Cover

Gerhard Kofler

in fließenden übergängen

in vasi comunicanti

Frühe Gedichte in Deutsch, Italienisch und Südtiroler Mundart

Poesie giovanili in tedesco, italiano e dialetto sudtirolese

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Maria Piok & Christine Riccabona

A cura e con una postfazione di Maria Piok & Christine Riccabona

TRILOGIA DELLE STRAVAGANZE

TRILOGIE DER EXTRAVAGANZEN

STRAVAGANZE ALTOATESINE

SÜDTIROLER EXTRAVAGANZEN

Für H.

Diese Texte in Hochdeutsch, im Dialekt und in Italienisch entstanden in Wien, haben jedoch alle mit Südtirol zu tun: Ich gehe dort damit herum, schweife ab, trenne mich von meiner Kindheit, komme immer wieder zurück und erschreibe mir einige lebensnotwendige Extravaganzen.

Den Titel dieser Sammlung verdanke ich
Pablo Neruda, dessen „Estravagario“ auf deutsch
sowohl mit „Extravaganzenbrevier“ als auch
mit „Extratouren“ übersetzt wurde.

Gerhard Kofler

L’ISARCO*

d’improvviso così vicino

l’Isarco

nessun ricordo

finora scorreva

in direzione

del mio viaggio

acque chiare

come se finalmente

nulla

potesse più intorbidire

la mia infanzia morta

DER EISACK

plötzlich so nah

der Eisack.

keine erinnerung

floß bisher so

in meine fahrtrichtung.

klare wasser,

als könnte endlich

nichts mehr

meine tote kindheit

trüben.

MORTI IN FAMIGLIA

ma questi morti in famiglia, lo si sa,

a volte diventano più vivi di noi, che

di loro raccontiamo

con più attenzione.

fra questi morti che, lo si sa,

sanno presentarsi in una stanza

e che dopo i pranzi ci aiutano

a dirigere, vi trovo anche uno

con la testa ancor bionda –

vuol essere fotografato

con la bicicletta dal di dietro

perché così meglio si potesse vedere

la prima cartella.

uno che da bambino a scuola

a poco a poco

ha imparato a morire

come gli altri

e che è riuscito a

cambiare vita un po’

appena dopo.

TOTE IN DER FAMILIE

aber diese toten in der familie, man weiß es,

werden manchmal lebendiger als wir,

die mit mehr aufmerksamkeit

von ihnen erzählen.

unter diesen toten, die, man weiß es,

sich in einem zimmer zeigen können

und nach dem essen uns helfen

zu verdauen, finde ich auch einen,

dessen kopf noch blond ist,

der mit dem fahrrad von hinten

fotografiert werden will,

damit man die erste schultasche

so besser sehen könne.

einen, der als kind in der schule

allmählich

gelernt hat, zu sterben

wie die anderen

und dem erst nachher gelang,

das leben ein wenig zu ändern.

HERRISCHE WEIBER

nocher hom mer oft getramt

von de herrischn weiber

iber de der tatte gsogt hot

daß se beim orsch

a aso riachn

wia se suscht riachn

noch parfäm.

und do hom mer getramt

daß mer ihnen

untern kittl innigekrochn sein

und ihnen die feign und in orsch

ogschleckt hom, a set a zuig

hom mer getramt

domols.

und es isch ins dabei

so ondersch gwordn

daß mer ins gedenkt hom

des muaß wegen

dem 6. gebot sein,

dem unkeischn,

weil ins so ondersch

dabei gwordn isch,

hom mer ins des gedenkt,

weil suscht hätt mer

gor net gwißt worum.

jo, und do hom mer

no oft net gwißt

worum.

Ein Stück Schulweg ging ich mit Bauernkindern gemeinsam. Von ihnen lernte ich das Wort „die Herrischn“. Das waren und sind immer noch die besseren Bürger aus der Stadt. Besonders die geschminkten Frauen der „Herrischn“ riefen bei den Bauernkindern zugleich Ablehnung und Faszination hervor. Dies hier ist ein Rollengedicht, das sexuelle Vorstellungen aus der Kindheit meiner bäuerlichen Weggefährten in der unmittelbaren Wir-Form rekonstruiert.

FOGLIO DI CALENDARIO COLL’ACQUA SANTA*

“ancora un giorno più vicino all’eternità”

tiene in una mano il foglietto del calendario

come un monito di penitenza

e nell’altra lo spazzolino dell’acqua santa

per le pulizie interiori

(è la suora davanti a me)

come ho potuto

infettarmi di scarlattina

(sarà stato proprio a Bolzano)

che ora a Bressanone nella ex-casa della GIL

in rossa architettura mussoliniana

sto sdraiato tutto solo

40 giorni nel deserto

(così a lungo ti mettono in caserma

nel 1959 se hai la scarlattina)

“ancora un giorno più vicino all’eternità”

dice ogni giorno la suora e ha ragione

ma sbaglia a farlo

KALENDERBLATT MIT WEIHWASSER

„wiederum einen tag näher der ewigkeit“

sie hält das kalenderblatt

wie einen bußzettel in der einen

den weihwasserbesen

zum inneren reinemachen

in der anderen hand

(die geistliche schwester vor mir)

wie habe ich mich denn

mit scharlach angesteckt

(wahrscheinlich war’s doch in Bozen)

daß ich hier im Brixner ex-GIL-gebäude

in klotziger Mussolini-architektur

als einziger daliege

40 tage in der wüste

(so lange kasernieren sie einen

wegen scharlach noch im jahr 1959)

„wiederum einen tag näher der ewigkeit“

sagt sie jeden tag und hat recht

und tut falsch daran.

DER ERSCHTE NORRATE

obn in Presels in der summerfrisch

isch er gsessn mit a hetschebetschschtaudn

hot se ins maul gschteckt und dron gekuit

der erschte norrate in meinem lebn

hot nimmer gonz dazuaghert zum hof

ober er isch a nimmer davun wegkemmen

weil in Pergine hobnse den a net dergholtn.

und a des nägschte johr

wor er no olleweil do

ober nocher isch er gschtorbn,

gottseisgedonkt, hobn se gsogt

und fir mi seins auf oamol

gonz bluatig gwesn,

die hetschebetschn, de a nimmer

dazuaghert hobn zum hof

ober gsegn hot mer se holt

do no olleweil.

SVERNARE*

ancora infantili ieri i pensieri nei cieli azzurri

oggi dai rami nudi mi spaventa

il chiasso degli uccelli pronti al volo

e non è una metafora e solamente

qualcosa di simile, se metto alcune

bottiglie di vino nella valigia

per svernare al nord contro corrente

ÜBERWINTERN

kindlich noch gestern in blauen himmeln denkend

erschreckt mich heute aus den kahlen ästen

das lärmen der vögel vor ihrem abflug.

und es ist keine metapher und nur

etwas ähnliches, wenn ich ein paar

flaschen wein in den koffer lege

zum überwintern gegen den strom im norden.

IL COLLEZIONISTA*

all’inizio c’erano gli animali, le piante, le notizie

d’enciclopedia

cheGquaderni

come se così volessi creare un ordine

che non trovavo altrove.

poi venne il tifo del calcio e il raccoglier resultati

e poco dopo già gli eventi attorno ai Beatles

(anche le ragazze pin-up le ritagliavo

togliendole dal contesto disturbante)

ed ora il legger libri

e lo scriver versi mi appaiono

anche questi solo varianti del tentativo

che allora incominciò nei colori dei quaderni incollati.

DER SAMMLER

zuerst waren es tiere, pflanzen, enzyklopädisches

das ich ausschnitt und in hefte klebte

als wollt’ ich dadurch eine ordnung schaffen

die ich sonst nirgends fand.

dann kam das fußballfieber und das resultatesammeln

und bald darauf schon alles drum und dran der Beatles

(auch pin-up-girls schnitt ich heraus

aus ablenkendem kontext.)

und jetzt scheinen mir

das bücherlesen und das verseschreiben

auch nur varianten des versuchs

der einst in bunt geklebten heften anfing.

ANNAMARIA SIEFF

era lei, l’insegnante

d’italiano al liceo,

ad aprirmi la

grande poesia del Saba.

oggi ci penso ogni volta

che rinnovo le mie forze

nei versi del triestino semita.

e mi ricordo come allora

al primo contatto

quasi volevo rifiutare

la “Felicità” del Saba

perché comincia con:

“La giovinezza cupida di pesi

porge spontanea al carico le spalle.

Non regge.”

e perché prosegue:

“Vagabondaggio, evasione, poesia,

cari prodigi sul tardi!”

ma ormai

anch’io

ci sono arrivato.

ANNAMARIA SIEFF

sie war es, die italienisch-

professorin am gymnasium,

die mir eröffnete

die große poesie des Saba.

heute denke ich jedes mal daran

wenn ich die kräfte erneuere

in den versen des semiten aus Triest.

und ich erinnere mich, wie ich damals

bei der ersten begegnung

fast Sabas „Felicità“

ablehnen wollte

weil sie beginnt mit:

„Die Jugend begierig nach Gewichten

bietet spontan der Last die Schulter an.

Sie hält nicht stand.“

und weil es weiter heißt:

„Herumziehen, Ausbruch, Poesie,

teure Wunder erst später!“

aber inzwischen

bin auch ich

dort angekommen.

AUSLÄNDISCHES DEITSCH

des ausländische deitsch

hersch jetz schun wia

des glockngebimmle

so oft, lei daß es holt

no mehr in die ohrn

weah tuat, und net lei des,

a den KAFFEE NACH DEUTSCHER ART

preißens den preißn schun on.

des mocht die schond

perfekt, denk i und renn

schnell zem hin, wos no

den herrlichn macchiato gibt,

kloan und stork

noch inserer ort.

LO CHOC DELLA GIORNATA MONDIALE DEL RISPARMIO*

nella giornata mondiale del risparmio

(perché lo sapevo fare così bene)

spesso io dovevo

recitare poesie

davanti ai signori grigi

la voglia dei versi

anche dopo

non m’è venuta meno

ma in quanto ai soldi

quando li ricevo

subito li spendo

a larghe mani

WELTSPARTAGSSCHOCK

am weltspartag, da mußte

immer wieder ich („weil ich

so gut betonen konnte“)

gedichte aufsagen

vor grauen herren.

die lust an versen

ist mir dadurch

nicht vergangen

aber das geld, sobald

ich es nur irgendwie bekomme

gebe ich schnell

mit beiden händen aus.

CAMPO TALVERA

c’erano gli ASSI

e naturalmente

la VIRTUS DON BOSCO

ma anche quelli

dell’OLTRISARCO

e tante altre squadre importanti

per noi sul campo Talvera

là dove il fiume

ormai da tempo

non ci arrivava più

a riempire il suo letto.

ripassandovi

trovo tutto deserto

e tutti quei palloni

che mi passarono

per la testa

sono sgonfiati come

pesci morti

e quei gridi entusiastici

ormai si sono induriti

come dei ciottoli,

uno uguale

all’altro.

TALFERPLATZ

dort waren die ASSI

und natürlich

die VIRTUS DON BOSCO

aber auch jene

von OBERAU

und viele andere

für uns wichtige mannschaften

am Talferplatz

wo der fluß

schon seit langem

es nicht mehr schafft

sein bett auszufüllen.

gehe ich dort vorbei

finde ich alles öde

und all die bälle

die mir durch

den kopf gingen

sind zusammengesackt

wie tote fische

und jene begeisterten schreie

sind nun verhärtet

wie kieselsteine,

einer dem

anderen gleich.

DE ROASA ZEITING

„wenn i so oan lei siech

mit der roasa zeiting

nocher siech i schun schworz“,

moant der Gasperi Klaus,

„a togesblattl lei firn sport

von vorn bis hintn hupfn

de teppatn schurnalischtn

gluschtig den ballilan noch

und de ondern tolme

hupfn imenen hintri

und regn sich no amol auf

weils koan rigore gebn hot,

als obs jo eh im telesport

net schun genua gwesen war

und lesn no amol noch

wer sich oller derennt hot

in der formula uno

und wia de ondern heldn

auf insere berg aui tretn

und nocher wieder oin sausn

beim Giro jedes johr

und wia sich wieder ondere

mit de tolgatn hondschuach

ihre schädl zerschlogn bis se

in gong nimmer tscheppern hern.

des gibts holt lei

bei ins in Italien

so a GAZZETTA DELLO SPORT

jeden tog de roasa zeiting,

a forb wia a kaugummi

ober oanfoch

net zum derkuin.“

COME TUTTO È FATTO*

nell’officina di mio padre

ho visto come tutto è fatto

dentro in un apparecchio radio

e presto anche il tubo del televisore

non era per me un sortilegio

ma perché la mia canzone preferita

non la si poteva sentire ogni giorno

questo non me lo potevo

spiegare solo

con motivi tecnici

oggi come oggi non vorrei

solo vedere gli intestini

e seguire

nel mio cervello

ma vorrei

domandare inoltre

perché

questo programma

lo faccio

proprio qui

WIE ALLES GEMACHT IST

in vaters werkstatt sah ich

wie alles gemacht ist

inwendig in einem radioapparat

und bald war auch die bildröhre

kein großer zaubertrick für mich.

warum jedoch mein lieblingslied

nicht jeden tag zu hören war

konnte ich mir

rein technisch

nicht erklären.

heute möchte ich

nicht nur die eingeweide sehen

und bloß in meinem hirn

die windungen verfolgen

sondern auch noch

danach fragen

warum ich gerade

dieses programm

hier spiele.

JOHN EFFE*

finalmente un

presidente cattolico

in America, John Effe Kennedy

entrò

nelle lezioni di storia

e d’improvviso

ci svegliarono

nella foresta di Teutoburgo

e ci misero

nel fino a lì

straniero ventesimo secolo

un presidente USA cattolico

ci mancherebbe solo

un papa tedesco

JOHN EF

endlich ein

katholischer präsident

in Amerika, John Ef Kennedy

hielt einzug in den

geschichtsunterricht

und wir wurden plötzlich

im Teutoburger Wald

aufgeschreckt und hineingestellt

ins bislang fremde 20. jahrhundert,

ein katholischer US-präsident,

da fehlte nur noch

ein deutscher papst.

MIRCA LUSIGNANI*

la chiamavo

“l’angelo della biblioteca”

in una poesia giovanile, perché

mi aveva mostrato Neruda

lì dove c’erano

i corsi estivi ed ancor oggi

i congressi di medicina

viveva coi libri

nella cittadina di Bressanone

e morì di colpo

per un virus sconosciuto

l’angelo della biblioteca

ora è una

metafora appassita

come tutti gli angeli

(volano via e non spiegano nulla)

i congressi di medicina

sono di nuovo

solamente noiosi

come tutti i congressi

(e sono così già una maniera di morire)

la biblioteca

ora ha anche per me

solo l’orario fisso

come tutte le biblioteche

(e i libri vivono altrove)

le mie poesie giovanili

non le capiva

il tedesco era troppo complicato

queste righe qui forse

sarebbero più semplici

MIRCA LUSIGNANI

ich nannte sie

„den engel der bibliothek“

in einem frühen gedicht, weil sie

den Neruda mir zeigte

dort, wo sommerkurse

der universität von Padua

stattfinden und immer noch

auch ärztekongresse.

sie lebte mit büchern

in der kleinstadt Brixen

und starb dann plötzlich

an einem unbekannten virus.

der engel der bibliothek

ist jetzt eine

verblasste metapher

wie alle engel

(sie fliegen davon ohne etwas zu erklären)

die ärztekongresse

sind wieder nur

langweilig

wie alle kongresse

(und sind schon selber eine form des sterbens)

die bibliothek

hat nun auch für mich

ihre beschränkten öffnungszeiten

wie alle bibliotheken

(und die bücher leben woanders)

meine ersten gedichte

verstand sie nicht,

das deutsch war kompliziert.

diese zeilen hier wären

vielleicht einfacher.

DIE DICHTERIN

a ziemliches stuck

weiter obn do wohnt

die dichterin, homs

gflischtert, die

nochborkinder,

und hom sich

gfirchtet wia

se no kloan worn

ober a johr drauf

hom se lei mer

glocht, weil a

dichterin

isch holt do

koan ernschthoftes

geschpenscht mehr

heitzutog.

IL PARTICOLARE*

a Bressanone

compro solo

libri italiani

i visitatori

sempre cercano

il particolare

DAS BESONDERE

in Brixen

kaufe ich nur mehr

italienische bücher.

besucher

suchen immer

das besondere.

NORBERT CONRAD KASER

(1947–1978)

mangiavi poco.

di notte poi

i tuoi denti

masticavano a vuoto

ed io a dormire

non ci riuscivo.

dalla finestra vedevo

gli ispettori del

buon stile bugiardo

e della metafora

ben educata,

spettri nemici

dei tuoi

versi eretici.

poi purtroppo

ho chiuso

gli occhi.

NORBERT CONRAD KASER

(1947–1978)

du hast wenig gegessen.

nachts kauten dann

deine zähne

ins leere

und ich konnte

nicht schlafen.

vom fenster aus sah ich

die inspektoren des

lügnerischen guten stils

und der wohlerzogenen

metapher,

feindliche gespenster

deiner

ketzerischen verse.

dann schloß

ich leider

die augen.

TERREMOTO IN CAMPANIA*

i vicini della mia infanzia

sono tornati

nei loro paesi

Graziella, Vittorio, Filomena

sono vivi!

il terremoto

questa volta è arrivato

fino alla nostra porta

ERDBEBEN IN DER CAMPAGNA

die nachbarn meiner kindheit

kehrten zurück nach ihren

heimatdörfern in der Campagna.

Graziella, Vittorio, Filomena

sie leben!

das erdbeben kam diesmal

bis vor unsere haustür.

DES BESCHEIDENE

des kloane, des stille

des bescheidene

hom ins die lehrer

ungepriesn als obs

olleweil a gfihl

wia in der weihnochtskrippn

gebn kannt.

des kloanschte stadtl

auf der welt isch inser Glurns

hom se gsogt

und des kloanschte biachl

isch des Vaterunser

in der Neistifter kloaschter-