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Doris Gercke

Die schöne Mörderin

Ein Bella-Block-Krimi

Die Geschichte hat länger als vier Jahre gedauert, wenn ich die Zeit von meiner ersten Bekanntschaft mit Tolgonai bis zu unserer letzten Begegnung überschlage. Zeit genug, um einen unauslöschlichen Eindruck auf mich zu machen. Dabei traf ich sie nicht oft, fünf oder sechs Mal, vielleicht. Trotzdem habe ich sie nicht vergessen. Und wenn sie mir in den Sinn kommt, habe ich merkwürdig intensive Empfindungen, es ist, als sei sie ein Teil von mir, als gehöre sie zu meinem Leben.

Manchmal, wenn ich über sie nachdenke, ausgelöst durch den Anblick eines leuchtenden Rot im Kleid einer Frau oder durch den Klang einer Harley Davidson, weiß ich, dass es allen so geht, die mit ihr zu tun gehabt haben. Dann wieder denke ich, dass ich vielleicht die Einzige bin, die etwas von ihr begriffen hat. An die Toten denke ich niemals.

Tolgonai verlässt das Haus an einem Sommertag. Der Tag ist so schön, dass er fromme Menschen an die Narzissen und die Tulipan von Paul Gerhardt hätte erinnern können. Sie ist nicht fromm. Sie kennt weder Paul Gerhardt noch barocke deutsche Choräle. Sie geht auf dem Uferweg in Richtung Innenstadt. In ihrem Rucksack befindet sich alles Geld, was sie in dem Haus in Hamburg hat finden können. Auch das Geld, das sie für einige Gegenstände bekommen hat. Die beiden silbernen Leuchter sind immerhin dreitausend Mark wert gewesen, jeder Einzelne. Alles in allem mögen es zehntausend Mark sein, die sie auf dem Rücken trägt. Ein leichtes Gewicht, und in den Monaten, in denen sie bisher in Deutschland gewesen ist, hat sie gelernt, dass sie mit so einer Summe nicht zu den Reichen gehört. Es ist ihr gleich. Sie wird immer haben, was sie braucht. Dessen ist sie sich sicher.

Kranz hat sie damals vom Flughafen abgeholt und in das Haus gebracht. Die Lage des Hauses an der Elbe hat ihr gefallen. Auch in Odessa hat sie so lange es möglich war am Wasser gelebt. In dem Haus an der Elbe hätte sie länger bleiben können. Weshalb aber soll eine Frau, der die Welt gehört, länger als nötig in einem Haus mit Strohdach sitzen, aus niedrigen Fenstern auf den Fluss blicken und andere die Abenteuer erleben lassen, die für sie bestimmt sind? Sie hat die Sprache gelernt, den Winter und den Regen abgewartet, und nun geht sie davon. Sie ist dreißig Jahre alt und neugierig. Sie will Deutschland kennen lernen.

In Erinnerung an den alten Mann, der sie hin und wieder besucht hat, bleibt sie stehen und lächelt. Er wird froh sein, sie nicht mehr treffen zu müssen. Er hat sich für sie verantwortlich gefühlt und nicht gewusst, was er mit ihr anfangen soll. Alte Männer sind sehr langweilig. So langweilig wie die kleinen Häuschen, an denen sie jetzt vorbeigeht: eng aneinander gebaut, mit hübsch dekorierten Fenstern und winzigen Vorgärten. Nur der Blick aus den Fenstern auf den Fluss ist schön. Aber es sieht niemand heraus. Häuser für alte Leute, die lange schlafen und Albträume haben und viele Bücher.

In dem Haus, aus dem sie kommt, sind auch viele Bücher gewesen. Eines davon hat sie mitgenommen, ein dickes, weiß eingebundenes, mit schwarzer Schrift bedrucktes Wörterbuch: Russisch-Deutsch. Das Buch steckt in ihrem Rucksack. Eine Ecke des festen Einbands drückt sie im Rücken, und sie schüttelt leicht die Schultern. Der Rucksack ist beinahe leer, und das Buch rutscht auf eine andere Seite.

Sie sieht auf den Fluss. Ein Mann sitzt in einem gelben Boot und hält eine Angel ins Wasser. Das Bild erinnert sie an ein anderes, ähnliches, das sie schon einmal gesehen hat. Zu ihren Füßen türmen sich die schwarzgrauen Steine der Uferbefestigung.

Darin leben die Ratten, denkt sie, auch das eine Erfahrung aus einem anderen, weit entfernten Land.

Sie setzt sich nicht an das Ufer, wie sie es einen Augenblick lang vorgehabt hat, um den Mann in dem Boot zu betrachten. Sie geht weiter, entlang an den schwarzen Steinen und Büschen und Sträuchern.

Wie gut es hier riecht, denkt sie. Es riecht nach Wasser und Öl und nach – Liebe.

Der Gedanke überrascht sie. Sie hält ihn für einen Augenblick fest. Wieder überlegt sie, ob sie sich hinsetzen soll. Aber sie geht weiter. Sie will bis an eine Straße gehen, die aus der Stadt hinausführt. Es ist wunderbar, die Füße zu spüren, die Beine zu bewegen, hin und wieder die Arme auszustrecken und die weiche Sommerluft einzuatmen, die nach Jasmin und Tang und Öl riecht. Vor Glück lächelt sie einer alten Frau zu, die ihr in Hausschuhen und einem Kittel entgegenkommt. Die Frau hebt den rechten Arm vor ihr Gesicht und sieht ängstlich darunter hervor. Vielleicht ist sie verwirrt, jedenfalls hat ihr schon lange niemand mehr zugelächelt. Tolgonai wandert ungerührt weiter. Was gehen sie alte, verwirrte Frauen an.

Kurz bevor sie bei Neumühlen Övelgönne verlässt, kommt ihr auf der Elbe ein verrosteter Tanker entgegen. Sie bleibt stehen, liest die kyrillischen Buchstaben am Heck: MASCHA. Ach, du meine Liebe, sagt sie zärtlich lächelnd.

Die aufdringlichen Blicke der Freier auf der Großen Elbstraße interessieren sie nicht. Sie weiß nun, dass sie auf diese Weise niemals ihr Geld verdienen wird, das ist genug. Vor der Fischauktionshalle spricht sie einen Mann an, der dabei ist, sein Motorrad in Gang zu setzen. Sie ist sicher, dass er sie mitnehmen wird.

Am Heidenkampsweg setzt er sie ab. Sie geht langsam die Straße entlang und bleibt in der Nähe einer Tankstelle stehen. Die Fahrer der LKWs, die über die Elbbrücken fahren wollen und nicht vorhaben, noch einmal anzuhalten, bevor sie die Stadt verlassen, starren sie an und verlangsamen für einen kurzen Augenblick ihre Fahrt. Der fünfte wird so langsam, dass er die Auffahrt der Tankstelle gerade noch erwischt. Er steigt nicht aus, aber als Tolgonai langsam auf seinen Wagen zugeht, öffnet er die Beifahrertür. Sie sieht einen nackten, kräftigen Arm, der wieder zurückgezogen wird. Die Tür bleibt offen.

Er fährt an, als Tolgonai neben ihm sitzt, sieht konzentriert auf die Straße und beachtet sie nicht. Erst als sie die Stadt verlassen haben, über die Elbbrücken gefahren sind und sein Zug ruhig in Richtung Süden dahin rollt, sieht er sie an.

Du keine Deutsche?

Tolgonai schüttelt den Kopf.

Du wegfahren? Oder ficki-ficki? Und als Tolgonai nicht antwortet: Oder beides? Dann du kein Geld, aber gute Kabine.

Er zeigt mit dem Daumen der rechten Hand hinter sich. Tolgonai sieht sich um. Der Schlafplatz ist schön. Das Bettzeug sieht sauber aus. Ein kleines Radio ist am Kopfende eingebaut, auch eine schmale Lampe gibt es und ein Foto, das eine blonde Frau mit einem Baby auf dem Arm zeigt. Sie sieht das Foto an und dann den Mann hinter dem Steuerrad. Er hat seine nackten Unterarme auf die Speichen gelegt und lacht ihr freundlich zu.

Meine Frau, du verstehen? Mein Baby.

Vielleicht hat er vergessen, dass er sie etwas gefragt hat? Jedenfalls sagt der Mann nichts mehr.

Tolgonai nimmt den Rucksack ab und legt ihn zwischen sich und die Tür. Sie lehnt sich zurück und genießt die Fahrt im LKW. Es gefällt ihr, von oben auf die Welt zu sehen. Es passt zu ihrer Stimmung. Der Mann am Steuer interessiert sie nicht. Er würde sie ein Stück mitnehmen und sie würde aussteigen. Das war alles.

Am Nachmittag, sie waren vor Frankfurt an einem Autohof von der Autobahn abgebogen, hält der Fahrer an einer Tankstelle.

Essen, sagt er, und zeigt mit dem Kopf auf eine lange Bretterbude, die neben der Tankstelle liegt. Während er den LKW tankt, betritt Tolgonai die Bretterbude. Ein paar Männer sitzen darin, dem Anschein nach ebenfalls LKW-Fahrer. Sie sitzen vor großen Tellern mit Unmengen von Fleisch. Ihre Gesichter zeigen die ersten Anzeichen von Müdigkeit. Die junge Frau gefällt ihnen. Sie haben sie mit dem anderen kommen sehen. Sie werden ihrem Kollegen die Frau nicht ausspannen. Aber Glück hat er, das muss der Neid ihm lassen.

Vier Augenpaare folgen der Frau, die an den Tresen geht und gleich darauf ein Tablett mit einem Brötchen und einer Flasche Wasser an einen der Tische trägt. Der Fahrer hebt die Hand, als er den Schankraum betritt. Er grüßt, ohne auf Antwort zu warten. Die Männer kennen sich, und sie kennen sich nicht. Und sie sind müde. Von draußen scheint die Nachmittagssonne durch die Fenster. Im Raum ist es warm und still, bis auf ein Geräusch von brutzelndem Fett. Der Fahrer, der Tolgonai mitgenommen hat, bestellt ein Holzfällersteak. Die Stille ist träge, sogar das brutzelnde Fett scheint sich ihr anzupassen. Das Geräusch wird leiser und langsamer. Die Stille ist auch warm. Auf den Oberlippen der Männer haben sich kleine Schweißperlen angesammelt. Unter den Achseln haben ihre Hemden dunkle Ränder.

Der Fahrer hat sich neben Tolgonai gesetzt. Als der Teller mit dem Steak gebracht wird, deutet er auf das Fleisch und sieht sie an. Sie schüttelt den Kopf. Der Fahrer hebt die Schultern, als wolle er sagen: dann eben nicht, und beginnt, das Fleisch zu essen. Die Augen der Männer sind noch immer auf das Paar gerichtet. Es ist so still, dass man die Kaugeräusche des Fahrers hört. Einer der anderen schiebt plötzlich mit einem lauten Geräusch seinen Teller beiseite, steht auf und verlässt den Schankraum. Im gleichen Augenblick, als der Mann den Raum verlässt, macht irgendjemand hinter der Theke laute Musik an.

Tolgonai beobachtet durch ein Fenster, dass der Mann an den Zapfsäulen vorbei auf die andere Seite der Tankstelle geht und hinter einer Tür verschwindet, die als Toilette für Männer gekennzeichnet ist. Das Fenster, durch das sie den Mann beobachtet, ist mit einer Gardine dekoriert, die in halber Höhe angebracht ist. Der Stoff der Gardine war einmal weiß. Jetzt ist er bräunlich. Eine tote Fliege klebt auf der Stange, die durch den Stoff gezogen und an dem Fensterrahmen befestigt wurde. Die Fliege erinnert sie an etwas, das sie schon einmal erlebt hat. Das ist lange her, aber sie erinnert sich noch genau. Damals hat sie in einer Volksküche gesessen, in Tschimki. Da ist eine Frau gewesen, die sie erkannt hat. Sie trug eine weiße Haube.

Wenn ich sie aus den Augen gelassen hätte, wäre mir nicht aufgefallen, dass sie die Miliz angerufen hat, dachte Tolgonai. Als sie wieder an meinen Tisch gekommen ist, hat sie ein falsches Lächeln aufgesetzt. Es war nicht üblich, dass man sich beschwerte, wenn man so billig essen durfte. Aber ich habe mich beschwert. Und diese Fliege von der Fensterbank genommen und sie in den Suppenteller gelegt. Wie dumpf die Gesichter der anderen gewesen sind, müde Esser, zerstörte Leben, Trinker. Damals war ich auf der Flucht. Jetzt bin ich frei.

Glücklich bei diesem Gedanken, lächelt sie dem Fahrer zu, der neben ihr sitzt und mit einem zu kurzen Fingernagel versucht, seine Zähne von Fleischfasern zu säubern.

Willst du was trinken? Was Richtiges?

Tolgonai schüttelt den Kopf. Jemand hat die Musik auf normale Lautstärke zurückgedreht. Die anderen Fahrer unterhalten sich und beachten das Paar nicht mehr.

Na, dann wohn wir mal, sagt der Mann neben Tolgonai. Er schiebt den Tisch von sich weg, während er aufsteht. Sie sieht seinen flachen Bauch unter dem engen Hemd und dann den breiten Rücken, als er an den Tresen geht, um zu bezahlen. Sie geht hinaus. Als er bald darauf aus der Tür tritt, sitzt sie auf den Stufen und betrachtet einen dunkelbraunen Jaguar.

Los, komm, sagt der Fahrer. Sie steht auf und folgt ihm langsam. Der Fahrer des Jaguars kommt aus dem Kassenhaus; ein Mann in mittleren Jahren, karierten Hosen und einem hellgelben Pullover. Sein Gesicht und seine Hände sind braun gebrannt. Tolgonai ist neben dem Jaguar stehen geblieben. Auf dem Armaturenbrett klebt ein dreiteiliger Bilderrahmen mit den Fotos einer Frau und zweier Kinder.

Was is, kommst du nun endlich?!

Der Mann in der karierten Hose sieht sie auffordernd an.

Der ist doch nichts für dich, sagt er, und zeigt mit dem Kopf hinüber zum LKW. Du hast doch Klasse.

Sie geht weiter, folgt dem LKW-Fahrer und klettert in den Laster, ohne sich noch einmal umzusehen.

Klasse hast du, wiederholt der Fahrer irgendwann wieder.

Da sind sie längst wieder auf der Autobahn. Der Fahrer fährt jetzt schneller und rücksichtsloser als vorher. Er fährt, als habe er ein Ziel, für das er Zeit herausfahren muss. Er spricht wenig und wenn, dann nur, um andere Autofahrer zu beschimpfen, oder sich über sie lustig zu machen. Manchmal sind seine Überholmanöver so rücksichtslos, als wäre es ihm gleichgültig, ob jemand dabei zu Schaden käme. Tolgonai langweilt sich. Sie wird bei der nächsten Gelegenheit aussteigen.

Als der LKW gegen Abend einen Rastplatz ansteuert, ist sie froh. Dass der Platz abseits liegt und an drei Seiten von Wald umgeben ist, stört sie nicht. Sie nimmt ihren Rucksack auf. Als sich die Tür nicht öffnen lässt, sieht sie den Fahrer an. An seinem Gesicht kann sie ablesen, was er vorhat. Es ist das Übliche. Langsam greift sie in eine Tasche ihrer Jacke und holt einen Lippenstift hervor. Sie klappt die Sonnenblende herunter und sieht in den auf der Rückseite angebrachten Spiegel, während sie sich mit dem Lippenstift einen blutroten Keil auf das Kinn malt. Der Fahrer betrachtet sie schweigend.

Auf dem Parkplatz stehen zwei weitere LKWs. Von den Fahrern ist nichts zu sehen. Vermutlich schlafen sie. Tolgonai erinnert sich an die Gesichter der Männer in der Kneipe. Selbst wenn die Fahrer da vorn nicht schliefen, wäre von ihnen wahrscheinlich keine Hilfe zu erwarten. Sie wird mit dem Mann in die Koje klettern müssen. Sie legt den Rucksack zurück auf den Boden. Der Mann neben ihr hat sie beobachtet. Er ist jetzt zufrieden.

So ist es brav, sagt er, da drin ist Platz für uns beide.

Er zeigt auf die Koje und macht Anstalten, hinter dem Steuer hervorzurutschen. Das Messer in Tolgonais Hand sieht er erst, als sie es ihm zeigt.

Du lässt mich aussteigen, sagt sie ruhig. Oder dein Baby hat keinen Vater mehr.

Der Mann lacht. Es ist ein nervöses Lachen, das nicht zu seiner kräftigen Statur passen will, einfach eine Spur zu hoch, vielleicht. Er lässt Tolgonai nicht aus den Augen. Mit einer plötzlichen, sehr schnellen Bewegung wirft er sich nach vorn, wobei er einen Grunzlaut ausstößt, der eher zu den Freuden gepasst hätte, die er in der Kabine hatte genießen wollen. Sein Gesichtsausdruck ist nicht einmal überrascht, als er vom Sitz rutscht und Tolgonai zu Füßen liegen bleibt.

Es dauert eine Weile, bis sie herausgefunden hat, wie sich die Türen öffnen lassen. Sie zieht den Rucksack unter dem Kopf des Fahrers hervor, klettert aus dem Wagen, schultert den Rucksack und verschwindet in dem Wäldchen neben der Autobahn.

Niemand hat sie gesehen. Niemand folgt ihr. Der Boden um den Parkplatz herum ist mit schmutzigem Papier und Exkrementen bedeckt. Es riecht nach Urin und allem Möglichen, nur nicht nach Wald. Nach wenigen Metern beginnt undurchdringliches Brombeergebüsch, das alle, die neben dem Parkplatz ihre Notdurft verrichten wollten, daran gehindert hat, tiefer in den Wald zu gehen.

Tolgonai geht zurück, vorsichtig, um sich nicht zu beschmutzen. Auf dem Parkplatz stehen noch immer die beiden LKWs und der, mit dem sie gekommen ist. Sie hat vorgehabt, auf einem anderen Parkplatz oder an einer Landstraße eine Mitfahrgelegenheit zu suchen. Nun muss sie es riskieren, von hier mitgenommen zu werden.

Am liebsten von dem da, denkt sie, als ein Motorrad in die Einfahrt des Rastplatzes schießt. In Odessa ist sie die Schnellste aller Motorradfahrerinnen gewesen. Niemand hat sie eingeholt, weder die jungen Burschen

noch die Polizei. Sie hat ihr Motorrad gestohlen und ist damit gefahren, bis sie fürchten musste, entdeckt zu werden. Dann hatte sie es stehen gelassen und nach einem anderen Ausschau gehalten. Von allen Maschinen, auf denen sie gefahren ist, hat ihr eine Goldwing am besten gefallen. Aber eigentlich hat sie immer eine Harley haben wollen. Einmal, kurz bevor sie aus Odessa geflohen war, hätte sie beinahe eine gehabt. Genau so eine wie die, die jetzt auf dem Parkplatz hält.

Im Vergleich zu seiner Maschine sieht der Mann, der dazugehört, eher klein aus; klein, aber kräftig. Er trägt lange braune Haare, die am Hinterkopf vom Band seiner Motorradbrille zurückgehalten werden. Einen Helm trägt er nicht. Sein Anzug war irgendwann schwarz, nun ist er eher dunkelbraun, aber er sieht immer noch teuer aus. Die Hosenbeine stecken in Stiefeln mit breiten Kappen und eng anliegenden Schäften. Er lässt die Maschine stehen, dreht Tolgonai den Rücken zu und stellt sich breitbeinig hin, während er am Vorderteil seiner Hose zu hantieren beginnt. Auf dem Rücken seines Lederanzugs sind rechts und links von dem Schriftzug „Hells Angels“ zwei Flügel aus blauem Leder aufgenäht. Im Näherkommen sieht sie, dass er größer ist, als sie gedacht hat. Würde der Mann sie mitnehmen? Der ist ein anderes Kaliber als die LKW-Fahrer. Dann sieht sie Zündschlüssel.

Als sie die Maschine anlässt und Gas gibt, rutscht sie ihr beinahe aus den Händen. Natürlich hat der Mann das Geräusch des Motors sofort erkannt. Er fährt herum, aus seinem Lederanzug hängt vorn zwischen den Beinen ein schlaffes, großes, weißes Stück Fleisch. Er ist klug genug, nicht hinter der davonrasenden Maschine herzulaufen. Der Mann stopft sein Glied zurück in den Anzug und zieht den Reißverschluss hoch. Aus einer Tasche auf seinem linken Oberschenkel nimmt er ein Mobiltelefon. Er geht hinüber zu einer der beiden Bänke, die am Rand des Rastplatzes stehen und setzt sich hin, bevor er zu wählen beginnt. Ohne einen Namen zu nennen oder jemand auf andere Weise persönlich anzusprechen, beginnt er zu reden.

Frau, vielleicht einsachtzig groß, jung, schwarze Hose, schwarzer Lederanzug, schwarzer Rucksack, Figur. Fährt auf der A7 in Richtung Süden, ab Rastplatz Hochwald. Wir holen sie uns.

Er macht eine kurze Pause. Offenbar entgegnet sein Gesprächspartner etwas.

Halt’s Maul, sagt er, und hör genau zu. Sie gehört mir, genauso wie die Maschine, auf der sie sitzt. Sie gehört zuerst mir, habt ihr verstanden? Den Rest könnt ihr euch meinetwegen hinterher teilen. Holt mich hier ab. Beeilt euch.

Er beendet das Gespräch, ohne eine Antwort abzuwarten, steckt das Telefon zurück und legt sich auf die Bank. Er schiebt die Motorradbrille auf die Stirn. Seine Augen sind klein und sehr blau und sehr kalt. Es dauert zehn Minuten, bis die anderen kommen, eine Gruppe von sechs Männern auf schweren Maschinen. Zwei von ihnen haben Frauen hinter sich auf dem Soziussitz. Den Mann, dessen Maschine Tolgonai genommen hat, nennen sie Jinx. Einer bietet ihm sein Motorrad an. Dafür wird er beinahe von Jinx niedergeschlagen. Zwei andere gehen dazwischen, während die beiden Frauen, leicht auf den schweren Maschinen, aber wuchtig in ihren ledernen Anzügen, interessiert, aber ohne etwas zu sagen, von ihren Sitzen aus die Szene beobachten.

Die Frauen haben blonde Haare und tragen Helme, die anscheinend aus Soldatenhelmen gemacht sind und umgedrehten Kochtöpfen ähnlich sehen. Ihre Augen blicken interessiert und gelangweilt zugleich. Um den Mund haben sie einen Ausdruck von Bosheit, der sie einander ähnlich macht, obwohl sie sich nicht ähnlich sehen.

Man berät sich nur einen kurzen Augenblick, bevor Jinx hinter dem Rücken eines Schwarzhaarigen auf dessen Motorrad Platz nimmt. Die Maschine sieht der von Jinx zum Verwechseln ähnlich. Eines der beiden Mädchen ist vom Rücksitz geklettert und hat ein paar Flaschen Bier aus einer Packtasche geholt, um sie zu verteilen. Sie spricht dabei nicht, und sie nehmen ihr das Bier aus der Hand, ohne sie zu beachten. Sie ist klein und wirkt sehr breit in ihrem Anzug. Die andere, die sitzen geblieben ist, verzieht den Mund zu einer Art Lächeln. Offensichtlich ist ihr ein Zahn abgebrochen. Ihr Lächeln lässt sie älter aussehen, als sie ist. Die Selbstverständlichkeit, mit der die beiden Frauen ihre Hände um die schweren Taillen der wieder aufsitzenden Männer legen, wirkt wie dressiert. Der Fahrer, der Jinx auf dem Rücksitz hat, verlässt als Erster den Platz. Die Männer mit den Beifahrerinnen bilden den Schluss. Die Motoren heulen nicht besonders laut, eher wie von verhaltener Wut und unumstößlicher Entschlossenheit. Schon nach sehr kurzer Zeit ist die Gruppe auf der Autobahn nicht mehr zu sehen.

In der Tür stand eine Person, die mir ähnlich sah. Dieselben kurzen Haare, auch die Hose und das Jackett gehörten mir. Ich hatte die Sachen erst vor ein paar Tagen gekauft; teuer genug in einem Laden am Neuen Wall, in dem ich eine Stunde lang die einzige Kundin gewesen war. Am Ende hatte man sich dafür mit dem Preis an mir gerächt. Von dem, was die Sachen gekostet hatten, hätten die beiden Verkäufer einen Monat lang leben können. Mit Familie. Als die Frau in der Tür ihren Mund aufmachte, wurde mir klar, dass sie und ich tatsächlich eine Person waren. Sie hatte meine Stimme. Was sie sagte, schien mir nicht sehr schmeichelhaft, aber ich war schon immer der Meinung gewesen, dass es Träume gibt, die der Wahrheit sehr nahe kommen, und so brauchte ich mich nicht besonders aufzuregen, als ich erwachte und mich an die Worte erinnerte, die ich im Traum zu mir gesagt hatte.

Hier hatte die Frau eine Pause gemacht und mich bedeutungsvoll angesehen. Jedenfalls glaubte ich, sie hätte mich angesehen, denn eigentlich ging ihr Blick an den Fenstern vorbei, unter denen ich im Bett lag, und mir zusah, wie ich im Türrahmen stand und mir mein Leben erzählte. Zwei Dinge fielen mir auf: Die Tür war zu niedrig, sodass ich mich ein wenig bücken musste, und der Rhythmus der Rede war der Versuch einer Anlehnung an das Gedicht vom armen B. B., das ich in der Nacht zuvor vor dem Schlafengehen gelesen hatte. Der Versuch war misslungen, jedenfalls wenn ich die letzten Worte richtig rekapitulierte:

Das war lächerlich. Ich war sicher, dass die implodierte DDR mir niemals irgendwelches Kopfzerbrechen bereitet hatte. Im Gegenteil. Wie jeder Westler hatte ich an ihrem Untergang verdient, wenn auch vielleicht nicht in dem Ausmaß wie andere. Auch hatte ich es nicht nötig gehabt, mein Selbstbewusstsein, wie viele Westler, mit dem Mist des Untergangs der DDR zu düngen. Aber ich hatte doch verschiedene Fälle bearbeitet, die durch die ungewöhnlichen historischen Umstände überhaupt erst möglich geworden waren; diese Geschichte, zum Beispiel, die ich später „Ein Fall mit Liebe“ nannte, hatte mich nach Greifswald geführt und mir ein paar interessante Einblicke in den Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit beschert. In gewisser Weise war wohl auch ich schuldig-unschuldig, oder unschuldig-schuldig, wie auch immer. Aber nicht so, wie die Frau in der Tür es mir im Traum weismachen wollte.

Ich versuchte, mich an den dritten Vers zu erinnern. Aber bis auf eine Zeile, auf die ich mir noch weniger einen Reim machen konnte als auf die vorherigen, gelang es mir nicht. Die Zeile hieß

… erkläre, dass ich unschuldig bin …

Was sollte ich damit anfangen? Je länger ich im Bett saß und über den Traum nachdachte, desto unverständlicher wurde er. Ich beschloss, meine Ansicht über den Wahrheitsgehalt von Träumen bei Gelegenheit einer gründlichen Prüfung zu unterziehen, und stand auf. Kaffee würde mir gut tun, vielleicht sogar ein Blick in die Zeitung. Und „unschuldig“, was immer das heißen sollte, war ich schon lange nicht mehr.

Während das Wasser durch den Kaffeefilter lief und sich im Haus ein Duft verteilte, der eine wunderbar einsame Frühstückszeremonie versprach, ging ich vor die Haustür, um die Zeitung hereinzuholen. Es war warm für die Jahreszeit (September). Ein feiner, dichter Nieselregen hatte die Ränder der Zeitung aufgeweicht. Ich blieb einen Augenblick vor der Haustür stehen, genoss den Regen auf meiner Haut und ging erst hinein, als hinter der Hecke, die das Grundstück zur Straße hin abtrennt, das Keuchen eines Läufers zu hören war. Den äußerst angestrengten Lauten nach konnte es gut sein, dass der Läufer sich am Ende der Straße befand. Durchaus möglich, dass der unverhoffte Anblick einer nackten, nicht gerade schlanken Frau auf der anderen Seite der Gartentür jemanden in seinem Zustand zu Tode erschrecken würde. Drinnen fröstelte ich und zog den Bademantel über, der mir seit Jahren zu eng war. Mit Befriedigung stellte ich fest, dass er jedenfalls nicht enger geworden war.

Den Tag mit Zeitungslektüre zu beginnen, bringt Gefahren mit sich, gegen die man gewappnet sein muss wie gegen schlechte Träume. Wenn man aber ausreichend gewappnet ist, kann das Zeitungslesen auch eine vergnügliche Beschäftigung sein. In Hessen gab es einen Ministerpräsidenten, der ein Gesicht hatte, das meine Mutter Olga als „Backpfeifengesicht“ bezeichnet hätte. Das Backpfeifengesicht klammerte sich mit einer Ausdauer an seinen Sessel, die darauf schließen ließ, dass seine Partei es sich nicht leisten konnte, ihn gehen zu lassen, wenn nicht weitere unangenehme Finanzgeschäfte an die Öffentlichkeit kommen sollten. Einen Augenblick dachte ich an Olga, wie immer, wenn es um Politik ging. Vermisste ich sie eigentlich?

Olga war seit vier Jahren tot. Während sie starb, war ich in Odessa gewesen. Inzwischen hatte ich das Grab besucht, das ihre Genossen für sie gekauft hatten. Ich hatte ihnen das Geld erstattet. Auf den Friedhof ging ich nicht mehr. Ich vermisste Olga nicht. Manchmal war da ein Gefühl, das einem Phantomschmerz glich – das Wort aus meinem Traum war zurückgekommen. Der verdammte Traum steckte in mir. Er hatte eine Wirkung, die ich nicht kannte und nicht fassen konnte. Aber er würde mir den Tag verderben, wenn ich ihm Gelegenheit dazu gäbe. Also beendete ich mein Frühstück, das heißt, ich stellte die Kaffeetasse in die Küche zurück, legte die Zeitung beiseite und zog die Laufsachen an.

Während ich lief, fiel der Regen gleichmäßig und zart auf mich und auf den Elbstrand. Es war ein gütiger Regen. Er hatte wohl wieder Hundebesitzer daran gehindert auszugehen. Auch Läufer traf ich nur zwei: ein kleines, altes, dünnes Männlein, das durch den Regen hüpfte wie ein Gummiball, und eine junge Frau, deren Beine so lang waren, dass ich einen Augenblick lang stehen blieb, um ihnen nachzusehen. Die Frau hatte lange, blonde, nasse Haare. Ich hatte ihr Gesicht nur sehr flüchtig gesehen. Ich sah ihren Rücken, und die Beine, und ein wenig auch die Bewegungen. Sie erinnerten mich an Tolgonai. Die Frau verschwand im Regen, und ich lief weiter, nun in Gedanken an Odessa.

Als ich nach Hause kam, war ich durchnässt bis auf die Haut. Ich zog die Sachen im Hausflur aus und rannte die Treppe hinauf unter die Dusche. Es war herrlich, das warme Wasser auf der Haut zu spüren.

Später ging ich hinunter, setzte mich hinter den Schreibtisch und begann, darüber nachzudenken, wie mein Haus ausgesehen haben mochte in der Zeit, als Tolgonai darin gelebt hatte. Ich hatte ihr zur Flucht aus Odessa verholfen. In der Zeit, als ich in Sibirien gewesen war, hatte sie in meinem Haus gelebt. War sie allein gewesen? Es hatte ein paar Spuren gegeben, als ich zurückkam, einige Hinweise auf die Anwesenheit einer anderen Person. Ich hatte einen Kamm gefunden, einen von den Kämmen, mit denen Frauen ihre Haare hochstecken, gebogen und biegsam, aus hellbraunem Horn, verziert mit einer schmalen Reihe von Strasssteinen. In der Küche hatte in einer Schublade ein Messer gelegen, von dem ich sicher war, dass es mir nicht gehörte. Es sah einem Mordwerkzeug ähnlich. Ich habe, wenn es darauf ankommt, die Beretta. Ich würde niemals ein Messer benutzen. Der Kamm lag noch immer im Bad in einem Korb mit Kleinkram. Das Messer hatte ich aus dem Haus gebracht. Ich habe bisher keine Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt; aber ich bin sicher, dass es ein paar ehemalige Kollegen gibt, die nur zu gern jede Gelegenheit nutzen würden, um mir Schwierigkeiten zu bereiten. Dass sie es bisher nicht getan haben, war wahrscheinlich meiner Gesetzestreue, nicht ihren Absichten, zu danken. Weshalb hätte ich eine Mordwaffe im Haus behalten sollen?

Was Tolgonai betraf, so ging vermutlich auch das Durcheinander in den Bücherregalen, in denen die russische Literatur stand, auf ihr Konto. Aber von den Büchern fehlte nichts, außer einem dicken, weißen Wörterbuch mit schwarzer Aufschrift, das ich bei meinem ersten Besuch in Moskau für zwei oder drei Rubel erstanden hatte. Ich dachte mir, dass Tolgonai, die kaum Deutsch sprach, als sie damals in Hamburg angekommen war, das Wörterbuch gut hatte gebrauchen können. Der Verlust ließ sich verschmerzen. Trotzdem begann ich zu überlegen, ob ich ein zweites Mal jemandem mein Haus überlassen würde. Aber die Frage war falsch gestellt. Damals war ich aus Hamburg weggegangen in der Absicht, nicht wiederzukommen. Was hatte mir da dieses Haus noch bedeutet? Meinetwegen hätte man es abreißen können. Damals. Und nun war ich froh, dass ich es wieder hatte.

Das Haus ist klein und ziemlich eng. Der untere Bereich besteht aus einem winzigen Hausflur, einer Küche und einem engen Raum, der gleichzeitig als Wohnzimmer, Bibliothek, Arbeitszimmer und Empfangsraum für meine Klienten dient. Vom Hausflur führt eine schmale Holztreppe in den Giebel. Dort unter den schrägen Wänden sind die Dusche und mein Schlafzimmer. Vom Arbeitszimmer und aus dem Fenster des Schlafzimmers kann ich auf die Elbe sehen. Wenn ich gegen Abend am Strand entlang wandere, lasse ich im Haus das Licht brennen. Manchmal, wenn ich besonders gut gelaunt bin, habe ich dann bei der Rückkehr den Eindruck, als lächele mich das Haus an. Der Anblick seines dicken Strohdaches verschafft mir ein Gefühl von Geborgenheit, das ich nirgendwo sonst gefunden habe.

Mir fiel ein, dass es dämmrig gewesen war, als Lara G. mich besucht hatte. Das war ein paar Tage nach ihrem Freispruch gewesen. Ob das Haus auf sie einen ähnlichen Eindruck gemacht hatte? Ich glaubte es nicht. Sie war nicht mehr interessiert gewesen an Geborgenheit. Sie hatte mir ihre Geschichte erzählt, die ich nicht hatte hören wollen, und hatte sich anschließend umgebracht. Sie war ins Wasser gegangen. Was für ein Wort: ins Wasser gehen.

Ich saß da, und erinnerte mich daran, dass ich beschlossen hatte, sie nicht daran zu hindern. Die Erinnerung an meine unsentimentale Haltung, die mir auch jetzt noch als die einzig richtige erschien, ließ mich die rührseligen Gedanken an lächelnde Häuser und beschützende Dächer schnell wieder aufgeben. Vor mir selbst entschuldigte ich mich damit, dass ja allgemein bekannt ist, wie oft gerade Menschen, die sich für besonders unsentimental halten, bei bestimmten Gelegenheiten mit einer überflüssigen Emotion fertig werden müssen. Glücklicherweise war mir das bis jetzt noch jedes Mal gelungen.

Ich stand auf, um in die Küche zu gehen und mir etwas zu trinken zu holen. In der Tür holte mich die Klingel des Telefons an den Schreibtisch zurück.

Ja?

Bella, sind Sie’s?

Es war Brunner, und was er sagte, erschien mir lächerlich und dennoch durchaus möglich.

Ich weiß nicht, weshalb, aber es könnte sein, dass Sie in Kürze Besuch bekommen, von Kollegen, meine ich. Seien Sie nett und höflich und räumen Sie weg, was die Herren nichts angeht.

Glauben Sie, ich werde die Kollegen ins Haus bitten?

Ich weiß, es klingt lächerlich, aber ich rate Ihnen unbedingt dazu.

Haben die einen Durchsuchungsbefehl?

Vermutlich nicht.

Und was wollen die überhaupt?

Ich würde es Ihnen sagen, wenn ich es wüsste. Aber ich weiß es nicht. Ich hab’s auch nur zufällig erfahren. Es gab eine Besprechung im Präsidium.

Oh, werden Sie wieder eingeladen?

Weshalb nicht?

Ich schwieg und dachte darüber nach, dass wahrscheinlich wirklich niemand bei der Kripo von Brunners illegalem Manöver im Fall Lara G. erfahren hatte. Sonst hätte man ihn schon längst hinausgeworfen, und das mit Recht.

Bella? Sind Sie noch dran? Hören Sie zu: Ich weiß nicht, was die Kollegen von Ihnen wollen. Ich sag Ihnen nur, dass sie kommen werden. Im Übrigen haben Sie versprochen, mit mir auszugehen. Denken Sie schon mal über einen geeigneten Termin nach. Ich melde mich.

Brunner hatte aufgelegt, eh ich etwas sagen konnte. Ich legte den Hörer zurück, ging in die Küche und sah sie kommen. Es waren zwei, ein Mann und eine Frau, die sich große Mühe gaben, einem von den vielen Fernseh-Kripo-Teams zu ähneln, die seit einigen Jahren die Zuschauer dazu animieren müssen, sich die Werbeblöcke im Abendprogramm anzusehen. Die beiden sahen ziemlich perfekt aus, vielleicht ein wenig zu kurz und zu breit für die Rollen. Dafür aber schienen die Gesichter echt zu sein. Ich hielt die Frau für fünfunddreißig, den Mann für fünfundvierzig. Die Ausbuchtungen in ihren Jacken waren unübersehbar. Vermutlich Sig Sauer. Gingen die neuerdings immer bewaffnet durch die Gegend? Hielten sie mich für gefährlich?

Ich kam nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu denken. Es klingelte an der Haustür, und ich eilte, um ihnen mit fröhlichem Gesicht zu öffnen. Sie waren so höflich, sich gleich an der Tür vorzustellen. Ich versicherte ihnen, ich sei über ihren Besuch begeistert, und ließ sie ein.

Sie blieben etwa zehn Minuten. Als sie gegangen waren, wusste ich ihre Namen, Köhler und Kaul, kannte in etwa ihre Schuhgröße, achtunddreißig und dreiundvierzig, und hatte einen Blick auf ihre gehalfterten Spielzeuge werfen können, den sie mir absichtlich oder zufällig gewährt hatten. In der Art der Bewaffnung hatte ich mich getäuscht. Sie trugen Smith & Wessons. Ich wusste nicht, was sie suchten. Sie hatten sich nach meinem Befinden erkundigt, mir von einer Pensionärsveranstaltung im Präsidium erzählt, mich dazu eingeladen und dabei die ganze Zeit ihre Augen nicht still gehalten. Als ich mich bei ihnen für ihre Fürsorge bedankte, wehrten sie bescheiden ab. Es sei doch selbstverständlich, dass man sich um ehemalige Kollegen kümmere. Besonders, wenn es sich um eine so bekannte und beliebte und weit gereiste Kollegin handele. Ich war sicher, dass die beiden mich bis vor kurzem nicht gekannt hatten. Ich konnte mich nicht daran erinnern, bei meinen Kollegen besonders beliebt gewesen zu sein. Ich bekam die Fürsorge der Kollegen gerade zum ersten Mal seit zwölf Jahren zu spüren. Also ersparte ich mir eine Antwort.

Ich brachte sie zur Tür, nachdem sie sich satt gesehen hatten.

Wieder in der Küche und endlich damit beschäftigt, einen Wodka mit Orangensaft zu mischen, dachte ich darüber nach, weshalb sie mich als „weit gereist“ bezeichnet hatten. Das hatte ein wenig neidisch geklungen, was aber nur natürlich war. Ich glaubte nicht, dass man mich beobachten ließ, seit ich aus dem Polizeidienst ausgeschieden war. Ich war sicher, dass mein Freund Kranz mir davon erzählt hätte.