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Oleksij Tschupa

Märchen aus meinem Luftschutzkeller

Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe

Vorwort von Serhij Zhadan

Die Literatur hat fantastische Möglichkeiten, Möglichkeiten, wie sie weder die Politik noch die Geografie noch die Anthropologie haben. Der Literatur ist es zu verdanken, dass ein Leser Liebe und Zuneigung zu Orten erfahren kann, die normalerweise nicht geliebt werden, über die normalerweise gesprochen wird, ohne dass Liebe oder Bitterkeit anklingen.

Märchen aus meinem Luftschutzkeller ist so ein Buch. Die Begebenheiten zeigen den ukrainischen Donbass, wie weder Politiker noch Fachleute noch Journalisten über ihn sprechen – mit einer Offenheit, die an Abscheu grenzt, und einer Bitterkeit, die aus Nostalgie erwächst. Durch die dezidierte Subjektivität des Autors und seine offene Empathie kann der Leser etwas entdecken, was in offiziellen Mitteilungen fehlt: lebendige Augen, fragmentierte Biografien und warme Stimmen, die Hoffnung geben.

Das ist wichtiger als alle Geografie, denn es berührt Dinge, die in der Geografie einfach keinen Platz haben. Erinnerung und Glaube zum Beispiel.

Erdgeschoss

Wohnung 12, 13, 14

Wohnung 12
Flotter Dreier

Fast alles, was in der Wohnung Nummer 12 veranstaltet, gesagt, gedacht und getan wurde, fiel unter die philosophische Kategorie Nebel. Das winzig kleine und unscheinbare „fast“, mit dem die Geschichte anfängt, bezieht sich auf ein Nullachtfünfzehn-Leben, das die Bewohner der Zwölf nun wahrlich nicht führten. Das „fast“ war so klein, dass man es im Grunde genommen weglassen konnte. Und das tat ich.

Die Zwölf lag im Nebel. Trubel, Tumult, Radau, Tohuwabohu – das traf es alles nicht. Nebel. Punkt. Die anderen Hausbewohner konnten nicht erklären, wie sie auf das Wort gekommen waren. Doch tief in ihrem Unterbewusstsein schwebten – wie Wale im Ozean – traumatische Erinnerungen, dass Vira, die Kanaille aus der Zwölf, das Haus schon viermal in Brand gesetzt hatte. Das Trauma saß tief, und die anderen Bewohner assoziierten die unselige Wohnung im Erdgeschoss für alle Zeiten mit Nacht und Nebel.

Der Nebel zog vor 30 Jahren auf, unmittelbar vor der Perestroika. Er kam mit Vira Labuha ins Haus, einem Teufelsweib, das damals noch ganz passabel aussah. Vira war Anfang dreißig, hörte Heavy Metal, war mit einem Bonzen aus der Staatsanwaltschaft liiert und von aller Welt gefürchtet wie der Teufel. Wie ein Volksfeind, wäre damals wohl der ideologisch korrekte Ausdruck gewesen. Die Leute hatten solchen Schiss, dass sie sie weder anschauten noch ansprachen und einen möglichst großen Bogen um sie machten. Die Kanaille scherte sich ihrerseits um nichts und niemanden und suchte keinen Anschluss. Bei ihr schaute keiner rein und die Leute ahnten nur vage, was sich in der Wohnung abspielte, wenn sie von draußen durch die gelben Fenster schauten und die kantigen schwarzen Silhouetten von Labuha und ihren Partyfreunden sahen und die Höllenmusik hörten, die nahezu den ganzen Tag aus Viras Wohnung dröhnte.

In ihrer Wohnung herrschte das heillose Chaos. Und da Chaos weitaus widerstandsfähiger als die strengste Ordnung ist, überstand es locker solch fragile Prozesse wie die Herausbildung einer nationalen ukrainischen Identität, den Zerfall des Sowjetimperiums, mehrere Revolutionen, eine Hyperinflation und den darauffolgenden bescheidenen Aufschwung. Vira L. steckte so tief in ihrem Chaos, dass sie überhaupt nicht mitbekam, was sich in der Welt draußen vor ihren im Parterre gelegenen Fenstern abspielte.

Der letzte, der sich offen gegen die Labuha gewehrt hatte, wanderte, nachdem er die Kanaille bei der Polizei angezeigt hatte, zur Verblüffung aller wegen unerlaubten Drogenbesitzes in den Knast und wurde danach nie wieder gesehen. Irgendwann riefen die Hausbewohner nicht mal mehr die Polizei, egal wie rücksichtslos und gesetzeswidrig sich die Labuha und ihre Horde aufführten. Wenn die Streife kam und feststellte, dass es wieder Ärger mit der Zwölf gab, rieten die Polizisten den Hausbewohnern wohlmeinend, sich mit der Kanaille lieber nicht anzulegen und einfach so zu tun, als wäre sie nicht da. ‚So tun, als ob sie nicht da wäre, na, danke‘, sagten sich die Bewohner und deuteten auf Viras Tür. Drinnen wummerte Cannibal Corpse, Flaschen knallten auf den Boden, Viras höllisches Lachen dröhnte durch die Tür. Es war kurz vor Mitternacht, wie sollte man bitte schön bei diesen Schlafliedern ein Auge zu tun?

Die Kanaille konnte, obwohl sie das vielleicht gar nicht wusste, in ihrer Teufelshöhle beliebig schalten und walten. Ihren Verehrer aus der Staatsanwaltschaft, der ihr die Wohnung verschafft hatte, hatte Vira gleich einen Monat später abgeschossen, doch er hielt weiterhin die Hand über sie. Die Liebe eines Dreißigjährigen konnte, war sie einmal entfacht, bis zum Tod anhalten. Und das war hier der Fall. Dass aus dem Genossen Smirnow im Laufe der Perestroika Petro Petrowytsch geworden war – nunmehr Erster Stellvertreter des Generalstaatsanwaltes – brachte den Hausbewohnern im Kampf gegen die Labuha keinerlei Vorteile. Und dass plötzlich Funktionäre aus Donezk auf hohe Posten in Kiew gehievt wurden, gab den Leuten den Rest. 2015 hatte das ganze Haus in geheimer Verschwörung gegen den Donezker Clan gestimmt und gehofft, Petro Petrowytsch würde endlich abgesetzt werden, woraufhin man die Labuha nach dreißig qualvollen Jahren endlich bei Eis und Schnee vor die Tür zu setzen gedachte. „Wenn die Alten am Ruder bleiben, hat’s uns am Arsch.“ Eleganter ließ sich die Situation nicht beschreiben.

Die Kanaille lebte ihr Leben und ignorierte alles, was sich um sie herum abspielte. Alle Verwünschungen und Verschwörungen, alle Gespräche und nächtlichen Polizeivisiten, alle Drohungen, die jemand im Erdgeschoss an die Wand geschrieben hatte, einfach alles. Ihr Leben bestand aus zwei Bausteinen: aus größeren und kleineren Partys. Wenn die Labuha irgendwoher Kohle hatte, lud sie ihre ganze Clique ein und schmiss apokalyptische Feten. Hatte sie keine Kohle, kamen die Leute trotzdem, legten zusammen und machten auch Party, nur etwas bescheidener. Die Typen, mit denen sie sich umgab, waren unscheinbar und faszinierend zugleich, ich habe mich immer gefragt, wo sie die alle aufgabelte. Saboteure, Säufer, Prolls, ewige Loser, dauerhaft Arbeitslose und ständig Obdachlose. Sie brachten es fertig, in Windeseile beliebige Summen zu versaufen. Summen zwischen zwei- und dreitausend Hrywnja rannen als Schnaps durch die Kehlen, so wie bei heidnischen Ritualen das Blut der geopferten Jungfrauen in die Brunnen floss. In den Trinkpausen schnappten sie sich uns kleine Jungs und texteten uns mit ihrem philosophischen Gequatsche zu, bis die nächste Pulle in Sicht kam. Ich war ein williger und aufmerksamer Zuhörer. Erst viel später begriff ich, dass ich durch Zufall Bekanntschaft mit Bukowskis Protagonisten geschlossen hatte, noch ehe ich richtig lesen konnte. Lange bevor ich den Autor kannte. Tja, seinem Schicksal entkommt man wohl nicht.

***

Was ein Samstagmorgen ist, wusste Serhij Platonow eigentlich nicht. Gewöhnlich gab er sich, nachdem er die ganze Woche über seine gesetzlich vorgeschriebenen Stunden in der Bank absolviert hatte, freitagabends mit seinen Kollegen in einer Bar die Kante, kam erst tief in der Nacht nach Hause, warf sich ins Bett und schlief bis zum nächsten Abend durch. Der Samstagmorgen existierte für ihn nicht. Vielleicht gab es ihn, aber seit der Schulzeit hatte Serhij keinen mehr im wachen Zustand erlebt.

An diesem Samstag lagen die Dinge allerdings anders. Gestern hatte er von seinem Chef für heute einen Sonderauftrag bekommen. Nichts Kompliziertes: Er sollte bei einer Tussi zu Hause vorbeischauen und herausfinden, warum sie ihren Kredit nicht zurückzahlte. Wenn möglich, sollte er außerdem klären, warum sie nicht nur die Zahlung verweigerte, sondern ebenso dreist die Anrufe und Briefe der Bank ignorierte, also den von ihr unterschriebenen Vertrag nicht einhielt. In der letzten Woche waren mehrere Mitarbeiter bei ihr gewesen, hatten jedoch niemanden angetroffen, wahrscheinlich war die Dame in der Arbeit. Auf der Arbeitsstelle, die sie im Vertrag angegeben hatte, kannte sie allerdings niemand. Es war eine Minutensache, er brauchte die Frau bloß zu erwischen und herauszufinden, ob wenigstens die Adresse stimmte, die sie angegeben hatte. Da Serhij als Bankmitarbeiter einen seriösen Eindruck hinterlassen wollte, war er Freitagabend nach der Arbeit nach Hause gegangen und hatte sich nüchtern schlafen gelegt. Zum ersten Mal seit langer Zeit.

Mit einem Stadtplan in der Hand lief er von der Haltestelle los. Das Haus, in dem die Klientin wohnte, musste irgendwo ganz in der Nähe sein. Nachdem Serhij ein paar Runden durchs Viertel gedreht hatte, stieß er auf eine breite Straße, die zu beiden Seiten von ausladenden Kastanien gesäumt war. ‚Sieht schön aus‘, dachte Serhij und bog in den Hof ein, an dessen Einfahrt er die gesuchte Nummer fand.

Der Hof war frühsommerlich grün und morgendlich warm. Er wurde von einer roten Ziegelmauer und einem Kindergarten begrenzt. Die Hausmeisterin klapperte mit Eimern, irgendwo rief mit tiefer Stimme der Milchmann, ein paar Katzen sprangen kreuz und quer auf einem asphaltierten Streifen herum. Das Haus erwachte gerade erst zum Leben. Die Chancen, Frau Labuha anzutreffen, standen gut. Lächelnd machte sich Serhij auf die Suche.

Er lief auf die Hauseingänge zu und studierte die Metallschilder, auf denen die Wohnungsnummern des jeweiligen Aufgangs standen. Die Zwölf war im zweiten. Die schwere Metalltür hatte einen Zahlencode. Drinnen dröhnte höllische Musik, der Bankangestellte erschauderte, obwohl es draußen schon heiß wurde. Fröstelnd zog er die Schultern hoch und spürte, wie sich kalte Schweißtropfen in sein blütenweißes Hemd setzten. Jetzt kam der Türcode.

Allzu schwer konnte es ja nicht sein, da die Firmen, die codegesicherte Türen einbauten, sich auf zwei Codes beschränkten. Serhijs zweiter Versuch klappte.

Quietschend sprang die Tür auf. Das Treppenhaus war kühl und verqualmt. Die sommergrünen Bäume und der heiße Asphalt blieben draußen, der Junior-Bankberater betrat das dämmrige Stiegenhaus. Lief ein paar Stufen hinauf und hörte wieder diese schreckliche Musik, fühlte eine glatte, kalte Schlange über seinen Rücken kriechen. Am liebsten wäre er umgekehrt, aber dann fiel ihm ein, dass Mitarbeiter, die Aufträge nicht ausführten, sich nicht lange hielten, also klammerte er sich fester an das hölzerne Treppengeländer.

Als erstes musste er feststellen, dass es im Erdgeschoss kein Licht gab. Nur auf die Tür mit der Nummer Dreizehn vor ihm fiel aus einem winzigen Fenster auf dem Treppenabsatz ein kleiner Lichtkegel. Serhij strengte seine Augen an und suchte an den Türen nach den Wohnungsnummern. Richtig. Zwölf bis Vierzehn. Er holte sein Handy aus der Tasche, um sich Licht zu machen.

Die Tür der Zwölf sah krass aus. Wie die meisten Büroangestellten holte sich Serhij seinen Kick bei Computerspielen, Sportwetten und Fernsehnachrichten. Da die ersten beiden Vergnügungen mit der Zeit auf die Augen und ins Geld gingen, hatte er sich auf die Nachrichten verlegt. Nachrichten aus Politik, Showbiz und Verbrecherwelt waren seine Leidenschaft. Und so hatte er vor einiger Zeit gesehen, wie die Eingänge zu Polizeirevieren nach Zusammenstößen mit griechischen Anarchisten aussahen. Hier bot sich ihm ein ähnlicher Anblick. Die Wand neben der Tür war schwarz vor Ruß, der Holzrahmen war angekohlt, an der rechten Seite baumelte an einem räudigen Draht hilflos wie ein Selbstmörder die Klingel. Die versiffte Tür war mit einem merkwürdigen Papierbild beklebt. Vor der Tür lag ein Fußabtreter aus Kunststoff mit der adretten Aufschrift Home Sweet Home, aber als Serhij versehentlich darauf trat, gluckerte es unter seinen Füßen. Als hätte sich die Hölle aufgetan, stank es plötzlich nach einem Gemisch aus Urin, Blut und Fusel. Blitzartig zog Serhij seinen besudelten Schuh von dem Abtreter zurück. Wieder huschte ihm die kalte Schlange über den Rücken und verschwand in der Leistengegend.

„Scheiße“, zischte Serhij und wischte seinen Schuh mit einem Taschentuch ab.

Serhij brauchte drei Minuten, um sich wieder zu fassen. Auf der Suche nach der richtigen Klingel leuchtete er nochmals die Wände ab, fand aber nichts.

‚Na gut, alles halb so wild. Ich klingle, stelle meine Frage und kratze die Kurve. Ab in die Bar. Dann hole ich den gestrigen Abend nach. Okay?‘, nahm er sich vor.

Der Gedanke an die Bar weckte Serhijs Lebensgeister. Er strich sich seufzend die Haare glatt, holte Mappe und Stift aus der Tasche und setzte sein schönstes Banklächeln auf.

Dann hämmerte er gegen die Tür. Er durchbrach mit den Fingerknöcheln das Papierbild, wischte die Finger an der Jeans ab und klopfte wieder. Einmal, zweimal, dreimal. Wieder diese grauenvolle Musik. Wieder kroch die Schlange unterm Hemd vom Hals abwärts, verschwand aber dieses Mal nicht, sondern rollte sich in der Leistengegend zusammen und zischte. Serhij wurde übel.

Drinnen änderte sich das Lied, die Melodie wechselte von schauerlich-schmachtend zu aggressiv. Platonow wartete kurz und wummerte jetzt mit der Faust gegen die Tür. Schritte erklangen, und eine alte, brüchige Stimme jaulte gegen die Musik an:

„Was iss?“

„Was soll sein?“, rief Serhij verwirrt zurück.

Das Echo flog hoch hinauf bis ins oberste Stockwerk und verklang erst unter dem Dach.

„Was los iss, will ich wissen! Was hämmerst du so gegen die Tür?“

„Ich möchte gern Vira Serhijiwna Labuha sprechen.“ Serhij schlug einen offiziellen Ton an.

„Und wer bist du, dass du mit mir sprechen willst, he?“

‚Sie ist tatsächlich ab und an zu Hause, na, bitte. Dann kann ich ja abhauen‘, dachte Serhij. Aber sein Ehrgeiz und der Wunsch, vor dem Chef gut dazustehen, kamen ihm in die Quere. Platonow war schon fast zur Tür hinaus, aber als er sich ausmalte, was sein Chef für ein Gesicht zöge, wenn er mit brandneuen Informationen über Vira Serhijiwna Labuha aufwartete, rief er:

„Die Bank will Sie sprechen!“

„Was denn für eine Bank zum Teufel?“, krächzte es drohend hinter der Tür.

Die Musik ging aus, und Serhij hörte Schritte von mehreren Personen, die die gerade eingetretene Stille durchbrachen.

„Sie haben bei uns im Februar einen Kredit über 13.000 aufgenommen und bislang noch keine einzige Rate gezahlt“, rief Serhij und fragte sich, wie diese Natascha aus der Kreditabteilung so jemandem überhaupt ein Darlehen gewähren konnte. „Jetzt machen Sie doch auf! Lassen Sie uns vernünftig reden! Ich habe alle Papiere dabei, ich kann Ihnen alles zeigen.“

„Aufmachen? Das könnte dir so passen! Ich mach auf, und du raubst mich aus oder vergewaltigst mich! Ich bin doch nicht blöd!“

Serhij stellte sich vor, was in dieser Bude hinter der verkohlten Tür wohl zu holen war und wie man eine Frau vergewaltigte, die so röhrte und laut Formular schon fast sechzig Jahre auf dem Buckel hatte. Ihn packte der Schrecken.

„Ich bitte Sie! Ich komme im Auftrag der Bank! Wie könnte ich denn?!“

„Ach was, und ob du kannst!“

Serhij überlegte und musste ihr insgeheim recht geben, dass jemand anderes das womöglich fertigbrachte. Aber nicht er.

„Vira Serhijiwna, nun machen Sie doch auf und lassen Sie uns vernünftig reden!“

„Scher dich zum Teufel, du Furz!“, blaffte ein versoffener Bass dazwischen.

„Jetzt mach mich hier mal nicht blöd an, Opi, sonst hol ich die Polizei, die lochen dich ein, da kannst du in der U-Haft deinen Müll ablassen.“ Serhij war auf hundertachtzig.

„Hau ab!“, wiederholte die Stimme, allerdings etwas versöhnlicher.

„Ich hol die Bullen“, erklärte Serhij seine Drohung mit einfachen Worten.

„Tu dir keinen Zwang an, denkst du, du bist der erste, der auf die Idee kommt? Na los, mach schon!“

Mittlerweile konnte Serhij die versoffenen und verrauchten Stimmen zuordnen. Das eben war Frau Labuha gewesen. Der Banker trat von einem Bein aufs andere, weggehen kam nicht in Frage, das würde ja sonst so aussehen, als hätten ihn die beiden vertrieben. Drinnen kam wieder Bewegung auf, die beiden schleppten etwas zur Tür, Serhij Platonow schweifte in Gedanken ab.

‚Warum tue ich mir das eigentlich an?‘, fragte er sich. ‚Ich verziehe mich jetzt, hole Natascha und Katja ab, wir machen eine nette kleine Kneipentour, und ich schau mal, welche von beiden schneller dicht ist, die kommt dann mit zu mir. Oder beide.‘ Sehnsüchtig kniff er die Augen zusammen. Auf einen flotten Dreier hatte er schon lange Lust, leider blieb er fern und unerreichbar wie die Paradiespforte für Politiker. ‚Verdammt, heute nehme ich sie beide. Gleichzeitig!‘, beschloss Serhij, und beflügelt von diesem Gedanken wollte er sich schon umdrehen und diesem spelunkigen Treppenhaus den Rücken kehren, bloß weg von der Labuha und ihrem Saufkumpan, weg von diesem triefenden und stinkenden Vorleger Home Sweet Home und überhaupt weg aus dieser absurden Situation, in die er da geraten war.

Doch genau in diesem Moment brachte sich die Kanaille mit ihrer brüchigen Stimme wieder in Erinnerung:

„Was ist, Banker, schon die Hosen voll?“

„Nein.“

„Zeig mal deine Papierchen her.“

„Wie soll ich Ihnen denn bitte schön die Papierchen zeigen, wenn Sie nicht mal einen Spion in der Tür haben?“ Serhij leuchtete mit dem Handy, konnte aber nirgends ein Guckloch entdecken.

„Schieb sie unter der Tür durch. Ich seh mir alles an, geb sie dir zurück und mache auf, wenn alles okay ist.“

„Vor Ihrer Tür hat einer hingepinkelt und hingekotzt. Wie soll ich da etwas durchschieben?“

„Das passt schon. Immer locker bleiben, Banker“, mischte sich die Männerstimme ein.

„Verpiss dich, du Arsch!“, ätzte Serhij. Diese verdammten Idioten stahlen ihm hier die Zeit und hielten ihn obendrein von seinem herrlichen und erschöpfenden, wenngleich momentan nur imaginären Sex mit Natascha und Katja ab.

Aber er hatte offenbar vergessen, wo er war. Vergessen, dass in den hiesigen Breiten unpassende Äußerungen, der gelaberte Scheiß sozusagen, üble Folgen nach sich ziehen konnten. Serhij hatte die letzte Silbe seiner Schmähung noch gar nicht ganz ausgesprochen, als es drinnen ein trockenes und dürres Krachen gab, dem eine ohrenbetäubende Explosion folgte.

Die Labuha und ihr Kumpan hatten buchstäblich in letzter Minute ihre alte Flinte rausgeholt und hinter der Tür in Position gebracht. Dass sie losging, überraschte nicht nur Serhij, sondern auch die beiden. Die Labuha konnte es nicht ausstehen, wenn jemand ihre Freunde dumm anmachte. Ganz zufällig hatten ihre Finger den Abzug betätigt. Das Gewehr knallte ihr gegen die Schulter, mit einem kinoreifen Krachen durchschlug die Kugel das dünne Holz und zerfetzte das bunte Papier. Im nächsten Moment vollführte Serhij eine elegante Drehung und landete schmerzbenommen neben der Nachbarstür. Seine Schulter fühlte sich an, als hätte man ihm einen Bolzen eingesetzt und festgeschraubt oder besser gesagt mit einem Fünf-Kilo-Hammer eingeschlagen. Sein weißes Hemd war voller Blut, die Hände gehorchten ihm nicht, die Zähne klapperten, als wollten sie die Schrotkugeln im kühlen, stillen Treppenhaus parieren. Wie die Blütenblätter einer Trauerrose lagen die besudelten Quittungen und Bankpapiere um ihn herum verstreut. In der Tür klaffte ein riesiges Loch, aus dem zwei eingefallene Gesichter herausschauten. Hinter den beiden Jammergestalten brannte gelbes elektrisches Licht, einzelne Strahlen fielen ins Treppenhaus und beleuchteten den entsetzten Serhij.

„Verpiss du dich doch!“, sagte der Alte und fletschte die Zähne. „Was ist, Schwuchtel?“ Er spielte auf die langen Haare des Besuchers an, die normalerweise in diesem Stadtteil nicht so getragen wurden. „Ist das Guckloch groß genug? Zeigst du uns jetzt die Papiere?“

„Sie … Sie …“ Zitternd versuchte Serhij, sich wenigstens in eine sitzende Position zu bringen und mit seiner Hand die Wunde zu bedecken, aus der Blut sprudelte. „Sie sind doch übergeschnappt!“

Für ihn war das Gespräch beendet. Er lehnte sich an die Tür und holte mit seiner gesunden Hand das Handy hervor. Dann rief er die Polizei an, gab die Adresse durch und schloss mit einem Seufzer der Erleichterung die Augen.

In seinem Kopf drehte sich alles, als er die Augen wieder öffnete, kamen aus den Gesichtern hinter dem Loch bunte Flecken auf ihn zugeflogen. Plötzlich ging die Tür auf, und zwei dunkle Gestalten traten in den Lichtkegel. Die eine hatte ein kleines Fleischerbeil und einen flaschenförmigen Gegenstand in der Hand, die andere hatte die Flinte geschultert. Serhij zuckte zusammen und wollte rückwärts, stieß aber gegen das kalte Metall der fremden Tür.

„Wir sind nicht übergeschnappt, Banker, keine Angst“, sagte die Gestalt mit der Flinte versöhnlich, in der Serhij Vira Serhijiwna Labuha erkannte.

Die Labuha rückte ihm auf die Pelle – der Junior-Bankberater schaute einer Sensenfrau ins Gesicht. Vira Serhijiwna hatte wasserstoffblond gefärbte Zotteln, die sie mit dem Brenneisen traktiert hatte, weswegen sie spröde und störrisch waren. Die Strähnen standen nach allen Seiten ab und erinnerten an die späte Pugatschowa. Vira Serhijiwna hatte eine Fahne und war grell und wild geschminkt, was Serhij zum wiederholten Mal die Schlange des Schauders über den Rücken jagte. Die Labuha hing leicht schwankend über dem Verletzten, den Finger hielt sie weiter am Abzug. Dass die Flinte wieder geladen war, stand für Serhij außer Zweifel.

„Nimm’s uns nicht krumm, Banker. Wir kennen dich nicht, du kennst uns nicht, so weit, so gut. Du fällst hier ein, machst uns dumm an, kommst mit irgendwelchen Forderungen und pöbelst dann auch noch den Holzfäller an. Was ist das überhaupt für eine Bank, deren Mitarbeiter sich gegenüber ihren Kunden dermaßen im Ton vergreifen?“ Sie tippte ihm mit dem Gewehrlauf an die gesunde Schulter, Serhij drehte sich weg.

Als Beweis, dass er wirklich ein Holzfäller war, holte der Typ mit dem Fleischerbeil theatralisch aus und setzte dann die Flasche an. Serhij verzog das Gesicht. Der Stoß mit dem Gewehrlauf holte den Angeschossenen ins Hier und Jetzt, in die Realität zurück: der unsägliche Schmerz, die blutende, kaputte Schulter, der verrenkte Körper, alles war wieder da.

„Können Sie vielleicht … einen Arzt rufen?“, stöhnte Serhij.

„Kriegst du, du kriegst deinen Arzt, mach dir nur nicht ins Hemd, Kleiner“, sagte der Holzfäller sanft und beugte sich ebenfalls über ihn.

Die Decke über Serhij bewegte sich, mal kam sie näher, mal entfernte sie sich, ihm war schwindelig. Er wollte sich zur Seite beugen und zur Tür kriechen, aber der Holzfäller schob sein Knie dazwischen. Der Alte hielt Serhij die Flasche hin, der schob sie zuerst weg, griff dann doch mit der gesunden Hand zu und nahm ein paar kräftige Schlucke. Wärme strömte durch seinen Körper und spülte den Schmerz fort.

Als die Labuha sah, dass der Banker am Wegtreten war, sagte sie:

„Tschuldigung, jetzt mal. Da ist mir der Kragen geplatzt, als du den Holzfäller angepöbelt hast.“

„Er hat ja angefangen.“

„Halt, halt, Freundchen, jetzt mal halblang. Er ist hier zu Hause, und du bist auf der Arbeit. Und wenn er dir die Krätze in den Arsch bläst, hast du nicht aufzumucken. Wir sind hier nämlich die Kunden, und du bist der Dienstleister. Also, Kumpel, du hast es versaut. Korrekt?“

„Nein.“

„Falsche Antwort. Der Kunde hat immer Recht. Du bist der Dienstleister, vergiss das nicht. Spiel dich hier bloß nicht so auf!“

„Wieso mussten Sie denn schießen, verdammt noch mal?“ Serhij war völlig fertig. „Und dann auch noch in die Schulter! Hätten Sie denn nicht vorbeischießen können?“

„Wollt ich ja“, rief die Labuha beschwichtigend. „Du kannst Gott danken, dass du noch am Leben bist, ich hätte genauso gut den Kopf treffen können, dann hätte sich’s ausgeschwafelt, kapiert?“

Serhij riss dem Holzfäller die Flasche aus der Hand und nahm noch ein paar kräftige Schlucke. Jetzt wurde es ihm richtig heiß, die Wunde fing an zu pulsieren, scharf und schmerzhaft, im Unterbauch rumorte es.

„Das war zu viel des Guten“, brummte der Holzfäller missmutig und setzte sich neben Serhij.

„Gönnst du mir wohl nicht, was? Das ist für den Arm!“

„Der Wodka gehört mir. Und geschossen hat Vira.“

„Na und?“

„Nichts. Du gehst mir auf die Ketten. Lass uns was machen.“

„Was machen?“ Serhij verstand nichts.

„Meine Seele verlangt, Dings, Entschädigung …“ Aus den Tiefen seines Unterbewusstseins hatte der Holzfäller dieses Wort hervorgekramt und ausgesprochen. „Du musst bestraft werden.“

„Wofür denn?“

„Für meinen Wodka, du Idiot!“

„Vira Serhijiwna“, wandte sich Serhij hilfesuchend an die Labuha. „Können Sie nicht beim Holzfäller ein gutes Wort für mich einlegen?“

„Hast du sie noch alle? Der hätte mich vorgestern beinahe zerhackt!“

„Dann kriege ich jetzt also eine Strafe für den Wodka? Und wer bestraft euch für den Arm?“

„Hast du die Polizei gerufen?“

„Ja.“

„Na, dann wart halt, bis sie kommen und uns bestrafen. Und wir bestrafen dich ohne die Bullen. Wir haben die doch nicht gerufen, Vira, oder?“

„Nein, haben wir nicht“, bestätigte sie.

Serhij schaute sie mit glasigen Augen an. Die Labuha setzte sich neben ihn, die altersschwachen Stampfer auf dem kalten Boden aufreizend gespreizt, und steckte sich eine Zigarette an. Hielt dem Holzfäller die Schachtel hin. Bot Serhij eine an. Der nahm sie, zog, und ihm wurde übel.

„Und was ist nun?“, fragte Serhij schicksalsergeben.

„Wir machen die Sache fair, wie bei den alten Wikingern.“ Der Holzfäller kam in Fahrt. „Wir überlegen uns was für dich, eine Bewährungsprobe. Wenn du Glück hast und die Probe bestehst, bist du unschuldig und aus der Sache raus. Wenn nicht, bestrafen wir dich.“

„Okay.“ Serhij gefiel die Idee.

„Also. Ich schlage Folgendes vor“ – der Holzfäller überlegte einen Augenblick – „Du hast deine Zigarette als Letzter angezündet. Wenn die Streife kommt, bevor deine Zigarette ausgeht, hast du Glück gehabt. Wenn nicht, hacke ich dir den Arm ab. Ist ja sowieso Schwachsinn – ein angeschossener Arm. So kriegst du wenigstens Schmerzensgeld. Arbeitsunfall! Geschnallt?“

„Klar.“

„Einverstanden?“

Serhij ließ seinen Blick durchs enge Treppenhaus schweifen, zog an der Zigarette und willigte ein.

Die Schnapsflasche kreiste, jeder nahm immer genau einen Schluck. Serhij blickte wieder und wieder zur geschlossenen Haustür und versuchte sich an ein Gebet zu erinnern. Der Holzfäller fuhr mit seinem kleinen Finger zärtlich über die Klinge des Fleischerbeils und lächelte. ‚Na, Platonow, wie wär’s jetzt mit einem flotten Dreier? Klasse, verdammt, aber irgendwie schräg‘, schoss es Serhij durch den Kopf, schnell hatte sich der Gedanke wieder verflüchtigt.

Als Erste drückte die Labuha ihre Zigarette aus. Eine halbe Minute später der Holzfäller. Er stand auf, presste Serhijs Körper mit dem Knie gegen die Tür und hob dessen verletzten Arm an. Serhij Platonow, der Nachwuchsbanker, hatte wieder Schmerzen und heulte auf. Ihm blieben vielleicht noch zwei Züge. Beim letzten Zug bremste ein Fahrzeug vor der Haustür, Leute stiegen aus, Füße trappelten.

Mit einem Schlag flog die Tür auf, der anrückenden Polizeistreife bot sich ein groteskes Bild: Auf dem Fußboden vor einer blutbespritzten Wand und Tür sitzen drei Leute. Ein junger Mann, in einem ehemals weißen Hemd, betrunken, das sieht man von weitem. Der Zweite, alt, versifft, mit einem Fleischerbeil in der Hand, presst den Ersten gegen die Wohnungstür und hält dessen Arm nach oben in der Absicht, ihn abzuhacken. Neben diesen zwei Vollidioten fläzt Vira Labuha, die ewige Skandalnudel des Viertels. Der Chef der Streife war sofort im Bilde.

„Sauberer Anblick. Was ist hier los, Vira?“

„Dd-der bb-esoffene Hirni da w-wollte bei mir und dem Holzfäller einbrechen“, lallte die Labuha.

„Stimmt das?“, wurde der Holzfäller gefragt.

„Genau so war’s, Genosse Natschalnik, die reinste Wahrheit. Ich wollte ihm einen Denkzettel verpassen, sonst kommen hier noch Hinz und Kunz an.“

„Ihm den Arm abschlagen?“

„Tja, was hilft’s? Ordnung muss sein.“

„Du bist so was von beschränkt, und dabei warst du doch mal am Theater“, mokierte sich der Polizist.

Die Streife fasste den stockbesoffenen Serhij unter und zerrte ihn auf die Straße. Das grelle Grün reizte ihn, ihm wurde schlecht, er musste sich übergeben. Die Polizisten waren anständig. Sie kauften ihm Mineralwasser und gaben ihm ein paar Ohrfeigen, damit er zu sich kam. Nahmen ihn mit aufs Revier.

Eine Stunde später saß der Junior-Bankberater Serhij Platonow auf einer Bank vor dem Polizeirevier, immer noch benebelt, aber immerhin mit einem bandagierten Arm und einem halbwegs frischen Kopf. Er erzählte, was passiert war, oder besser gesagt, das, woran er sich noch erinnerte. Der Oleu hörte ihm zu und seufzte zerknirscht.

„Arschgeige. Nicht mal am Samstag lässt einen die blöde Kuh in Ruhe. Wenn du wüsstest, wie die Alte uns auf den Sack geht. Die hat hier schon Generationen von Polizisten verschlissen.“

„Krasse Omi“, sagte Serhij mitfühlend.

Er raffte sich auf und erhob sich mühsam, um sich auf den Weg zu machen, zuerst zur Haltestelle und dann nach Hause. Aber die kräftige Polizistenhand hielt ihn zurück.

„Moment mal, Kumpel, ’n Fünfer wär eigentlich ganz angebracht.“

„Wofür das denn, verdammt?“, fragte Serhij verwundert.

„Na hör mal, schließlich haben wir wegen dir Benzin verfahren, dir Wasser gekauft, einen Verband gemacht und deine Kotze weggewischt.“

„Ja, stimmt schon …“

„Na, siehst du. Ich will doch gar nicht viel. Eine kleine Entschädigung. Alles ganz fair.“

„Wie bei den Wikingern, ich weiß schon“, sagte Serhij und lächelte schief, weil er dieses seltene Wort heute zum zweiten Mal hörte. Er warf einen zerknitterten Fünfer auf die Bank und torkelte zur Haltestelle.

Wohnung 13
Revolte

„Wie denn?“

„Sieh’s dir selbst an.“ Der ältere der beiden Männer zog ein Schubfach auf und warf einen Stapel Dokumente auf den Schreibtisch.

„Was ist das?“ Über den Tisch gebeugt, schob Raschid die Papiere zusammen und richtete sie an der Tischkante zu einem akkuraten Stapel. Ordnung war ihm wichtig.

Machmed zündete sich eine Zigarette an und rannte in die Küche, um den kurz zuvor aufgebrühten Tee zu holen. Er schickte den Rauch mit einem so glücklichen und geheimnisvollen Blick in Richtung Decke, dass Raschid ihn kopfschüttelnd anschaute und sich dann wieder den Papieren widmete. Irgendwann reichte es ihm und er schob die Unterlagen wieder seinem Kumpel zu.