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Franz Tumler

Pia Faller

Roman

Mit einem Nachwort von Wilhelm Burger

I

An einem Nachmittag Juli, und bei bereit gestellten Sachen, weil er am Abend wegfahren will; und bei leerer Zeit, die er vor sich hat, vier Uhr, drei Stunden bis sieben Uhr, da will er fahren, aber fertig gepackt sie noch einmal anrufen, sehen und dann fahren – da fällt ihm etwas ein von ihr und ihm, das er ihr sagen will bei so wenigen gesprochenen Worten, bei so kurzer Bekanntschaft; sie sagte etwas von Musik, die sie neben ihrer Arbeit mache, in ihrem Zimmer, Klavier und Noten; und er sagte dann: Ich habe aufgehört mit Musik; und sagte ihr die Musikstücke, mit denen er aufgehört hatte, zwölf Jahre alt, dann dieselben Musikstücke immer wieder gespielt, viele Jahre, aber eines Tages aufgehört zu spielen.

Nun kommt etwas von Zimmer und Klavier, wo sie spielt, ganz wenig, die weißen Blätter aufgeschlagen. Ich hatte es mir so nicht vorgestellt. Ich hatte sie bei den paar Malen, die ich sie getroffen hatte, immer nur bis an die Haustür gebracht, nun ging ich zum ersten Mal hinauf. Ein Haus mit verwitterter Fassade aus der Zeit vor 1914, drei Stockwerke, im dritten neben der geschnitzten Tür und dem trapezförmigen Messinggriff zum Anheben für die Klingel drei Namen: der ihre, Elfriede Schantl; dann der eines Untermieters, von dem sie mir erzählt hatte, daß er ausgezogen sei; dann eines Mannes Putzger, von dem ich wußte, daß sie mit ihm gelebt hatte, jetzt nicht mehr ganz mit ihm lebte; er wohnte wo anders, aber hatte noch Sachen da, so das Klavier, das ihm gehörte (in dieser Wohnung, die ihm auch gehörte), und kam noch. Ich wußte nicht so genau, wie das war; innen sah ich es genauer.

Eine Menge Sachen von diesem Mann Putzger: Bilder, die er gesammelt hatte, Möbel, eine Art Magazin, alles zusammengerückt in dem großen Durchgangszimmer mit Namen „Berliner Zimmer“ dieser alten Wohnungen, dahinter ihr eigenes war mit Bett, Büchern, Tisch und Kasten: ein kleines Zimmer, Kabinett, auf der Hofseite; und vorne, auf der anderen Seite des vollgeräumten Durchgangszimmers, ein leeres Zimmer, aus dem der Untermieter ausgezogen war, und das sie sich eben neu einrichten wollte, angefangen von Tapeten und frisch gestrichenem Fußboden, sie sagte: Ich will aus dem kleinen Zimmer raus.

Ich war mit ihr in dem kleinen Zimmer, sie zeigte mir auch das neue leere Zimmer. Ehe wir weggingen, blieb sie in dem noch vollgeräumten Zimmer des nicht mehr ganz anwesenden Mannes stehen – dort stand das Klavier. Sie setzte sich auf den Drehstuhl und spielte von dem Blatt, das aufgeschlagen war. Es war ein Lied. Nach den paar Takten Anfang kam Gesang. Ich hörte ihre Stimme. Sie unterbrach sich, ließ die Hände auf den Tasten, schlug sie weiter an, aber sagte: Ich kann nicht singen. Ich kann auch nicht vorspielen, nur spielen.

Ich sah auf ihren Nacken, auf ihr Haar, auf die Hände. Ich sagte: Ein so schöner Ton. Und kannst du eine Non greifen, und eine Dezim? – Es war ein Reden an der Oberfläche, aber dann, bei Nichtreden, als wir weggingen, ein Mitreden von Dingen: das Bild, als ich auf ihre Hände sehe, auf ihre Stimme höre, die den aufgeschriebenen Gesang nur spricht, und dann abbricht.

Dann kommt: er wird sie sehen, was wird sein. Er hat dieses Bild: Ton, hören. An diesem Nachmittag Juli, als ich auf Nani (wie sie sich nennt) warte, aber da gab es eine Wendung in der Sache. Ich wollte sie anrufen, aber schob dann Anrufen auf. Da war sie es, die anrief. Ich sagte, daß ich auf sie warte; sie sagte: Bis gleich!

Es klingelte. Ich öffnete. Da stand nicht Nani vor der Tür, sondern eine junge Bekannte, Ditha Meersburg, von der ich ihr erzählt hatte. Die Vorgeschichte dieser Bekanntschaft: Sehen und Wiedersehen, zuletzt ein Gespräch am Tisch einer Kneipe in Gesellschaft gemeinsamer Freunde. Das Thema dieses Gesprächs: Tabletten, Gift. Zwei Wochen später die Nachricht, daß Ditha in eine Heilanstalt gebracht worden sei. Mein Anruf dort, ihre Bitte, sie abzuholen, da sie entlassen werde. Als ich hinkam, war sie am Abend zuvor schon allein weggegangen, ohne Erlaubnis. Vergeblicher Versuch, sie zu erreichen. Aber nun stand sie vor der Tür. Sie hatte gehört, daß ich wegfahren wollte, und fragte mich, ob ich sie mitnehmen könne. Sie sagte nicht, wohin; ich fragte auch nicht sofort, ich sagte ihr, daß ich Nanis Besuch erwarte. Es war ihr recht, daß ich sie bat, in drei Stunden wiederzukommen, da könnten wir weiter sehen und vielleicht auch fahren. Sie blieb kurze Zeit. Sie hatte eine Flöte aus Ton mitgebracht. Ich hatte nicht gewußt, daß sie spielte. Aber als ich eine von Nanis Schallplatten auflegte, staunte ich, wie sie nachahmerisch sicher zu dem schwierigen Stück die Hauptstimme noch einmal blies. Sie hörte auf. Die Flöte ließ sie zurück.

An diesem Nachmittag Juli, „ich werde sie sehen“, da kommt neu der Inhalt der Geschichte, die er ihr erzählen will, was ihm eingefallen ist von ihm und ihr, daß er es ihr sagen will; zuerst von ihm:

mir fallen zwei Dinge ein, die ich lange schon schreiben will, jetzt für sie schreiben will, ich fange schon an, während ich auf sie warte, damit halte ich sie fest; aber es sind Erinnerungen, von denen ich nur Namen und Zeichen habe

die eine: der zerspellte Fingernagel, vom Kindergewehr, und wie ihm gesagt wurde, daß er aus dem Spital weggelaufen wäre, daran kann er sich nicht erinnern – hat aber den Spalt im Nagel

die zweite: Anfang des Klavierspielens – es kam ihm, wenn er es schreiben wollte, immer langweilig vor: Beschreibung des Hauses, dreistöckiges Haus, derselbe Schnitt der Wohnungen – ich, als Kind, fünf Jahre alt, im Parterre; oben im dritten Stock, im „Kabinett“, das Klavier der Frau Faller. Ich weiß, daß diese Frau mich zum Klavierspielen gebracht hat, mir die ersten Stunden gegeben hat oben bei ihr mit Bleistift auf dem Finger, Drehstuhl, und noch etwas – aber ich kann mich an nichts erinnern, und diese Familie oben ist dann weggezogen, wohin, weiß ich nicht. Ich habe dann weiter Klavierunterricht gehabt (ich kann sagen bei wem, kann mich an Namen, Gesichter erinnern) – aber ich habe nicht das Geringste an Erinnerung von Aussehen, Wesen der Frau Faller und ihrer Tochter, oder überhaupt etwas außer diesem Namen

und hier der Ansatz- und Verbindungspunkt: einmal Anfangen mit Musik, dann Aufhören, jetzt wieder Organ für Musik durch diese Frau Elfriede Schantl oder „Nani“, die er kennengelernt hat – und das Ende wäre: ein Heraufholen des vergessenen Anfangs und Verbindung mit dem jetzt – und Veränderung, Neues, das jetzt ist – Abreise zu dem Neuen.

Aber ich kann die Geschichte so nicht schreiben, weil ich von ihr nichts habe außer diesem Namen in meinem Kopf: Pia Faller; und es ist nicht der Name der Hauptperson, sondern der ihrer Tochter, die ungefähr gleich alt war wie ich, fünf Jahre (später erfuhr ich, um wenig älter, sechs Jahre)

– ich will eine Geschichte schreiben, die ich erlebt habe, aber an die ich mich nicht erinnern kann. Daher muß ich sie mir erfinden

– ich muß zwei Geschichten schreiben, eine von jetzt, und die Geschichte von damals; aber daß ich die Sache überhaupt schreiben will, kommt von meiner Sache mit Nani jetzt: an diesem Nachmittag Juli, als ich auf sie warte (und plötzlich weiß, daß mir in der Geschichte mit ihr etwas von dieser Geschichte von früher begegnet). So muß ich diese Sache in mir und ihr jetzt hervorbringen. Vielmehr sind es auch von früher die zwei Sachen, die ich habe – und jetzt noch habe als ungetilgte Stücke auf meinem Körper und im Hirn. Von dem zerspellten Nagel kann ich eine vollständige Geschichte erzählen: er kommt von einem Kindergewehr mit Zündplättchen und Hahn. Wenn der Hahn niederschlug, knallte das Plättchen. Aber ich hatte meinen kleinen Finger der rechten Hand dort liegen, der Hahn zerschlug den Nagel – und so geht die Geschichte weiter: weil wir außen am Stadtrand von damals wohnten, nahe den Spitälern, trugen sie mich um die paar Ecken ins „Isabellen-Kinderspital“, und weil ich blutete, ließen sie uns dort gleich ein, und weil ich schrie, hielten mich die Schwestern auf dem Operationsstuhl fest. Aber da war ich still, und sie ließen mit ihrem Griff nach. Diesen Augenblick benutzte ich und sprang und rannte aus dem Haus bis zu unserem Haus, und nun gaben sie es auf, mich schneiden und nähen zu lassen, daher ich den zerspellten Nagel behielt. Es ist kein Schmerz dabei. Ich hätte die Sache jetzt nicht beachtet, wäre nicht dieser Umstand, daß ich von der Geschichte, die ich erzähle, in Wirklichkeit nichts weiß, sondern sie nacherzähle, wie sie mir erzählt worden ist. Es wurde eine feste Geschichte in mir. Wenn ich mich anstrenge, erinnere ich mich an ein paar Einzelheiten: ein Schaft aus braunem Holz, ein rötliches Braun wie Kastanien, unangenehm anzufassen: faserig, weiches leichtes Holz wie von Christbäumen. Dann ein Stück Kiesweg entlang einer Hecke, sie gehörte zum Garten des „Allgemeinen Krankenhauses“, hinter dem das „Haus der Unheilbaren“ kam; und, nach Schienen eines Industriegeleises und dem Rand des Flugplatzes und der Giebelfront einer Kaserne das „Isabellen-Kinderspital“. Aber nichts von diesem Spital außer etwas von weißem Leder auf Armstützen und weißen Schwesternhauben, nichts von Schreien oder Nichtschreien und Weglaufen. Ich habe außer diesem Rotbraun von Holz und Grün der Hecke und griffigem Weiß nichts behalten. Ich habe die mir vorerzählte Geschichte. Aber ich würde auch jetzt von ihr nicht erzählen, gäbe es nicht diese zweite Sache von früher, von der ich nur diesen Namen habe: Pia Faller; und wäre nicht dieser Augenblick Juli gewesen bei schon bereit gestellten Sachen und bei aufziehendem Gewitter, so scheint es, aber man weiß nicht, ob es kommt oder nicht kommt, einstweilen schickt nur der Wind kühlere Luft herein zwischen Laub und Mauern, und die Laubzweige gehen hin und her, aber dann wieder steht das Licht auf der Mauer –, und bei leerer Zeit, als ich auf Nani warte und ihr alles von der Geschichte genau sagen wollte wegen dieser Pressung auf Zeit: zwei Stunden Abschied, und wegen der ich ihr einen Stein erzeugen will aus den an der Oberfläche gesprochenen Worten, damit der Abschied von ihr kein Aufhören ist.

Ich frage mich, warum diese Geschichte in Gegenständen vorangeht: die Flöte von Ditha Meersburg, die Schallplatte von Nani. Sie hatte mir den Anfang auf dem Klavier gespielt, dann mir die Platte gegeben. Ich hatte sie mir jeden Tag vorgespielt. Jetzt, nach so vielen Tagen, frage ich mich, was mich in dieser Zeit beschäftigt hat, als gehörten die Gegenstände dazu.

Der Anfang mit Nani war Zufall, es lohnt nicht, davon zu erzählen. Ich traf einen Bekannten in einer Gesellschaft von Leuten, er lud mich ein, an diesem Abend zu ihm zu kommen, er gebe ein Fest. Es war eine Einladung aus dem Augenblick. Ich ging, aus eben diesem Grunde immer noch unschlüssig, hin, traf andere Bekannte, kam mit ihnen ins Gespräch, sah dann, auf dem letzten Stuhl, eine junge Frau, sie sprach mit. Ich kannte sie nicht. Ich forderte sie zum Tanzen auf. Nach dem Tanzen war ich stiller. Ich dachte: dieser Abend ist gewesen wie er sein sollte, eine Einladung ohne Verbindlichkeit. Ich verabschiedete mich. Als ich mich von der jungen Frau verabschiedete, küßte ich sie. Ich weiß nicht, wie ich dazu kam, eine Person, die ich nicht mit Namen kannte, dann noch ein zweites Mal zu küssen, danach ging ich. Zwei Tage später rief mich ein Freund, der bei dieser Einladung nicht gewesen war, an und forderte mich auf, zu einer Diskussion zu gehen. Der Gegenstand interessierte mich, ich ging hin, kam zu spät und traf in einer Pause im Foyer meinen Freund mit vier anderen Leuten, darunter die junge Frau; und als es weiter ging und wir beide keinen Platz hatten, suchte ich ihr einen, wir saßen auf zwei Stühlen nebeneinander, und plötzlich gab es eine Art von in nichts gegründeter Bekanntschaft, eine Mitwisserschaft ohne viel Worte, und bei mir eine Spannung, daß ich es nicht fertig brachte, länger neben ihr zu sitzen. Ich sagte, ich müsse gehen, aber morgen sei ein freier Tag, und ich wolle bei schönem Wetter hinausfahren ans Wasser; ich lud sie dazu ein. Sie sagte: Wann? Ich sagte: Um elf. Sie sagte: Das ist spät, warum nicht zehn? Als ich um zehn auf sie wartete, sagte ich mir: was soll das, einen freien Tag in solch ein Unternehmen gesteckt; und als sie dann kam, fiel mir wie etwas Mechanisches ein, wir könnten ein Boot nehmen, ein Stück fahren. Ich sagte ihr davon nichts, aber tat es. Wir fuhren über die Bucht, machten das Boot an einem Baumstamm, der im Wasser lag wie eine Klippe, fest, der Wellenschlag drängte uns an den Stamm. Sie sagte: Kann man das Boot nicht auf der anderen Seite festmachen? Ich verstand, dorthin kamen die Wellen nicht. Das Boot lag ruhig, sie erzählte, und nach einer Zeit leerer Worte sprach sie von ihrem Musikspielen und Hören. In dem Augenblick fielen mir meine Geschichten von früher ein. Ich sagte es ihr. Es waren, bei Nichtkenntnis der Person, die gewöhnlichsten Worte bis zu dem Grad, daß ich ihr, als wir an Land gingen, sagte: Jetzt werde ich Musiker, und ich habe nie gedacht, warum das aufgehört hat.

Einen Augenblick von draußen muß ich nachtragen. Sie lag im Boot, ich griff ihr an die Brust und fragte sie, ob sie das möge. Sie sagte mit einer nüchternen gebrochenen Stimme: Natürlich mag ich es.

Ich sah sie acht Tage lang nicht, aber hielt wie in einer Schmutzfaust halb vergessener Worte etwas in meiner Tasche von Erinnerung fest an jetzt und früher. Und dann kam dieser kurze Besuch bei ihr: ihr Zimmer mit Gegenständen von Leben darin, das ich nicht kannte; ein plötzlicher Abstand bei diesem Kenntnisnehmen eines anderen Lebens bei ihr. Ich habe es vor mir: dieses Besetztsein durch Möbel, Bilder – ein Stoff, mit Metallfäden durchwirkt, ein Berg Wäsche, Geschirr. Mit Worten konnte ich dagegen nicht aufkommen. Aber nun blieben, als wir gingen, diese paar Takte, eine Stimme Nichtsingen, ein vergessenes Lied.

Ich denke, es ist etwas Ähnliches wie an diesem Nachmittag Juli. Das Ähnliche ist die Aussicht auf die Bäume: hier der Baum vor meinem Fenster bei Vorflut von Gewitter; damals bei Frau Faller die Birnbaumkrone mit gelacktem Blatt. Hier: Sprechen von Musik; dort: Anschlagen auf dem Klavier.

Aber ich habe auch von jetzt zwei Geschichten. Ich ging auf den Balkon und sah durch das Laub auf die Straße. Es war still, wegen Ferien, viele Leute verreist. Die Blätter hatten von den Gewittern des Sommers Feuchtigkeit behalten, aber waren von der modrigen Schwelluft auch schon zermürbt und brandig, der Nachgewitterwind strich sie ab auf das Pflaster. Nani kam. Ich sah sie heranfahren. Sie hielt und fuhr schnell, mit Rückwärtsgang, Einschlagen, an die Bordsteinkante unter dem Baum. Sie war da. Ich sagte ihr in die engen graudichten Augen, daß Besuch da gewesen sei, und wer es gewesen war und wieder kommen und mit mir fahren wolle; ich zeigte ihr die Flöte.

Dann erzählte ich ihr. Dann kam Ditha. Ich sah die zwei Gestalten von jetzt, wie sie sich miteinander unterhielten: Nani mit eng gestellten Augen und gebrochener Stimme. Ditha ging mir wie Dampf auf die Haut, sie saß wie ein Geist ungekämmt da, Goldschimmer auf dem Haar, und klares, irres Reden.

Ich glaube es nicht, daß sie irre ist, auch jetzt nicht, wo es mir jemand sagt, nach Wegfahren mit ihr, und ihrem Sprechen, daß sie zurückwill, Verständigung per Brief und Telefon; aber dann Unvermögen, sich zu verständigen. Oder ich helfe ihr durch Unglauben, sie sei irre, oder bringe mich selber in diese Sprache.

Darauf bin ich aus.

Nani erzählte, daß sie Putzgers Klavier inzwischen aus dem vollgeräumten Durchgangszimmer in das leere vordere Zimmer gerückt habe, das sei der erste Einrichtungsgegenstand darin. Sie erzählt eine Vorgeschichte von Transport des Klaviers, das ursprünglich in ihrem Kabinett auf der Seite gegen den Hof gestanden habe, aber das sie wegen der Enge in das Durchgangszimmer gerückt habe, zwischen die Möbel und Bilder des damals noch ganz anwesenden Mannes Putzger; sie sagt: Jetzt habe ich es nach vorn gerollt.

Sie sagt „gerollt“, und daß es eine schwere Arbeit war. Aber zwei Jahre habe sie in dem Durchgangszimmer gespielt. Und ein Jahr im Kabinett. Ich frage sie nicht, wie lange zwei und ein Jahr sind, ich denke an ihre Anstrengung jetzt. Sie sagt: Ich habe es allein gemacht, und es ging auch, mit Rollen. Das Klavier hat unter seinen Füßen Glasfüße, und zwischen den Füßen und den Glasfüßen sind eiserne Rollen. Ich mußte es lüpfen, die Glasfüße wegschubsen, dann stand es auf den Rollen und war beweglich.

Ich hatte es an ihrem Klavier nicht beachtet. Aber nun fällt mir ein, daß es auch bei uns so gewesen war: unten an den Füßen kleinere gläserne Füße; und auch bei uns war das Klavier einmal transportiert worden. Es kam vom Kabinett ins Wohnzimmer. Der Grund war, daß wir das Kabinett abgaben, an einen Untermieter. Das war, als Frau Faller schon weg war. Ich übte im Wohnzimmer die Lektionen, die mir ihre Nachfolgerinnen angestrichen hatten. Ich machte keine Fortschritte mehr.

Der Name Faller. Er fiel mir übrigens nicht ein wie etwas, das ich vergessen hatte, er war mir stets im Gedächtnis gewesen, ich hatte ihn nur nie gebraucht. Ich sagte es so: An diesen Namen habe ich nie mehr gedacht, die zogen damals auch weg, aber natürlich habe ich mir den Namen gemerkt. Ich sagte: In dem Stock über uns der Professor Ruth, der den Tod sah – sagte meine Großmutter, wenn er droben schrie; seinen Sohn habe ich später oft im Café gesehen, er unterrichtete Musik. Darüber die Scharitzer, deren Vorvater war Bürgermeister gewesen, deshalb hieß eine Straße in unserer Stadt „Scharitzerstraße“. Darüber im dritten Stock die Faller, da gab es keinen Mann, nur die Frau Faller und ihre Tochter Pia Faller; der Frau habe ich es zu verdanken, daß ich mit Musik anfing, mit Klavierunterricht.

Ich sagte: Aber was alle diese Leute waren, verstehe ich erst jetzt, damals dachte ich mir nichts bei den Namen. Z. B. Scharitzer, die kamen doch irgendwie aus Böhmen. Oder auf der anderen Seite: Rohrweck. Das waren Deutsch-Böhmen (und vermutlich ein ursprünglich tschechischer Name, auf deutsche Schreibung gebracht); eine Mutter, die Pension bezog, und ihre Tochter Ottilie, die ins Büro ging, blond. Und darüber die Weidinger: Hofrat Weidinger, der mit grauem Spitzbart und Lüsterjacke an einem Stock mit Silbergriff ging, und seine Frau, eine schmale Person mit Silberhaar, die sich im Gespräch immer vorbeugte, um Höflichkeit zu zeigen; und ihr Sohn Gustl, der ein Chemiker war und im Haus nebenan ein Zimmer gemietet hatte; da experimentierte er, und eines Tages explodierte etwas, da knallte es bis in unser Haus. Mir fiel alles Mögliche ein zu dem Anhalt der Namen. Aber bei Frau Faller konnte ich mich nur an den Namen der Tochter erinnern, an nichts von ihr.

Ich sagte: Wir hatten ein Klavier, ich habe noch ein Foto davon. Ich zeigte die Fotos. Auf diesem einen ist das Klavier zu sehen, vielmehr diese schmalbrüstige Art Piano, bei uns hieß es Pianino. Vor dem Klavier eine junge Frau und ein Mann, die sich einander zudrehen, sie machen Pause. Die Frau mit vollem Haar und in weißer Spitzenbluse, der Mann mit einem Zwicker auf der Nase und einem hochgezwirbelten Schnurrbart. – Ich sagte: Das ist meine Mutter, der Mann ist ihr Bruder.

Über dem Klavier zwei Bilder, die Frau mit strengem Scheitel, das waren die Großeltern. Auf der Brust des Klaviers zwei Kerzenhalter. Ich sage es nicht, aber kann mich erinnern: die Arme aus Messing, ein Vierkantstab zu einem Dreikantstab abgeschürft, Jugendstil; darauf eine gläserne Tulpe, auf der Tulpe die Kerze. Alles ist doppelt auf dem Bild, auch die Notenblätter. Ich sage: Vierhändig Klavierspielen, aber damals war meine Mutter noch nicht verheiratet. Ich sage: Bei uns – später – stand das Klavier im Kabinett. Ich sage nicht, aber denke: da hingen nicht mehr die Bilder der Großeltern darüber, sondern die meiner Eltern, nachgemalt einem Foto, aber da war meine Mutter schon wieder Witwe. Ich sage: Da spielten sie auch vierhändig und sangen – das war noch im Krieg, 17, 18. – Ich denke: wer sang, und welche Lieder: Blaue Adria du; aber sage es nicht, weil ich diese andere Sache erzählen will, von der ich keine Erinnerung habe. Ich sage: Ich habe nicht bei uns im Kabinett angefangen, Klavier zu lernen, sondern oben im dritten Stock.

Die Wohnungen hatten denselben Grundriß: Vorzimmer, die Zimmer und das Kabinett. Aber oben habe ich angefangen. Frau Faller gab mir Klavierstunden. Aber ich weiß nichts von ihr. Vielleicht liegt es an ihrem plötzlichen Wegziehen, daß mir jede Erinnerung abgekappt wurde. Der Unterricht muß sich gelohnt haben, sonst hätten sie mich nicht weiter Klavierstunden nehmen lassen. Ich kam zu einem Fräulein Suppan, die eine Kollegin meiner Mutter im Amt war. Suppan war auch der Name eines Dampfers auf der Donau. Dann zu einem Fräulein von Puntigam, lymphatischem Fräulein im dritten Stock an der Kreuzung Mozartstraße. Ich wanderte dahin mit meiner Musiktasche, auf die eben dieses Wort „Musik“ in Stickerei gesetzt war. An diese Einzelheiten, Tasche, Namen, die Petitpointstickerei, kleine Stiche, kann ich mich erinnern. Aber bei Frau Faller an nichts, außer daß das Klavier im Kabinett war wie bei uns; und an ein Hereinrauschen von Laubwipfeln. Das Kabinett war gegen den Garten der Eisenhandstraße, bei uns im Parterre war Verschattung von Laub auf den breiten Ästen des hochstrebenden Stammes, oben war die Birnbaumspitze unter freier Luft.

Es war auch hier etwas Ähnliches bei einem Himmel, der bei uns im Parterre durch so viele Stockwerke Laub nicht durchdrang. Ich glaube, mir wurde schwindlig oben, aber dann konnte ich mich nicht sattblinzeln an diesem Zittern von Licht durch das Fenster, und Weitsicht, obwohl innen am Klavier, nach dem Abstand von Vorhängen, Troddelschnüren und Plüschdecken nicht mehr Licht war als unten bei uns.

Aber ich glaube, daß ich mir diese Erinnerung schon erfinde, um mir eine Nichterinnerung auszumalen, mit der ich die Geschichte in Gang bringen will: die Erinnerung, daß ich unten zu spät kam nach der ersten Stunde Unterricht im Spielen. – Eine feste Stunde zum Nachtmahl unten; aber da kam ich, bei dem zur Sommerzeit noch hellen Licht auf den Stiegen der drei Stockwerke nach unten zu spät. Sie sagten nichts. Aber das hatten sie nicht vorausgesetzt, als sie mich entließen zu dem Klavierspiel oben, daß ich länger bleiben und zu spät kommen würde; und auch nachher im Herbst, als es auf den Stiegen schon dunkel war – das hatten sie nicht vorausgesehen, daß ich dann sagen würde: Ich habe schon etwas gegessen.

Beim ersten Mal sagte ich es nicht, obwohl ich droben ein Stück Zucker mit Schokolade überzogen gegessen hatte, sondern erzählte, während ich herunten Essen vergaß, was ich droben gelernt hatte: die Finger auf die Tasten, und Bewegungen nachgeschlagen, die von den Fingern der Hand links von mir geschlagen wurden; es war derselbe Ton, tiefer, aber Gleichklang, bei derselben Reihung der Tasten, weiß und schwarz. Ich sah auf die Hand links, und hob bei mir den Finger, den Frau Faller an meiner linken Seite hob, dann kamen drüben die eingedrückten Knöchel, aber bei mir, damit ich diese Spannung nachmachen könne, der Bleistift auf die Knöchel; und als er wegrollte, der Druck der Hand, unter dem ich stillhielt, während ich auf die andere spielende Hand sah; und dann wieder der Versuch mit dem Bleistift. Ich saß auf einem hochgeschraubten Stuhl. Frau Faller saß neben mir tiefer. Links von ihr das Abendlicht über dem Birnbaumwipfel, davor ein glänzender See: ein Oval braunes Holz, darauf eine Figur aus Metall und eine Fotografie in einem Schattenrahmen, auf die ich nicht sah – die mir aber zusahen bei diesem Spiel: Hand, Hand, Kleid, ein leises Taktzählen, und derselbe Ton.

Keine Erinnerung an das Bild im Rahmen; auch den Bleistift und ihre ohne Bleistift eingedrückte Hand erfinde ich mir jetzt, ebenso den hochgeschraubten Stuhl, den es in Wirklichkeit bei uns unten gab: einen Klavierstuhl, dreifüßig, darüber eine Holzschraube, darüber die ihr angepaßte Spirale zu drehen, um das Oval Holz, auf dem man saß, auf die passende Höhe zu bringen.

Ich will die Geschichte von oben erzählen mit Hilfsmitteln, auch von unten. Da legten sie mir, weil der Stuhl nicht genug hochzuschrauben ging, ein dickes Buch unter: Tongers Musikalbum. Oben bekam ich ein anderes Buch untergelegt und saß auf ihm. Aber das ist schon wieder Erfindung. Frau Faller war auf den Anfang, mich Klavierspielen zu machen, vielleicht aus beobachtetem Mangel an Spiel bei uns gekommen. Meine Mutter und sie – zwei Frauen gleichen Alters, bei keiner ein Mann, oben eine Tochter, unten ein Sohn. Unten die Frau, die meine Mutter ist, in der Familie, die aus ihren Eltern besteht, mit pünktlich essen und nicht viel spielen. Dazwischen durfte ich weggehen.

Ich ging mit Vorliebe die drei Stockwerke auf und ab und sah von dem Fenster, das über dem dritten Stockwerk lag, auf den Birnbaumwipfel. Es gab Verkehr zwischen den Stockwerken – unten ein Klavier, oben eins, und Gesang auf den Stiegen. Es gab das Wort „Sinn für Musik“, und dann eine Verabredung, ein erstes Anschlagen von Tasten, dabei Musik entstand. Aber ich erinnere mich an nichts außer daß die Wohnungen dieselbe Proportion hatten. Und daß es Proportionen auch der Zeit gab: täglich Hinaufgehen, und daß es diesen Namen gab – aber ihrer Tochter; von ihr nichts.

Ich spüre am Rockärmel, wie ich diesen kreidig fahlen Maueranstrich die drei Stockwerke entlang wetzte, bei schon metallisch trockenen, bronzen vergilbten Laubstockwerken des Birnbaums, und oben auf die Klingel drückte; die Tür ging auf, ich ging hinein mit denselben Schritten wie unten.

Ich weiß nicht, wohin. Ich habe eine Menge Erinnerungen aus dieser Zeit, aber sie helfen mir nicht zu dieser einen. Auch nicht der Grundriß unten: das Vorzimmer, dann rechts das große Zimmer; dahinter – nach einer Doppeltür, in der an eingeschraubten Haken Ringe zum Turnen hingen – das Schlafzimmer, aus dem zu Weihnachten das Christkind klingelte, und in dem ich sonst schlief; von da ab das Badezimmer mit zwei Ausgängen: einer zum Dienstmädchenzimmer, das später meine „Bude“ wurde; der andere zurück zum Kabinett, das aber, bei dieser Winkeldrehung, einen ersten direkten Zugang hatte, vom Vorzimmer.

Oben, im dritten Stock, lernte ich zuerst nur diesen direkten Zugang kennen: durch die Vorzimmertür in das Kabinett, in dem das Klavier stand, wie bei uns.

Es war immer am Nachmittag, anfangs bei hellem Licht, später bei Abfall des Tages, später bei Dämmerung auf den Stiegen. Da machte ich auch die ersten Fortschritte: als Frau Faller das erste Mal Licht aufdrehen mußte; sie knipste eine Lampe unter einem gelben Seidenschirm an, die Lampe stand auf einem Beitischchen neben dem Bilderrahmen, das Bild war unter dem Lichteinfall nur ein blanker Spiegel. Auch draußen hatte es sich vereinfacht: die Laubmasse schwarz, der Himmel perlmutt, und Stille. Auf den weißen Tasten war aus der Mischung des Perlmutts draußen und aus dem gelben Licht der Lampe eine Farbe wie lebendiges Fleisch, glatte Haut; daneben lag die Hand: ein Übergang zu Finger und Nagel und Taste; ein Abstand noch, aber Bekanntschaft schon; und als es sich vereinigte, bei Aufdruck zwischen Nagel und Taste, kam der Ton. Der Finger hob sich, und nun war auf der Taste ein Druck wie Hauch, der rasch verraucht, zurückgeblieben; ein Eindruck ähnlich der Spur von Niederschlag, der nach gefallenem Gewitterregen von der Straße wegraucht, zunehmende Dämmerung; und ein Ton nach dem andern.

Ich versuchte, die Töne nachzuschlagen, aber ich konnte die Hand nicht so weit spannen, und als Frau Faller mir den Unterschied zeigen wollte: durch Spannen ihrer Hand gegen die meine, spürte ich, daß es Absonderung war – eine Wärme der Haut, die diesen Eindruck auf den Tasten machte, der nicht Temperatur war, sondern Absonderung. Ich hatte ihn noch auf meiner Haut, als ihre Hand schon wieder auf den Tasten lag. Ich wünschte mir, etwas Ähnliches zu erzeugen beim Anschlag der Tasten. Sie legte mir den Bleistift auf die Finger. Ich spürte das Holz, oktogonal, rauh wie am Schaft des Kindergewehrs, und roch den Graphit, sah daneben die Finger auf den Tasten, die in Mulden eingedrückten Knöchel, dahinter hochgerückt das Gelenk. So sagte sie es mir später: Man muß den Arm fallen lassen, das Gelenk hochrücken. Aber ich hatte es schon gesehen.

Es war der Augenblick, auf den ich jeden Abend wartete, vielmehr sie mich warten ließ während einer Folge Verrichtungen, die zur Vorbereitung der Stunde gehörten: den Klavierdeckel aufschlagen, das Samtband von den Tasten ziehen, meinen Stuhl hochschrauben, ihren Stuhl neben den meinen rücken, dann kam sie und legte mir das Buch unter.

Ich wußte, wo es lag, aber erlaubte mir nicht, es selber zu holen. Dann legte sie ihre Hand neben die meine. Dann kam der Ton, in dem Abstand Oktav. Sie hatte immer dasselbe Kleid an: laubbraune Seide, kein Hauskleid, sondern eines für Gesellschaft, keine Ärmel – ich sah von ihrem Handgelenk über einen Strich Ader zu ihrem Ellenbogen, und von dieser aus einer Falte geöffneten Beuge bis zu ihrer Schulter. Ich sah halb hin, aber spürte auch hier die Wärme, die von ihrer Haut herstrahlte; auf diesen Augenblick wartete ich jeden Abend. Wir spielten. Am Schluß der Stunde hörte sie auf und erklärte mir etwas. Aber das Strahlen ihrer Haut hörte nicht auf, auch als ihre Hand stillag, und der Arm sich nicht rührte.

Nach dem ersten Monat und nach einiger Fertigkeit, die ich zeigte, hörte sie nicht mit Erklären auf, sondern spielte mir zum Schluß etwas vor. Ich glaube, das ist die am meisten zutreffende Sache, die ich mir erfinde, daß dieses Vorspielen am Schluß eine Hauptsache für mich wurde, dabei lernte ich am meisten: als ich diese Töne hörte, vom Gelenk an erzeugt, aus dem Arm mit weißer Haut und Sommersprossen unter der Schulter, und in der Achsel Haar. Wenn sie das Gelenk zu einem Akkord streckte, rötliche Färbung des Haars. Ich war in diesen zwei Dingen: dem Spielen, das nicht aufhörte; und der Bewegung und Nichtbewegung des Arms, aber Atem dabei, manchmal ein. Mitsummen aus ihrem Mund, Mitnicken des Kopfes, und Aufatmen der Brust. Sie spielte immer dasselbe Stück, es prägte sich mir ein, und wenn ich unten schlafen ging nach dem Essen bei Tisch, hatte ich es im Ohr. Von der Tonfolge am Schluß habe ich den Eindruck, daß sie etwas war wie Wiederholung, die sich nicht sättigen kann, und sich vergrößert, und dann bricht – an diesem Ende stieg sie mit dem Fuß aufs Pedal, kappte den nachschwingenden Ton, ließ die Hände auf den Tasten.

Draußen war nicht mehr Dämmerung, und der gelbe Lampenschirm erschien verdoppelt, gespiegelt im Fenster – um diese Zeit kam ich unten zu spät.

Es war auch diese Zeit, vorrückende Dämmerung, als mich Frau Faller die Übung vom Anfang: Handhaltung und Armhaltung, wiederholen ließ, aber ohne Anschlagen der Tasten. Ich tat es, wie sie mich anwies: mir mit einem Streichen des Mittelfingers die Knöchel eindrückte, mir mit ihrem Daumen das Gelenk hochdrückte, dann losließ, mich stillhalten hieß und mir sagte, für die Armhaltung solle ich auf ihren Arm sehen, auf das Fallenlassen aus der Schulter.

Ich mußte es weiter ohne Anschlag der Tasten üben, als Stillhalten, damit sie kontrollieren könne, ob ich es richtig mache. Später, damit sie es genau sähe, streifte sie mir den Hemdärmel zurück. Das war in den Wochen, in denen sie zu Anfang der Stunde noch nicht Licht zu machen brauchte; aber der Tag verging schnell, sie machte Licht. Sie fühlte mir mit ihrer Hand die Haltung und Bewegung nach. Sie sagte mir, daß ich Fortschritte besser nicht durch Erklärung machen würde, sondern, durch einfach Hinsehen auf ihren Arm und die gleiche Bewegung; sie hielt mich an zu bloßem Hinsehen, dann würde ich es durch Nachahmung treffen. Wir waren auf eine Quint einander nahe gerückt, sie auf c, ich auf g. Wir schlugen die fünf Töne an, ich brauchte nicht auf meine Finger zu sehen; und bei der Vorübung mit Nichtanschlagen lagen die Finger auf den Tasten still.

So kam Steigerung der Ansprüche zustande: daß ich die Tasten erfühlte, ihre Hand neben mir sah, ihren Arm, den Strom Wärme spürte, und mich, nun schon ohne Ermahnung, bemühte, genau hinzusehen. Die Haltung mußte aus dem Körper kommen, aus einem Nichtsteifsitzen, sie konnte es an mir kontrollieren mit Nachprüfung des Grades von Lockerung im Gelenk und Aufdrücken der Fingerkuppe von Knöchel zu Knöchel; so übertrüge es sich auf ihre Hand, sagte sie mir später, und so könne sie mich auch korrigieren: von zu heftigem Tastenanschlagen zu ruhigem Schlagen. Sie ging von Stelle zu Stelle auf meiner Hand und blieb auf jeder so lange, bis es ihr ruhig genug schien.

Eines Tages kam sie dazu, die Sache abzukürzen, d. h. beide Hände zu gebrauchen: mit der einen ging sie in mein hochgehöhltes Handinnere und schob sie dort hin und her, mit Druck von unten gegen das Gelenk und Andrücken auch vorn bei jedem der vier Ballen unter den Fingerknöcheln, so überprüfte sie meine Handhaltung; mit der anderen legte sie mir den Bleistift auf, ich durfte spielen.

Eines Tages ging sie weiter, sie sagte mir, daß ich nicht aufrecht genug sitze, und um es zu überprüfen, verlangte sie, daß ich dem Bleistift, den sie mir mit der Spitze an die Brust hielt, die doppelte Länge Platz lasse zwischen den Klaviertasten und meinem Körper. Es war ein schwankender und von ihr auch stets veränderter Abstand in der Luft, wie sie den Bleistift gegen mich führte mit Hintasten und leichtem Stich, dazu ihn zwischen den Fingern rollte, ein schwirrendes Geräusch dabei, ein Kreiseln, Hin- und Herrollen der Spitze, von ihren Fingern her langsames Andringen, dann Nachlassen, dann Stillhalten, aber schon Wiederholung des Vorgangs, ich wartete schon darauf, mit dem sie mir diese Haltung vorschrieb.

Sie sagte: Nicht hinsehen; das vermehrte die Spannung, in der ich den Abstand zu ihrem Geruch und Haar der Achselhöhle spürte, dann auch den leichten Druck ihres Arms spürte, und nun doch am Rand der Pupille das matte Schimmern der Haut sah; es war ein Riß in ihrer Bewegung wie Umschaltung des Nervs. Sie sagte: Jetzt; aber fing langsam an, mit Schwirren und Suchen nach dem richtigen Abstand. Sie sagte: Wir müssen es ausprobieren, wir haben es gleich. Hierher.

Dann Abbruch und ihr Vorspielen. Ich wünschte zu erfahren, wie weit sie gegangen war, aber ich habe nur diese trockenen Worte: wir haben es gleich, hierher; und daß ich darauf wartete. Ich wußte nicht, wie lange es oben gedauert hatte: ein Nichtaufhören bei ihr, dem ich nachstrebte bei einem schwimmenden Hinübersehen. Ich hatte keine Eindrücke von außen, nicht durch das Fenster, auch von innen nichts als den Lichtkreis unter der Lampe. Eines Tages nahm ich außer ihm nichts mehr wahr. Er war mir ein selbstverständlicher Aufenthaltsort der Augen geworden, ich sah nur die Hand auf den Tasten.

Diabelli, und was mir sonst noch einfällt von der Fortsetzung dieser Klavierstunden später, als Frau Faller schon weg war: Hefte mit grünen Umschlägen in der milchgrünen Farbe von Blattlausmilben, dazu schwarze Schrift, eingeschmückt von schwarzen Spiralen. Das Milchgrün stimmte zu der Hautfarbe des lymphatisch vollbusigen Fräuleins von Puntigam. Ein rötlicher Ton war in ihren Haaren. Er erinnerte mich an den Rothaarton in der Achselhöhle der Frau Faller, aber es fehlte etwas wie Fingernagelrand und Absonderung der Haut. Dieses Nichterinnerte, zu dein ich zurückeile – zu Herbststürmen damals bei zunehmender Kühle im Haus: ich bemerkte die verminderte Temperatur schon auf den Stiegen, dann an dem Hauchabdruck auf dem Emaille-Klingelknopf, am Messinggriff der Tür, im Vorzimmer, im Kabinett, bei dem Zurechtlegen der Finger auf den Elfenbeintasten, die Tasten schwitzten.

Ich habe mir notiert: Händewaschen. Ich wusch mir, ehe ich hinaufging, die Hände. Einmal gab es Schmutzabdrücke meiner Finger auf den Tasten. Das war das erste Mal, daß ich oben in der Wohnung vordrang, über das Kabinett hinaus, als mich Frau Faller Händewaschen schickte. Es war die aus dem Winkel vom Schlafzimmer her aus dem Badezimmer gegen das Kabinett gedrehte Tür. Ich hätte die Schritte blind machen können: der kupferne Badeofen, die Wanne, und an ihrem Fußende, neben der Tür zum Schlafzimmer, das Waschbecken. Es hatte auf den Kacheln dieselbe Verzierung wie unten bei uns: auf rosa Kacheln eine Verzierung aus Rosen. Aber etwas war anders: die Seifenschale, eine Haarspange mit Zähnchen, eine wachsfarbene Dose mit gerilltem Schraubknopf. Ich sah mir zu bei diesem Händewaschen. Nach dem ersten Mal wurde daraus eine Gewohnheit. Frau Faller schickte mich ins Badezimmer. Beim zweiten Mal dachte ich an das Schlafzimmer, und daß ich ihr zeigen wolle, wo ich unten schlafe.

Aber sie kannte ja den Grundriß der Wohnung, sie sagte: Wie schlaft ihr dort? Ich weiß, heraußen …

Ich sagte: Die Großmutter.

Sie sagte: Du schläfst drinnen?

Ich sagte: Neben der Mutter.

Sie sagte: Zeig mir auch diese Stelle.

So kam ich das erste Mal in ihr Schlafzimmer. Ich fand die Stelle sofort, bei ähnlicher Einrichtung, an dem Holz der Bettkante. Sie wollte, daß ich ihr zeige, wie es bei uns ist. Ich sagte es ihr: die zwei Betten nebeneinander, gegenüber die zwei Kasten, der eine mit Spiegelglas in ganzer Länge, darin man sich von Kopf bis Fuß wiedersah; zwischen den aneinander gerückten Betten das Oval einer Reproduktion einer Madonna; in dem Bett an der Fensterseite ich, in dem Bett an der Badzimmerseite meine Mutter. Sie sagte: Bei uns ist es anders. Und Pia schläft im Kabinett.

Ich hörte es damals von ihr so: bei uns ist es anders; aber jetzt beim Hinschreiben merke ich, daß dieses Wort eine dürftige Erfindung ist, und wenn gesprochen, dann Einschrumpfung der Erinnerung, wie auch meine Aufzählung der Möbel in diesem Zimmer eine Verkürzung; daran merkte ich zuerst: das stimmt nicht; aber was stimmt: die zwei Betten nebeneinander und das Heiligenbild; aber schon die zwei Kasten standen nicht gegenüber, sondern daneben, links, rechts, um den Abstand der Nachtkästchen; das Zimmer war größer, bei mir war es leer, so kann ich das nicht stehen lassen. Mit den Möbeln unten käme ich zurecht, daß mir, die fehlten, einfielen; aber nicht mit den Wörtern oben der Frau Faller. Das frage ich mich sofort: ich käme auch unten nur zu neuer Aufstellung vermehrter Möbel, nichts wirklich neu; daher auch oben nicht zu Vermehrung, die ich haben will, sondern Stop, und nicht bloß Nichterinnerung; wo ich doch lebte, Stop – das war der wirkliche Vorgang. Und warum nicht: dieses Stück ist gelöscht. Ich sage das nicht sofort. Ich probiere Verschiedenes aus. Aber das Gehen durch den Grundriß der Wohnung hilft mir nicht weiter. Einfälle helfen nicht weiter: ich denke, gab es oben Blumen, aber Frau Faller war aus härterem Stoff als Blumen, als Einfälle von Fantasie aus ihrem roten Haar oder aus der Bettstelle gezogen, auf der sie geschlafen hat. Ich stehe an ihrer Tür und nehme Abschied, es war ja nicht umsonst, daß ich zu spielen aufgehört habe.

Noch einmal rede ich gegen die Tür: Sagte sie etwas von Pia und einer Schlafstelle im Kabinett zur Hofseite – ich habe davon nichts bemerkt. Meine Aufmerksamkeit war auf das Klavier gerichtet gewesen, auf das Beitischchen mit Figur und Bilderrahmen, auf ein Gestell für Bücher, aus dem Frau Faller das dicke Buch nahm. Aber auch das waren Sachen von unten gewesen. Wohl her damit für Einbildungen, treibt zu, was eine Geschichte macht; die jagt herzu, diese Gegenstände. Von Frau Faller weiß ich nichts, von Pia Faller nichts als den Namen, und ein Vorüberfliegen vielleicht auf den Stiegen hinter der Mauer. Stets wußte ich, wenn Pia vorüberging.