Cover

Elsbeth Wallnöfer

Heimat

Ein Vorschlag zur Güte

Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus

Wilhelm Müller, Winterreise

Vorwort

Heimat hat so viele Facetten, wie es Sprachen und Dialekte gibt. Hoamatle, Daheim, Drhuam, Daheem, drhoim oder wie immer man es noch nennt, jedenfalls ist es etwas, das die meisten von uns ganz selbstverständlich haben. Wer Heimat hat, ist verortet. Der hat ein Dach über dem Kopf, einen Beruf, Familie, Freunde und so mancher auch ein Vereinsleben. Das heimatliche Leben verläuft innerhalb eines ritualisierten Jahresablaufes. Dieser bildet einen Rahmen, gibt Sicherheit, eine gewisse Routine, die nicht jeden Tag aufs Neue befragt werden muss. Insofern ist Heimat hauptsächlich als Gefühl spürbar. Dass sie darüber hinaus eine lange Tradition in der politischen und der Forschungsgeschichte aufzuweisen hat, bleibt bei den gegenwärtigen hitzigen Debatten meistens unberücksichtigt. Der lange Weg der Heimat von einer individuellen Empfindung mit Folgen für das Strafrecht hin zur Heimat als politischem Kampfbegriff der Gegenwart will nachgezeichnet werden.

Von der Krankheit

Nostalgia

Als der uns als Philosoph, Förderer und Freund Hannah Arendts bekannte Karl Jaspers im Jahr 1909 in Heidelberg seine Dissertation einreichte, befasste sich der angehende Psychiater mit dem Thema „Heimweh und Verbrechen“. Was heute in Zeiten des massenhaften Billigreisens undenkbar scheint – wegen Heimwehs Verbrechen zu begehen oder ernsthaft krank zu werden – beschäftigte zum damaligen Zeitpunkt bereits über zweihundert Jahre eine Reihe von Gelehrten, eben weil es auffallend oft zu Heimwehverbrechen kam. Jaspers stützte sich auf Untersuchungen des Begründers der Heimwehforschung Johann Hofer bzw. Johannes Hoferus, wie er latinisiert in der Gelehrtensprache hieß. Mit seiner „Dissertatio Medica De Nostalgia, oder Heimwehe“, Basel 1678, fokussierte er ein damals gesellschaftsrelevantes Thema. Die Schweizer lieferten zu dieser Zeit, und hier insbesondere die Berner, Anlass zur Sorge, Heimweh könnte eine Krankheit sein. Gründe dafür waren vermehrt auftretende Suizide oder kriminelles Verhalten von Dienstboten, Mägden und Knechten. Bei den Untersuchungen zeichnete sich ab, dass die Inkriminierten nicht aus Gier, sondern vielmehr aus einem gefühlten Schmerz heraus Straftaten begingen. Dies alles in der irrigen Annahme, sie würden, nachdem das Kind, das sie zu beaufsichtigen hatten, tot sei, oder das Haus, das sie zu hüten hatten, abgebrannt sei, nach Hause zurückkehren dürfen. Als erwähnter Johann Hofer sich dem Thema widmete, meinte er, das von den Schweizern so bezeichnete „Heimweh“ sei nicht nur unter Eidgenossen verbreitet, es gäbe Entsprechungen auch im Französischen, wo es mal du pays hieß. Besonders junge, unausgereifte Menschen würden daran leiden. Die beste Heilung erziele man, indem man die Leute zurück nach Hause schickte. Heutzutage, wo alle Welt auf den Beinen ist, nahezu jeder sich auf Reisen begibt, können wir gar nicht glauben, dass man vor lauter Heimweh krank werden kann. Umso absurder klingen die Erklärungsversuche für unsere heutigen Ohren. Man suchte die Ursache im Luftdruck der schweizerischen Höhenluft oder glaubte, vornehmlich mit Muttermilch gesäugte Jugendliche würden von Heimweh befallen. Exotischer noch mutet die Annahme, das derbe Leben im Gebirge führe zu Dummheit bei den Menschen und diese wiederum wären dann in der Folge anfälliger für das Leiden. Heimweh als Ursache des Krankheitsbildes zu deuten, war angesichts der immer wieder auftretenden Fälle von Kindstötungen oder Brandstiftungen durch ländliches Personal in städtischen Haushalten naheliegend wie verständlich. Es betraf vorwiegend heranwachsende Mädchen. Für diese Verzweifelten gab es recht bald die expressis verbis weibliche Bezeichnung Heimwehverbrecherinnen. Was von den Eltern gut gemeint war, die eigenen Kinder vor der Not daheim fort in den Dienst zu fremden Leuten in unbekannte Gegenden zu schicken, endete nicht selten in einer Katastrophe. Die Häufigkeit, mit der dies geschah, zog die Aufmerksamkeit der sich gerade formierenden Psychiatrieforschung auf sich. Der Schmerz, das Leid, die seelische Not der an Heimweh Erkrankten und die daraus resultierenden kriminellen Taten nannten die doctores recht bald treffend nostalgia, in Anlehnung an die altgriechischen Wörter nostos für Heimkehr und algos für Schmerz. Nun ist das Heimweh nichts, was es erst mit dem Aufkommen der Psychiatrie gab. Das Heimweh ist ziemlich sicher so alt wie die Menschheit, dennoch galt es lange als Schweizer Phänomen. Die Verortung des Menschen, seine Sesshaftwerdung, zog es nach sich, dass man begann sich auf einen greifbaren Punkt zu konzentrieren und auf diesem Besitz auszubilden. Rund um den Besitz herum formierte sich Gemeinschaft, in der man zunächst unter sich blieb. Innerhalb dieser blieb die Unterscheidung zwischen einem abgegrenzten individuellen Ich und dem individuellen Anderen dennoch topographisch auf einen gemeinsamen Lebensraum beschränkt, der sich als Gemeinschaft, als Kollektiv ausformte. Das Eigene und das Fremde entstanden, zeichneten sich ab, konturierten sich, lagen im Spannungsfeld ökonomischen Handelns. Der Marktplatz und die ökonomischen Strukturen des Warentausches erzwangen geradezu, den selbstbezogenen Blick auf Unterschiede im Anderen auszudehnen. Neid, Begehrlichkeit, Bewunderung – alles Regungen, die vor allem durch die Differenz des Lebens erweckt werden. Die Verbindung zwischen den Unterschieden, dem Selbst und dem Anderen, fand ihren Ausdruck in unterschiedlichen Ausprägungen sozialer Beziehungen, hier speziell von Interesse ist das Gastrecht. Im Gestus des Gastrechtes manifestiert sich nicht nur eine Willkommenskultur. Sie birgt auch das Gegenteil davon, denn sie zeigt an, wo das Fremde beginnt und das Eigene aufhört. Kurzum, wo Grenzen zu ziehen man gewillt ist. Dem Gast oder dem Fremden wird signalisiert, dass er eben nur ein Gast ist, was mit beschränkten Rechten und Pflichten einhergeht, dass er dem Einheimischen, dem Gastgeber, nicht gleichgesetzt ist. Ist man Gast, ist man nicht daheim, lautet die Grundregel zum Verständnis dessen, was Heimat zu sein vermag. Der Gast ist und bleibt der Fremde, nur jener Gast, der sich „wie daheim fühlt“, adelt den Gastgeber und in gewisser Weise sich selbst.

Auch wenn Daheim a priori dort ist, wo man in die Welt geworfen wurde, muss man sich diese erst erobern. Innerhalb dieses abgesteckten Mikrokosmos gilt es, leben, essen, trinken, weinen, lieben, zürnen und hassen zu lernen. Wird man daraus, wie aus dem mythologischen Paradies, vertrieben, verwandelt man sich schlagartig selbst zum Fremden. Und nicht zu vergessen: Diese erste, eine Heimat, dieses Daheim kann das Paradies, aber auch die Hölle sein.

Verlässt man freiwillig sein angestammtes Terrain beispielsweise aus Not, um Handel zu treiben oder noch besser aus Neugier, ist das, was man zurücklässt, einmal mehr, einmal weniger überschaubar. Und das, was man beim Weggang mitnimmt, einmal mehr, einmal weniger bewusst gewählt. Aber immer lässt man etwas zurück und stets nimmt man etwas mit, das eine dauernde Verbindung oder langanhaltende Erinnerung zur Verlassenschaft zu nennen ist. Es ist nicht bloß der Verlust materieller Güter, auch wenn dieser oft schwer wiegt, es ist mehr, viel mehr. Die Hilflosigkeit der jungen Schweizerinnen, die blind und endlos verzweifelt vor Weh nach dem Daheim einfach nur nach einem Ausweg suchten, zeugt davon. Es ist im Kopf, es ist in dem, was man Seele nennt, es ist im Herzen, es ist wo auch immer, aber es ist da und verursacht Unbehagen und ist wie der Tod, es kann jeden befallen.

Wie schmerzhaft der Verlust von Heimat sein kann, bekommen wir auch von Heroen unserer Kulturgeschichtsschreibung überliefert. Die Briefe aus der Verbannung des römischen Dichters Ovid, die in regelmäßiger Stetigkeit und voller Schmerz an die daheim Lebenden gerichtet sind, vermitteln eindringlich den Verlust der Heimat, oder anders formuliert die Liebe zu Gewohntem. Eine Reihe weiterer Briefe und Aufzeichnungen berühmter und weniger berühmter Menschen sind uns Zeugnis für dieses Besondere, das wir gemeinhin Daheim, Heimat nennen und das bei Verlust emotionale Irritationen hervorruft. Heimat als Angst- oder Verlustmotiv finden wir in zahlreichen Mythen und Märchen abgehandelt, zu den berühmtesten gehören die Odyssee und die Vertreibung aus dem Paradies.

Je entfernter von Daheim, aber vor allem je unfreiwilliger die Reise angetreten wurde, desto drängender müssen die Seelenqualen gewesen sein. Nicht umsonst ließ sich der Mensch Verbannung als Strafe einfallen. Bedenkt man, in welcher Sehnsucht nach Daheim selbst ein großer Geist wie Ovid, während seiner Verbannung in Tomis am Schwarzen Meer, dem heutigen Constanţa in Rumänien, darbte, versteht man erst recht die Appetitlosigkeit und psychischen Probleme der jungen, ungebildeten, armen, verängstigten und überforderten schweizerischen Landmädchen.

Von der Armut oder testimonium paupertatis

Am Beginn der wissenschaftlichen Erforschung von Heimweh befundete man Heimweh als passive asthenische Geisteskrankheit, die sich, so die Annahme der Mediziner, mit dem Heimweh eines Ovid oder Napoleon nicht vergleichen ließe. Der Unterschied liege in einem testimonium paupertatis, einem Zeugnis der Armut, begründet. Das eine Heimweh entspränge dem Unbewussten: Es ist das Heimweh der Dienstboten, das der armen, ungebildeten Kreaturen, das Heimweh der Sprachlosen. Während das Heimweh der politischen, klugen und reichen Verbannten dem bewussten Geiste entsprechen würde. Derselbe Schmerz, der beim Armen nur als krankhaftes Symptom gewertet wurde, schwang sich beim Gelehrten oder Feldherrn zu Poesie empor.

Trauer über den Verlust von Gewohnheiten wie von sozialen Beziehungen war es bei den einen wie den anderen, und als solches fühlte es jeder Betroffene.

Befallen von der Heimwehkrankheit wurden arme Mädchen vom Lande, die in die Stadt mussten, um sich zu verdingen, genauso wie Soldaten, Gefangene, Vertriebene oder Mönche und Nonnen. Die krankhafte Pein und die mit ihr einhergehenden strafrechtlichen Folgen verleiteten die Mediziner dazu, Heimweh (Nostalgia) bei jenen, die diesen Schmerz nicht in hohe Dichtung umzuwandeln wussten, als Teil des Krankheitsbildes Melancholia zu betrachten.

Was im Zeichen des Verlustes, durch den Schmerz geboren wurde, von Sehnsucht angetrieben das Individuum als leidende Kreatur hervorbrachte, bekam in einem beiläufigen Satz in Kants Anthropologie einen wenngleich kaum beachteten, so doch klugen Sinn:

Der Philosoph bringt, vermutlich als Erster überhaupt, die memoria, den Einfluss von Erinnerungen als Illusion sowie die Bedeutung sozialer Bindungen bei Seelenkrankheiten ins Spiel. An derselben Stelle schreibt er dann aber auch gleich über das Trügerische, das der Erinnerung immanent ist. […] da sie dann nach dem späteren Besuche derselben sich in ihrer Erwartung sehr getäuscht und so auch geheilt finden; zwar in der Meinung, daß sich dort alles sehr geändert habe, in der Tat aber, weil sie ihre Jugend dort nicht wiederum hinbringen können […]. Der Philosoph decouvriert das Drama, das im Heimwehthema steckt: Die „gefühlte“ Erinnerung, die sich auf trügerische Weise und gegen unseren Willen konserviert, stellt sich am Ende als Illusion heraus.

Vom Mangel und von der Strafe

Vertreibung wie Verbannung waren über Jahrhunderte Vergeltung für eine moralische oder normative Übertretung, insbesondere für Vergehen politischer Natur. Alle Kulturen kennen so einen Ort, an dem die fremde Einöde dem Fortgewiesenen den Alltag beschwerlich macht. Die Drohung in die Wüste oder dorthin, wo der Pfeffer wächst, geschickt zu werden, der Hölle anheimzufallen oder in ein unwirtliches Land verfrachtet zu werden, steht stellvertretend für das menschliche Bedürfnis, das Individuum bei Verstößen gegen die Regeln der Gemeinschaft zu bestrafen. Der angestammten Heimat verwiesen zu werden, war im Verhältnis zu anderen Strafen gewiss nicht das schlimmste Übel, doch ließ es auch nichts an Grausamkeit vermissen. Ohne Rechte, nur auf sich gestellt, konnte dies für empfindsame Seelen zur Qual werden. In die hier unvollständige Reihe berühmter, die Stimme erhebender Verbannter gehören neben Cicero (Thessaloniki) und Ovid (Tomis) noch Napoleon (erst Elba, dann St. Helena) sowie Kaiser Karl I. (Madeira). Noch im 20. Jahrhundert bereitete es den italienischen Faschisten Freude, ihren Staatsfeinden zur Strafe den heimatlichen Boden mitsamt dem intellektuellen Umfeld zu entziehen. Carlo Levi und Cesare Pavese wurden in die ärmlichsten Gegenden Italiens verbannt. Auch wenn die Todesstrafe der Gipfel der Bestrafung ist, bereitete es doch jenen, die in der Verbannung ihr Leben neu entdecken mussten, seelische Qualen, die kaum Linderung dadurch fanden, noch am Leben zu sein. Dabei war es nicht der Verlust der Freiheit an sich, mit dem man den Missliebigen zu malträtieren suchte. Die eigentliche Strafe war der Entzug aller bisher bekannten Rechte und Selbstverständlichkeiten, Freuden wie gelernter Ärgernisse, mit denen man sich von klein auf arrangiert hatte. Dazu zählt die Art sich den Tag einzuteilen, die Arbeit zu verrichten, die moralischen Regeln wie selbstverständlich zu kennen, jenen zu begegnen, die man liebt oder denen man zürnt, Gewohntes zu essen und zu trinken, die Art und Weise seine Toten zu beklagen. All die vielen hunderte von Jahren nach Ovid weiß uns berührend nüchtern Stefan Zweig zu berichten, wenn er schreibt [s]o gehöre ich nirgends mehr hin, überall Fremder und bestenfalls Gast.3

Es war die Konfrontation mit dem Neuen, dem Fremden, dem Unbekannten, die die Verbannten oder Vertriebenen vor enorme Herausforderungen stellte und in der sich der eigentliche Sinn der Strafe verbarg.

Bei dauerhafter Verbannung drohte selbst dem gebildeten Menschen peinigende Krankheit, zumal man mit der Hoffnung auf Rückkehr lebte, wie Ovid dies über all die vielen Briefe hinweg tat. Auf dem unbekannten Territorium der Aussiedlung galt es sich ein neues Leben – da kann man von Heimat zunächst nicht sprechen – anzueignen, sich der Umgebung anzupassen. Wie sehr diesen Versuchen Grenzen gesetzt sind, wie sehr sie aus dem Schmerz geboren werden mussten, wie sehr sie über den Weg der Gefühle erfolgten, davon zeugen eindrucksvoll die Briefe Verbannter oder Ausgewanderter nach Hause. Unzählige Male beschreibt Ovid die Landschaft seiner neuen „Heimat“. Am fremden Wetter, am rohen Lebensstil der Einwohner spürte er jeden Tag aufs Neue, wie fern er seiner geliebten Heimat Rom war. Seine Briefe waren, egal an wen gerichtet, stets mit der Bitte um Fürsprache zur Aufhebung der Verbannung verbunden. Er fand weder Trost noch Schönheit am neuen Ort. Für unsere Ohren klingen manche seiner Schilderungen, beispielsweise wenn er den Winter am Schwarzen Meer beschreibt, als sei er nach Sibirien verbannt. Ovid ist nur einer von jenen, die sich über die terra amara, die bittere Erde, am Verbannungsort beklagen. Carlo Levi beschreibt Bitternis und Armut der Gegend während seiner Zeit in der Verbannung eindrücklich in seinem Buch „Cristo si è fermato a Eboli“, das sich aus seinen Briefen speist und sich auch auf sein „Quaderno di prigione“ (1934/35) bezieht. Die Crux liegt in der topographischen Verschiebung, in der sich die Abwesenheit von Gewohntem verdichtet widerspiegelt, durch die einem die Welt auf unmittelbare Weise zeigt, dass man selbst der Fremde ist.

In der Ferne schmerzt der Anblick des neuen Elends und das Herz in Ermangelung alter Gewohnheiten. So ist Heimweh also ein Symptom des Mangels wie der Abwesenheit von Selbstverständlichkeiten. Alles, was man wie blind gewohnt war zu tun, ist hinfällig oder unmöglich auszuführen. Ja, im schlimmsten Falle sogar verboten. Was man fortan nicht freiwillig sich anzueignen bereit war, musste man sich zwangsweise angewöhnen. Sei es die neue Landschaft mit ihrem Klima, sei es das neue Licht, die Weise sein Frühstück einzunehmen, sich in den Klang von Geräuschen einzuhören, die Art sich zu grüßen, das Essen zu kochen und einzunehmen, sich dem Verhalten der Umgebung anzupassen und die fremde Sprache zu lernen. Über all die Jahrhunderte, gar Jahrtausende, in denen die Menschen von der einen in die andere Kultur wechselten, waren jene, die dies freiwillig taten, gegenüber den anderen, die dies gezwungenermaßen tun mussten, im Vorteil. Je weniger so eine Ein- oder Anpassung gelang, umso bitterer klingen die Erzählungen. Einen Sonderfall der Verbannung stellen die Umsiedlungen ganzer Ethnien dar. Sie werden durch Abkommen zwischen Staaten vereinbart (als sogenannter „Völkeraustausch“) oder vom eigenen Staat als Züchtigungsmaßnahme eingesetzt. In den meisten Fällen kann man dabei von Deportationen sprechen, manchmal auch in Form einer politischen „Option“ formuliert – wie das Hitler-Mussolini-Abkommen für die Südtiroler am Ende der 1930er-Jahre. Ganze Gruppen von Menschen wurden zum Spielball der Interessen politischer Flurbereinigungen.

Der Schacher solcher Heimatkorrekturen ist nicht ungewöhnlich in der politischen Geschichte von Staaten. Man denke an die Bundesrepublik Deutschland, die den Rumänen während der Jahre des Totalitarismus Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen abgekauft hat – obwohl das Gebiet eigentlich durch Habsburg-Österreich besiedelt wurde. Händel dieser Art gab es immer wieder, die Wunden, die dabei aufgerissen wurden, wirken sich oft Jahrhunderte danach noch auf das bilaterale Verhältnis zwischen Staaten und zwischen ganzen Familienverbänden aus. Aktuelles Beispiel ist die mögliche Einführung der Doppelstaatsbürgerschaft für Südtirolerinnen und Südtiroler, die Italien als Affront empfindet. Die in der Vergangenheit entstandenen Gräben schließen sich schwer, sie bieten nicht selten neue Nahrung, um revanchistischen Ideen Auftrieb zu verleihen, Kulturkämpfe anzuzetteln und das Grund- oder Völkerrecht außer Kraft zu setzen.

Brot im Gepäck

Wenn wir heute in uns unbekannte Länder reisen, die Heimat verlassen, dann rüsten wir uns vorneweg mit Reiseführern aus, um auf das Unbekannte vorbereitet zu sein, denn wir wissen, dass uns in der Fremde das Eigene abhandenkommen wird. Wir packen Bücher in den Koffer oder den Rucksack, inzwischen laden wir uns digitale Varianten davon auf das Smartphone. Und auch wenn wir es nicht so formulieren würden, aber es hat doch etwas Unheilabwehrendes, auf jeden Fall Beruhigendes, im Besitz eines Reiseführers und eines Stadtplanes zu sein. Noch bevor Reiseführer für alle zu haben und erschwinglich waren, beugte man in Ermangelung auf andere Weise gegen das drohende Unbekannte vor, indem man etwas von Daheim mit auf die Reise nahm, zum Beispiel ein kleines Ding, das einem die Mutter oder Geliebte in die Jacke oder Hose eingenäht hat. Derlei Dingbeseelung half gegen alle Eventualitäten und ermöglichte in prekären oder nostalgischen Situationen auf Gewohntes zurückzugreifen. Das bekannteste unter ihnen war eine spezielle Wegzehrung, das dunkle Heimwehbrot. Die Abschiedsgabe der Angehörigen sollte vorweg die Angst bannen, gegen die unverhofft eintretende Heimwehkrankheit rüsten. Dieses Brot war keine einfache Mahlzeit, mit der man seinen Zwischenhunger stillte. Hier handelte es sich um das so genannte panem contra illusiones, ein Brot, das gegen die Erinnerungsgefühle an daheim half. Es wurde in den Tornister oder den Koffer gepackt, bevor man den Reisenden zum Abschied mit einem Kreuzzeichen auf die Stirn segnete. Man hob es auf, bis man an den Bestimmungsort gelangte und sich dort eingelebt hatte. Bei aufkeimendem Heimweh half es, einen Teil davon abzubrechen und zu essen. Das Brot der Mutter, dessen Geschmack man blind wiedererkennen würde, war Trost, gar Medizin gegen die überraschend auftretenden Heimwehverstimmungen.

Das Gewohnte, das Selbstverständliche, das Unbewusste, das einem in den Leib eingeschrieben ist, schien und scheint der wunde Punkt im Menschen zu sein, dünkt jene Kraft zu sein, die das Gleichgewicht des Menschen im Innersten ausmacht und die, sobald sie erschüttert wird, fatale Folgen nach sich zieht. Bei Verlust von Selbstverständlichkeiten regen sich Trauer, Zorn, Hilflosigkeit, Müdigkeit, Niedergeschlagenheit, machen sich Angst und am Ende gar Fieber breit. Das daheim gebackene Brot als heimelige Innerlichkeit, die Wärme spendet, sollte die Unruhe wieder zur Ruhe bringen. Die unmittelbare Wirkung von Brot führte nicht umsonst dazu, dass sich drum herum so viele Sprichwörter und Metaphern versammeln. Eating the bitter bread of banishment, das bittere Brot der Verbannung essen, beklagte Herzog Bolingbroke, der nachmalige König Heinrich IV., in Shakespeares „Richard II.“

Das panem contra illusiones war nicht nur einfach ein Teiggemisch, es war ein Zeichen für das Besondere seiner Herkunft, der unsichtbare Faden nach Hause. Sinnlich aufgeladen, getränkt von allerlei gefühlsbetonten Erinnerungen: die Art der Mutter es zu backen, das mütterliche Rezept, die Erinnerungen an den Ofen, in dem es gebacken wurde, die Anlässe, zu denen es hergestellt wurde oder an denen es gereicht wurde. Man bekam das Heimwehbrot nur bei Reisen ausgehändigt, aß es daher nur fern der Heimat bei akuten Heimwehschmerzen. Noch heute sind es die Deutschen, die überall ihr dunkles, saures Brot vermissen, die den Kult um ihr grobkörniges Brot auf die Spitze treiben, indem sie in den (romanischen) Weißbrot-Ländern das schwer verdauliche dunkle Brot einfordern, als wäre es der kulinarische Gipfel zivilisatorischer Errungenschaften.

Was dem einen das Brot, kann dem anderen ein Lied oder eine seit Kindheitstagen bekannte Melodie sein. Die früheste Heimwehforschung berichtet von Schweizer Söldnern, die fernab von zuhause beim Klang eines Kuhreigens friedlich wie die Lämmer wurden und deren besorgniserregende Trübsal wie weggeblasen schien. Soldaten sangen ihnen bekannte Lieder und die Truppenbetreuungen, extra zur Erbauung der Soldaten im Felde erfunden, nutzen heute noch berühmte Sänger aus den jeweiligen Heimatländern zur Hebung der Truppenmoral im heimatfernen Lager.

Seien es also der Klang eines Kuhreigens oder das längst hart gewordene Heimwehbrot, die Medizin contra illusiones war, Bekanntes in die Welt des Unbekannten, in die Umgebung des Fremden, zu holen und sich dadurch, wenn auch oft nur für einen kurzen Moment, Linderung zu verschaffen.

Krankheit in romantischer Schönheit

Heimat und die mit ihr verbundenen Leiden forderte in den ersten Jahren der Erforschung vor allem die Medizin und die Juristerei heraus. Über zweihundert Jahre sollte das Thema diesen Disziplinen vorbehalten sein. Davon berichtet hinlänglich Karl Jaspers, wenn er meint: Trotzdem soviel von Heimweh geschrieben ist, die veröffentlichten Fälle betreffen fast nur solche, die zum Verbrechen führten und bei denen die Vorgänge retrospektiv untersucht und beurteilt wurden. Er schildert einen Fall, bei dem eine Vierzehnjährige ein Kind, das ihr anvertraut wurde, aus Heimweh ertränkte. Die langwierige psychiatrische Untersuchung ergab dazu, dass Apollonia, so hieß das Mädchen, wegen Vorliegen einer Heimwehmelancholie, die in solchem Grade als krankhafte Störung der Geistestätigkeit im Sinne des § 51 St. G. B zu betrachten sei. Da Zweifel bestanden, ob sie nun krank sei oder einfach kriminell, holte man ein zweites Gutachten ein. Dieses schloss sich dem ersten an und so kam es, dass das Mädchen am 6. November 1906 als nicht schuldig, weil eben krank und nicht kriminell, in die psychiatrische Klinik eingewiesen wurde.