Cover

Sven-Eric Bechtolf

Nichts bleibt so, wie es wird

Roman

Meiner Frau Anett zugedacht

1. Kapitel

„Das ist eine Sauerei! Kein Mensch hat mir mitgeteilt, dass diese blöde Kuh in England singt und drei Tage fehlt! Verdammt noch mal!“

Frau Bruck, die Leiterin des Betriebsbüros und persönliche Referentin des Intendanten, erwidert mit unbewegtem Gesicht: „Wer?“

„Diese Schottin!“

„Fiona. Irin.“

„Von mir aus.“

„Die singt doch gar nicht im Figaro.“

„Dann eben nicht Fiona. Die, die die Marcellina spielt. Wie heißt die denn noch mal?

„Balthasar. Angelica Balthasar. Und die ist Waliserin.“

„Warum hat mir das niemand gesagt?“

„Dass sie Waliserin ist?“

„Nein, dass sie Urlaub hat!“

„Intendantensache. Beschweren Sie sich bei ihm. Ich hatte bei der Produktionssitzung gesagt, dass das eng wird.“

„Eng ist gut! Sie fehlt bei der Klavierhauptprobe. Bei der Klavierhauptprobe!“

„Reden Sie mit Jakobi.“

„Das will ich ja!“

„Jetzt telefoniert er aber. Hören Sie auf, mich anzubrüllen, und setzen Sie sich hin.“

Widerwillig nimmt er auf einem der beiden abgewetzten, mit rotem Samt bezogenen Theatersessel – ein Überbleibsel der alten Bestuhlung – Platz und wartet.

Herwig Burchard ist Regisseur. Er arbeitet am Theater und an der Oper und hat sich dort einen Namen gemacht. Weil er nun aber schon über sechzig ist und weil das Theater mehrheitlich den jungen Leuten gehört und überhaupt dauerndem Wandel unterzogen ist und kaum mehr dem Theater ähnelt, das Burchard kannte, und aus hundert anderen Gründen, sind in den letzten Jahren die Aufträge langsam, aber sicher ausgeblieben. Nach großen Erfolgen und üppigen Einkünften zwischen seinem fünfunddreißigsten und fünfundfünfzigsten Jahr, nach gefeierten Inszenierungen auf der ganzen Welt, wie man so sagt, hatte er zunächst an einer recht bekannten Hochschule eine Professur für Regie und Schauspiel angenommen, von der er aber nach nur sechs Monaten, aufgrund zermürbender Auseinandersetzungen mit den Kollegen, die er als provinziell bezeichnete, zurücktrat.

Sein alter Freund, Stefan Jakobi, der mit ihm zur Schauspielschule gegangen war – damals, Mitte der Siebziger – und der seit geraumer Zeit Intendant in Kobrück ist, machte ihm daraufhin den rettenden Vorschlag, als fester Regisseur an sein Dreispartenhaus zu kommen. Herwig, den es früher schon beim Wort „Kobrück“ – einer mittelgroßen Stadt im Süden Deutschlands – gewürgt hätte, sagte angesichts seiner desolaten finanziellen Situation dem von ihm nie sonderlich geschätzten Jakobi zu. Er zog aus dem Penthouse im Frankfurter Westend aus, packte eigenhändig die Menge der über die Jahre angesammelten Bücher, Bilder, Antiquitäten und den übrigen Hausrat ein und bezog eine Dreizimmerwohnung in der Nähe des Theaters, die nun hoffnungslos übermöbliert ist.

Burchard ist ein auffälliger Mann. Groß, kräftig, mit dicht gekraustem, inzwischen fast grauem Haar und einem zornigen Blick unter noch rabenschwarzen Brauen. Er hat ein dramatisch umwölktes Gesicht, das immer mehr der Büste des Marc Anton von Arcis zu ähneln beginnt, die er mit Doppelgängerschrecken in einem Museum in Toulouse betrachtet hatte. Noch aber sagt man von ihm, er sei „gutaussehend“. Wenn Burchard von seiner Wohnung aus durch die Fußgängerzone in Richtung des Theaters eilt, mit geblähtem, offenem Mantel, ohne Rücksicht auf Entgegenkommende, blicken die Passanten ihm nach, so entschlossen schreitet er seiner Wirkungsstätte entgegen.

Unangenehmerweise hat sich in den letzten Monaten sein Verhältnis zu Jakobi getrübt. Burchard hat sich die Sympathie und das Interesse des Ensembles in höherem Maße gewonnen, als es dem schon immer sich zu Unrecht in die zweite Reihe verbannt wähnenden Jakobi lieb ist. Auch das Publikum nimmt die Arbeiten Burchards mehr als wohlwollend auf. Trotz alledem wird Burchard von dem Kritiker und stellvertretenden Chefredakteur der „Kobrücker Nachrichten“, Dr. Dr. Dietmar Müßig, mit Hohn, ja mit Hass verfolgt. Diese fortwährenden Angriffe und Schmähungen haben ihre Wirkung bei den Künstlern nicht verfehlt. Die anfängliche Begeisterung ist einem – noch stillen – Misstrauen gewichen.

Müßigs Ehefrau, weiß Burchard, ist mit Jakobis Tochter Anna-Sophia befreundet, die Theaterwissenschaften in Göttingen studiert und, so ist es ihm zu Ohren gekommen, seinerzeit ihren Vater vor den überkommenen Ansichten des angeblich erzkonservativen Burchard gewarnt hatte. Burchard, so die Tochter, habe im deutschen Feuilleton einen überaus schlechten Ruf, gelte als hoffnungslos reaktionär und konterkariere die Bemühungen Jakobis, der auch bei der überregionalen Kritik für sein ansonsten so engagiertes und progressives Programm seit Jahren lobende Erwähnung findet. Dem Stadtrat sind diese anerkennenden Berichte zwar nicht verborgen geblieben, aber nach acht Jahren der Intendanz Jakobis wird im Rathaus nun eine nochmalige Verlängerung seines Vertrages offen diskutiert. Im September will der Kulturdezernent Fleischmeier eine Entscheidung treffen. Das zehnte Jahr der Intendanz Jakobis wäre dann auch das letzte. „Eine echte Ära!“, wie der Kulturdezernent sich beeilt hinzuzusetzen, wenn sein jeweiliges Gegenüber zweifelt. Es gilt in Kobrück als sehr wahrscheinlich, dass Burchard sich um die Nachfolge Jakobis bewerben wird. Der Dezernent, ein Mann mit wenig Kenntnis des Theaters, ist allerdings von Müßig, der seiner Partei angehört, inständig gebeten worden, unter keinen Umständen Burchard auch nur in Erwägung zu ziehen, und nicht wenige glauben, dass Müßig selbst gerne Intendant des traditionsreichen Hauses werden würde. Müßig hingegen propagiert öffentlich einen dreißigjährigen ehemaligen Regieassistenten, der eben mit der Inszenierung einer performativen Aufführung von Antigone nach Sophokles – mit einer Reihe von Laiendarstellern, Flüchtlingen aus Afghanistan, Syrien und dem Irak – zum Berliner Theatertreffen eingeladen worden war und eine Art Intendant der „Kammerspiele Kobrück“, einer Studiobühne im Keller des Hauses, ist. Martin Matthiesen heißt der junge Kollege – in Wahrheit ein aussichtsloser Kandidat, da er vom Kobrücker Publikum, trotz anderslautender Pressemitteilungen Jakobis, nicht angenommen wird.

„Frau Bruck! Wie lange soll ich denn noch hier rumsitzen, die Sänger warten auf mich. Das ist kostbare Probenzeit, die ich hier vertrödle!“, schimpft Burchard nun laut.

Die Tür rechts öffnet sich und Jakobi, der, obwohl beinahe kahl und übergewichtig, immer noch jugendhaften Charme zu versprühen sucht, späht heraus. „Was denn, was denn“, lacht er beschwichtigend, zieht, auf das Handy an seinem Ohr weisend, eine verschwörerische Grimasse und winkt Burchard ins Zimmer. „Moment!“, flüstert er und fordert ihn mit einer Handbewegung, die irgendwie höfisch katzbuckelnd wirken soll, auf, sich in ein quietschgelbes Plüschsofa zu setzen, das bei seiner Inszenierung irgendeiner Komödie von Labiche eine Hauptrolle gespielt hatte. „Ein Kassenknüller! Wahnsinn!“, bemerkt er stets, wenn jemand darauf zu sprechen kommt. „Nicht meine beste Arbeit, aber die bestverkaufte, hahaha!“ Jetzt telefoniert Jakobi aber. Er streicht sich über seinen graustoppeligen Dreitagebart und gibt in völlig gleichmäßigen Abständen eine endlose Reihe von „Mmmhs“ von sich: „Mmmh.“ Pause. „Mmmh.“ Pause. „Hmm.“

Jakobi ist ein schlauer Pan, ein bocksfüßiger, schmerbäuchiger Verehrer der jungen Sängerinnen im Ensemble, ein politischer Fuchs, ein Zirkusdirektor im karierten Hemd und im Grunde seines Herzens ein netter, sozialdemokratischer Kerl.

Burchard wendet jetzt diskret den Blick von ihm ab und tut so, als ob er sich im Büro umschaute. Ein Produktionsplakat von Antigone hängt da. „Die Afghanen in Landestracht!“ Dann der Spielplan. „Unleserlich“, wie Burchard findet. „Zeitgeistige Buchstabensuppe“, hatte er respektlos bemerkt, als Jakobi das neue Grafikkonzept einer jungen Mainzer Firma den Hausregisseuren und der Dramaturgie präsentiert hatte. „Urban“, befand Jakobi und wischte Einwände wegen der Lesbarkeit beiseite.

„Ja, da müssen Sie zuerst mit Stelzer sprechen! Das müssen Sie Stelzer eben ganz deutlich machen. Weil in der Oper und im Schauspiel gibt es keine Spielräume mehr, keine!“, sagt Jakobi.

An der Wand, links von Jakobis weißem und blitzsauber geordnetem Schreibtisch, hängt ein Plakat mit den Fotos des Ensembles. Tänzer, Schauspieler und Sänger in willkürlicher Reihenfolge durcheinandergewürfelt. Die Porträts sind auf einem Schrottplatz entstanden. Der Schrott ist schwarz-weiß und die Künstler laufen, springen und hüpfen davor herum. „In Farbe, immerhin“, murmelt Herwig. Einer hat seinen Hund dabei, ein anderer einen Billardstock. Eine ganz junge Schauspielerin bläst Tuba. Der Protagonist des Schauspielensembles, Harald Kostrowski, hat seine neugeborenen Zwillinge auf dem Arm. Alle drei tragen dieselben peruanischen, bunt gehäkelten Mützen. Die Babys schreien augenscheinlich. Kostrowski lächelt unbedarft und fröhlich. Die Gesichter auf dem Foto deprimieren Burchard. Kostrowski wird sein Hamlet sein. Er fragt sich, wie er das Bild aus dem Kopf bekommen soll.

„Ist gut. Danke. Tschüsstschüsstschüss!“, sagt Jakobi und legt auf.

„Wieso ist diese Waliserin nicht da?“, raunzt Burchard.

„Wieso nicht da?“

„Das weiß ich nicht. Du hast sie freigestellt, damit sie in Manchester singen kann.“

„In Manchester? Ich? Nie im Leben! Fällt mir doch nicht ein.“

„Bruck sagt, du hast es ihr erlaubt.“

„Quatsch!“

„Frag sie!“

Jakobi läuft zur Tür. „Frau Bruck, was soll denn das, wer hat denn der Balthasar erlaubt, in Manchester zu singen?“

„Den Gastierurlaub hat sie im Vertrag, Sie haben es schon vor zwei Jahren mit ihr so abgesprochen“, sagt Bruck bockig.

„Quatsch! Wann, sagen Sie?“

„Vor zwei Jahren.“

„Quatsch! Kann ich mich überhaupt nicht dran erinnern.“

„Sie singt die Gräfin in Pique Dame. Ihr Mann hat das Stück vor zwanzig Jahren inszeniert. Danach ist er gestorben. Seitdem läuft es da. Jetzt ist die letzte Vorstellung und da will sie die Rolle singen. Wegen der Erinnerung an ihren Mann. Damals war sie zu jung.“

„Das kann man sich auch nicht mehr vorstellen“, bemerkt Burchard vom Sofa aus.

„Ach komm!“, sagt Jakobi und schließt die Tür. „In drei Tagen ist sie wieder da.“

„Nach der Klavierhauptprobe. Scheiße!“, resigniert Burchard.

„Aber es läuft doch so super! Meine Sbirren berichten mir, dass dir da echt was gelungen ist!“

„Seine Sbirren sind weinselige Choristen, mit denen er nachts im ‚Tell‘ sitzt“, denkt Burchard. Das „Tell“ ist die Weinstube neben dem Theater. Als besonderen Gag gibt es dort nach der Vorstellung Käsefondue.

„Danke! Ja, ich glaube, es ist wirklich ganz schön geworden“, sagt Burchard, der seinen Figaro für ein Meisterwerk hält: bis in jedes Detail hinein durchforscht und gestaltet. So etwas hat es in Kobrück überhaupt noch nicht gegeben. Leider ist das Orchester mittelmäßig und der Dirigent eine Gurke. Ob die historischen Kostüme nicht ein wenig konventionell seien, hatte dieser Idiot ihn – vor den Sängern – bei der Konzeptionsprobe gefragt.

„Wie läuft es mit Miguel?“, fragt der instinktsichere Jakobi.

„Gut, gut!“

„Gut oder sehr gut?“

„Warten wir auf die Orchesterproben. Im Augenblick sind die Tempi, na ja, höflich ausgedrückt: langsam.“

„Das liegt am Korrepetitor. Der schleppt immer. Eusebio kommt noch aus dem vorletzten Jahrhundert!“

„Na, hoffentlich.“

Beide schweigen einen Moment. Jakobi zieht eine Schachtel Filterlose aus den Jeans, öffnet das Fenster und raucht in die kalte Luft hinaus, dabei sagt er, dass es gut sei, gut sei, dass Burchard schon mal hier wäre. Er faselt irgendetwas über die kommende Spielzeit. Irgendetwas wegen des Abonnements. Dass Hamlet schon im Abonnement war. Dass er vor fünf Jahren im Abonnement war und jetzt nicht schon wieder im Großen Haus gemacht werden könne. Man müsse das im Kleinen Haus machen. In der Kammer. Im freien Verkauf.

„Moment mal“, sagt Burchard. „Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich Hamlet in der Kammer mache, vor achtzig Zuschauern?“

„Um Gottes willen, nein, nein, nein. Das wäre ja … Nein! Du müsstest dann was anderes, einen anderen großen Titel im Großen Haus, den wird man schon finden! Was Klassisches! Großes!“

„Du hast mir den Hamlet zugesagt!“

„Ich habe gesagt, es wäre gut, wenn du ihn machen würdest, ja! Aber alles andere war ja noch völlig offen!“

„Was war denn noch offen? Ich habe mit Vogt über das Bühnenbild gesprochen. Kerschmann will die Kostüme machen. Was war denn da noch offen?“

„Vogt kannst du dir aus dem Kopf schlagen. Der ist für unser bescheidenes kleines Stadttheater denn doch eine Nummer zu kostspielig. Wir sind nicht die Met!“

„Er macht es zu den hiesigen Bedingungen.“

„Und Kerschmann? Mit der hast du geredet, ohne mir ein Wort zu sagen? Die kommt mir sowieso nicht ins Haus!“

„Na gut. Prima. Hamlet in der Kammer. Und wer soll das machen?“

„Matthiesen!“

„Spinnst du?“

„Er will es, verstehst du, er will es unbedingt. Er könnte es in Mannheim machen. Sie haben es ihm da angeboten! Seit dem Theatertreffen bekommt er von überall Angebote, Thalia-Theater, ich habe den Brief gelesen! Der Dramaturg von der Schaubühne kommt nächste Woche. Der Junge ist derart umworben. Der kann zurzeit überall hin. Ich will ihn halten. Verstehst du. Mein Gewächs. Regieassistent bei mir gewesen. Kommt aus dem Haus. Nächste Woche ist die TV-Aufzeichnung von Antigone! Aufzeichnung! Verstehst du! ARD! Seit Jahren die erste Aufzeichnung. Bundesweit wird ausgestrahlt. Er hat mir die Konzeption schon vorgelegt. Hochinteressant!“

„Wer soll denn das diesmal spielen? Eskimos?“

„Nein, nein. Er macht es mit Schauspielern und Schülern.“

„Was für Schüler?“

„Von der Hauptschule am Wielandweg. Neunte Klasse. Absolut chancenlos! Das Prekariat von morgen! Jeder Schauspieler hat einen Doppelgänger, verstehst du? Die Schüler sind die Doppelgänger und sprechen ihre eigenen Texte. Sie übersetzen die Verse in ihre eigene Sprache. Einige machen Musik.“

„Und was machen die Schauspieler?“

„Die sprechen die Verse. Auf Englisch.“

„Auf Englisch?“

„Ja! Matthiesen meint, dass wir das gar nicht übersetzen können, ohne sofort in die verstaubte Jambenseligkeit eines saturierten Bildungsbürgertums zu verfallen.“

„Was?“

„Hamlet ist jung!“

„Er ist dreißig.“

„Woher willst du das wissen?“

„Steht im Stück.“

„Matthiesen ist dreißig und der ist jung!“

„Was soll denn ein dreißigjähriger Regisseur über Hamlet wissen, was soll denn dieser Anfänger, verzeih, Wesentliches über dieses Stück erzählen?“

„Es muss nicht wesentlich sein.“

„Bitte?“

„Es muss die Leute berühren. Die jungen Leute. Die nächste Generation. Es muss etwas mit ihnen zu tun haben!“

„Jetzt bist du vollkommen verblödet“, sagt Burchard, erhebt sich und macht Anstalten zu gehen. „Ich bin sehr gespannt, was dein Aufsichtsrat dazu sagt.“

„Drohst du mir?“

„Vollkommen verblödet“, wiederholt Burchard und verlässt kopfschüttelnd das Büro, um zu seiner Probe zurückzugehen.

Jakobi schnippt die Zigarette aus dem offenen Fenster, sinnt in den undurchdringlich grauen Winterhimmel hinein und hadert mit sich. Nach einer Weile gibt er sich recht und ruft: „Frau Bruck!“

„Sie haben geraucht“, bemerkt Bruck ärgerlich beim Hereinkommen.

„Eine, bei offenem Fenster!“

„Das ist gegen die gesetzlichen Bestimmungen, Herr Jakobi. Vom Betriebsrat mal ganz zu schweigen.“

„Sie werden mich doch nicht verraten, Frau Bruck!“

„Es ist gegen die Bestimmungen. Es soll in den Büros nicht geraucht werden.“

„Frau Bruck!“

„Da geht es auch um meine Gesundheit!“

„Frau Bruck, verzeihen Sie einem armen Sünder!“

„Na schön, diesmal. Aber Sie müssen damit aufhören. Mir ist es egal, was Sie in Ihren eigenen vier Wänden machen. Da können Sie rauchen, solange Sie wollen. Aber nicht hier. Hier ist es verboten. Sie können auf den Hof gehen.“

„Im Februar!“

„Sie können auf den Hof gehen. Übrigens müssen Sie sich auch vor den Nachbarn – also wenn Ihre Wohnungsnachbarn Sie verklagen, müssten Sie auch zu Hause aufhören.“

„Ich rauche auf der Terrasse!“

„Dann erst recht, da zieht der Rauch herüber, wenn Ihre Nachbarn dann dasitzen, also auf ihrer Terrasse, könnten sie klagen.“

„Aber Sie nicht, Frau Bruck!“

„Was?“

„Sie werden mich nicht wegen der einen Zigarette, der einzigen seit Weihnachten, verklagen!“

„Nein.“

„Ich weiß das zu schätzen, Frau Bruck! Und jetzt rufen Sie bitte bei Müßig an und stellen ihn zu mir durch.“

Dietmar Müßig sitzt in der Redaktion und schreibt unwillig über die Reste römischer Siedlungen in Kobrück. Das Kobrücker Museum für Kunst und Geschichte stellt im Zusammenhang mit einer kürzlich erfolgten Flussbettregulierung der Wimpe, die die Errichtung eines unterirdischen Parkhauses in der Altstadt ermöglichen soll, entdeckte Funde aus, und als einziger Kulturredakteur der „Kobrücker Nachrichten“ ist es Müßigs Aufgabe, die Ausstellung zu besprechen. Da er mit vielen Mitgliedern des Freundeskreises des Museums – wichtigen und einflussreichen Leuten – bekannt ist, sieht er sich gezwungen, eine positive Bewertung vorzunehmen. Dabei verurteilt er das Römische Imperium eigentlich auf das Schärfste. Außerdem hatten ihn die Tonscherben, die Kupferschnallen und Pfeilspitzen irgendwelcher namenloser, plattfüßiger Legionäre unendlich gelangweilt. Zu allem Überfluss hatte er sich schon in einem vielbeachteten Artikel vehement gegen die Regulierung der Wimpe verwendet. Müßig legt auf den Einsatz der „Kobrücker Nachrichten“ für die ökologischen Belange der Region viel Wert und ist stolz darauf. Nicht nur als stellvertretender Chefredakteur. Auch als Mensch. „Manchmal“, schreibt er, „haben auch üble Machenschaften positive Folgen.“

Das Telefon klingelt. Er hebt ab.

„Kannst du reden?“, fragt Jakobi, statt ihn zu grüßen.

„Müßig am Apparat! Wer spricht? So viel Zeit muss sein.“

„Schon gut, schon gut, ich bin’s, Stefan!“

„So viel Zeit muss sein!“

„Also, Stelzers Stunde hat geschlagen. Ich habe mit Fleischmeier telefoniert. In diesen sauren Apfel muss er beißen. Aber davon später. Das Wichtigste: Ich habe es ihm gesagt!“

„Wem hast du was gesagt?“

„Ich habe Herwig, also Burchard, den Hamlet abgesagt!“

„Bravo!“

„Matthiesen macht es!“

„Sehr gut, sehr gut!“

„Aber nicht, dass du ihn mir nachher verreißt!“

„Es wird glänzend. Das weiß ich jetzt schon. Wann ist die Premiere?“

„Saisoneröffnung!“

„In der Kammer?“

„Quatsch! Im Großen Haus!“

„Ausgezeichnet! Du bist ein echtes Schlitzohr.“

„Und im Gegenzug …“

„… Im Gegenzug kritisiere ich den Figaro in Grund und Boden. Also szenisch! Da bleibt kein Auge trocken. Und die Kollegen ziehen mit. Burchard ist fertig!“

„Fein, fein, fein!“

Beide legen auf.

„Dieser Stefan ist wirklich ein Idiot. Glaubt, dass ich Matthiesen protegiere, diesen Anfänger. Den mache ich zur Saisoneröffnung so fertig, dass ihn kein Mensch mehr als Intendanten haben will. Dann bleibe ich als einzig logische Alternative übrig“, denkt Dietmar.

„Dieser Dietmar ist wirklich ein Idiot! Glaubt, dass ich glaube, dass er Matthiesen protegiert. Ich werde sie alle drei los. Matthiesen und Burchard und dich auch, mein Freundchen. Zeit! Dieses Spiel spielt man auf Zeit“, denkt Stefan.

„Was steckt dahinter?“, fragt sich Burchard, der nach der Abendprobe im einzig anständigen Restaurant Kobrücks sitzt, dem „Tavola verde“. Eigentlich ist es zu teuer, um so oft hier zu essen wie er. Vom Wein ganz zu schweigen. Aber der Verkauf einer Miniatur Giuseppe Canonis hatte Burchards leeres Konto kürzlich wieder aufgefüllt. Für ein paar tausend belgische Francs hatte er das Bild vor zwanzig Jahren von einem ahnungslosen Händler erstanden. Achttausend Euro brachte das Stück jetzt – zwanzigtausend war es wert. Aber kein Mensch interessierte sich mehr für die Maler des venezianischen Barocks. Die großen Namen wie Longhi, Guardi, Pittoni und so weiter und so fort, ja, die verkauften sich natürlich. Aber vergessene Meister wie Canoni wurden nur noch von einer Handvoll Sammler geschätzt oder ihre Werke landeten in den Kellern der Museen. Wie auch immer, Burchard braucht das Geld. Fünftausend, um das Minus auszugleichen, und dreitausend zum Verfressen. Er bestellt eine Flasche Sassicaia. Dazu Käse.

Alberto, mit der ganzen Stadt auf Du und Du, kommt mit der Bestellung. Burchard, der in Rom aufgewachsen ist, spricht mit ihm wie immer italienisch. „Ich habe eine Karte für die Premiere, Herwig, also streng dich an. Ich liebe den Figaro. Mozart ist zwar nicht Verdi, aber immerhin!“

„Verdi macht Rummelplatzmusik!“

Alberto lacht: „Von wegen!“ Er schenkt Herwig den dekantierten Wein ein. Beide schauen sie andächtig in das tiefe Rot, das sich ölig im Glas verteilt.

Herwig kostet. „Der braucht noch ein bisschen Luft.“

Er denkt an die kleine pastellfarbene Schönheit, die er verkauft hat und die vor über dreihundert Jahren mit neckisch-schüchternem Blick Canoni zugelächelt hatte. Wer sie wohl gewesen war? Und wen sie nun wohl anschauen wird? Die kleine venezianische Aristokratin. Vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Canoni war 1704 in Venedig eingetroffen und in die Werkstatt von Antonio Marchese aufgenommen worden. Wer hatte das Porträt dort in Auftrag gegeben? Burchard trinkt einen Schluck. Das Blut des Bildes trinkt er.

Warum hatte man ihm den Hamlet weggenommen?

Burchard zieht ein schmales, zerknicktes Buch aus seiner Jackentasche, das er antiquarisch erstanden hat: „Shakespeare und Kopernikus – ein Dialog“. Es ist 1962 erschienen und hat nur eine Auflage erlebt. Er fühlt sich in diesem Augenblick, in all dem Trubel um sich herum, wie der letzte Mensch auf der Welt, den so etwas überhaupt noch interessiert. Er schlägt das Buch auf und liest, schaut dabei aber immer wieder über den Rand seiner Brille.

Das Restaurant ist fast voll. Weiter hinten im Gastraum nimmt eben eine Gruppe Platz. Er erkennt den Kulturdezernenten Fleischmeier. Neben ihm sitzt Rosa Anninger, Fleischmeiers persönliche Referentin. Der Ballettchef des Theaters, Daniel Stelzer, ist auch dabei. Er winkt zu ihm herüber. Burchard hebt müde die Hand. „Was wird denn da wieder geklüngelt?“, fragt er sich. Neben Stelzer sitzt dessen Ehemann, der rührige Galerist Hugo Puchinger. Die Hochzeit der beiden war im Theater gefeiert worden, Stelzer hatte einen weißen Smoking getragen und der sehr männliche Puchinger mit seinem Rauschebart war klassisch im Cut erschienen. „Daniel ist die Braut“, hatte Burchard den Eindruck gewinnen müssen. Und so war es wohl auch von Stelzer beabsichtigt. Liebevoll hatte er das ganze Fest gestaltet, und zwar wesentlich erfolgreicher als seine Tanzabende. Es war eine Märchenhochzeit gewesen. Mit Kutsche und blumenstreuenden Kindern. Die Gäste weinten vor Rührung. Alles war etwas zu rosa, zu süß, zu schön, doch mit dieser fast ironischen Kopie bürgerlichster Konvention gelang es Stelzer, ebendiese längst entleerten Rituale wieder mit Leben zu erfüllen, hatte Burchard gedacht. Die Ehe schien plötzlich wieder Sinn zu machen. Auch dadurch, dass endlich solche sie eingehen konnten, denen sie bislang verwehrt war und die die Zeremonie mit rührender Ernsthaftigkeit sich zu eigen machten, während die, denen es von jeher gestattet war, gerne behaupteten, sie gingen den „Bund fürs Leben“ nur wegen der Steuer ein, und in Jeans vor dem Standesamt erschienen. Stelzers Inszenierung erinnerte ihn an die Methode Shakespeares, aus der lustvoll subversiven Abweichung die „Ordnung“ erst recht zu manifestieren. Shakespeare war restaurativ! Könnte man das wohl noch öffentlich sagen? Burchard beugt sich wieder über sein Buch. Während er liest, taucht er Weißbrotscheiben in das Olivenöl, verschlingt gedankenverloren den Gorgonzola und trinkt.

Alberto bringt irgendwann ungefragt einen Espresso und räumt die leeren Teller ab. Burchard hat gar nicht gemerkt, wie schnell er gegessen hat, wie unaufmerksam.

Warum hatten sie ihm den Hamlet weggenommen?

Daniel Stelzer erhebt sich und kommt in seine Richtung. Will er auf die Toilette? Hoffentlich! … Nein! Er kommt breit grinsend auf ihn zu.

„Was sitzt du denn hier so mutterseelenallein?“ Er küsst Burchard herzlich auf beide Wangen. „Das sieht ja tragisch aus!“

„Ich bin dem Käse hier verfallen“, sagt Burchard.

„Na, und dem Vino auch – das Fläschchen ist ja schon leer!“, lacht Stelzer und weist auf die Karaffe. „Ein Krügelein in Ehren sollst du mir nicht verwehren!“, singt er. „Ich setz mich mal ein Sekündchen zu dir! Das ist dermaßen anstrengend da drüben! Dieser Fleischmeier ist eine solche Krätze. Ich sitze da und feilsche mit dem um jeden Euro!“

Burchard interessiert sich nicht für Ballett. „Im Grunde verstehe ich überhaupt nicht, um was es da geht“, denkt er, während Stelzer über Fleischmeier herzieht. Aber die Tänzer imponieren ihm: Sie sind zweifellos die fleißigsten Künstler im Haus und die am schlechtesten bezahlten. Wie die meisten Sänger auch, kommen sie fast alle aus Osteuropa. Die Subventionen für das Stadttheater Kobrück sind bescheiden und der ehrgeizige Jakobi braucht billige Arbeitskräfte. „Wirtschaft, Horatio, Wirtschaft!“ Dabei weht vor dem Haus eine Fahne, auf der das Wort „Gerechtigkeit“ geschrieben steht. Im Jahr zuvor war es das Wort „Friede“ gewesen und nächstes Jahr soll es das Wort „Toleranz“ werden. Die Mainzer Grafiker hatten sich das ausgedacht. „Ekelhafte Heuchelei“, denkt Burchard jetzt und sagt dann laut: „Ekelhaft.“

„Ekelhaft? Wieso ekelhaft?“, fragt ihn Stelzer entgeistert.

„Nichts. Fleischmeier. Das Geld.“

„So, jetzt bin ich aber schon verdächtig lange weggeblieben. Ich gehe wieder rüber“, sagt Stelzer, sich zu seinem Tisch umwendend. „Weißt du was? Komm mit, ärgere den Kerl etwas für mich.“ Er zieht Burchard mit behänder Kraft vom Stuhl, und ehe der sich wehren kann, hat Stelzer sich bei ihm untergehakt und führt ihn in Richtung Fleischmeier.

Burchard sieht sich nach seinem Wein um. Die Karaffe ist tatsächlich leer. „Ich bin betrunken“, denkt er sich. „Wenig reden! Ich darf nicht zu viel reden.“

Fleischmeier erhebt sich und gibt ihm die Hand. „Ei, ei! Der Herr Burchard ist auch ein Feinschmecker“, begrüßt er ihn. „Darf ich vorstellen?“, er weist auf Rosa Anninger. „Frau Anninger, meine Referentin. Mein bestes Pferd im Stall!“

„Na, das ist aber nicht sehr schmeichelhaft. Ein Pferd!“, lacht Anninger laut, während sie Fleischmeier errötend ansieht.

„Rennpferd, Rennpferd!“, übertrifft sich Fleischmeier.

Puchinger winkt Burchard lässig zu und sagt: „Grüß dich.“ Daniel setzt sich neben ihn, dann isst Puchinger weiter.

„Setzen Sie sich doch, bitte. Platz ist in der kleinsten Hütte“, charmiert Fleischmeier. Vom Nachbartisch erbittet er einen Stuhl und trägt ihn eigenhändig herüber. „Für unseren großen Meister!“ Burchard nimmt zwischen den Paaren Platz. Anningers Knie weicht er aus. „Ja also, was macht die Kunst?“, strahlt Fleischmeier.

„Die Kunst geht nach Brot!“, erwidert Burchard.

„Was soll das heißen?“

„Lessing. Emilia Galotti. Der Maler Conti kommt zum Prinzen von Guastalla, der ihm einen Auftrag gegeben hat und ihn zur Begrüßung fragt: ‚Was macht die Kunst?‘ Und der Maler antwortet: ‚Die Kunst geht nach Brot!‘“

Stelzer lacht schallend. „Sehr gut! Sehr gut, Herwig!“

„Darauf antwortet der Prinz, Hettore heißt er: ‚Das muss sie nicht, das soll sie nicht – in meinem kleinen Gebiete gewiss nicht!‘“

Fleischmeier lacht nun ebenfalls. „Ja, ja, schön gesagt, aber dieser Hettore ist eben der reiche Prinz von Dingsbums und ich bin nur ein armer Dezernent. Ich kann nicht nach Gutdünken Aufträge verteilen. Ich muss mich immer parlamentarisch verantworten und in den verschiedensten Kommissionen betteln gehen.“

„Die Monarchie hatte auch ihre guten Seiten“, bemerkt Puchinger, den Mund voller Nudeln und mit Sauce am Bart.

„Aber Herr Puchinger, wirklich!“, mault Rosa Anninger. „Das geht doch zu weit. Sie sind doch selber Geschäftsmann, Sie wissen doch, was das ist: Soll und Haben.“

„Als Hoflieferant hätte ich weniger Sorgen“, erwidert Puchinger grinsend, während Daniel ihm mit der Serviette die Tomatenreste vom Kinn wischt.

„Um was geht es denn?“, fragt Burchard.

„Sie wollen Daniel so mehr oder weniger abschaffen!“

„Herr Puchinger. Also! Da müssen Sie aber mal auf dem Teppich bleiben“, sagt Anninger. „Wir haben uns an die Kulturentwicklungspläne zu halten, und die sind im Zuge der kommunalen Selbstverwaltung, in Absprache mit dem Landtag natürlich …“

„… und der Partei“, ergänzt Puchinger.

„… im Rathaus beschlossen worden.“

„Lieber Herr Puchinger, lieber Herr Stelzer, lieber Herr Burchard“, sagt Fleischmeier feierlich. „Den Kommunen geht es dreckig. Miserabel! Kobrück kämpft buchstäblich um das nackte Überleben. Sehen Sie mich an, nehmen Sie nur meinen, vergleichsweise unkomplizierten Bereich. Ich bin für die Kultur, für die Erziehung und den Sport zuständig. Ja, was glauben Sie denn, was da für Gelder erwartet werden? Das Hallenbad soll renoviert werden, sonst können wir es nächsten Winter dichtmachen. Das Freibad werden wir im Sommer womöglich gar nicht mehr aufsperren. Die öffentliche Bibliothek, die gut, ich darf sagen, sehr gut angenommen wird, braucht mehr Personal. Die Schulen müssen moderner ausgestattet werden. Das summiert und läppert sich. Und jetzt denken Sie an die Polizei, die Krankenhäuser und Kindergärten. Denken Sie an all die Aufgaben der öffentlichen Hand. Und jetzt die Flüchtlinge. Da sage ich: Das schaffen wir nicht!“

„Das Stadttheater erhält zwölf Millionen Euro im Jahr. Stellen Sie sich das doch mal vor! Die Subvention pro Karte liegt bei hundertfünfzehn Euro. Pro Karte! Ich bitte Sie. Die Theaterfinanzierung darf doch den Steuerzahler nicht unzumutbar belasten! Und das sage ich als Linke“, stößt Anninger bleich hervor. „Das Theater muss halt damit leben, wenn dann einmal, nach Jahren der Erhöhung, wo es nur Erhöhungen und nichts als Erhöhungen gegeben hat, wenn da einmal die Schnur durch ist und man halt aus Interesse für die Gesamtgesellschaft und aus ökonomischer Vernunft heraus sagen muss …“

„Das Theater ist aber auf ökonomische Unvernunft angewiesen! Das macht sogar einen nicht unwesentlichen Teil seines Zaubers aus“, unterbricht Burchard.

Alberto bringt eine Flasche Grappa ohne Etikett und Gläser, stellt sie auf den Tisch und schenkt ein. „Friede auf Erden!“, sagt er. „Von der Nonna selbst gebrannt.“

Das ist natürlich eine folkloristische Lüge. „Truffatore!“, sagt deshalb Burchard leise zu ihm, Alberto lacht.

Fleischmeier schüttelt den Kopf. „Also, lieber Herr Burchard, da muss ich aber wirklich protestieren, das grenzt ja an Zynismus!“

„Sie haben doch keine Ahnung, Herr Fleischmeier“, sagt Burchard und leert das Glas mit einem Schluck. „Die Kunst entzieht sich, gewissermaßen per Definition, merkantilen und anderen Nützlichkeitserwägungen. Sie ist deshalb aber nicht unnütz. Der immaterielle Nutzen der Kunst steht nur vorsätzlich in keinem Verhältnis zu seinen Kosten. Und das ist gut so. Jedenfalls solange eine Gesellschaft diese Umwertung des Geldes als konstituierend für sich begreift … na ja … oder wenigstens zu begreifen vorgibt.“ Er hat sich den zweiten Grappa eingeschenkt, trinkt, stößt auf und fährt mit lauter werdender Stimme fort: „Das Verständnis dieser Umwidmung und Verwandlung des Geldes als einer vom Uneigentlichen zum Eigentlichen – oder einfacher ausgedrückt: vom Mittel zum Zweck – ist keine überraschende Einsicht Ihrer vernagelten Parteigenossen, sondern verdankt sich einem viel älteren Bekenntnis der Gesellschaft zu einer geistigen Welt, die den vorläufigen Blödsinn der Gegenwart einer, wie soll ich sagen, ewigen oder idealen Sphäre unterordnet.“

„Nur wird sich diese ‚ideale Sphäre‘ trotzdem fragen lassen müssen, welchen Nutzen sie bringt! Finanziell und gesellschaftlich! Das wird man ja auch einmal evaluieren dürfen“, pariert Fleischmeier und schenkt Burchard ein weiteres Glas Grappa ein.

„Evaluieren Sie doch Ihre dämlichen Schwimmbäder!“, sagt Burchard lachend und trinkt. „Ihr Parteigenosse, der saubere Herr Müßig, nennt die Theaterbesucher in seinem Käseblatt diffamierend ‚Bildungsbürgertum‘! Blödsinniges, vorgestriges, linkes Gefasel! Diese sogenannten ‚Bildungsbürger‘ sind eine höchst kostbare, weil aussterbende Spezies, auf die ein demokratischer Staat mehr angewiesen ist als auf irgendwelche Badehosenbesitzer. Sonst wird die Gesellschaft durch die Verrohung einer unter eurer Obhut zum Konsumpöbel verwahrlosten Bevölkerung vor die Hunde gehen.“

„Nicht so laut!“ Stelzer fasst ihn beim Arm. „Wir haben es ja verstanden.“

„Also kurzum und bevor ich das Pissoir aufsuche: Es ist Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, uns zu erhalten, egal was es kostet, Sie Blödmann!“ Die Gäste blicken zu dem inzwischen am Tisch stehenden und etwas schwankenden Burchard herüber, der jetzt in Richtung Toilette aufbricht und dabei noch „Freibäder! So ein Unsinn!“ ruft.

Am Tisch herrscht betretene Stille.

„Du lieber Gott, was war das denn?“, lacht Rosa Anninger heraus. „Ja also, Herr Stelzer. Wir haben Sie einfach informieren wollen, dass die Sparte Ballett keine ewige Garantie für ihr Überleben am Stadttheater hat. Aber letztlich müssen Sie sich das, wie gesagt, mit Herrn Jakobi ausknobeln. Sicher ist, dass das Stadttheater insgesamt dreihundertfünfzigtausend Euro einsparen muss!“ Fleischmeier steht auf und Anninger folgt seinem Beispiel. „Da beißt die Maus keinen Faden ab. Dass wir im Aufsichtsrat aus wirtschaftlichen Gründen sagen müssen, schaut’s euch die Auslastung an, schaut’s euch die Einnahmen an, ist doch wohl klar. Rauft’s euch zusammen! Aber die Zahlen sprechen für uns eine deutliche Sprache. Da steht das Ballett schlecht, also ganz, ganz schlecht da“, sagt Anninger, während sie Stelzer und seinem Gatten die Hand reicht. Dann gehen beide, mit einem Gruß an Alberto, hinaus.

„Die ficken jetzt“, sagt Puchinger.

„Die haben nicht gezahlt“, ergänzt Stelzer.

Burchard kehrt an den Tisch zurück.

„Vielen Dank für die großartige Hilfe“, sagt Puchinger. „Das war ja eine taktische Meisterleistung!“

„Warum warst du denn so aggressiv?“, jammert Stelzer.

„Ich und aggressiv? Warum produzierst du immer wieder die gleichen, fürchterlichen Abende! Dieser getanzte Geschlechterkampf! Frauen mit grauen Reformkleidern und Männer in langen Unterhosen, die sich gegenseitig unterwerfen. Und die Musik spielt dabei überhaupt keine Rolle. Ob Kurtag oder Bach, das Ensemble ringt miteinander! Das nenne ich Aggression! Die Titel sind schon so dämlich: Rotten hopes oder Don’t forget me! oder Scientia sexualis oder Vulgär + 1. Was in Gottes Namen soll das heißen? In Kobrück? Du kunstgewerblicher Schwachkopf!“

Stelzer ist aufgelöst. „Komm, Schatz, das müssen wir uns wirklich nicht länger anhören!“, sagt Puchinger.

Burchard lacht: „Nein, wirklich nicht! Wirklich nicht!“

Stelzer und Puchinger verlassen das Restaurant. Alberto nähert sich besorgt dem trinkenden Burchard, der, ohne ihn anzusehen, mit schwerer Hand abwinkt. Geistesabwesend starrt er ins Leere. Immer wieder und wieder denkt er: „Warum haben sie mir den Hamlet weggenommen?“

Es wird dreiundzwanzig Uhr, vierundzwanzig Uhr, ein Uhr. Er trinkt nun Wasser und Espresso. Alberto hat ihm die zu drei Vierteln geleerte Flasche Grappa wieder weggenommen. „Genug ist genug, sonst bist du morgen auf mich böse!“

Burchard kritzelt mit seinem Füllfederhalter Skizzen auf das Papiertischtuch, umrandet Fettflecken, steckt seinen Finger in den Kaffee und malt damit Gouachen. Er entwirft das erste Bild des ersten Aktes. Die Befestigungsanlagen des Schlosses Helsingör, in Nebelschwaden aus Espresso und Spucke gehüllt. Er zeichnet einen ältlichen, ängstlichen Bernardo im Helm und einen jungen, lockenköpfigen Marcello. Er zeichnet Horatio, einen dicklichen Intellektuellen, mit dem Diplomatengesicht des einsamen Schnorrers. Er zeichnet den Geist von Hamlets Vater in einer Rüstung aus Schlamm. Und er zeichnet Hamlet. Lange schwarze Haare, schmales Gesicht, hohe Stirn, ein Anflug von Bart.

Immer noch sind Gäste da, es ist laut geworden, man hat getrunken. Plötzlich ein kalter Luftzug von der Türe her. Burchard blickt auf, Jakobi kommt herein, hinter ihm Matthiesen und eine junge Frau. Matthiesen legt einen Arm um sie. Jakobi sieht sich nach einem geeigneten Tisch um. Matthiesen bemerkt Burchard zuerst, Jakobi folgt seinem Blick, bestürzt schauen beide ihn an, unschlüssig, was nun zu tun sei. Jakobi setzt ein Lächeln auf und steuert, mit den jungen Leuten hinter sich, Burchards Tisch an.

„Wenn man vom Teufel spricht, was?“, begrüßt ihn Herwig.

„Wie meinst du?“, fragt Jakobi begriffsstutzig. „Ach so! Nein. Ja. Ich war bis eben im Büro. Was machst du denn hier so allein?“

„Ich male so vor mich hin“, sagt Burchard und hebt den Füllfederhalter. Alle drei sehen das riesige und etwas unheimliche Kunstwerk auf dem Tischtuch an.

„Das ist echt gut!“, meint Matthiesen.

„Schau mal, Martin, das bist ja du!“, sagt die junge Frau und deutet auf den Hamlet.

„Nein“, sagt Burchard. „Das ist Hamlet. Ihr Freund wird das Stück zwar inszenieren, aber ein echter Prinz ist er deshalb noch lange nicht. Nur ein Kronprinz!“

„’tschuldigung“, sagt Matthiesen, der diese Unverschämtheit geflissentlich überhört. „Darf ich vorstellen? Leonie, das ist Herwig Burchard. Herr Burchard, das ist Leonie Roussel.“

Leonie wird rot. Offensichtlich kennt sie den Sachverhalt. „Guten Abend. Beziehungsweise guten Morgen.“

Herwig erhebt sich mit verspäteter Höflichkeit aus dem Stuhl. Er schaut der jungen Frau direkt in die Augen und fühlt sich betrunken. „Wie war Ihr Nachname?“

„Roussel!“

„Hugenottisch.“

„Ja!“

„Sie sind Schauspielerin, oder? Ich erinnere mich. Ich habe eine Lobeshymne auf Sie gelesen. Ich glaube, im ‚Frankfurter Boten‘. Was war das noch? Marie im Woyzeck?“

Jakobi mischt sich ein. „Nicht nur am Theater. Beim Film vor allem. Frau Roussel ist in Deutschland ein Star, ein echter Star!“

„Ein echter Star!“, echot Burchard ironisch und hat Leonies Hand immer noch nicht losgelassen. „In Deutschland gibt es keine Stars mehr. Es gibt nur ‚Promis‘. Grauenvoll. Sie sehen nicht aus wie ein Promi! Oder wollen Sie ein Promi werden?“

„Nein.“

„Gut.“ Er lässt ihre Hand los und wendet sich den Männern zu. „Wollt ihr euch setzen?“

„Du, äh, nein. Danke. Wirklich sehr freundlich von dir! Wir zwei müssen noch ein bisschen reden! Nicht nur deswegen, nein, auch wegen der Kammer. Finanzierung und so weiter.“

„Habe ich schon gehört. Fleischmeier legt die Heckenschere an!“

„Ach so?“, fragt Jakobi alarmiert. „Hast du mit ihm gesprochen? Wann denn?“

„Eben grad. Was für ein Blödmann!“

„Sei bitte leise, da drüben sitzt ein Mitarbeiter von ihm. Wenn der das hört, weiß es Fleischmeier in einer Stunde.“

„Der weiß es schon seit drei Stunden, und zwar von mir persönlich!“

„Oh Gott, oh Gott!“, stöhnt Jakobi.

„Also, dann redet mal miteinander!“, sagt Burchard und wendet sich wieder seinen Zeichnungen zu. „Schönen Abend noch allerseits!“

„Darf ich mich zu Ihnen setzen, Herr Burchard?“, hört er Leonie hinter sich fragen. „Ich glaube, die zwei reden besser ohne mich.“

„Nur zu!“, sagt Burchard, ohne sich umzuwenden. „Herr Matthiesen, haben Sie Ihre Berliner Trophäe denn schon genügend präsentiert? Wäre doch schade drum, wenn sie hier neben mir ungesehen versauert. Jakobi ist schon ganz hin und weg. Und da drüben sitzt Fleischmeiers Nachfolger! Ihre Generation! Den können Sie womöglich mächtig beeindrucken.“

Matthiesen braucht einen Moment, um zu reagieren, dann fasst er Burchard an der Schulter und reißt ihn herum. „Wie war das?“, sagt er sehr leise. „Was haben Sie gerade gesagt?“

„Berliner Trophäe! Und was nun? Hauen Sie mich jetzt?“

Matthiesen ist bleich. „Ich glaube, ja!“

„Das will ich aber auch schwer hoffen. Ihre berühmte Freundin hat schon ganz runde Augen. Also los! Ich schlage nicht zurück. Beweisen Sie sich als tapferer Ehrenretter.“

„Hört auf, was soll denn dieser Mist!“, sagt Leonie und zieht an Martins Händen, die sich an Burchards Revers gekrallt haben. „Er ist betrunken, Martin, lass ihn doch! Man schlägt keine Schwächeren!“

„Das war beleidigend!“, lacht Burchard. „Jakobi, los, hau sie!“

Dann geschieht etwas Merkwürdiges: Leonie lacht. Lacht herzlich mit Burchard. Beide wollen gar nicht aufhören zu lachen. Jakobi sieht hochrot zu. Martin bleich.

„Hör auf zu schwitzen, Jakobi!“, befiehlt Burchard herrisch. Wieder lachen die beiden unsinnig. Als sie sich beruhigt haben, sitzt Leonie Burchard gegenüber. „Nun geht schon und redet!“, sagt sie.

„Okay“, sagt Martin. „Es dauert nicht lang.“ Dann verschwindet er mit Jakobi in dem angrenzenden Raum.

„Wollen Sie mich unterhalten oder ich Sie?“, fragt Burchard.

„Sie mich!“

Burchard sieht Leonie an. Dunkles Haar, schmales, altmodisches Gesicht und rotzfreche Augen. „Canoni hätte Sie gemalt!“, sagt er.

„Der ist schon seit über zweihundertfünfzig Jahren tot.“

„Was, Sie kennen Canoni?“, fragt Burchard, ehrlich erstaunt.

„Nein, war nur ein Bluff. Aber Sie können mich ja malen.“

„Kommt nicht in Frage“, sagt Burchard, „ich starre keine fremden Frauen an. Wir können ‚Stadt, Land, Fluss‘ spielen, solange die Erwachsenen da hinten miteinander reden.“ Er dreht das Papiertischtuch um und zerreißt es sorgfältig in zwei Hälften. Die eine reicht er Leonie.

„Ich habe keinen Stift.“

Er zieht einen Bleistift aus der Tasche. „Also, machen Sie die Einteilung.“

„Stadt, Land, Fluss, Beruf, Tier, Maler, Komponist, Dichter. Das reicht!“

Beide sitzen sie nun da, versunken darin, Linien auf das Papier zu zeichnen. Burchard sieht auf ihre schönen, von Adern durchzogenen Hände, die älter scheinen als sie selbst.

„Fertig?“, fragt er.

„Fertig!“

Und dann spielen sie sehr ernsthaft bis um halb drei. Martin Matthiesen erscheint mit unfrohem, verlegenem Gesicht am Tisch, hinter ihm Jakobi, der sich dauernd umdreht, als würde er verfolgt.

„Wir sind so weit“, sagt Martin.

„Moment“, erwidert Leonie. „Wir müssen noch die Punkte zählen.“ Beide addieren, aufreizend langsam, während Jakobi und Matthiesen schweigend dabeistehen. „Ich habe vierhundertzwanzig. Und Sie?“, sagt Leonie schließlich.

„Dreihundertachtzig. Gratuliere. Sie sind wirklich, wirklich, wirklich sehr gut.“

Leonie steht auf und gibt ihm die Hand. „Sie auch. Wirklich!“

Alle drei gehen. Einige Augenblicke später kommt Alberto entrüstet zu ihm. „Die haben nicht gezahlt! Fleischmeier auch nicht! Und dein Freund, der Tänzer, auch nicht! Was ist denn heute los?“

„Übernehme ich“, sagt Burchard.

„Das sind zusammen, warte, nein, komm, das solltest du nicht!“

„Wie viel?“

„Fünfhunderteinundfünfzig Euro!“

„Meine Glückszahl ab heute!“

2. Kapitel

Um halb neun am Morgen wacht er auf: auf dem Sofa, noch im Mantel, nur die Schuhe hatte er beim Nachhauskommen offensichtlich abgestreift. Er verbietet sich selbst irgendeinen Kommentar. „Aufstehen. Weitermachen!“, denkt er und erhebt sich vorsichtig, die Glieder steif und mit schwerem Kopf. Er zieht sich aus, legt die zerknitterten Kleider sorgfältig über den Stuhl in seinem Schlafzimmer, schlurft ins Badezimmer, schaut kurz in den Spiegel, betrachtet sich, schüttelt angewidert den Kopf und steigt in die Dusche. Um Viertel nach neun erscheint er in halbwegs annehmbarem Zustand, rasiert, parfümiert und angekleidet, in der winzigen Küche, in der er sich wie ein Riese in einem Zwergenhaushalt fühlt. Auf dem Küchentisch liegt zusammengefaltet das bemalte Tischtuch, sein geplündertes Portemonnaie, die Haustürschlüssel, sein Füllfederhalter, die Brille. „Wenn ich tot bin, wird so ein Häufchen in irgendeiner Asservatenkammer liegen“, denkt er. Er ist überzeugt davon, dass er in der Öffentlichkeit sterben wird. In einer Bahnhofshalle oder im Theater. Er hat einen Mann auf der Straße sterben sehen, in Rom, auf der Via del Tritone. Der ältere Herr war vor ihm gegangen und plötzlich zusammengebrochen. Herwig hatte sich zu ihm gekniet, während die Passanten den Notarzt alarmierten. Kalter Schweiß bedeckte die bleiche Greisenstirn, die Augen waren verdreht und nach einem lang gezogenen Stöhnen hatte er aufgehört zu atmen. Als die Sanitäter den Leichnam abgedeckt hatten, ragte unter dem Tuch noch ein Fuß hervor. Aus irgendeinem Grund hatte er einen Schuh verloren und man sah den grau-grün gestreiften Socken, aus dem ein nackter, gelblicher Zeh herauslugte. Es war ein Bild größter Vereinsamung und Entwürdigung. Seither achtet Herwig pedantisch auf seine Unterwäsche und überhaupt auf seine Kleider.

Er macht sich einen Kaffee und betrachtet die beiden Hälften des bekritzelten Papiertischtuchs. Leonies Schrift ähnelt seiner. Beide jagen in lebhaften Aufwärts- und Abwärtsschwüngen in schräg nach rechts geneigtem Winkel übers Papier. „Erstaunlich für eine junge Frau“, denkt er. Während er den Kaffee trinkt, geht er ihre „Stadt, Land, Fluss“-Liste durch. Am unteren Rand des Blattes, unter die Addition ihrer Punkte, hatte sie, sehr klein geschrieben, etwas notiert. Herwig muss die Brille holen, um es zu lesen, und kann es trotzdem nicht entziffern. Nach einigen Versuchen begreift er, dass es sich um eine List handelt. Er läuft ins Badezimmer und hält das Papier vor den Spiegel. Deutlich lesbar steht dort: „Schlau von Ihnen! Übrigens, wenn Sie Ihren Stift wiederhaben wollen, rufen Sie mich an. Wenn Sie meine Nummer rausfinden. Geben Sie sich mal Mühe. L. R.“

Was ist denn das? Er lacht und erschrickt zugleich. Flirtet sie mit ihm? Nein. Dazu ist sie zu jung und zu schön und Matthiesen ist ein zu intelligenter, gutaussehender, vielversprechender junger Mann. Nein. Vielleicht wollte sie ihn nur ein wenig auf die Schippe nehmen. Vielleicht hat sie sich doch über ihn geärgert, über das Wort „Berliner Trophäe“, und dies soll der Anfang einer sehr subtilen Form der Rache werden. Vielleicht war es auch einfach nur Übermut. Sie bringt ihn damit jedenfalls in die schwächere Position: „Weil sie damit rechnet, dass ich es als eine zärtliche Aufforderung begreife, in meiner verblendeten Eitelkeit“, überlegt Burchard. Vielleicht war es aber auch nur eine Wette mit sich selbst. „Sie konnte nicht davon ausgehen, dass ich das Tischtuch mitnehme. Sie konnte nicht davon ausgehen, dass ich es durchlese. Und dass ich die Spiegelschrift entdecken würde, in all dem Geschmiere. Die junge Dame ist sehr machtbewusst. Sie beweist mir, dass sie mich durchschaut hat, vorausgesetzt, dass alles so eintrifft, wie sie es sich vorstellt: dass ich das Papiertischtuch sorgfältig falte und mitnehme und dass ich es sorgsam entziffere und mich entwürdigenderweise damit vor meinen Badezimmerspiegel stelle und mich über das Entdeckte freue, weil sie mir gefallen hat! Und das alles ohne das geringste Risiko für sich selbst: Hätte ich das Papier im Restaurant gelassen, hätte sie zwar unrecht gehabt, aber ich hätte es nie erfahren“, denkt er. „Nein, junge Dame, ich werde dich nicht anrufen“, sagt er laut.

Das Telefon klingelt. „Bruck hier. Herr Burchard, wo bleiben Sie denn? Die Bühnenorchesterprobe läuft seit zehn Uhr!“

„Was? Ich denke, die fängt um elf Uhr an!“, lügt Burchard.

„Lesen Sie doch endlich mal die Probenpläne. Sehen Sie in Ihren Mails nach!“, sagt Bruck streng.

„Ich habe keinen Computer, Frau Bruck, das wissen Sie doch!“

„Dann schaffen Sie sich einen an. Wir befinden uns im 21. Jahrhundert. Man ist nicht so jung, wie man sich fühlt, Herr Burchard. Nicht einmal Sie. Wiederhören.“

Zum ersten Mal seit Ewigkeiten kommt er zu spät zur Probe. Und daran ist diese Madame Roussel schuld. Hat sie es also doch schon erreicht, hat sie sich doch schon merkbar in sein Leben eingeschmuggelt.