Anschluss hatte er sich beeilt, seinen Schnurrbart zu stutzen, um auch ohne ein demonstrativ am Revers angeheftetes Parteiabzeichen sein Einverständnis mit den neuen Verhältnissen zu demonstrieren. Doch recht wohl wollte er sich mit dieser reduzierten Barttracht nicht fühlen. In der Nacht vor der Volksabstimmung am 10. April 1938, die den vier Wochen zuvor erfolgten Anschluss absegnen sollte, war Steininger von einem Alptraum heimgesucht worden: 99 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher hätten nicht für, sondern gegen den Anschluss gestimmt. Die Wehrmacht samt SS und Parteifunktionären verließen das Land wieder und Schuschnigg blieb an der Macht. Sämtliche Hitlerbartträger wurden verhaftet und eingesperrt. In riesigen Hasenställen drängten sie sich ängstlich und mit bebenden Nasenflügeln aneinander. Nur wenige entkamen, indem sie sich glattrasierten. Ausgerechnet Steininger aber war jeder Versuch misslungen, sich das Bärtchen abzunehmen: Kaum legte er das Rasiermesser weg, wuchs es in Windeseile wieder nach. Seit dieser Nacht juckte der Bart stets dann, wenn er in einer unangenehmen Situation steckte oder er sich aufregte. Erregt rieb er sich über der Oberlippe.

„Was soll ich denn noch alles machen?“, rief er. „Ich bin schließlich und endlich der, der hier arbeiten geht.“

„Und deswegen meinst, du musst zu den Nazis gehen?“

„Ja glaubst ich mach das aus reiner Gaudi? Wenn’s nach mir ginge, wär ich in Pension und müsst mich um den ganzen Krempel gar nimmer kümmern.“

Seine Frau blickte ihn skeptisch an.

„Wie oft soll ich dir das noch sagen, Mizzi“, unternahm Kriminalkommissar Steininger einen letzten Versuch, seinen Mittagsschlaf zu retten. „Ich muss ja praktisch dazugehen.“

„Müssen tust? Sterben musst.“

„Jetzt stell dich nicht blöder, als du bist, Mizzi! Du weißt ganz genau, dass ich da nicht auskomm. Als Staatsdiener bin ich quasi in einer Zwangslage! Noch dazu in meiner Position. Da hat man ja gar keine Wahl. Wo sogar der Portier vom Präsidium dabei ist. Seit dem 36er-Jahr schon!“

„Der Anzengruber? Ich hätt mir gedacht, das ist ein Heimwehrler.“

„Ja, schon auch. Das heißt, das ist er nur gewesen wegen der Tarnung. Damit keiner nicht weiß, dass er ein Nationalsozialist gewesen ist, immer schon. Zumindest seit s’ die Roten verboten haben. Und überhaupt bin ich ja praktisch der Einzige, der noch nicht dabei ist!“

„Eins versteh ich nicht, Pepi. Dein Lebtag lang bist bei keiner Partei gewesen. Nicht einmal zu einem Verein hast jemals wollen. Vor ein paar Jahren hast Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, damit du der Heimwehr wieder auskommst, und auf deine alten Tage willst partout bei denen“ – sie deutet mit dem Kochlöffel auf den Fußboden – „dabei sein.“

In der Wohnung unterhalb war wenige Monate zuvor eine junge Familie aus Westhofen bei Schwerte, aus dem Altreich also, eingezogen. Der Mann, Doktor Heiner Rossmann, hatte einen Posten bei der Gauleitung angetreten. Die Steiningers wussten weder wo Westhofen noch wo Schwerte lag. Aber sie wussten, dass die Familie Rossmann genau so aussah, wie sie sich preußische Nazis vorstellten, weshalb beide stets auf den Fußboden deuteten, wenn sie von den Nationalsozialisten sprachen.

„Ich bitt dich Mizzi, nicht so laut, wenn die das hören!“

„Die hören nichts, um die Zeit hören die nur den Berliner Sender!“

„Ich will ja gar nicht dabei sein, mir ist das alles zuwider. Aber müssen tu ich halt, zumindest ein bisserl dazugehen. Heutzutage heißt das ja gar nicht mehr viel, wo doch praktisch schon ein jeder dabei ist. Es muss ja auch keiner wissen, Hauptsach, die, die’s wissen müssen, wissen’s, das heißt die, die dabei sind.“ Steininger merkte, dass die Argumente, die in seinem Kopf eine glasklare Rechnung ergeben hatten, gar nicht so leicht zu vermitteln waren. Treuherzig blickte er seine Frau an. „Und gar so arg teuer ist’s auch wieder nicht. Wie ich den Antrag abgegeben hab, da …“

Mit einem lauten Knall wurde ein Topf auf der Anrichte abgestellt. Frau Steininger drehte sich zu ihrem Mann um, den Arm mit dem Geschirrhangerl drohend gegen Steininger ausgestreckt.

„Willst du vielleicht sagen, dass du schon einen Aufnahmeantrag gestellt hast? Ja, sag einmal, für was red ich denn die ganze Zeit? Donner und Doria!“

Steininger wollte sich auf die Zunge beißen. Eigentlich hätte er die Sache lieber geheim gehalten. Was musste denn die Frau wissen, dass man bei der Partei war, schließlich war das keine familiäre Angelegenheit. Nun aber half alles nichts. Wenn die Mizzi mit ihm derart ins Gericht ging, wurde die Sache brenzlig. Er suchte sein Heil im Angriff und legte eine trotzige Miene auf. „Jawohl, damit du’s nur weißt, ich erfülle meine Pflicht am deutschen Volk und am Führer!“

Ein verächtliches Grinsen erschien auf Maria Steiningers Gesicht. „Pflicht! Deutsches Volk! Du weißt aber schon noch, was du letztes Jahr im Frühling herumgeschrien hast.“

Steininger schluckte. Dass ihn die eigene Frau an diese unangenehme Sache erinnern musste! Jahrelang hatte die Familie Geld gespart, um sich endlich das vom Familienoberhaupt ersehnte Fleckchen Grund in St. Peter im Südosten der Stadt leisten zu können. In zäher Kleinarbeit hatte er seine Frau davon überzeugt, das Geld nicht in eine komfortablere Wohnung oder einen Radioapparat, sondern in ein Grundstück zu investieren. Im Jänner des Vorjahres hatten sie endlich genug beieinander gehabt, um einem überschuldeten Bauern einen günstig gelegenen Grund unweit der Fischzuchtanstalt abkaufen zu können. Für den Frühling war die Errichtung einer Hütte auf dem Grundstück geplant gewesen. Steininger hatte sich seine Arbeitstage mit Tagträumen versüßt, in denen er Sonntag für Sonntag auf eigenem Grund und Boden in diesem von Gaststätten gespickten Ausflugsziel der Linzer Stadtbevölkerung verbrachte. Doch Adolf Hitler hatte ihm in die Suppe gespuckt. Grundsätzlich war Steininger mit dem Anschluss zufrieden gewesen, zumal er nicht wie die Kollegen Strasser und Haslinger entlassen worden war. Außerdem war er nun Kommissar, was er entschieden dekorativer fand als das österreichische ‚Inspektor‘. Als sich aber das Hitlersche Augenmerk auf die Gründung eines Hüttenwerks just im ländlichen Stadtteil St. Peter richtete, sah der Kommissar schlagartig die Schattenseiten der neuen politischen Ordnung. Und als dann auch noch er von der großangelegten Grundstücksablösung betroffen war, sah er trotz des Geldes, das er dafür erhielt, rot.

Der größte Fehler aber war, an dem Tag, an dem er von seinem Verlust erfahren musste, zum Stammtisch mit seinem pensionierten Kollegen Lampelmaier ins Gasthaus ‚Wilder Mann‘ zu gehen. Lang und breit hatten sie sich über Gerechtigkeit im Allgemeinen und Ungerechtigkeit im Speziellen unterhalten. Rasch war die Rede auf Steiningers Leid gelangt. Nach etlichen Bieren und einem halben Dutzend Obstler hatte Steininger auf einmal die Faust krachend auf den Tisch knallen lassen und geschrien: „Da hätten ja gleich die Kommunisten einmarschieren können! Anständigen Leuten das letzte bisserl Freud am Leben nehmen!“

Lampelmaier war erbleicht und hatte Steininger die dürre Hand auf den Mund gedrückt. Zum Glück war die Gastwirtschaft zu dieser Zeit, von den beiden abgesehen, leer gewesen. Auch der Wirt war eben im Keller verschwunden, um ein neues Fass Bier zu holen.

Lampelmaier, der Steiningers Jähzorn kannte, hatte darauf bestanden, ihn nach Hause zu begleiten. Dort nahm er Frau Steininger zur Seite und drängte sie, ihrem Mann ins Gewissen zu reden. Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

In den darauffolgenden Wochen hatte sie ihn wieder und wieder ermahnt, nur ja nicht zu viel zu trinken und am besten überhaupt nicht mehr unter die Leute zu gehen. Obgleich er Lampelmaier, mit dem er viele Jahre lang ein Büro geteilt hatte, vertraute, fürchtete Steininger bis heute, doch gehört worden zu sein. Und was mit missliebigen Beamten geschah, die Zweifel an der neuen Ordnung äußerten, hatte er am ehemaligen Mitarbeiter Strasser gesehen. Als verkappter Sozialdemokrat war er nach dem Anschluss nicht nur aus dem Polizeidienst entlassen, sondern sogar verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau überführt worden, von wo nach wenigen Monaten eine Todesmeldung nach Linz gelangte. Einer Herzschwäche sei er erlegen, hatte es geheißen. Obwohl Kommissar Steininger schon aus Prinzip nicht an amtlichen Schriftstücken zweifelte, wurde ihm doch mulmig, wenn er an den kerngesunden Strasser und die allerorten kursierenden Geschichten über das Konzentrationslager dachte.

„Grad deswegen muss ich dazu! Damit s’ nicht am End glauben, dass ich was gegen die da hab.“ Er deutete auf den Fußboden. „Die von der Gestapo warten ja nur drauf, dass sie uns abservieren können. Wenn ich den Sedlak schon seh, einen Zorn könnt ich kriegen …“

Friedrich Sedlak war noch wenige Jahre zuvor Steiningers Mitarbeiter gewesen. Als strammer Nationalsozialist war er 1938 zur Gestapo gewechselt. Seither hatten sich die Wege der beiden Verfeindeten bei mehreren Fällen gekreuzt.

„Und überhaupt“, brachte Steininger jenes Argument, das ihm der krönende Abschluss seiner Beweiskette zu sein schien, „bin ich eh noch gar nicht dabei. Parteianwärter bin ich nämlich.“ Vorsichtig holte er die orange Karte aus der Brieftasche. Frau Steininger griff mit spitzen Fingern danach.

„Schau, Mizzi, Parteianwärter steht da. Vielleicht nehmen s’ mich ja gar nicht! Dann wär eh alles in Ordnung!“

Sie rollte mit den Augen. „Mein Gott, Pepi. Was hast dir denn da wieder aufschwatzen lassen. Das ist ja dieselbe Leutefangerei als wie bei den ‚Deutschen Klassikern‘!“ Sie deutete auf eine Reihe prächtig gebundener Bücher, die mangels Platz auf einem Küchenregal gestapelt waren und langsam verstaubten. Steininger hatte sie sich im Vorjahr von einem Vertreter andrehen lassen, gelesen würden die Bücher wohl nie werden. „Zahlen tust für den Schmarrn, aber bringen tut’s rein gar nix. Ich sag dir eins: Das wird dich noch reuen!“

Steininger verstand gar nichts mehr. War man bei der Partei, passte es der Frau nicht, war man nicht bei der Partei, war’s auch nicht recht. Die Frauen und ihre Logik! Er versuchte, die unentwirrbare Situation mit einem versöhnlichen Argument aufzulösen.

„Aber Mizzi. Ich mach das doch auch wegen dem Rudi. Wo der doch zur SS will.“

Sie seufzte. Seit ihr Rudi seinen Wehrdienst ableistete, hatte er sich verändert. Aus dem schüchternen Buben mit schauspielerischen Ambitionen war ein lauter, rauchender und biertrinkender junger Mann geworden, der unanständige Witze riss und den Frauen auf der Straße nachpfiff. So sehr Frau Steininger die Freude ihres Mannes über die, wie er sagte, ‚gesunde‘ Entwicklung Rudis verstand, so sehr vermisste sie die andere, zartere Seite des mittlerweile 19-Jährigen.

„Zur SS will er, ja. Das ist aber noch nicht ausgeredet. Da müsste er ja aus der Kirche austreten. Das macht der Rudi nie. Zumindest nicht, solange ich da ein Wörterl mitreden kann.“

Steininger wusste, dass Rudi nur mehr der Mutter zuliebe gelegentlich in den Gottesdienst ging, aber er schwieg. Die sonntäglichen Streitereien ermüdeten ihn ebenso wie seine Frau, die natürlich wusste, dass ihr Mann der Partei nur aus Bequemlichkeit beitreten wollte. Das Ehepaar blickte schweigend aneinander vorbei. In die Stille hinein läutete das Telefon, das neuerdings das Vorzimmer zierte. Frau Steininger ging hinaus und nahm den schwarzen Bakelit-Hörer ab. In den Gesichtern beider war Erleichterung zu erkennen, dass sie das Gespräch nun beenden konnten.

4

Sonntag, 13. August 1939, 16 Uhr

Na endlich, jetzt kommt sie, die Kriminalpolizei. Das hat aber gedauert. Der Herr Schutzpolizist hat gemeint, die sind eh gleich da, und das ist leicht eine Viertelstunde her. Wenn nicht gar eine halbe! Die arme Bremstallerin. So lang muss sie da tot in der Wohnung liegen. Die Erdäpfel wären mir fast verkocht, nur weil die sich nicht tummeln können. Jetzt ganz leise, sonst hören s’ am End was, die Wohnungstüren sind dünn wie Papier. Und dann heißt’s, die alte Schoiswohl wär neugierig. Oder ist das gar die Gestapo? In Zivil sind s’ jedenfalls. Sogar eine Frau ist dabei, eine ganz junge. Das wird wahrscheinlich das Fräulein sein, das mitschreibt. Und der Wamperte dürft der Chef sein, so wie der sich aufpudelt. Mein Gott, wie der schnauft! Und das wegen der zwei Stiegen, die er hat raufgehen müssen! Kein Wunder, dass das so lang gedauert hat. Nicht einmal ich schnauf so, obwohl ich so schlechte Füß hab. Diese vermaledeite Gicht! Der ist mindestens zehn Jahr jünger als wie ich und ist so beinand. Jetzt muss er sich sogar mit dem Sacktuch den Schwitz aus dem Gesicht wischen. Na, wenn der nicht aufpasst, dann ist’s bald vorbei mit ihm. Wie beim Ramhartinger. Der hat auch so gschnauft. Eine ganz ungesunde Gesichtsfarbe hatte der noch dazu. Ganz gelb ist er gewesen, nicht zum Anschauen. Direkt grauslich ist das gewesen. Da ist man sich selber schon krank vorgekommen, nur vom Hinschauen. Zum Schluss hat der Hausherr sogar extra für ihn einen Handlauf ins Stiegenhaus gemacht, damit er sich ein bisserl anhalten hat können. Sonst wär der gar nicht mehr hinausgekommen. Und dabei hat der doch nur im Hochparterre gewohnt! Aber gegolten hat er halt immer was, der Ramhartinger. Hauptsächlich wegen der Mutter natürlich.

Der Ramhartinger hat sich einfach zu viel gehen lassen. Hie und da einmal ein Bauchspeck und ein bisserl ein Fettrand schadet gar nichts. Aber so wie der Ramhartinger! Der hat ja das Butterschmalz kiloweise in sich hineingestopft. Das ist ja akkurat unnatürlich gewesen, was der gefressen hat. Mein Lieber! Und geraucht! Eine ‚Virginia‘ nach der andern. Da hat er sich nichts abgehen lassen. Und das bei den schlechten Zeiten, die wir damals noch gehabt haben. Naja, wer hat, der hat. Das hat der Führer ja gottlob mittlerweile abgeschafft. Also ich hätt mir das damals nicht leisten können. Dem Ramhartinger muss wohl seine Mutter einiges zugesteckt haben. Als Nachtportier im Hotel wird er auch nicht weiß Gott wie viel verdient haben. Die muss Geld gehabt haben. Ist ja lang genug arbeiten gegangen, und der Mann hat auch seinen Posten gehabt. Himmel, wie haben die noch einmal geheißen, wo die alte Ramhartinger gewesen ist? Das Modegeschäft in der Landstraße jedenfalls haben s’ ghabt, kein Fetzentandler ist das gewesen, schon was Richtiges. Juden sind s’ gewesen, natürlich.

Na, das Geschäft gibt’s nicht mehr. War eh nie dort. Die sollen jetzt in Palästina sein. In Saus und Braus leben s’ da natürlich, und Deutschland steht derweil allein gegen die Front der Feinde. Viel zu rücksichtsvoll ist er, der Führer. Die alte Ramhartinger hat dort sogar noch geputzt, als sie schon verheiratet gewesen ist, es hat ja geheißen, sie hat lang was mit dem Chef gehabt, offenbar ist sogar der Bub gar nicht von ihrem Mann, sondern von ihm. „Judenbinkel, kriech in Winkel“, haben wir immer geschrien auf der Straße, dazumal, das war noch eine schöne Zeit. Bittschön, ich möcht ihm nichts nachsagen, dem Ramhartinger, nur Gutes über die Toten, heißt’s ja, und so genau hab ich ihn mir gar nicht angeschaut.

Aber erwischt hat’s ihn dann halt doch. Da hat ihm das ganze Judengeld nichts geholfen. Und wenn man denkt, dass er doch von einer recht ordentlichen Familie abstammt. Das heißt, fesch beisammen hat sie immer alles gehabt, die alte Ramhartinger. So verlottert rundherum alles gewesen ist. Aber auf die Ordnung hat sie geschaut. Außen hui, innen pfui. Bei ihrem Buben allerdings, wenn man bei dem in die Wohnung geschaut hat, habe die Ehre! Natürlich hat er keinen hineingelassen, wo er sich doch so geniert hat, grad bei denen, die seine alte Mutter noch gekannt haben. Gott hab sie selig, im Grab würd sich die umdrehen, wenn sie noch einmal in die Wohnung hätt schauen können. Hie und da, wenn ich zum Neujahrwünschen zu den Nachbarn gegangen bin, damals bin ich ja noch leichter gegangen, da hab ich doch einen Blick hineinwerfen können. So gehen lassen, nicht zu beschreiben! Kein Wunder, dass er mich zuerst nicht hinein hat lassen. Der Führer hat schon Recht, wenn er sagt, der häusliche Herd ist die Keimzelle der Ordnung. Wie alt wird er denn gewesen sein, der Ramhartinger, wie s’ ihn hinausgetragen haben? Vierzig, fünfundvierzig höchstens. Noch kein Alter für einen Mann. Und wie er zum Schluss ausgeschaut hat. Furchtbar! Aber eine schöne Leich ist’s gwesen, so was möcht man sich wünschen. Haufenweise sind s’ gekommen, die Leut. Nicht wegen ihm, selbstverständlich, wegen der Eltern. Aus Respekt gewissermaßen. Da ist der Herr Rosenberg von nebenan schon von einem ganz anderen Schlag. Wenn man den neben den Dicken da stellt, sieht man erst, wohin einen die Maßlosigkeit führen kann. Also von der Gestapo kann der nicht sein. So einen Fetten nehmen s’ da doch gar nicht. Der dürft noch von der Systemzeit her übrig sein. Schon merkwürdig, dass der Führer da nicht härter durchgreift. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass so ein dicker Mensch national eingestellt ist. Wo er sich doch nicht einmal selber im Griff hat.

Aha, jetzt gehen s’ in die Wohnung hinein. Direkt in die Küche, mitsamt einem Fotoapparat. So viele haben doch da gar nicht Platz bei der Bremstallerin. Ein jeder hat noch eine Tasche dabei. Jetzt kommt noch einer, das dürfte aber keiner von der Polizei sein, der hat ja eine Arzttasche dabei. Ach so, der wird die Leich untersuchen. Die können heutzutag ja genau herausfinden, wann einer gestorben ist. Der quetscht sich jetzt auch noch in die Wohnung. Die arme Tini. Immer hat s’ so auf eine Sauberkeit gschaut bei sich daheim, und jetzt rennen ihr wildfremde Leut mit den Straßenschuhen hinein. Mein Gott, gestern noch haben wir ein bisserl geplauscht auf der Nacht, und jetzt das. Der Herr gibt und der Herr nimmt.

Meine Füß tun schon wieder ordentlich weh. Hoffentlich sind die bald fertig, sonst müsst ich mich auf ein paar Augenblicke in die Küche setzen. Ja, der Herr Rosenberg von nebenan, von einem ganz anderen Schlag ist der. Dabei dürften s’ dasselbe Alter haben. Der Herr Rosenberg und der Wamperte. Vielleicht ist der Herr Rosenberg sogar ein paar Jahre älter, aber ankennen tut man’s ihm nicht. Aber ist ja kein Wunder. Ein Turner ist er, immer gewesen. Wie mein Siggi. Frisch, fromm, fröhlich, frei. Jahrzehntelang beim Turnerbund. Ich weiß es noch, als wär’s heut gewesen, wie er an seinem Fünfziger mitten auf dem Küchenboden Liegestütz gemacht hat.