Cover

Brian McGuinness,

Radmila

Schweitzer (Hrsg.)

Wittgenstein

Eine Familie in Briefen

Übersetzungen aus dem Englischen von Joachim Schulte
Unter Mitarbeit von Maria Concetta Ascher
In Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut
Brenner-Archiv der Universität Innsbruck

Einleitung

Vielen gilt Ludwig Wittgenstein selbst als Rätsel – nicht zuletzt, wenn er sagt: „Das Rätsel [der Welt] gibt es nicht“ (Tractatus 6.5). Der Schlüssel zu wenigstens einem der Schlösser an diesem Rätsel findet sich in einem Begriff, an dem Wittgenstein nicht zufällig viel lag, nämlich in dem Begriff der Familienähnlichkeiten. Man versteht ihn besser, wenn man gar nicht erst versucht, die Schnittmenge der ihn definierenden Klassen ausfindig zu machen, sondern eine Reihe von Merkmalen bestimmt, die – unterschiedlich verknüpft – im Rahmen einer ganzen Gruppe vorkommen, im gegenwärtigen Fall exakt im Rahmen seiner Familie, insbesondere seiner Brüder und Schwestern. Dabei handelt es sich um eine Familie, der es aufgrund ihres Reichtums, aber auch aufgrund ihres Selbstvertrauens als Gruppe gelang, ihre eigene Welt zu schaffen mitsamt eigenem Versorgungssystem, eigenen Werten und eigener Klientel (im altrömischen Sinn der clientela). Dabei wurden Personen jeden Standes – Maler, Musiker, Studenten, Freunde und Bekannte jeglicher Couleur – eingeladen, beschützt, angestellt, unterstützt, mit einem Wort: einverleibt. Wittgenstein führte seine Freunde – unter anderem Engelmann, Hänsel und Koder – in diesen Kreis ein, und im Regelfall wurden sie zu Freunden und Schützlingen aller Angehörigen. Er selbst schloss dort Freundschaften, die sozusagen bereits angebahnt waren, und wenigstens einmal fand er in diesem Kreis eine geliebte Freundin. Er war zwar kein Anhänger eines bestimmten Glaubens, wohl aber ein Wittgenstein. Hier stieß er auf das von ihm selbst mitentwickelte Ethos des Immer-den-schwierigsten-Weg-Wählens, die (im Fall naher Verwandter besonders ausgeprägte) Unduldsamkeit gegenüber allem, was als moralische Schwäche wahrgenommen wurde. Einer von Wittgensteins Neffen formulierte es im Gespräch mit dem Autor so: „Die ältere Generation machte nicht einmal vor dem Gewissen der anderen Person Halt.“ Potenzielle Schwächen mochten zwar anerkannt werden, aber es fiel diesen Wittgensteins schwer, einzusehen, dass die Klarstellung der Defizite des anderen womöglich nicht ausreichte, um ihn zur Besserung zu bewegen. Von dieser Art war auch das „Kopfwaschen“, das Margarete Stonborough (bzw. Gretl – um den von Ludwig gebrauchten Namen zu verwenden) ihrem Bruder Paul und zweifellos vielen anderen angedeihen ließ. Wenn man schließlich doch mit jemandem brechen musste, weil er sich für den leichten – den bequemen, eigennützigen oder auch nur einleuchtenden – Weg entschieden hatte, gab es darüber nichts weiter zu sagen als ein gewisses „Ach ja“.

Eine strenge Welt also, über deren Eingangstor ein Schwert schwebte, aber dennoch war es ein Garten Eden, der sich durch Wärme, Zuneigung, Vertrauen und Teilnahme auszeichnete. Das waren die positiven Aspekte der manchmal verletzenden Direktheit. Außerdem wirkte alles ungezwungen und natürlich, oder es wurde entsprechend arrangiert. (Schlichtheit war das Ideal.) Das war ein erlesenes moralisches Universum, aber daneben war es auch noch vieles andere, und wer zugelassen wurde, war normalerweise sofort davon fasziniert. Wie viele wurden – wie etwa Frank Ramsey – zu Bewunderern Gretls! Wie viele fanden – wie Desmond Lee – auf dem Familiengut Hochreit eine Gastfreundschaft, die an viktorianische Zeiten erinnerte! In die gleiche Kategorie gehört, dass eine zufällige, bei einer Eisenbahnfahrt erfolgte Begegnung mit Wittgenstein Gilbert Pattisson zu der Überzeugung brachte, er sei einem ungewöhnlichen Menschen begegnet.

Die moralische Grundlage dieses Universums war nichts vom Geistigen, Kulturellen, Künstlerischen Verschiedenes. Der Geschmack kam nicht nach dem moralischen Empfinden, sondern er gehörte wesentlich dazu. Gemälde, Möbel, Zeichnungen und vor allem die Musik waren Äußerungen eines einzigen Ideals. Zeichnungen konnten ehrlich, Gemälde ethisch sein; das Klavier konnte mit der gebührenden Zurückhaltung gespielt werden, und die Inneneinrichtung eines Hauses konnte wohltuend sein.

In geistiger Hinsicht konnte diese Welt allerdings auch strapaziös sein. Eine vernünftige Beschäftigung war erforderlich, und die Unterhaltung konnte strenge Anforderungen stellen. Von Kindheit an hatte man sich stets geistig betätigt. Es gab psychologische Spiele, eine unkomplizierte Geheimschrift, häusliche Aufführungen von (oftmals selbstgeschriebenen) Stücken, Austausch von Lektüre-Erfahrungen und angestrichene Passagen, auf die man den anderen aufmerksam machen wollte. Die meisten dieser Hinweise haben in Wittgensteins philosophischen Beispielen sowie in seinen Tagebuchaufzeichnungen und in der Korrespondenz mit seinen Angehörigen Spuren hinterlassen.

Schilderungen dieser Welt findet der Leser in den Erinnerungen Karl Mengers1 und den viel früher entstandenen Aufzeichnungen Paul Engelmanns.2 Marguerite Respinger beschreibt in den für ihre Enkel bestimmten Memoiren sowohl die wundersamen Dinge, die sie in dieser Welt antraf, als auch die Anforderungen, die sie an sie stellte: eine märchenhafte Szenerie voller Glanz und Elend, mit Opernlogen, geselligen Zusammenkünften, Juwelen, Solokonzerten und Büfett-Empfängen, aber auch mit karitativen Maßnahmen zum Wohl der Wiener Armen und anstrengenden Wanderungen mit unserem imponierenden Wittgenstein, der bei jeder Gelegenheit ein offenes Hemd mit Tweed-Jacke trug.3 Cecilia Sjögren wiederum berichtet über das Verhältnis der Familie zur Musik und zur bildenden Kunst.4 Paul Wijdeveld gibt eine detaillierte Analyse von Wittgensteins Bau eines Hauses für Gretl (bei dem es sich um ein in vielen Hinsichten gemeinsam mit ihr ausgeführtes Projekt handelt).5 Die Struktur der bereits genannten „Klientel“ wird durch die Korrespondenz zwischen Angehörigen der Familie und Ludwig Hänsel erhellt.6

Es kann demnach kein Zweifel daran bestehen, dass der Wittgenstein, der zweimal ein ziemlich skeptisches Cambridge aufsuchte, um dort zu arbeiten, ebenso wie Lohengrin sagen durfte:

Aber ebenso wenig lässt sich bezweifeln, dass er genügend Probleme mit sich brachte, um sowohl seine Gastgeber als auch sich selbst davon in Anspruch nehmen zu lassen. Denn die sorgenvollen Gedanken des oben skizzierten moralischen Universums nahm er überallhin mit. Einige Merkmale dieser Welt lehnte er zwar ab, indem er etwa auf sein Vermögen verzichtete und mitunter (in einer an das Geheimnis um Lohengrins Namen gemahnenden Weise) nicht als Angehöriger einer reichen und mächtigen Familie erkannt werden wollte, aber auch dabei handelte es sich in einem gewissen Sinn um „Familienähnlichkeiten“, denn diese Regungen gingen paradoxerweise ebenfalls auf seinen Vorsatz zurück, eine eigene Welt zu schaffen und vor allem den eigenen Charakter zu bilden. In einem umfassenderen Sinn als sein Vater sollte aus ihm ein Selfmademan7 werden. Erkennbar wird das an der Entschlossenheit seines Bemühens, wirkliche oder eingebildete Charaktermängel auszumerzen, etwa Feigheit, Faulheit und einen gewissen Hang, bei Lügen Zuflucht zu suchen. An seine Studenten bzw. Anhänger gerichtet meinte er: „Cambridge schadet vielen Menschen, denn es gibt keine Luft; aber ich erzeuge meinen eigenen Sauerstoff.“ Er versammelte seinen eigenen Hofstaat – ähnlich der Klientel seiner Familie – um sich, aber das Ziel war in entschiedenerem Maße ein moralisches. Zu einem Schützling sagte er: „Ich bin ein Sammler von guten Menschen“, und das war ein Vorhaben, bei dem er manchmal – wenn auch freilich nicht immer – Erfolg hatte.8 Dass daraus eine gewisse Exklusivität resultierte, ließ sich nicht verhindern: Ähnlich wie Cato „gab er seinem kleinen Senat Gesetze“, doch auf den Vorwurf des Esoterischen reagierte er mit Empörung.9

Dieses Programm verleiht seinem Ausruf „Natürlich will ich vollkommen sein!“ ebenso einen Sinn wie den Regeln für die Details des Lebens in seinem Kreis sowie dem quälenden Ringen um wichtige Entscheidungen.10 Dies ist der eigentliche – außerhalb der Philosophie gelegene – Ort für die Konstruktion von Sprachspielen, für das Ausmalen von Tätigkeiten oder Lebensformen und für die Ablehnung einer privaten Sprache.

Bei einem derartigen Programm konnten Paradoxien und Fehlschläge nicht ausbleiben. Ein offenkundiges Beispiel ist der Umstand, dass sich Wittgenstein oft bemüßigt fühlte, den Rückzug in die Einsamkeit anzutreten. Allgemeiner gesprochen: Das Pochen auf Schlichtheit führte beinahe unausweichlich zu gelegentlicher Künstlichkeit, Unaufrichtigkeit, Übertreibung. Keine Eigenschaft ist schwerer zu forcieren als die Natürlichkeit. So kam es, dass er die Figur des Abstinenzlers Wittgenstein kreierte sowie die Figur der alten Jungfer, des Keuschen, der die Palais der Großen meidet. Abgemildert wurde dieses Bild natürlich durch häufige Selbstherabsetzung und die Tatsache, dass er offenkundig vertraut war mit dem vornehmen Leben, das er verschmähte. Dennoch gab es einige, die in ihm „noch so einen Cambridge-Scharlatan wie F. R. Leavis“ sahen – ein Urteil, das keinem der beiden Männer im Geringsten gerecht wurde, obwohl es irgendwie dazu passte, dass sie vor Förmlichkeiten keinen Respekt hatten.

Strenge gegenüber sich selbst wie auch gegenüber Schülern und Freunden sollte gar nicht vermieden werden. Eine Doktorandin notierte nach einer besonders harten Auseinandersetzung: „Ich habe genug davon, dass er ständig als moralischer Gesetzgeber auftritt … Und trotzdem hat er sehr viele liebenswerte Seiten.“11 Jeder erkannte, dass sich diese Aspekte nicht voneinander trennen ließen. Der Ernst war ein wesentlicher Teil seines Zaubers.

Hier gibt es zwei Irrwege, vor denen wir unbedingt zurückscheuen sollten. Der eine ist der womöglich tiefenpsychologisch motivierte Wunsch nach einer Erklärung. Der Irrtum liegt auf der Hand, wenn man fragt: „Was soll hier eigentlich erklärt werden?“ Wir müssen erst einmal erkennen, was es mit Wittgensteins Leben auf sich hatte, ehe wir fragen, warum er es führte. Die erste Erklärung, die man geben kann, ist interner Art: Wir beschäftigen uns mit seinem Leben, weil es uns etwas zeigt, was wir über die Möglichkeiten der Lebensführung noch nicht wussten. Das ist keine offenkundige oder pathologische Sache, bei der man sich nur für die Entstehungsgeschichte interessiert. Wir müssen ihn jetzt nicht mehr heilen, noch wollen wir wissen, wie er sich verhalten hätte, wenn er eine andere Person gewesen wäre. Derartige Albernheiten stecken jedoch in dem Versuch, ihn einer postumen Psychoanalyse zu unterziehen.

Dennoch wird man vielleicht fragen, was das Endergebnis war. War er glücklich? Ebendies ist vielleicht die ultimative falsche Fragestellung. Es gibt kein Standard-Glück, an dem man Wittgensteins Leben messen kann. Er selbst wirft im ersten seiner Kriegstagebücher die Frage auf, ob wir jemandem mit dem gleichen Recht, mit dem wir ihm Glück wünschen, auch Unglück wünschen könnten. Im Grunde können wir nichts weiter sagen als „Lebe glücklich!“, was in diesem Zusammenhang so viel heißt wie: Führe dein Leben mit der richtigen Einstellung!12 Nach dieser Auffassung ist Glück nichts, was man im Leben vorfindet, sondern etwas, was man ins Leben einbringt. Dementsprechend bestand er nach dem Ersten Weltkrieg darauf, sein eigenes Leben zu führen. Auch seine letzten Worte („Sagen Sie ihnen, dass ich ein wundervolles Leben gehabt habe“) wirken nur dann rätselhaft, wenn man diese Überzeugung, der er anhing, außer Acht lässt.

Die hier veröffentlichten Briefe vermitteln nicht nur eine gewisse Vorstellung von den Ähnlichkeiten innerhalb der Familie, sondern auch von den objektiven und subjektiven Verschiedenheiten, die das Leben Ludwigs vielleicht nicht weniger prägten. Offenkundig werden diese Unterschiede sogar in der insgesamt eher defensiven und verklärenden Darstellung, die Ludwigs Schwester Hermine in ihren Familienerinnerungen gab, die sie 1948 (also sozusagen im Wien des Dritten Manns) niederschrieb, als eine Wiedergeburt Österreichs kaum abzusehen war.13 Dabei räumt sie einer früheren Generation viel Raum ein, nämlich der Generation der „Geschwister Wittgenstein“, womit die elf um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts geborenen Kinder von Hermann Wittgenstein und Fanny Figdor gemeint sind. Das erfolgreichste, wenn auch in seiner Jugend vielleicht schwierigste dieser Kinder war der spätere Stahlmagnat Karl, wobei man allerdings sagen muss, dass alle diese Kinder bis auf eines aus eigener Kraft zu grands seigneurs bzw. grandes dames heranwuchsen. Auch die Kinder Karls waren bemerkenswert, besonders die beiden Jüngsten – der Musiker Paul und der Philosoph Ludwig –, die der Hauptgrund dafür sind, dass man sich auch heute noch an diese Familie erinnert. (Der Briefwechsel zwischen den Angehörigen wurde in einer früheren Ausgabe des vorliegenden Bands zum ersten Mal veröffentlicht.) Drei weitere Söhne starben während des Ersten Weltkriegs bzw. vor dem Krieg. Die Mutter aller dieser Kinder war Leopoldine Kalmus, die einzige Katholikin unter den Eheleuten der „Geschwister“ und die einzige mit jüdischen Vorfahren (was zu einem späteren Zeitpunkt eine nicht vorhersehbare Rolle spielen sollte). Vor allen Dingen war sie eine Person mit exquisitem, ja übermäßigem Feingefühl, überaus musikalisch, völlig unpraktisch und (allem Anschein nach) ihrem allseitig begabten und höchst liebevollen Gatten ganz und gar ergeben. Dem Vorbild, an das sich die Töchter dieses Paars halten sollten, konnte man durchaus entsprechen, wenn man die Zeitumstände bedenkt und einen vernünftigen Interpretationsrahmen zugrunde legt, aber es war nicht leicht, ein Sohn dieses Paars zu sein.14 Das zeigt sich schon daran, dass zwei der älteren Söhne in den Anfangsjahren des Jahrhunderts Selbstmord begingen. Der eine war – nach dem Bekunden von Brahms – ein potenzielles musikalisches Genie, der andere studierte Chemie in Berlin und folgte bei seinem Freitod dem Modell Weiningers. Der dritte Selbstmord geschah gegen Ende des Kriegs und wurde stets auf Ehrenmotive zurückgeführt: Kurt (oder Konrad) konnte die ihm unterstellten ungarischen Soldaten nicht dazu bringen, seinen Befehlen zu gehorchen. Aber die Korrespondenz aus der Kriegszeit, als er auf Geschäftsreisen in den Vereinigten Staaten festgehalten wurde, enthält Hinweise darauf, dass man wegen seiner Stabilität in Sorge war. So schrieb die Mutter, er sei doch immer noch derselbe „Kindskopf“ wie eh und je. Sie fürchtete, er könne sich am Ende des Kriegs „zurückgesetzt“ fühlen, wenn seine (tatsächlich schon verwundeten und verstümmelten) Brüder im Gegensatz zu ihm gedient haben würden. Sie war erleichtert darüber, dass er rechtzeitig heimkehrte, um an die Front gehen zu können. So waren die Mütter in diesem Krieg – oder zumindest war sie eine solche Mutter!15 So kam es, dass der unbekümmerte Kurt, der an manchen Abenden mit vierhändigem Klavierspiel seinen einnehmenden Beitrag geleistet hatte, einen offenbar sinnlosen Tod starb.

Wie es scheint, setzte der Vater Erwartungen in diese Söhne, die von ihnen weder erfüllt noch zurückgewiesen werden konnten, während die Mutter zwar nicht opponierte, aber doch ihre eigenen, den väterlichen Anforderungen zuwiderlaufenden Erwartungen in sie setzte. Insbesondere wünschte der Vater, dass seine Söhne einen technischen Beruf ergriffen, aber allgemeiner gesprochen forderte er durch sein Beispiel, dass sie dazu imstande sein sollten, erhebliche Leistungen zu erbringen. Einer Feststellung Pauls zufolge hatte Ludwig als einziger die technischen Fähigkeiten des Vaters geerbt, und wie wir erkennen können, konnten nur Paul und Ludwig es in puncto Leistungsfähigkeit mit dem Vater aufnehmen. Vielleicht waren sie ihm auch im Hinblick auf ihre Charakterstärke ebenbürtig, doch das ist ein Begriff, der einer gewissen Erläuterung bedarf. Als Kinder waren beide, ebenso wie der Vater, ziemlich mittelmäßige, mitunter sogar unzulängliche Schüler, um sich dann später rasch und beinahe aus eigener Kraft das Wissen und die Fähigkeiten anzueignen, die sie zu brauchen meinten. Ebenso wie der Vater mussten beide mitunter enorme Schwierigkeiten überwinden: Karl, als er von zu Hause fortlief, um nach Amerika zu gehen; Paul, als er seinen Arm verlor und trotzdem beschloss, seine Laufbahn als Pianist fortzusetzen; Ludwig sein ganzes Leben lang – sowohl aufgrund der Undefinierbarkeit und extremen Schwierigkeit der von ihm behandelten Themen als auch aufgrund der Qualen, die ihm das eigene Temperament und sein Gewissen auferlegten. Von Russell stammt die folgende bekannte Geschichte: Als er sah, dass Wittgenstein äußerst niedergeschlagen war, habe er ihn gefragt, ob er über logische Fragen oder über seine Sünden nachdenke, worauf er die Antwort erhielt: „Über beides!“16 Paul scheint seine inneren Konflikte erfolgreicher verdrängt zu haben, jedenfalls stellt Ludwig es in seinen spärlichen Erinnerungen so hin, als habe sein Bruder in der Kindheit den stärkeren Charakter besessen, während er an sich selbst rückblickend Feigheit, Faulheit und einen gewissen Hang zum Lügen feststellte.17 Vielleicht urteilte er, wie Augustinus, im Rückblick zu streng; aber es war das eigene Urteil, mit dem er leben musste. Im Kriegsdienst legten beide Brüder einen Grad an Mut bzw. Verwegenheit an den Tag, der ihre Kameraden verblüffte. Mit diesen Eigenschaften ging eine Befähigung einher, die ihnen beiden schon früh außergewöhnlichen beruflichen Erfolg bescherte. Sie waren zwar weniger glücklich als der Vater, aber in anderen Hinsichten glichen sie ihm.

Ihre Schwestern hatten andere Aufgaben: Sie kümmerten sich ums Haus, um wohltätige Zwecke und die diversen Schützlinge. Das ist der Grund, warum es zu einem späteren Zeitpunkt so wichtig war, das Exil zu vermeiden. Zweimal geschah es, dass es sich für die aktivste der Schwestern – Margarete Stonborough – doch nicht umgehen ließ, und sie litt sehr darunter. Ihr Platz war in ihrem Schmuckkästchen von einem Haus, das Ludwig für sie gebaut hatte und in dem sie das äußere und das innere Leben derjenigen dirigieren konnte, die von ihr abhingen. Ihr öffentliches Dasein als Fürsprecherin Österreichs während der Hungersnot nach dem Ersten Weltkrieg war von kurzer Dauer. Auf diese Weise zeigte sie zwar, was sie konnte, aber nicht das, was sie wollte. Ihre im Rahmen der Familie bestaunten naturwissenschaftlichen und mathematischen Studien gaben ebenfalls Hinweise auf ihre Begabung, doch diese Begabung war irgendwie dazu bestimmt, nicht zur Erfüllung zu gelangen. Von sich selbst sagte sie, ihr wäre es lieb, wenn man sich ihrer als Tochter ihres Vaters, als Schwester ihrer Brüder und als Mutter ihrer Söhne erinnere.18 Aller Intelligenz und Bildung zum Trotz blieb sie eine Liebhaberin, eine Mäzenin, eine inspirierende Figur (die unter anderem Freud anregte), und obschon sie selbst wohl kaum Wordsworth zitiert hätte, hätten die folgenden Zeilen sicher auf sie gepasst, wenn sie sich von ihrer besten Seite zeigte: „A perfect woman, nobly planned, / To warn, to comfort, and command.“ Die zuletzt genannte dieser Funktionen – das Erteilen von Anweisungen – kommt bis zu einem gewissen Grade zum Vorschein, wenn sie die Angelegenheiten anderer in die Hand nimmt, was auch in den Briefen zu erkennen ist, obwohl wir hier darauf verzichten mussten, ihre sprunghaften Maßnahmen zur Steuerung des wankelmütigen Verhaltens von Ludwigs intendierter und idealisierter Braut zu dokumentieren. Ihre Schwestern billigten ihr freilich zu, dass hinter ihren Kraftausdrücken und ihren tiefen Dekolletees ein gutes Herz schlug.19

Die unterschiedlichen Erwartungen von Männern und Frauen treten nach 1918 im privaten und öffentlichen Leben der beiden überlebenden Brüder ebenso zutage wie im Lebensstil ihrer Schwestern. Desmond Lee – ein von Ludwig anempfohlener Freund – traf auf dem Familiengut Hochreit eine Form von Gastfreundschaft an, die ihn an viktorianische Zeiten erinnerte. Ein anderer Freund Ludwigs wurde absichtlich nicht geschickt; dafür wurde ihm mitgeteilt, die Schwestern würden sich zu „liebenswürdig“ verhalten. Von einem Mann, der zur Familie gehörte, wurden perfekte Manieren erwartet, womit wiederum die Manieren einer anderen Zeit gemeint waren. Pauls Neffe John Stonborough lernte viel von ihm, etwa dass es richtig ist, sich bei einem Konzert, in dem man selbst als Star aufgetreten ist, anschließend ins Publikum zu setzen, um den übrigen Pianisten zuzuhören. Pauls Schüler in New York und Wien merkten es ebenfalls: Seine Reaktionen konnten zwar mitunter schroff sein, doch „sobald er merkte, dass er jemanden gekränkt hatte, entschuldigte er sich überschwänglich“,20 und diese Eigenschaft war sicher der Grund, weshalb John Barchilon seiner offiziell als „fiktional“ deklarierten Biographie Pauls den Titel The Crown Prince gab.21 Im Privatleben erwartete man von einem Mann geradezu, dass er Ansprüche stellte und sich als jemand gerierte, auf dessen Launen Rücksicht genommen werden musste. Es kann kein Zufall sein, dass Margarete Stonboroughs Ehemann und ihr älterer Sohn in der gleichen Tradition standen. Als Hermine das Haus in der Alleegasse mit Paul teilte, fiel es ihr schwer, mit seiner Abneigung gegen einige ihrer Gäste zurechtzukommen. Dennoch hatten die Schwestern das Gefühl, dass es mit Kurt noch schlimmer gewesen wäre. Einige von Ludwigs englischen Freunden hätten ihren Ohren nicht getraut, wenn sie gehört hätten, dass mit ihm noch am leichtesten auszukommen war. Bis zu einem gewissen Grad war er der Aljoscha der Familie. Natürlich hatte er seine Eigenheiten, und er bestand auf exzentrischen Verhaltensweisen, etwa dass er in Militärjacke und mit offenem Hemdkragen an einem Bankett teilnahm oder in die Oper ging. Aber es gab eine noch tiefere Ebene, und auf dieser Ebene war Ludwig davongekommen. So pflegte er in Mietwohnungen oder bei Freunden unterzukommen. Hier sprechen wir von den frühen zwanziger Jahren, doch im Grunde verbrachte er sein ganzes restliches Leben auf der Flucht.22 Die Werte der Mutter hatte er ebenso wie die Werte des Vaters verinnerlicht, aber er ließ sie nicht gelten.23 Ihre Liebenswürdigkeit fand er erstickend. Auf sein Erbe verzichtete er zugunsten der anderen und beschloss, zunächst als Dorfschullehrer seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Später kamen andere Berufe, die sich mit bescheideneren Tätigkeiten abwechselten. In einer rückblickenden Notiz von 1934 heißt es: „Wenn in einem Haushalt alles in Ordnung ist, so sitzen die Familienmitglieder alle zugleich beim Frühstück, haben ähnliche Gepflogenheiten etc. Herrscht aber eine furchtbare Krankheit im Haus, dann denkt jeder auf einen andern Ausweg, um Hilfe zu schaffen, und es zeigen sich leicht ganz entgegengesetzte Bestrebungen. Paul und ich.“24

Paul blieb zwar in der Alleegasse wohnen, aber seine berufliche Laufbahn und sein Gefühlsleben hatten anderswo ihren Ort und blieben den anderen (außer in einem Notfall) unzugänglich. Mit Ludwig unterhielt er bis zum Zweiten Weltkrieg eine brüderliche Beziehung. Natürlich interagierte jedes Geschwisterpaar nach Maßgabe der hervorstechendsten Gemeinsamkeiten. Wie wir wissen, sprach Ludwig, wenn er sich mit Hermine unterhielt, über religiöse Themen (Tolstoi und Dostojewskij), über Träume und psychologische Fragen, wenn er mit Margarete redete, während er mit Helene die recht schlichten Witze austauschte, die er gern hatte. Über Pauls Beziehungen zu seinen Schwestern wissen wir wenig, und es kann durchaus sein, dass sie eher angespannt waren. Das Verhältnis zwischen den beiden Brüdern hatte, wie mir scheint, Spontaneität ohne einen Anflug von Pflichterfüllung oder Förmlichkeit. In welchem Maße das mit ihrer Männlichkeit zusammenhängt, in welchem Maße mit der Tatsache, dass sie sich vom Alter her nahestanden und die Jüngsten in der Familie waren, als diese von mehreren Krisen heimgesucht wurde, und in welchem Maße mit Geistesverwandtschaft – das ist eine Frage, die ich offen lassen muss.

Paul war zwei Jahre älter als Ludwig und stets der praktischere und weltklügere. Er sagte Ludwig, wie er mit dem Oberkommando umgehen musste, als er während des Kriegs die Waffengattung wechseln wollte. Außerdem setzte er ihm auseinander, wie unmöglich es sogar in einem niederösterreichischen Gebirgsdorf war, seine Zugehörigkeit zu ihrer bekannten Familie zu verbergen. Und genauso hatte er ihm, als sie noch Kinder waren, gesagt, dass sie ihre jüdische Herkunft nicht verheimlichen konnten, als es sich darum handelte, einem Turnverein beizutreten. All dies geschah ohne Herablassung, ganz unter Brüdern. Andererseits mochte Ludwig, wenn es um die persönlichen Beziehungen innerhalb der Familie ging, das Heft in die Hand nehmen und Paul ganz vernünftig erläutern, warum er sich nicht über eine scheinbar widerwillige Aufforderung, vor den anderen zu spielen, ärgern sollte.25 Im Übrigen jedoch handelte es sich um ein Wechselverhältnis zwischen Gleichen. Ludwig verwies alte Freunde oder einstige Kameraden an Paul, der ihnen praktische Hilfe zuteilwerden lassen sollte; und genauso erkundigte sich Paul bei Ludwig über Kameraden, wenn er solche Auskünfte benötigte. Besonderes Entgegenkommen erwies Paul dem mit Ludwig befreundeten jüngeren Lehrerkollegen Rudolf Koder, dem er Klavierstunden anbot und den er auch in anderen Hinsichten mit der Welt bekannt machte, indem er ihm sogar einen Smoking kaufte.

Als Ludwig im Anschluss an die Lehrerausbildung in Wien in das erste seiner Schuldörfer zog, wurde er in unaufdringlicher Weise von Paul unterstützt, der Pakete mit Lebensmitteln und dergleichen schickte. Wie es scheint, war sich Paul ziemlich sicher, willkommen zu sein: Einmal bietet er an, vorbeizukommen und ein bestimmtes Musikstück zu spielen. Seiner Schwester Hermine dagegen fällt es schwer, eine Einladung zu bekommen. Manchmal wanderte Paul von der Hochreit aus hinüber, wobei er ein Buch in der Tasche stecken hatte, aus dem er Ludwig etwas vorlesen wollte. Während einer späteren Einsiedler-Zeit Ludwigs pflegte Paul Decken nach Norwegen zu schicken sowie Erbsen-Fertigsuppe, Schokolade oder was sonst nötig war. Ludwig erhob zwar Einwände gegen diese in wohlwollenden Humor eingewickelten praktischen Hilfsgüter, aber der Protest fiel nur schwach aus.26

Die Literatur war ein einigendes Band für die beiden. Paul liebte es, die deutschen Klassiker zu zitieren. Es ist ein Hinweis auf Ähnlichkeiten des Geschmacks, dass Paul, um einen Ratschlag an Ludwig zu versüßen, sagt: „Es ist Arznei, nicht Gift, was ich dir reiche“, womit er zu einem Zeitpunkt aus Nathan der Weise zitiert, zu dem auch Ludwig im selben Stück liest (was Paul freilich kaum gewusst haben kann). Dass Paul Ludwig vorlas, wissen wir zwar nur aus dem oben zitierten Brief, aber es passt sehr gut zu Ludwigs eigenem Verhalten, der seinerseits, als er sich in dem von Gretl gemieteten Stadtpalais auf seinem Krankenlager erholte, den jungen Leuten aus Johann Peter Hebel vorlas, während er den verblüfften Philosophen des Wiener Kreises Wilhelm Busch oder Rabindranath Tagore angedeihen ließ.27

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Brief von Paul an Ludwig, 1. Mai 1936

Die Brüder teilten ihren Lesestoff in der gleichen Weise, in der sie (wie wir sehen werden) auch die Musik teilten. Ein gegen Ende 1934 geschriebener Brief deutet an, in welcher Weise die Gespräche zwischen ihnen wohl abliefen. Paul bezieht sich auf Hebbels Nibelungen und vergleicht das Stück zu Hebbels Nachteil mit Wagners Behandlung des gleichen Stoffs. Ludwig, der fast nie viel für Wagner übrig hat, vertritt die Gegenseite. Zum Teil sind seine Überlegungen verfehlt und werden Wagner nicht gerecht, doch allgemein gesprochen sind sie scharfsichtig und provokant und durchweg im gleichen Stil gehalten, zu dem ihn auch die Unterhaltungen mit geschätzten Freunden – wie etwa Sraffa oder Engelmann – anregten. In der Familie war es sein Bruder, der ihn am ehesten dazu bringen konnte, so zu reden. Paul hatte die Eigenschaften, die Ludwig aufseiten des Gesprächspartners brauchte: einen regen Verstand und aggressiven Stil, der sich in seiner stürmischen deutschen Handschrift spiegelte, deren sich übrigens keines seiner achtsam verwestlichten Geschwister bediente. Sein (wenn man so will) literarischer Stil erinnert an den seines Vaters, dessen Essays zu ökonomischen und praktisch-politischen Fragen Verachtung für Amateure wie für Professoren an den Tag legen.28 Weiteren Hinweisen auf diese Einstellung werden wir in Kürze begegnen.

Ein weiteres Band zwischen den beiden war die Musik, die Pauls ganzes und (wie Ludwig selbst sagt) Ludwigs halbes Leben ausmachte. In der Alleegasse dominierte die Musik das Leben und die Gastlichkeit der Familie, und wie es scheint, brachte sie Ludwig dorthin zurück, wenn kaum etwas anderes dazu imstande war. Wie wir sehen, schrieb Paul, um zu fragen, welche Stücke er vorbereiten sollte, um sie bei Ludwigs nächstem Besuch vierhändig – in Wirklichkeit natürlich dreihändig – zu spielen. Dabei dachte er zwar nicht an Konzertaufführungen, obschon Konzerte ebenfalls organisiert wurden, bei denen normalerweise die Musik des „Hauskomponisten“ Josef Labor gespielt wurde. Dieser in der Wittgenstein-Literatur übliche Ausdruck ist keine Übertreibung.29 Fast alle nach 1915 geschriebenen Kompositionen Labors wurden von Paul in Auftrag gegeben, und der häufige Gebrauch, den dieser Komponist von der Klarinette macht, war sicher entweder bestimmend für Ludwigs Entscheidung, dieses Instrument zur Entspannung und zu schulischen Zwecken zu spielen, oder diese Entscheidung beeinflusste die Wahl Labors.30 Das Gefallen an Labor passt zu Ludwigs Bemerkung, sein Kulturideal sei kein zeitgemäßes, sondern vielleicht der Zeit Schumanns verhaftet.31 An dieser Stelle übersieht Ludwig womöglich Brahms und Bruckner, die er in der Tat bewunderte, doch Labor mit seinem sanften Eklektizismus war in seiner eigenen Zeit eine Ausnahme und insofern eine Bestätigung der eben angeführten Bemerkung. Dass Pauls Geschmack in die gleiche Richtung ging, sollte festgehalten werden: Auch er war (wie Prokofjew erkannte) ein Musiker des neunzehnten Jahrhunderts.32

Pauls Klavierspiel wurde in der Familie nicht immer gewürdigt. Seine Mutter soll ausgerufen haben: „Muss man so dreschen?“, und in einem im vorliegenden Band wiedergegebenen Brief beschreibt Margarete sein Spiel als eine „Vergewaltigung“. Die Wortwahl ist vielleicht verräterisch: Paul tat der Musik Gewalt an, doch war seine Verfehlung Teil seiner Männlichkeit? In einer der seltenen kritischen Äußerungen Hermines über den von ihr vergötterten Vater heißt es: „Paul hat entschieden einzelne Eigenschaften, die mich an das Übertriebene Unruhige des Papa erinnern … Leider, wirklich zu meinem grossen Leidwesen, kommt sie in seinem Klavierspiel zum Vorschein.“33 Insofern ist es besonders interessant, dass wir auch Ludwigs eigenes Urteil kennen (es findet sich in dem oben bereits erwähnten besänftigenden Brief): „Du willst Dich – glaube ich – nicht hingeben & hinter der Komposition zurücktreten, sondern Du willst Dich selbst darstellen.“34 In diesem Fall zumindest dürfte Ludwigs Auffassung objektiver sein als die seiner Schwestern und seiner Mutter. Der im Sinne seiner Zeit ausgebildete romantische Virtuose kannte keine Hemmungen, so mit der Musik umzugehen, wie Paul mit den für ihn komponierten Stücken seiner Zeitgenossen umging. Dennoch trug diese Haltung zu einer gewissen Entfremdung von der Familie bei, die wir bereits festgestellt haben und der wir im Folgenden wieder begegnen werden.

Ein drittes unpersönliches Hauptthema, auf das wir in der Korrespondenz zwischen den Brüdern stoßen, ist die Aufdeckung von „Stiefeln“, also Unsinnigkeiten, die die beiden vor allem in der Zeitung – und später immer häufiger in den neuen Illustrierten – entdeckten. Wie es scheint, hatten sie immer schon Beispiele für Albernheiten ausgetauscht, die ihnen bei der Lektüre oder im Alltag auffielen. Ähnliche Mitteilungen finden wir auch in Ludwigs Briefwechsel mit Paul Engelmann, der früher Meldungen für Karl Kraus gesammelt hatte, die dieser dann an den Pranger stellen konnte. Ludwig legte tatsächlich eine Unsinn-Sammlung an, in der er aufbewahrte, was ihm von Paul und anderen geschickt wurde und worauf er selbst gestoßen war. Wie aus Briefen von W. H. Watson und C. E. Stevenson und natürlich auch aus der Sammlung selbst zu ersehen ist, regte er einige seiner Schüler dazu an, Beispiele für Unsinn ausfindig zu machen. Gegen Ende seines Lebens schrieb er an Sraffa:

Hier besteht ein subtiler Zusammenhang mit Ludwigs Entlarvung von Unsinn im Bereich der Philosophie – ein Zusammenhang, dessen Erkundung sich lohnen dürfte.

Diese Form der Belustigung hat den Vorteil – aber zugleich den Mangel –, dass sich praktisch alles, wenn es nur feierlich genug genommen wird, verspotten lässt, vor allem wenn ein bestimmter Satz oder Ausdruck herausgegriffen und rot unterstrichen werden kann (wie Paul es zu tun pflegte). Dennoch scheinen die Brüder einige ihrer Ziele durchaus zu Recht aufs Korn genommen zu haben. So kommt das Thema des verfehlten oder banalen Tons beim Umgang mit eigentlich ernsten oder sogar heiligen Dingen in Ludwigs Sammlung immer wieder vor. Damit verwandt ist vielleicht das Naserümpfen Pauls angesichts der Anwendung moderner Reklamemethoden auf die Musik: die Verwechslung verschiedener Ebenen der Ernsthaftigkeit, wenn es um einen Film geht, um ein Lehár-Museum (als ob Lehár von Bedeutung wäre!) und dergleichen mehr. (Heute würde man freilich anders reagieren.) Paul macht sich über die Leichtgläubigkeit der Professoren lustig, von denen die Machenschaften der Spiritualisten ernst genommen werden. Allesamt Schwindler, meinten die Brüder, denn Ludwig antwortete im gleichen Ton und schickte einen ähnlichen Zeitungsausschnitt mit ähnlichen Anmerkungen. (Er wollte den Ausschnitt zurückhaben, daher ist er erhalten geblieben.) Mit Bezug auf das Medium heißt es in dem Bericht, es scheine überaus glücklich gewesen zu sein, doch Ludwig kommentiert: „Was muss in ihr während der Sitzung vor sich gegangen sein! Wie enorm schwer, nicht zu lachen!“ Keiner der Brüder lässt die Überlegung gelten, manchmal könne gerade die Absurdität der gewonnenen Resultate ein Beleg für ihre Echtheit – und nicht für das Gegenteil – sein.36

Die Mischung aus hämischem Vergnügen und intellektueller Sorge kommt vor allem im Verhältnis zu einem Lieblingspopanz Ludwigs zum Vorschein, nämlich zu dem (heute nachgerade als Heiliger verehrten) Einstein, dessen Hang, den Clown zu spielen, von den Brüdern vielleicht als ein Fall von trahison des clercs empfunden wurde. Es fragt sich, ob das zu demselben Phänomen gehört wie Ludwigs spezielle Entrüstung bzw. (eigenwillige) Heiterkeit angesichts der Äußerungen von Naturwissenschaftlern – insbesondere James Jeans und Arthur Eddington – über allgemeine Themen. Sie hätten bei ihrem Leisten bleiben sollen! Besonders schlimm waren die Gedanken, die dazu führten, dass eine Einstein-Figur zu denen gehören sollte, die am Hauptportal der Cathedral of St. John the Divine in New York angebracht werden sollten. „Wie immer, wenn ich das Ärgste sehe, denke ich an Dich“, schrieb Paul, als er den betreffenden Ausschnitt schickte. Bestimmt war dies der Ausschnitt, auf den sich die folgende Antwort Ludwigs bezog: „Als ich das Bild mit dem Einstein sah, sagte ich laut zu mir: es ist nicht möglich! Leider habe ich hier niemanden, der die Unmöglichkeit wirklich zu schätzen weiß & und ungeteilte Freude ist nur halbe Freude.“37

Eine komplexe Sache ist Pauls Auswahl von Stellen, die sich auf Jüdisches beziehen. Manchmal macht er sich offenbar über jeden Versuch lustig, irgendein gleichgültiges modernes Phänomen in spezifisch jüdischer Weise zu behandeln. Er äußert sich spöttisch über Verweise auf „hebräische Mädchen“, die in einer Show tanzen, und sogar eine Bezugnahme auf das „sogenannte Purimfest“ gilt ihm als absurd. Das ist nur dann Antisemitismus, wenn man meint, das sei das richtige Etikett für die Überzeugung, totale Assimilation sei die beste Lösung für Menschen jüdischer Abstammung – sie sollten das Jüdische sozusagen vergessen. Das scheint die Einstellung gewesen zu sein, für die sich nicht nur der Großvater von Paul und Ludwig entschieden hatte, sondern auch weitere Angehörige der Familie. Paul äußert sich in beiläufiger Weise von oben herab über einige mutmaßlich jüdische Kennzeichen, und Ludwig hatte (wie ich an anderer Stelle erörtere) als Einziger ein schlechtes Gewissen wegen seiner Herkunft.38

Dieser Themenbereich wurde (zumindest meiner Meinung nach) erst 1938 – also nach dem „Anschluss“ Österreichs – zu einem Problem für die Familie, als Karls Kinder feststellen mussten, dass sie den Nürnberger Gesetzen zufolge als jüdisch eingestuft wurden, da sie nur ein eindeutig nicht-jüdisches Großelternteil hatten.39 Helenes Kinder und die übrigen Angehörigen befanden sich in relativer Sicherheit, da ihre jüdische Abstammung durch Heirat verwässert worden war. Aus dieser Zeit liegt in Ludwigs (durchaus nicht immer komischer) Nonsens-Sammlung ein im April 1938 erschienenes Heft des Stürmer vor, einer antisemitischen Wochenzeitung der Nationalsozialisten. Dieses Heft war, wie ich vermute, von Paul sowohl als Warnung wie auch aufgrund seiner Albernheit geschickt worden. Auf der ersten Seite steht ein Leitartikel unter dem Titel „War Christus Jude?“, in dem unter anderem geltend gemacht wird, es sei unmöglich, dass die jüdische Rasse einen spirituellen Helden wie Jesus hervorgebracht habe, also jemanden, der so viel Mut und Wahrheitsliebe besaß, so viel Intelligenz und Weltweisheit. Wie sollte ein Jude Lehren gestiftet haben, die die nordischen Völker zweitausend Jahre lang in ihren Bann schlugen? Und dergleichen mehr. Es ist eine bittere Ironie, dass die Familie Wittgenstein insgesamt gezwungen war, sich einer ähnlichen Logik zu bedienen und zu argumentieren, dass die um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts geborenen „Geschwister Wittgenstein“ so vornehm aussahen, dass sie – ebenso wie ihr Vater – unmöglich von Volljuden abstammen konnten. So hieß es unter anderem in dem „Gesuch“, von dem Ludwig in einem aus diesem Jahr stammenden Brief an Paul spricht. Er ist sicher, dass es für jene, die das Gesuch gestellt haben, die richtige Vorgehensweise ist, und er findet sich auch damit ab, dass darin auf seinen Kriegsdienst und die im Weltkrieg verliehenen Orden Bezug genommen wird. Allerdings möchte er nicht den Anschein erwecken, er wolle sich seinerseits dem Gesuch anschließen.40

Das Gesuch wurde schließlich eingereicht und gebilligt, wenn auch erst nachdem der Reichsbank vonseiten der Kinder Karls und ihrer Sachwalter erhebliche finanzielle Zugeständnisse gemacht worden waren. Hermann Christian (der seinerseits gesagt hatte, er sei froh gewesen, aus dem Osten wegzukommen) wurde zum Arier erklärt, so dass auch diese Enkel den günstigeren Rassenstatus von „Mischlingen 1.en Grades“ erhielten.

Damit haben wir eine Zeit und eine Abfolge von Ereignissen erreicht, die dazu führten, dass das ansonsten offenbar stabil gute persönliche Verhältnis zwischen den Brüdern in Frage gestellt wurde. Die zwischen ihnen bestehende Zuneigung war normalerweise implizit in Formulierungen wie „in alter Liebe“ oder einer halb kaschierten Gefälligkeit enthalten. Soweit wir wissen, kam es nur einmal vor, dass sich Paul eine Äußerung der Besorgnis erlaubte. Das war zu der Zeit, als Ludwig in einem entlegenen Dorf lebte und alle Angehörigen Befürchtungen hinsichtlich seiner geistigen Stabilität hegten. Diese Äußerung Pauls veranlasste Ludwig zu einer Antwort, in der er feststellte, „daß Du aus einer Naivität, die Dich ehrt, keine Ahnung davon hast wie ich überall von den niedrigsten & gewöhnlichsten Motiven geleitet werde. Ja, dass ich eine verlorene Existenz bin, also Eurer Liebe ganz unwürdig, wenn ich nicht durch ein Wunder gerettet werde. Genug davon.“41 Wenn es darum ging, ein Urteil über Paul zu fällen, scheint Ludwig (ebenso wie im Fall von Pauls Klavierspiel) mehr Verständnis für seinen Bruder aufgebracht zu haben als die Schwestern. Ein spezieller Fall war die oben angedeutete Notsituation, in der Pauls Privatleben (wie man heutzutage wohl sagt) Auswirkungen auf die Familie hatte. Seine Geliebte wurde in die Alleegasse gebracht und starb dort an Krebs. Alle Angehörigen – aber vor allem Margarete – kümmerten sich um sie. Hermine war sich nicht sicher, ob Paul wusste, wie groß sein Verlust war, und sie war traurig darüber, dass es zu keiner weiteren Annäherung an Margarete kam. Von England aus verwarf Ludwig diese Gedanken (sei es zu Recht oder zu Unrecht, jedenfalls war es ein Ausbruch von Loyalität): „Daß der liebe Paul viel an Bassia verlieren würde, habe ich mir wohl gedacht. Warum sagst Du, daß er & Gretl einander nicht näher gekommen seien? Sie sind sich gewiß näher gekommen.“42 Wenn Ludwig später in einer seiner schwermütigen Stimmungen war, kam ihm häufig Paul in den Sinn. Naheliegenderweise kommt Paul auch in einer Skizze zu einem Geständnis bzw. einer Selbstbiographie vor, denn in ihren Kinderjahren hatten sie vieles gemeinsam erlebt. Einmal träumt Ludwig, Paul (und die übrigen Angehörigen) hätten seine musikalische Begabung bewundert, und beim Aufwachen bedauert er die eigene Eitelkeit. Zu anderen Zeiten träumt er, Paul (oder eines der übrigen Geschwister) sei gestorben. In einer der betreffenden Bemerkungen (heute als Abschnitt 40 der Philosophischen Untersuchungen bekannt) heißt es: „Wenn Herr N. N. stirbt, so sagt man, es sterbe der Träger des Namens, nicht, es sterbe die Bedeutung des Namens“, doch ursprünglich stand an dieser ungefähr aus der Zeit des erwähnten Traums stammenden Stelle: „Wenn Paul stirbt, usw.“ (Überhaupt ist „Paul“ der Vorname, der – zu Beispiel-Zwecken oder aus sonstigen Gründen – in den Manuskripten am häufigsten vorkommt.)

Die von Paul und den anderen unternommenen Versuche, die Einstufung als Juden zu verhüten, waren noch nicht zur Reife gelangt, als die in Österreich mittlerweile regierenden nationalsozialistischen Machthaber Ende Juni 1938 beschlossen, den meisten Juden – und zumal Musikern, Rechtsanwälten oder Lehrern – das Recht auf Berufsausübung zu entziehen. Daneben gab es noch weitere unerträgliche Verbote, etwa dass Juden keine öffentlichen Parkanlagen betreten konnten, und so fort. Der am 7. Juli geschriebene Brief Ludwigs an Paul ist eine schlichte Äußerung der Solidarität: „Nur eine Zeile, um Dir zu sagen, was sich von selbst versteht, dass ich an Dich denke.“ Diese Maßnahmen waren ein schwerer Schlag für Paul, der jetzt weder als Klavierlehrer tätig sein noch seine langen Spaziergänge unternehmen konnte, weshalb er schon bald darauf emigrierte, um sich schließlich in den Vereinigten Staaten niederzulassen. Die Verhandlungen, die geführt wurden, um einen für seine Schwestern, die in Österreich bleiben wollten, günstigen rassischen Status durchzusetzen, führten zu heftigen gegenseitigen Vorwürfen zwischen Paul und ihnen und vor allem einem von Margaretes Söhnen, der sich in die Sache hineinziehen ließ. (Margarete und ihre Söhne waren amerikanische Staatsbürger und nicht direkt von den Erlassen betroffen.) Zunächst meinte Paul, die Schwestern sollten ebenfalls emigrieren; später war er der Ansicht, die finanziellen Forderungen der Reichsbank (deren Erfüllung implizit eine notwendige Bedingung für die Ausstellung der erforderlichen Bescheinigung über die rassische Zugehörigkeit war) sollten möglichst gering gehalten werden. Das war jedoch eine Taktik, die nach Ansicht der anderen ihr eigenes Risiko maximal erhöhte, während sie – obschon sie vielleicht in die richtige Richtung ging – offensichtlich in Pauls eigenem Interesse lag, was aus Sicht der Wittgensteins immer eine fatale Erwägung war. Wieder sollte Ludwig als Schlichter fungieren und fuhr im Juli 1939 nach New York, um nach Möglichkeit eine Einigung herbeizuführen. Von Paul wurde das jedoch als ein weiterer Versuch aufgefasst, ihn unter Druck zu setzen, und Ludwig wurde, als sein Schiff anlegte, von einem Brief des Rechtsanwalts begrüßt, in dessen Hände Paul die ganze Sache gelegt hatte und mit dem sich Ludwig treffen musste, ehe er mit Paul reden durfte. Seine einzige Anmerkung zu dem schließlich doch noch geführten, ergebnislosen und letzten Gespräch lautete: „Der Paul ist ein armer Kerl.“ Daheim in Europa wurden die Verhandlungen wenige Tage vor Kriegsausbruch abgeschlossen, so dass beide Seiten in Anspruch nehmen konnten, einigermaßen im Recht gewesen zu sein. Das Schreiben dieser Geschichte werde ich anderen Autoren überlassen,43 denn es gibt vieles, was wir nicht wissen, sowie vieles, was den Beteiligten von einem grausam berechnenden Erpressungssystem aufgezwungen wurde. Die beinahe vorherbestimmten Weiterungen eines tiefreichenden Familienzerwürfnisses geben jeden Versuch einer besonnenen Darstellung der Lächerlichkeit preis. Vielleicht kann man nichts weiter tun, als einige der Reaktionen zu schildern, da sie auf die tieferen Schichten der Gruppendynamik ein gewisses Licht werfen können.

Margarete blieb, ebenso wie Paul, während des ganzen Kriegs in New York, aber sie hatte nur indirekten Kontakt zu ihm. Geschäftliches wurde, wenn schon nicht in freundschaftlicher, so doch immerhin in befriedigender Weise von Anwälten erledigt. Paul half mit, jüdische Freunde der Familie, die aus Europa ausreisen durften, zu unterstützen, und er scheint keine Schwierigkeiten gemacht zu haben, als es darum ging, die Manuskripte und Kunstwerke zu verkaufen, deren Veräußerung nötig war, um die gegenwärtigen oder künftigen Bedürfnisse der exilierten oder in Österreich verbliebenen Angehörigen zu decken. Die finanziellen Details bleiben uns notgedrungen verborgen, was zum Teil zweifellos daran liegt, dass sie auch seinerzeit den Behörden entgehen sollten. Ludwig spielte dabei die ihm zugedachte Rolle, indem er einige wertvolle Manuskripte im Safe seiner Cambridger Bank aufbewahren ließ und im Hinblick auf ihren Verkauf Piero Sraffas Rat einholte. Die Angehörigen hatten keine Ahnung, ein wie guter Kenner des Markts für bibliophile Raritäten der Mann war, dessen Ratschläge sie schließlich in den Wind schlugen. Wirkliche Zusammenkünfte zwischen den Geschwistern gab es allerdings nicht. Es überraschte Margarete, dass Paul mit Ludwig gebrochen hatte, und aus ebendiesem Grund scheint sie sich eine geringere Zahl versöhnlicher Gesten gegenüber Paul gestattet zu haben. Hermine, die älteste Schwester, legt in ihren Familienerinnerungen Reuegefühle an den Tag, wenn sie von ihrem Groll und ihren schroffen Äußerungen über Paul spricht, und auf dem Sterbebett dachte sie viel an ihn.44 Zu einer Aussöhnung zwischen Bruder und Schwester kam es nicht, obwohl sich Paul während dieser Zeit mindestens einmal in Wien aufhielt.

In ihren Briefen aus der Kriegszeit kommt Margarete immer wieder auf das Problem Paul zurück: