Cover

Christoph W. Bauer

Niemandskinder

Roman

People are not who or where we think they are.
And there is someone who watches
from an unknown location.

Michael Ondaatje

1.

Es war die Zeit der Zukunftsgespräche, als es zwischen Samira und mir zu immer lauteren Missverständnissen kam. Jeden Abend wartete ich auf sie unter der orangefarbenen Markise der Brasserie, blickte hinüber zur Boutique und überlegte mir Rechtfertigungen. Doch ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte, ob ich vormittags schreibend im Café Tournon saß oder nachmittags im Old Navy, ob ich auf dem Friedhof Père-Lachaise über Verse nachsann und sie im Jardin des Tuileries zu Papier brachte, ich wurde vor mir selbst zum Hochstapler, als hätte ich mich einquartiert in einem Turm ohne Fenster, ein Narr.

Als solchen bezeichnete mich Samira nicht, sie fand Steigerungsformen, ein Schöngeist sei ich, ein Bonvivant, bald schimpfte sie mich einen Wirklichkeitsverweigerer, zuletzt nur noch einen faulen Sack. Konnte ich bei unserem Kennenlernen vielleicht ein wenig Eindruck schinden mit meinem Tun, so wurde es mir nun zum Vorwurf: Dichten, das hieß für sie, Zeit mit schleierhaften Worten totschlagen, Gedichte waren Kinderkram oder etwas für Pickelgesichter, die sich über ihre Gefühle nicht klar wurden. Ich sei ein Wolkenkuckucksheimer, der von der Hand in den Mund lebe und der selbstgefällig darüber hinwegsehe, dass diese Hand am Arm des Bildungsbürgertums hänge, diese abgehobenen Kreise, die es sich leisten konnten, zu behaupten, Kunst gehöre zum Dasein und steigere dessen Qualität. Wie ich mir denn eine gemeinsame Zukunft vorstelle, wie den Umzug in eine größere Wohnung, wie die Gründung einer Familie?

Nach Familiengründung war mir nicht, Samira wusste es, offenbar hörte sie von meinen Argumenten nur jene, die ihre Ansichten bestätigten, so wie ich von ihr allein vernehmen wollte, was in meinen Kram passte, ihren Kinderwunsch hatte sie mehrmals geäußert. Mag auch sein, der Altersunterschied spielte eine Rolle, sie war fünf Jahre jünger als ich, 1978 geboren. In erster Linie aber verteidigte ich mich viel zu halbherzig, stimmte ihr in Gedanken zu, behauptete in Worten indes das Gegenteil, Samira schien meine Verunsicherung zu spüren, bezog sie jedoch auf meine Liebe zu ihr, wir redeten aneinander vorbei. Wurde sie emotional, wechselte sie zudem in eine Sprache, von der ich lediglich wusste, dass sie in den Vorstädten gewachsen war, eine Spielsprache, bei der die Silben umgekehrt werden, sie stieg morgens in die tromé, während ich die Métro nahm, ich verstand bald gar nichts mehr.

Wir saßen in der Küche ihrer kleinen Wohnung, in der es zu jeder Tageszeit künstlicher Lichtquellen bedurfte, die Wände gelb und speckig glänzend, links der Tür hingen zum Zopf geflochtene Knoblauchknollen, über der Tür eine Uhr, die nicht mehr funktionierte, an der Tür drei Kleiderhaken, von denen einer immer wieder herausriss. An ein buntes Obstnetz erinnere ich mich, gleich neben dem mit Stickern und Fotos übersäten Kühlschrank, dessen Brummen und Gurgeln unsere Gespräche begleitete. Und ein Holzregal habe ich vor Augen, gefüllt mit Gewürzen, Tee, Kaffee, einer Dose Kakao der Marke Banania.

Damals wusste ich nichts von der langen Tradition dieser Marke, die anfänglich mit dem Bild eines breit grinsenden und zum großen Kind stilisierten senegalesischen Soldaten vermarktet wurde. Das Design der Kakaomarke hat sich verändert, die strahlend weißen Zahnreihen sind geblieben, und das alte Motiv ist auf Postkarten, Geschirr, Blechbüchsen und ähnlichen Souvenirs noch heute in Frankreich zu kaufen.

Wer Samiras Wohnung betrat, stand direkt in der Küche, von dort ging es durch einen Kettenvorhang weiter ins Schlafzimmer, durch das ich musste, um in die Toilette oder ins Bad zu gelangen. Das Schlafzimmer gerade einmal groß genug, dass ein Doppelbett hineinpasste und ein blauweiß gestreifter Kasten aus Polyester mit Reißverschlusstür. Das Fenster führte zu einem Innenhof, es hatte geschlossen zu sein, wollte man nicht wissen, was die Nachbarn beschäftigte. Das Leben spielte sich vor der Wohnungstür ab, im Stiegenhaus, hier hockten sie rauchend auf den Stufen, tranken Tee, hörten Musik oder zankten sich.

Dann schreib halt einen Roman, wetterte Samira, damit kannst du Geld verdienen.

Zorn packte mich, was sie sagte, erinnerte mich an eine Beamtin, bei der ich wegen eines Aufenthaltsstipendiums in Paris vorstellig geworden war, die Ateliers würden nur an bildende Künstler vergeben, hatte sie gesagt und mir den Vorschlag gemacht: Malen Sie halt ein Bild.

Samira meinte es nicht in dieser Art, doch ich empfand es als Anmaßung ihrerseits, über eine Sache zu sprechen, von der sie noch weniger verstand als ich. Hatte ich mich einst zur theatralischen Behauptung hinreißen lassen, ich sei in Gedichten zuhaus, fühlte ich mich ihnen nun zweifach ausgetrieben.

Ginge es mir in meinem Leben rein ums Geldverdienen, würde ich irgendeine Anstellung annehmen, sagte ich und verfluchte mich für diese Dummheit, noch während ich sie aussprach.

Samira hob leicht das Kinn, stemmte ihre Hände in die Hüften: Ach, irgendeine Anstellung – so wie ich?

Dass ich es nicht so gemeint hätte, sagte ich, diese Du-hast-mich-falsch-verstanden-Sätze machten unsere Sache noch schlimmer.

Du bist schlicht zu faul, sagte sie, du kriegst den Arsch nicht hoch, für dich ist jeder, der Erfolg hat mit seinen Büchern, ein Schreibunternehmer, du misst Qualität an Verkaufszahlen, je weniger desto besser, demzufolge musst du ja der Beste von allen sein.

In unserer Anfangszeit war Literatur nie ein Thema gewesen, und ich schätzte mich glücklich, nicht über etwas sprechen zu müssen, das sich mit wenigen Argumenten entzaubern lässt, wenn man es nicht als ein Spiel mit Möglichkeiten begreift. Samira war keine Vielleserin, sie kannte die gängigsten Romane jener Zeit und einiges war ihr aus der Schulzeit hängen geblieben, aber sie war wissbegierig, um nicht zu sagen, informationssüchtig. Sie studierte Zeitungen und Magazine sprichwörtlich von der ersten bis zur letzten Seite, sie wollte überall mitreden können, oft zum Missfallen von Farah, Rachid und anderen in der Gruppe, die ihr vorwarfen, sie würde lauter furzen wollen, als sie stinken könne.

Und in der Tat höhnte Samira über die Hochzeit irgendwelcher Royals in dem gleichen Enthusiasmus, mit dem sie über Bestseller schwärmte, Benoîte Groult nannte sie, John Grisham, vor dem ihr Antiamerikanismus Halt zu machen schien. Sie verbiss sich in Ideen, scheute nicht brüchiges Eis und die damit verbundene Gefahr zu stürzen, sie ließ nie locker. Und so führte sie nun ständig den Roman ins Feld, einen Roman über uns, sagte sie, einen Roman über die Liebe.

Es ging mir auf die Nerven, wenn sie mit ausladenden Gesten eine Geschichte skizzierte, die ich doch lediglich zu schreiben hätte, so schwierig könne das ja nicht sein, Mann der Worte, nannte sie mich und lachte. Ich wurde ihrer Sätze überdrüssig wie der mühseligen Diskussionen in düsterer und von Rauchschwaden durchzogener Atmosphäre und willigte schließlich ein, es zumindest zu versuchen mit einem Roman.

Sogleich besserte sich ihre Stimmung, und mir wurde dadurch noch elender. Stundenlang saß ich im Tournon und starrte hinüber auf die gegenüberliegende Straßenseite, nichts fiel mir ein außer ein Satz von Joseph Roth: Man verliert eine Heimat nach der anderen.

Aus den Zeitungen grienten mir bekannte Gesichter entgegen, ein Verlierer rief sich zum Sieger aus und stand plötzlich ganz oben auf dem Podest. Täglich Berichte von den Geschehnissen rund um das Kanzleramt in Wien, die alberne Gleichsetzung von Haider und Hitler, die den einen dämonisierte und den anderen zum Bierzeltredner machte, fand in Karikaturen Niederschlag, die österreichische Bevölkerung trat in den Illustrationen in Dirndlkleid, Lederhose und mit Trachtenhut auf. Haider hier, Haider dort, es entstand beinahe der Eindruck, er sei der Kanzler und nicht der andere.

War das Interesse an Österreich bis dahin kaum ausgeprägt, wurde das Land der Walzerklänge und Mozartkugeln jetzt zu einem der nazistischen Umtriebe und in den französischen Medien von seiner braunen Vergangenheit eingeholt. Der österreichische Opfermythos, zu dem Frankreich seinen Beitrag geleistet hatte, wurde vom Tisch gefegt, und ich musste mich erst schlaumachen, was bilaterale Sanktionen sind. Ich las von französischen Ärzten, die einen Kongress in Innsbruck boykottierten, auch sei es unmoralisch, nach Österreich auf Skiurlaub zu fahren, bisweilen musste ich zweimal nachlesen, Gussenbauer, Fpoe, der Ausspruch Jetzt erst recht! wurde in einer Zeitung zu Jetz es rechts!

Das von den Medien kolportierte Bild war zu einseitig, als dass man es hätte für bare Münze nehmen können, dennoch folgten ihm Künstler und Intellektuelle, dachten über einen Boykott nach. Nicht weniger befremdlich die Verharmlosungen diverser Gastkommentatoren, ein Habsburger kam zu Wort, über seine Aussagen ließ sich wahrhaftig nur den Kopf schütteln. In den Leserbriefen wurde an den Sanktionen hingegen harsche Kritik geübt und über einen Ausdruck wie Westentaschen-Napoleon konnte Samira bloß lachen, solange ich ihr weiterhin einen Roman vom Himmel log. Nun war ich es, der gebärdenreich ein Vorhaben umriss.

An ernsthaftes Schreiben war indes kaum zu denken, morgens kaufte ich mir einen Packen Zeitungen, verzog mich damit in Kaffeehäuser oder, wenn es die Temperaturen zuließen, in Parks, erfuhr von Kundgebungen, und dass eine auch in Paris stattfinde.

Rasch war Samira überredet, mich zum Aufmarsch zu begleiten, und es ist in meiner Erinnerung ein Sonntagnachmittag, als wir uns auf den Weg machen zur österreichischen Botschaft. Die Demonstration war bereits im Gange, einige skandierten: Haider – Hitler, derselbe Kampf! Französischsprachige Spruchbänder wurden geschwenkt, auf einem Plakat prangte in deutscher Sprache Wir sind alle österreichische Antifaschisten: Widerstand. Samira wollte plötzlich los, sie habe sich mit Farah verabredet, ich brachte sie zur Station Invalides, schaute ihr nach, wie sie die Treppe hinabstieg, bis sie aus meinem Blick verschwand, und ich fasste den Entschluss, ihr abends zu sagen, dass es mit meinem Roman nichts werde.

2.

Vorbei am Stade de France, mir gegenüber einer, der mich ansieht, als suchte er in mir Spuren seiner Vergangenheit. Sofort senke ich den Blick, man wird die Kindheit nie los, den Geburtsort nicht. Das Grau von St. Denis zieht am Fenster vorbei, Halt ist da keiner, und als es unterirdisch weitergeht, weiß ich nicht mehr, wohin mit den Augen. Da stoppt der RER endlich an der Gare du Nord, was mir Abwechslung verschafft.

Am Bahnsteig drei Hünen mit Maschinenpistolen, Finger am Abzug. Überall in Paris sieht man sie ausschwärmen, in Dreier- oder Vierergruppen zumeist, aber ich solle mich nicht täuschen, hatte Stefan gesagt, zwar hätten die Anschläge für eine Aufstockung der Sicherheitskräfte gesorgt, aber im Grunde sei Frankreich immer ein Polizeistaat gewesen. Deutlich mehr Frauen sehe man jetzt unter den Truppen, war er fortgefahren, klar doch, die fackeln nicht lange, schießen schneller und besser. Männer würden tun, was man von ihnen erwarte, Männer suchen nach Lösungen, doch im Ernstfall sei die beste Lösung wohl: einfach abdrücken. Woher er denn diese krude Theorie habe, hatte ich ihn gefragt, und er fing an zu reden von einer Reportage über eine französische Spezialeinheit, die er neulich gesehen hatte.

Wir kennen uns seit Kindheitstagen, sind im selben Dorf aufgewachsen, sommers ein Kaff, im Winter eine Touristenhochburg. Doch wir mochten die Winter, sie impften uns Selbstvertrauen ein, in den Ferien wedelten wir in Uniformen vor Städtern her, lachten, wenn sich ihre Skier beim Schleppliftfahren überkreuzten, was oft zur Folge hatte, dass einer aus der Spur stürzte und unbeholfen der andere sich den Bügel zwischen die Beine klemmte, bis es ihn in die Höhe riss, sodass er die Fahrt mehr hüpfend als gleitend beendete, in unseren Skilehrergesichtern blitzten die Zahnreihen, wir erfüllten jedes Klischee. Abends tranken wir uns mutig und winkten Mädchen beim Tanzen zu, im Kuhstall, im Pferdestall, so hießen die Lokale unserer Jugend.

Was uns darüber hinaus verband, war unserer Herkunft geschuldet, wir waren Zugezogene, er aus Kärnten, aus Niedersachsen ich. Kleinbürgerkinder, die es zu etwas bringen sollten, man schickte uns in der benachbarten Marktgemeinde aufs Gymnasium, wir maturierten im gleichen Jahr. Während er umgehend mit seinem Studium begann, zog ich es vor, mich als Bohemien zu fühlen, ich übersiedelte nach Paris in einer Zeit, die mir heute so unwirklich erscheint wie aus dem Leben eines anderen. Ich veröffentlichte zwei schmale Lyrikbändchen, erntete Applaus von Menschen, die ich alle beim Vornamen nennen konnte, wenn sich ihre sauertöpfischen Mienen nach den Lesungen bei Wein und Salzgebäck etwas aufhellten, kurzum, ich galt als literarische Hoffnung, was immer das heißen mag.

Stefan war der Erste, dem ich erzählte, dass es mit meinen Dichterambitionen vorbei sei, mit Samira ebenso, das eine bedinge das andere, ich nannte ihm Gründe, die er mit einem Krächzen beantwortete, was bei ihm immer alles bedeuten konnte, von dumm gelaufen bis: Ich habe es dir ja prophezeit.

Jedenfalls kehrte ich nach Innsbruck zurück, wo er kurz vor dem Abschluss seines Studiums stand, als ich mit dem meinen anfing, wie er studierte ich Geschichte, Lehramt kam für uns beide nicht in Frage. Obgleich Stefan Tirol dann bald Richtung Wien, London und schließlich Paris verließ, blieb unsere Schwurbruderschaft intakt, wir telefonierten wöchentlich, meist sonntags, sprachen über Beziehungen und ähnliche Katastrophen. Und so war er auch der Erste, den ich anrief einen Tag nach Dreikönig im Januar 2015, um ihm zu berichten von jenem Artikel, den ich im Zeitungsarchiv aufgestöbert hatte, ein beispielloser Fund, eine Sensation, ich verstieg mich, hörte im Hintergrund Polizeisirenen, während die Worte nur so aus mir heraussprudelten, bis er mich jäh unterbrach: Sag, weißt du überhaupt, was bei uns hier momentan los ist?

Ich blicke auf und meinem Gegenüber ins Gesicht. Er hat die Augen geschlossen, die Unterlippe zittert ein wenig. An Nahrung leidet er keinen Mangel, fleischig seine Wangen, volles Haar, schlohweiß, zurückgekämmt. Sein Alter schwierig zu schätzen, er mag Mitte siebzig sein, das jugendliche Zartrosa seines Hemds kann das nicht kaschieren.

Habe ich ihn nicht schon am Flughafen in Wien gesehen? Oder in der Ankunftshalle am Charles de Gaulle, wo plötzlich Panik ausbrach, weil Soldaten den Terminal stürmten, falscher Alarm, wie sich rasch herausstellte – oder doch nicht? Ungewissheit schaffen, indem man Freund wie Feind eine unabsehbare und omnipräsente Bedrohung spüren lässt, Opération Sentinelle nennen sie das hier, mein Puls raste noch Minuten später, als ich vor der Halle eine Zigarette rauchte. Mir war schlagartig klar, was Foucault meinte, die Techniken der Kolonisation kehren ins Land der Kolonisatoren zurück. Vom Umbau einer Zivil- in eine Kriegsgesellschaft hatte ich während des Flugs in einem Magazin gelesen, und dass wir Menschen mitten in Europa aus der staatlichen Rechtsordnung entlassen und zu Kombattanten im Krieg gegen den Terror erklärt werden.

Unmittelbar nach dem Telefonat mit Stefan bin ich in meine Wohnung zurück, saß dort Stunde über Stunde vor dem Fernsehapparat und sah in Endlosschleifen Helikopter über Paris kreisen, Polizeifahrzeuge, schwerbewaffnete Spezialeinheiten. Spekulationen schossen ins Kraut, je weniger die Bilder hergaben, umso mehr wurde geredet, Experten für alles sprachen über Meinungsfreiheit, Satire und Antisemitismus, über die unhaltbaren Zustände in den Banlieues und, wie immer wenn es nichts mehr zu sagen gab, über gescheiterte Bildungspolitik. Fasziniert und angeekelt zugleich verfolgte ich das Geschehen, mittendrin und doch beruhigend weit davon entfernt, ich öffnete eine zweite Flasche Wein, eine dritte, und als ich am Morgen erwachte, war lediglich die Talkrunde eine andere. Ich setzte mir die Wirklichkeit zusammen, schon als Kind hatte ich nach dem Aufwachen immer ein paar Sekunden gebraucht und nie gewusst, wo ich eigentlich war, jeder Blick ein Baustein, und um mich herum entstand ein vertrauter Raum. Vor mir auf dem Couchtisch die fast leergetrunkene Flasche, der volle Aschenbecher, daneben eine Kopie des Artikels aus dem Zeitungsarchiv. Ich las ihn wieder und wieder, betrachtete die Fotografie der Frau, dachte an Samira. Die Ähnlichkeit verblüffend. Die Frau auf dem Foto war 1976 abgängig gemeldet worden, da war ich drei Jahre alt.

Ich zucke zusammen, als mich ein Jugendlicher im Laufdress mit seiner Sporttasche an der Schulter streift, unter seinen Achseln Schweißflecke, auch am Rücken vom Hals abwärts bis fast zum Hintern. Mein Gegenüber lächelt, rümpft mehrmals die Nase, wodurch seine goldumrandete Brille vor den buschigen Brauen auf- und abgleitet. Gedränge jetzt im RER, an der Station Saint-Michel – Notre-Dame steigt eine amerikanische Reisegruppe zu, sich ihrer Herkunft lautstark bewusst. Ich erinnere mich, wie Samira stets über Amerikaner lästerte, selbst mich habe sie anfänglich für einen gehalten mit meiner lächerlichen Baseballmütze, die ich bei unserem ersten Treffen trug. Große Autos, kleine Hirne, sie reihte ein Klischee ans nächste, ihr Antiamerikanismus konnte alberne Züge annehmen, meine Schildkappe habe ich in ihrer Anwesenheit nie mehr getragen.

Schallendes Gelächter, die Amerikaner sind bester Laune, mein Gegenüber seufzt, auf einmal bin ich mir sicher, ihn schon am Flughafen in Wien gesehen zu haben. Ich war früh am Gate, versuchte meine Gedanken zu entwirren, der vergangene Abend, dieser Absturz in alte Zeiten. Einen ehemaligen Kollegen habe ich getroffen, einen Lyriker, der sich mittlerweile, wie er es nennt, aufs Romanschreiben verlegt hat, mit Gedichten gewinne man keinen Blumentopf. Ich hätte mich ohrfeigen können für die Dummheit, dieses Lokal betreten zu haben, wo ich doch weiß, dass sich dort allabendlich Künstlerinnen und Künstler und gemeinhin jene, die sich dafür halten, ein Stelldichein geben. Unvermittelt tauchte er neben mir am Tresen auf, puffte mich kameradschaftlich in die Seite: Na, dich habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen!

Ich wurde ihn nicht mehr los, während ich trank, erklärte er mir die Welt, sie schien für ihn nur aus Preisen und Stipendien zu bestehen, die immer andere erhalten würden, aber wem sage ich das, er klopfte mir wiederholt auf die Schulter, du hast das ja selbst erlebt. Ich wäre ihm am liebsten an die Gurgel gegangen und hätte ihn angebrüllt, dass damals genau solche Schaumschläger wie er mich zum Verstummen gebracht haben, was freilich nicht stimmt. Und ich war schon nicht mehr ganz nüchtern, als er fragte: Was treibst du denn jetzt so? Aus der Not heraus sprach ich ein wenig von meinen Reisen nach Paris, und schon war wieder er am Wort, redete von der Grande Nation, prostete mir zu, nein, mit den Franzosen könne er nicht, arrogante Sprachverweigerer seien sie und hielten sich immer noch für eine Großmacht, er lachte. Irgendwann ließ ich ihn stehen, verfluchte mich auf dem Weg ins Hotel, dass ich den Morgenflug gebucht hatte, hätte ich mich doch für einen späteren Flug von Innsbruck über Frankfurt entschieden, dann wäre mir der Abend in Wien erspart geblieben. Im Hotelzimmer las ich meine E-Mails, Stefan hatte geschrieben, er freue sich auf unser morgiges Treffen. Auch ein Newsletter des Verlags, bei dem ich meine wissenschaftlichen Arbeiten publizierte, war im Posteingang, eine Einladung zu einer Buchpräsentation, 1938 – der Anschluss in den Bezirken Tirols. Unter der Einladung ein Gruß des Verlegers:

Wäre schön, wenn wir Ihr Buch über das französische Erbe in der Tiroler Nachkriegsgesellschaft doch noch irgendwann ins Programm aufnehmen könnten.

Ich konnte das nur als Vorwurf lesen, ärgerte mich zugleich über meine Dünnhäutigkeit. Ohne mich auszuziehen, legte ich mich aufs Bett, starrte an die Zimmerdecke, blieb schlaflos. Was treibst du denn jetzt so –

Luxembourg, die Amerikaner steigen aus, wahrscheinlich machen sie einen Spaziergang durch den Jardin du Luxembourg, wie ich es vielfach getan habe, damals, 1999, als Preise und Stipendien für mich noch von Wichtigkeit waren, weil sie mir eine Abkehr von Tirol ermöglichten und ich nach Paris ziehen konnte. Anfangs war ich beinahe täglich in diesem Garten, versuchte mir die Welt in Gedichten vorzustellen, grüßte Skulpturen wie Menschen, Stendhal, Flaubert, Verlaine. Manchmal kam Samira in ihrer Mittagspause in den Jardin, und jedes Mal wollte sie zum Kinderkarussell, wo ich ihr Verse von Rilke vortragen musste, sie konnte gar nicht genug bekommen davon: „Und das geht hin und eilt sich, dass es endet / und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.“ Sie verstand kein Wort von dem, was ich sagte, forderte mich aber immer wieder auf, die Zeilen zu wiederholen. Zuweilen erlaubte ich mir den Spaß und brabbelte die Einkaufsliste vor mich hin, auch von Rilke, sagte ich dann, ob ich ihr die Verse übersetzen solle, doch sie legte mir die Hand auf den Mund, strahlte mich an. Mein Französisch alltagstauglich, ich brachte ihr ein paar Worte Deutsch bei, konnte mich amüsieren, wenn sie fick und fertig sagte, nein, nein, fix, korrigierte ich sie, sie zog mich aus und wir schliefen miteinander. Wir hatten uns oft nichts zu sagen, das waren wohl unsere glücklichsten Momente, wenn wir in stummer Übereinkunft nebeneinander lagen.

Mein Gegenüber schickt sich an auszusteigen, ausgerechnet hier, ich will ebenfalls an der Station Denfert-Rochereau raus. Er nestelt in der Innentasche seines Sakkos, zieht eine Karte heraus und streckt sie mir zu meinem Erstaunen hin. Ich schüttle den Kopf, greife dennoch zögerlich zu. Nach kurzem Räuspern verabschiedet er sich und wünscht mir einen guten Tag, nennt mich beim Namen, sein Deutsch mit französischem Akzent, das G zum SCH mutiert. Er wirft den Kopf in den Nacken, lacht triumphal auf, und ich schaue ihm nach, wie er den RER verlässt.

3.

Drei Wochen nach den Pariser Januaranschlägen stieg ich am Charles de Gaulle in ein Taxi, meine Mutter hatte mir dazu geraten, meiner Reise nach Paris konnte sie ohnehin wenig abgewinnen. Ein Land im Ausnahmezustand und du musst dorthin, das ist typisch für dich, sie hatte energisch die Arme vor der Brust verschränkt in einer Mischung aus Unverständnis und, ja, Abscheu. Wenn sie mir Frankophilie vorwarf, konnte ich ihr das Gegenteil unterstellen.

Nun lasst uns die Franzosen nur recht frisch hassen, dieser Geist herrschte in ihrer Familie vor, geboren 1944, wuchs sie in der Nähe von Lahr im Schwarzwald auf, dort hätten die Franzosen furchtbar gehaust, Plünderer seien sie gewesen, Vergewaltiger. Und dabei doch bloß arme Säcke in schäbigen Uniformen, lebensfähig lediglich durch die Gnade der Amerikaner. Mitte der Sechzigerjahre übersiedelte sie nach Hannover, wo sie jenen schweigsamen Mann kennenlernte, dem sie 1973 ins Tirolische folgte, mich holte man später nach. Unserem Gespräch vor meiner Abreise hatte mein Vater gleichmütig beigewohnt und keine Miene verzogen, als ich den Namen Samira erwähnte, indes meine Mutter die Hände vors Gesicht schlug: Fängt das schon wieder an! Sie hatte nie wahrhaben wollen, dass Samira nicht der Grund war, warum ich nach Paris ging, sondern dass ich wegen ihr die Stadt wieder verließ.

Die Taxifahrt vom Flughafen ins Stadtzentrum gestaltete sich mühsam, ich geriet in den abendlichen Berufsverkehr, Schritttempo, Baustelle, Stau. Mein Chauffeur, ein Mann Mitte zwanzig, der meiner Mutter Sorgenfalten in die Stirn getrieben hätte, bemühte sich erst gar nicht, mit mir ins Gespräch zu kommen, mir war es recht. Stumm, Blick starr geradeaus, verrichtete er seine Arbeit, nur einmal hörte ich ihn verächtlich aufstöhnen, am Heck des Fahrzeugs vor uns der Schriftzug Je suis Charlie.

Ich klappte mein Notebook auf und öffnete den Ordner mit der Datei meiner Recherchen über das französische Erbe in der Tiroler Nachkriegsgesellschaft. Meine Arbeit am Buch war ins Stocken geraten, seit ich den Zeitungsartikel gefunden hatte, war mir alles andere zweitrangig geworden. Meinen Vortrag über Besatzungsjahre und Vergangenheitsbewältigung hatte ich mit Mühe über die Bühne gebracht. Von Bonaparte hatte ich gesprochen, auf dessen Geheiß Andreas Hofer 1809 gefangen genommen und später erschossen worden war, ein politischer Mord, den die Tiroler auch 1945 noch nicht vergessen hatten. Doch General Émile Béthouart, Oberkommandierender der französischen Besatzungstruppen, wusste etwaige Ressentiments im Keim zu ersticken, er ließ die Schützen mit ihren alten Gewehren paradieren, das war die halbe Miete gewesen. Mein Vortrag war Teil einer Veranstaltungsreihe, die ich mit einem Institutskollegen durchführte, als Nächstes stand in gut zwei Monaten ein Vortrag auf dem Programm, der sich der Idealisierung des Tirol-Bildes ehemaliger französischer Besatzungssoldaten widmen sollte, und mir grauste beim Gedanken daran, mich bald wieder ans Rednerpult stellen zu müssen.

Die verbleibenden Wochen bis zu den Semesterferien waren mir als einzige Qual erschienen, meine Vorlesungen und Seminare hatte ich mechanisch heruntergespult und mich einmal mehr gefragt, was mich noch an der Uni hielt. Mittlerweile investierte ich mehr Zeit in Administratives als in die Lehre, schlug mich mit immer neuen Begrifflichkeiten herum, ein Eiertanz auf allen Ebenen, nicht um richtige Bezeichnungen ging es, sondern ums Rechthaben. Und den Ansturm auf eines meiner Seminare verdankte ich nicht etwa der Attraktivität des von mir verhandelten Themas, es gab hier schlicht mehr Punkte zu sammeln als in anderen Lehrveranstaltungen.

collaboration horizontale