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Joseph Zoderer

Der Irrtum des Glücks

Roman

Alles ist echt und zugleich Illusion.

Cees Noteboom, Allerseelen

Nicht die Schwerkraft hält unser Universum im Gleichgewicht, sondern die Liebe.

Isabel Allende, Ein unvergänglicher Sommer

Prolog

Kein anderer Freund hat mein Leben so mitgeprägt wie Alexander. Wir hatten das gleiche humanistische Gymnasium besucht und an der Universität in Wien Philosophie und Geschichte belegt. Nach dem Studium begannen wir beide als Journalisten zu arbeiten, ich als Zeitungsreporter, er beim Fernsehen in der außenpolitischen Redaktion. Schon während unserer Studien hatten wir den Großteil der Freizeit miteinander verbracht; wir waren eifrige Konzert- und Opernbesucher (stellten uns stundenlang bei der Staatsoper um Stehplatzkarten für eine Wagner-Aufführung an), ließen kaum ein wichtiges Stück in den vielen billigen Kellertheatern aus und diskutierten danach in verrauchten Kneipen oft bis zur Sperrstunde. Wir waren Existentialismus-Anhänger und liebten trotz einiger Bedenken Heidegger, Sartre und Camus; wir lasen ganze Tage in der Nationalbibliothek quer durch die Weltliteratur: Musil, Proust, Hemingway, Henry Miller, Franz Kafka usw., am liebsten aber Dostojewski. Obwohl wir bereits über dreißig waren, begeisterten wir uns an den Zielen der Achtundsechziger Bewegung. Da war ich schon einige Jahre verheiratet und sesshaft in Wien, Alexander berichtete als sporadischer TV-Korrespondent mal aus Paris, mal aus Berlin. Die Hauptzeit seiner Tätigkeit leistete er aber als Schreibtischredakteur in Wien ab. Deshalb waren wir weiterhin viel zusammen. Er hatte auch als mein Hochzeitszeuge fungiert und war bei mir und meiner Frau sehr oft bei Tisch zu Gast, wobei es immer lebhaft zuging mit politischen Debatten und dem Austausch unserer literarischen Ansichten. Mein Freund Alexander liebte alle Künste, am meisten aber – sogar noch vor der Musik – liebte er die Literatur. Ich hielt ihn für einen zumindest geheimen Schriftsteller und durch vage Andeutungen, die er in seine Scherze einflocht, glaubte ich mich in meiner Vermutung bestätigt. Er zeigte allerdings nie etwas her, sagte nur mit einem ironischen Lächeln: Abwarten und dann staunen. Er war eine Frohnatur, trinkfreudig und voller Humor, selten, immerhin mehr als einmal, konnte er auch auftrumpfen: Der Geist und das Herz – ich hasse nichts so sehr wie Dummheit! Und ich erinnere mich, dass er als Student mehrmals feucht fröhlich ausrief: Ich bin der erste Mensch, der nicht sterben wird! Er neigte zu ausholenden Gesten, in Wirklichkeit war er schüchtern, ja geradezu menschenscheu. Aus der Distanz verehrte er einige Gegenwartsautoren, doch er scheute sich, die sich bietenden Gelegenheiten zu einem persönlichen Kontakt wahrzunehmen.

Wir sahen uns beide seit der Gymnasialzeit als zukünftige Schriftsteller. Während er selbst sich jedoch zugeknöpft gab, zeigte er gleichzeitig ein selbstloses Interesse an allem, was ich schreiberisch ausprobierte. Er war neugierig und sehr kompetent. Aber aus Freundschaft allein ließ er nichts hochleben, er war unerbittlich kritisch, dafür galt umso mehr, was er lobte. Ja, er konnte mich aus den ärgsten Selbstzweifeln herausholen und half mir so manche Schreibkrise überwinden. Immer war er mein erster Leser, und sein Urteil war für mich ausschlaggebend. Er blieb mein Mentor und Antreiber, und irgendwann fragte ich nicht mehr, was oder ob er selbst schreibe.

Er war und blieb ein Junggeselle, er, der so gut aussah mit seinem dichten struppigen Blondhaar, unveränderlich schlank und einen halben Kopf größer als ich, wurde von Frauen bewundert und er selbst betete die weibliche Schönheit an. Trotzdem blieb er Junggeselle. Nicht einmal mir als seinem nächsten Freund sprach er jemals von einer Liebe, einem Flirt oder sonst welcher Beziehung. Nur ein einziges Mal habe ich ihn wie einen Verliebten in Erinnerung. Es war ein langer Abend gewesen, wir saßen beide betrunken in einer dunklen Kneipenecke, als er mitten in einer langen Stummheit still vor sich hinzuweinen anfing. Ich fasste ihn an einer Schulter: Was ist denn? Er schüttelte nur den Kopf, schnäuzte sich und murmelte: Alles ist aus. Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen. Er entschuldigte sich, und wir tranken noch ein weiteres Glas.

Das war noch lange vor seiner Pensionierung. Mit dem Ende seiner journalistischen Tätigkeit zog mein Freund sich seltsamerweise mehr und mehr zurück. Eine kinderlose Tante hatte ihm ein kleines Haus, eine Art Ferienchalet, am Rande des Wienerwaldes vererbt. Dort hielt er sich zunächst sporadisch auf, er war ja ein großer Naturliebhaber und benützte das „Waldhaus“, wie er das Chalet nannte, anfangs nur, wenn er Bedürfnis nach etwas Landluft und längeren Wanderungen in den Waldungen der Umgebung hatte. Seine Wohnung in der Stadt behielt er schon wegen der immensen Bibliothek, die er besaß; seine geliebten Bücher füllten Regale in zwei Zimmern und stapelten sich auch an den Wänden des Flurs. Wenn er in der Stadt war, hatten wir uns früher oft jeden Tag in unserem Stammcafé „Tirolerhof“ getroffen; in den letzten Jahren aber wurden daraus höchstens ein, zwei Tage im Monat, an denen wir uns sahen, und schließlich, als wir uns die ersten Handys kauften, beschränkte er sich zunehmend darauf, mir kurze und kürzere elektronische Briefe zu schreiben. Geistreiche Alltagsbeobachtungen, philosophische Überlegungen, gespickt mit Witz und Ironie. Er schien mir noch voller Lebensfreude zu sein. Umso größer war der Schock, als ich von seinem Herztod erfuhr.

Seine Zugehfrau hatte ihn am Morgen zusammengekrümmt auf den Flurfliesen des Chalets gefunden. Er muss schon am Tag oder am Abend zuvor gestorben sein, er trug noch seinen Straßenanzug.

Wenige Tage nach seiner Einäscherung wurde ich von einer Notariatskanzlei angerufen und zu einem Termin eingeladen. Es liege ein Testament vor, das mich betreffe, geschrieben und beglaubigt vor fünf Jahren.

Mein Freund Alexander hatte mir seine gewaltige Bibliothek vererbt. Ich war tief betroffen; meine Frau und ich beschlossen, den Großteil des Bücherbestandes auf unsere erwachsenen Kinder zu verteilen. Alexanders andere Erben wollten die Stadtwohnung möglichst bald freigeräumt haben. Wir schafften die Bücher innerhalb von drei Tagen in großen Kartons fort. Dabei hoffte ich umsonst, auf irgendein Zeichen einer schriftstellerischen Tätigkeit zu stoßen – kein Manuskript, kein Gedicht, kein Tagebuch. Keine Zeile für mich. Mithilfe der Zugehfrau verpackten wir auch die Bücher, die Alexander im „Waldhaus“ gehortet hatte. Und hier das Unerwartete: Im Schlafzimmer zog die Zugehfrau die Schublade unter dem Bett heraus und zeigte uns eine dicke Mappe, die unter Kissen und Leintüchern begraben lag, zusammengehalten von einem roten Gummiband.

Ich las und war erschüttert. Ein ganz anderer Alexander, einer, den ich so nie erlebt hatte. Dieser lebensfreudige Mittsiebziger, ein Kopfmensch par excellence, schrieb hier von Liebe, von Schmerz und Verzweiflung. Von einer selbstzerstörerischen Liebesobsession, von einer Wahnsinnsliebe. Meine Frau war die Erste, die sagte: Das muss ein Buch werden. Ich hatte meine Bedenken, die aber Alexanders vertrauenswürdigste Freunde, die auch meine waren, mir mit überzeugenden Argumenten ausredeten. Handelte es sich um tagebuchartige Aufzeichnungen, Selbstanklagen, so etwas wie ein De Profundis oder gar um einen gewollten Mix aus Fiktion und Realismus, also Rohmaterial für eine Romanfassung? Seine krakelige Schrift war nicht leicht zu lesen. Die Zeilen oft ungefügt und roh hingeworfen. Kein Datum, wann er daran zu schreiben begonnen hatte, doch vieles sprach dafür, dass seine letzten Lebensjahre den Zeithintergrund bildeten. Das Objekt seiner Liebe eine Frau ohne Namen und ohne äußere Attribute, aber von ihm gepriesen als außergewöhnliche Schönheit.

Ich entschied mich für die Veröffentlichung. Die letzten Seiten musste er in einem Zustand tiefster Trauer und Schmerz hingeschrieben haben, in einer Art Stakkato, kaum lesbare halbe Sätze, halbe Worte, ein einziges Aufschreien.

N. N.

In letzter Zeit rechtfertige ich mich immer häufiger vor mir selbst … versuche es … ganz allein für mich. Wozu soll das gut sein, und dass ich mich beim Schreien ertappe, ja, tatsächlich höre ich mich oft und öfter schreien. Wozu soll das gut sein? Zum Glück bin ich immer allein, wenn ich schreie, ich weiß gar nicht, warum ich schreie … als ob ich empört wäre. Ich bin aber ganz heiter und tatsächlich entbehre ich nichts. Also werde ich damit aufhören und nicht mehr schreien. Im Grunde genieße ich doch das Schweigen … in der Stille, wenn ich allein bin. Ich kann ja nicht vor mich hinfantasieren oder gar meditieren, wenn ich schreie.

Du singst übrigens in meinen Träumen immer mit einer falschen Stimme, ich erkenne sie trotzdem … du singst in einem fremden Haus, in dem wir zwei nie zusammen gewesen sind. Es ist dein Haus. Im Traum ist alles so, wie du es mir beschrieben hast, das Schlafzimmer, wo du die Nächte mit deinem Mann verbringst, und die Couch im Wohnzimmer, wo du mit ihm die Nähe teilst vor dem Fernseher.

***

Ich muss aufhören, mit der Ferne zu hadern … sie meldet sich doch immer wieder aus nächster Nähe; ihre Stimme ist schon in meine Haut eingekerbt, in meine Haut hineingewachsen … ich müsste freundlicher sein, vielleicht auch zärtlicher.

Sie kann ja nicht mit mir leben … wollte alles hinschmeißen und zu mir ziehen.

Bitte, keinen solchen Aprilscherz, schrieb ich zurück. Es war tatsächlich ein kalter erster April, und sie glaubte, ich würde sie nicht lieben, wenn sie nicht von ihrem Mann wegginge, sie wollte kommen und mit mir leben. Rund um die Uhr mit mir leben? Nein, das geht nicht … das geht gegen meine … was denn … gegen was? Ich kann es mir nicht vorstellen, oder doch, ich kann es mir vorstellen als Anfang eines wirklichen Endes … meine Jahre und ihre Jahre … da weiß ich, unsere Liebe ist eine Un-liebe. Wir haben keine Sprache für die Welt. Wir benennen nur die Dinge unserer Liebeswelt.

***

Warum will ich sie als die Unbekannte? Damit sie als Fremde in meiner Nähe bleibt? Ich liebe das Fremde und will, dass sie mir fremd bleibt. Seht, das ist eine meiner Hauptlügen, denn in Wahrheit wühle ich mich in das Fremde hinein, um den fremden Kern ihrer warmen Nähe zu finden. Sie weiß nichts von Fremdsein. Vielleicht weiß sie auch nicht, dass es keine Ewigkeit für die Liebe gibt. Sie schaut mich an, und ich weiß, sie will mich nicht küssen. Und sie küsst mich doch. Sie schaut mich an, als sehe sie mich zum ersten Mal, und mir scheint, sie verbirgt ein Erschrecken. Nie und nimmer hätten wir genug richtige Worte für einen ganzen Tag des Zusammenseins. Vielleicht könnten wir im Schweigen eine Weile überleben.

Sie hat immer Fluchtaugen.

Obwohl sie mich stets aufs Neue sucht, um dann doch auf die Uhr zu schauen. Und ich muss damit zurechtkommen, ohne zu verstehen, was mit uns vorgeht. Wir verstecken uns voreinander. Wenn wir uns von Gesicht zu Gesicht ansehen, uns in die Augen schauen, verstecken wir uns voreinander, wir spüren unsere Lippen, aber keiner weiß, wo die Seele des anderen ist.

Wir haben keine einzige Nacht unter einem gemeinsamen Dach gelebt, wir leben in einer verborgenen Zeit. Ich frage sie nicht: Willst du aufhören? oder: Hast du nicht genug? bist du nicht müde von diesem Spiel?

Sie würde diese Frage nicht verstehen. Auch wenn ich laut und deutlich jedes Wort aussprechen würde, könnte sie mit dieser Frage nichts anfangen. Es wäre, als hörte sie die einzelnen Worte einer solchen Frage einfach nicht. Vielleicht kennt sie so etwas wie Zweifel gar nicht. Sie liebt … als hätte sie ein Dokument unterschrieben … dort steht es schwarz auf weiß, und so liebt sie mich.

Sie ruft auch in der Nacht an. Aber sie lebt, glaube ich, völlig unbeschwert, unbelastet von allem. Ihre Leidenschaft, meine ich, hat sie im Mai unter den Rosen ihres Gartens vergraben.

Es hätte eine Katastrophe werden können, und ich bin ziemlich weit gegangen … bis knapp an die Grenze. Das Unglück war sozusagen auf Sichtweite, aber wir haben es gezähmt.

Keine Raserei mehr über Mitternacht hinaus, jetzt sehe ich ein ironisches Lächeln auf ihren Lippen … allemal besser als eine Katastrophe, die freilich noch immer nicht ausgeschlossen ist. Solange wir beide leben, ist jedes Unglück möglich.

Ich möchte, dass sie nichts verliert, wenn es mich nicht mehr gibt. Deshalb ist die Ferne wichtig … die Entfernung ist das beste Training … die wirksamste Verlustgewöhnung ist die Ferne, die zwischen uns liegt.

***

Ich lerne, dankbar zu sein. Das ist beschämend, hätte ich früher einmal gesagt. Aber es ist nicht beschämend, denke ich heute, trotz aller Massaker und schwer erträglicher Ignoranz und Verrohung gefällt mir die Welt, ja, mir gefällt das Leben, und ich danke für dieses Leben, auch wenn ich keinen genauen Adressaten kenne. Ich danke für dieses Leben, das so entsetzlich ist für viele Menschen, eine einzige Hölle. Aber ich, der von dieser Entsetzlichkeit weiß, ich lebe in einem Paradies der Ohnmacht. Ich lebe als ein Gefühlsmensch, aber mich bringen die Gefühle nicht um, jedenfalls noch nicht. Ja, es ist leicht, sich an das Glück zu gewöhnen, auch wenn es ein vorgetäuschtes ist, ein gelungener Selbstbetrug.

Ich will mich dagegen nicht wehren, es ist wie Nahrung, äußerst bekömmlich und lebenserhaltend.

***

Es gibt kein Altern – ich lache auf, die Liebe ist die beste Widerständlerin. Die Liebe ist immer wieder Neugeburt. Ich werde jeden Tag neu geboren … Tag und Nacht werde ich ein neuer Mensch, solange ich ihre Stimme höre.

Ich sehe sie, wie sie in einem roten Kleid auf mich zuhüpft, natürlich durch das Telefon, sie sagt: ich lache, und ich antworte: ich lache auch. Es ist beschämend, wie skrupellos ich sie liebe, wie skrupellos ich unser Spiel inszeniere, und es ist zweifellos ein Spiel mit dem Unglück. Ich frage mich nur, wie leicht ist ihr Herz dabei. Und ich weiß nicht, wie sie sich vor einem Schmerzwissen schützt.

Die meiste Zeit verbringe ich ohne ihr Gesicht, ihre Gesichtszüge prägen sich nur unter meiner Haut ein, leider nicht in meinem Kopf, meine Liebe löscht ihre Gesichtszüge aus. Irgendwer hat einmal gesagt, je mehr du liebst, desto weniger kannst du dir das geliebte Gesicht im Geiste nachzeichnen. Tatsächlich ist es mir unmöglich, ich kann mir nicht ihr Gesicht zu ihrer Stimme vorstellen, sobald sie nicht bei mir ist. Obwohl ich weiß, dass ihr Gesicht zart ist … ich weiß es, weil ich dieses Gesicht hunderte Male gesehen habe und wohl weiterhin sehen werde. Dennoch kann ich es nicht in meiner Erinnerung abrufen. Es muss aber in meinem Kopf sein, wo denn sonst … vielleicht in meinen Händen, Beinen, Rippen? ja überall, nur nicht in meinen Augen. Und doch möchte ich es in ihrer Abwesenheit sehen, bin aber nicht im Stande, es mir in den Blick zu rufen, es verschwimmt, ihre feinen Gesichtszüge zerrinnen.

Ich kann mit ihr nicht über den Tod sprechen … das ist die größte Ferne zwischen uns. Wir gehören nicht zusammen, ich weiß das und lebe doch, als ob ich es nicht wüsste. Wir sprechen auch über Trauer nicht, wir sprechen nur über Glück, als gäbe es das und nichts zu betrauern, dabei gibt es Trauer in mir, über die wir nie reden, sodass ich gar nicht weiß, ob sie ihre Trauer kennt. Ich kenne nur meine Trauer. Aber ich gebe sie als Glück aus … ich bin glücklich mit ihr … unsere Liebe ist ein Glück, keine Trauer. Darüber kann ich mit ihr nicht reden, ich kann ihr nicht sagen, dass wir zwei mit dem Tod leben … dass wir unsere Wahrheit verleugnen.

***

Wir beschwören die Liebe viel zu oft, wir schwören uns die ewige Liebe. Ich kann nicht schlafen, wenn sie diesen Schwur der Ewigkeit beim Gutenachtgruß vergisst. Dabei weiß ich, dass jede Wiederholung auf Dauer zermürbend bis tödlich ist. Aber ich lebe ja nur von der Wiederholung, solange sich meine Tage noch wiederholen. Und sie wiederholt täglich die gleichen Sätze. Oft macht es mich wütend, dass ihr nichts anderes einfällt: Ich bin immer bei dir. Sie ist keine Dichterin. Und doch wäre es bitter, wenn ihr nicht mehr diese Sätze über die Lippen kämen. Ich frage mich, warum ich darauf so bestehe, obwohl ich meine, dass ich nichts mehr davon brauche. Ist es doch Besitzwut? oder Eitelkeit? Ja, ich bin eitel, obwohl ich darüber lache. Aber besitzwütig? Will ich sie besitzen? Nein, ich denke an meine ablaufende, immer kürzer werdende Zeit, ich kann nicht und ich will nicht besitzen. Aber ich will eines –, ich will dieses Wissen des Geliebtseins besitzen und mir dessen sicher sein, auch wenn ich keine Aufgeregtheit mehr fühle.

Ich bin so etwas wie ein Traumzerstörer geworden, aber untalentiert für Mordträumereien, auch kein Selbstmordtalent. Meine Zunge ist weiß vom Kotzen –, ich kotze auf den Kindskopf in mir, der mir ja hin und wieder so sehr gefällt, dass ich ihn sogar für mich sprechen lasse, auch wenn ich weiß, der Kindskopf ähnelt immer mehr einem Totenkopf … ich weiß, ich habe ihn in meiner Brust, in meinem Kopf und in meiner Brust. Alles andere ist ein Alltagstraum, ich träume die Wirklichkeit und inszeniere sie als Illusion … die Illusion kann ich leichter ertragen als die Wirklichkeit. Aber bitte, nicht die Kulissen umwerfen! Denn dahinter ist eine graue Wand, die ich nicht sehen will … ich bin noch nicht reif dafür, ich muss mich erst einüben und lernen, ohne Tränen zu lachen. Das muss ich erst lernen … der Kindskopf in mir weint oft so, als hätte er sich an einer Wolkenkante gestoßen.

Ja, und dieses Selbstmitleid … das ich so lange Zeit nicht wahrnehmen wollte. Und jetzt kaschiere ich es als Mitleid mit der gesamten Menschheit, als Bewusstsein der menschlichen Tragödie. Zwischendurch vergesse ich aber oder verdränge ich das alles und juble, zelebriere den Augenblick. Und habe dabei kein schlechtes Gewissen. Nein, ich habe kein schlechtes Gewissen, bin noch viel zu nah am Leben, genieße Gras und Holz und Luft, genieße Haut und Fleisch und Augen und Atem. Bin verstrickt in Hoffnung und Lüge … so manches Wort eine Selbstverletzung. Im Hals eine ganze Konditorei an Schmeicheleien für sie, jede Schmeichelei eine Selbstverletzung. Ich taumle auch, wenn ich sitze. Ich tanze auch, wenn ich liege, ich drehe mich im Kreis, wenn ich stumm auf dem Rücken liege und an unseren Anfang denke … der unser schönster Irrtum war.

***

Ich war nie verbittert –. Das hat mich für viele unsichtbar gemacht, ich war die meiste Zeit zufrieden –, das haben viele für Dummheit gehalten, aber ich konnte ihnen nicht helfen, mit keiner Selbstverletzung konnte ich ihnen helfen. Das war eine Sünde, die ich zu spät bereute. Damit beschädigte ich mein Gedächtnis.

Alle Herrlichkeit hat sich entpuppt als glanzloser Alltag, und jetzt tun wir, als hätte sich nichts verändert. Obwohl ich andere Zeichen sehe, und sie auch, wie ich glaube, aber wir versuchen mit Worten die Kulissen immer wieder aufzufrischen, richtig aufzumöbeln. Sie glänzen wie unsere Augen einmal geglänzt haben, und sie sollen weiterhin glänzen, wir versichern uns das täglich mehrmals, auch in totaler Abwesenheit, über die elektronische Post: ewig und immer. Was würden wir tun, wenn wir ehrlich wären? Eine neue Form der Verliebtheit? Ein Alltag ohne Sternenhimmel? Nicht denkbar.

Daher die Worte, die wir längst ohne Aufregung wiederholen, die wir immer aufs Neue produzieren … Aus Alt mach Neu. Nein, ich will mich nicht enttäuscht sehen, ich schließe die Augen, aus weiter Ferne höre ich noch die Stimme: Ich bin nicht allein, aber ich liebe dich.

Ich glaube, uns gibt es nicht mehr. Meine Gleichgültigkeit muss ein Irrtum sein. Es ist kein Schmerz in mir … unmöglich, das glaube ich nicht … der versteckt sich nur, der Schmerz bricht erst aus, wenn man sich in Sicherheit wähnt –, gewiss wird er plötzlich da sein und die Asche in mir aufrühren und mich verändern. Alles wird anders sein. Und warum? Weil das Verlangen sich plötzlich in Buchstaben verwandelt hat … weil mich keine Eifersucht mehr quält.

***

Wie zärtlich kann Zärtlichkeit aus der Ferne sein! Die Sehnsucht wächst von selbst in der Ferne, und keine Nähe legt sich dazwischen, keine Nähe verhindert die Zärtlichkeit.

Der Wahnsinn hingegen braucht Nähe, auch die Wahrheit braucht Nähe. Was weiß ich, wo und wie die Wahrheit in der Ferne ist … vielleicht braucht die Lüge die Ferne, ja ich glaube, die Ferne kommt der Lüge entgegen. Obwohl ich weiß, ihre Stimme lügt nicht. Es ist die Asche in mir, es ist die Müdigkeit. Ich rufe sie nicht, und es kann auch der Schrecken sein … der Schrecken, der von mir ausgeht … der Nebel, der in meinen Augen hängt, manchmal und immer öfter.

Du sollst öfter lachen, sagt sie.

Ja, das Lachen macht noch Sinn … nicht die Traurigkeit, auch wenn die Trauer ihren eigenen Sinn hat. Über Nacht ist mein Indian Summer abgezogen, in mir leuchtet kein Indian Summer mehr in prangendem Gelbrot. Die Aufregung hat sich gelegt, das Fiebern ist verschwunden, ich kann nicht mehr zaubern. Keine Beschwörung verwandelt das Banale, nicht einmal die Erinnerung hilft. Im Gegenteil, sie erinnert mich an einen Bajazzo. Ich sehe meine verrückten Augen, ich sehe meinen von Lachen verzerrten Mund. Warum nur … warum? So gnadenlos glücklich gewesen … dieses Herzklopfen zu jeder Tageszeit, eine pausenlose Siegesfeier. Aber was für ein Sieg? was für ein Triumph? Beeilte ich mich zu sehr, glücklich zu sein, weil ich den Kraterrand schon ahne?

Ich kann mich nicht ernst nehmen, leider, ja leider, denn ich möchte aufspringen und lachen, hellauf lachen über mein unverständliches Glück, das ich mit meinen Lügen (die ich für Bekenntnisse hielt) … das ich mit meinen blumigen Worten hinauszögere … bis es umschlägt in das Unglück, das ich ja von langer Hand angezettelt habe, aber tatsächlich nicht gewollt, nämlich nur das Glück der blauen Augen gewollt, die verrückte Illusion, das Lächeln ihrer Augen zu besitzen, für immer. Und so war es dann auch, doch nicht für immer, denn ich kann nichts halten, nicht die blauen Augen und nicht das Lächeln der blauen Augen. Ich halte ihre Schönheit nicht aus, auch nicht ihre beschwörende Stimme. Ich vergesse meine Verrücktheit, dass ich doch gar nichts besitzen will, nicht einmal ihre Stimme, höchstens die Erinnerung.

Das Gestern und das Vorgestern, sogar Vorvorgestern rücken spürbar näher, ja, spürbarer, ich bin müde, immer öfter bin ich müde, von einem Tag auf den anderen mehr und mehr müde, ohne schlafen zu können. Alles rückt näher, ohne dass ich mich wehren kann … die Dinge fragen nicht um Erlaubnis, die Dinge sind in meinem Kopf zuhause, sie bestehen aus Tagesglas, aus Nachtstille, aus Farbschreien und aus Strandfüßen, die gestern noch vor mehr als fünfzig Jahren am Meer entlangliefen und zuvor meine Augen in Konzertsäle führten, in Theatersäle … war doch alles gerade vor dem letzten Wochenende … ich will das alles vergessen, ich will jetzt sein, will jetzt nur hier sein. Denn sie wird kommen und die Asche aus meiner Haut lecken.

***

Wenn sie nicht wirklich existierte, hätte ich sie so erfunden, wie sie ist, ganz und gar nicht anders. Denn sie ist die Fortsetzung meiner Kindheit … meiner Träume, die in Büchern ihre Frauenbilder fanden und nicht den Mädchen glichen, die zu meinen Schwestern kamen, die kaum einen anderen Himmel kannten als den Stadthimmel über den Dächern.

Ich habe sie gerade noch rechtzeitig erfunden, ich habe sie nicht weit vor dem Ende des Weges gefunden … dieses zarte Gesicht, diese unwissenden Augen, ich musste ihre Scheu überwinden. Aber es war nicht Scheu, es war auch nicht Angst, es war Vorsicht, es war Selbstschutz. Und aus all dem wurde meine letzte Chance, mein letztes offenes Tor … noch einmal ein voller Mond und die Morgensonne auf taunassen Wiesen. Alles so selbstverständlich, wenn ich ihre Stimme höre.