Cover

Ksenia Konrad

Alles außer fern

Wie ich mich (fast unfallfrei) integriert habe –
und die anderen auch

Vorwort

Die Geschichten, die ich Ihnen in diesem Buch erzähle, sind so oder so ähnlich passiert. Es gibt die Ortschaft, in der die Handlung spielt, es gibt die Menschen verschiedenen Alters aus verschiedenen Kulturen, die auf verschiedenen Lernstufen Deutsch lernen. Jeder von ihnen war und ist einzigartig und hat seine eigene Geschichte. Es gibt den Kursraum und die vier Jahreszeiten, in denen – wiederum ganz unabhängig von der tatsächlichen Jahreszeit – dieser Raum mit Sommerfieber, Frühlingsgefühlen, Winterfrische, Grippe, Herbstmelancholie und Weihnachtszauber gefüllt ist. Und es gibt die Trainerin, die diese Menschen auf ihrem Lernweg begleitet und sich selbst neu kennenlernt. Alte Denkmuster, Vorschriften, Anforderungen, Vorurteile, Erwartungen, kulturelle Unterschiede – all das trifft im multikulturellen Kontext aufeinander, und jede Begegnung bringt die Trainerin auf neue Gedanken, die in ihr große Gefühle hervorrufen: Gefühle der Dankbarkeit und der Akzeptanz.

Diese Gefühle helfen der Deutschtrainerin dabei, mit sich selbst die Rollen zu tauschen, und verwandeln sie von der Besserwisserin und Allesplanerin in die Schülerin und Beobachterin, die nicht nur ihre eigene laute Stimme, sondern auch die Stimmen der anderen hört und sie lauter sein lässt als die ihre.

Sie merkt mit der Zeit, dass alle Kurven, Umleitungen, Baustellen und langen Wartezeiten eigentlich keine großen Störungen sind und alles sich nur zum Besten entwickelt. Sie wird mit anderen Mentalitäten konfrontiert und hinterfragt ihre eigene. Sie hilft anderen, ihre Ängste zu überwinden, und lernt, ihre eigenen zu bewältigen. Sie motiviert und lässt sich selbst inspirieren. Sie bringt den Kursteilnehmern* die neue Sprache und die neue Kultur bei und lernt ihrerseits neue Kulturen kennen. Sie gibt Hoffnung und bekommt selbst Schmetterlinge im Bauch. Sie bewegt die anderen, etwas Neues zu entdecken, und löst sich selbst von ihren klischeehaften Vorstellungen.

Und je mehr sie herausgefordert wird, desto gelassener wird sie und umso mehr glaubt sie an Wunder – nicht nur zu Weihnachten. Sie geschehen tatsächlich, unabhängig von der Jahreszeit, sehr individuell und dort, wo man ihnen offen gegenübersteht.

Bügeln

Alles ist eine Sache der Einstellung und der Perspektive – Bügeln zum Beispiel. Es steht im Wörterbuch für „das Glätten von Textilien mittels Hitze“ und ist mit Abstand die unbeliebteste Haushaltsbeschäftigung. Zumindest für alle, die ich kenne – bis auf mich. Es geht dabei nicht nur um den ordentlichen Look im Beruf oder in der Freizeit, obwohl das für mich lange Zeit der einzige Grund fürs Bügeln war. Eines Tages entdeckte ich einen neuen Sinn darin.

Bügeln hat große Vorteile für das Familienleben: Es ist eine sinnvolle Tätigkeit mit einem sichtbaren Ergebnis, das etwas länger als das lecker zubereitete Essen oder der frisch gewischte Boden hält. Beim Bügeln werden die Fasern der Textilien plattgedrückt und so verfangen sich in ihnen deutlich weniger Schmutz und Staub, auch die gefährlichen Keime werden abgetötet. Darum sehe ich das Bügeln als eine große Mission und Sicherheits- und Schutzmaßnahme für das Wohlbefinden der Familie. Diese Rettungsaktion wird von allen Familienmitgliedern akzeptiert und toleriert, egal wie lange es dauert, und als Belohnung bekomme ich kostbare Zeit für mich. Bügeln bietet eine Möglichkeit, sich zurückzuziehen, besonders wenn man in einem separaten Raum bügelt.

Bügeln ist das Glätten nicht nur von Textilien, sondern auch von Beziehungen, von Konflikten – vor allem von denen mit sich selbst. Ich nehme das Bügeleisen zur Hand und entspanne mich fast auf Knopfdruck. Die Manschetten, Taschen, Kragen, Knopfleisten bügle ich von beiden Seiten: zuerst von links, dann von rechts, wieder von rechts und dann von links. Ich konzentriere mich auf meine Gedanken, führe ein spannendes Selbstgespräch, ich darf mich dabei ärgern und mich selbst loben. Die monotonen Bewegungen kombiniert mit der richtigen Atemtechnik wirken fast wie eine Meditation. Darum nehme ich jede Bügelmöglichkeit dankbar an, weil Bügeln für mich „Wellness für die Seele“ ist. Je größer die Wäscheberge, umso mehr Wellness.

Alles ist eine Sache der Einstellung und der Perspektive. Die Sprache ist ein Zeichensystem, ein Code für ein Programm. Wenn man eine Fremdsprache lernt, dann bekommt man einen neuen Code und kann ein neues Programm starten. Ab diesem Moment hat man mehrere Sichtweisen zur Verfügung, um die Realität zu betrachten. Es entwickelt und öffnet sich eine andere Perspektive, die einen voranbringen kann. Man muss sie nur sehen können – wie beim Bügeln. Oder kann man sie sehen lernen, zum Beispiel im Deutschtraining?

Das Bühnenbild

Europa ist auf der Weltkarte leicht zu finden. Österreich liegt in Europa. Tirol liegt in Österreich. Dort, im Tiroler Außerfern, befindet sich unsere Ortschaft, eine Marktgemeinde mit fast 7.000 Einwohnern. Sie liegt an der Via Claudia Augusta, einer der wichtigsten alten Römerstraßen. Das Tiroler Außerfern liegt hinter dem Fernpass, der vor über 4.000 Jahren durch einen Bergsturz entstand – wofür ich Mutter Natur sehr dankbar bin. Über den Fernpass verläuft eine viel befahrene Straße, die unsere Ortschaft durch den Lermooser Tunnel mit Nassereith und Tarrenz verbindet, und sozusagen mit der Welt.

Dafür, dass es überhaupt eine Verbindung zur Außenwelt gibt, bin ich den Römern sehr verbunden. Ich bedanke mich auch beim Straßendienst und bei allen Straßenbaufirmen, die sich darum kümmern, dass jeder zu uns und wir zu jedem finden. Ohne die Kraft der mächtigen Natur und die Bemühungen der Römer sowie den Einsatz vieler Bauarbeiter hätte ich diese Ortschaft wahrscheinlich nie entdeckt – und die Ortschaft mich nie kennengelernt. Hoffentlich ist Letzteres genauso angenehm für die Ortschaft wie Ersteres für mich.

Wer sich über den Fernpass traut, verdient sich das Glück, die traumhafte Natur zu genießen, die alte Burgruine Ehrenberg zu erblicken und sich mit einem atemberaubenden Panorama auf einer der der längsten Fußgängerhängebrücke der Welt zu belohnen.

In diesem Naturparadies haben wir uns getroffen, meine Kursteilnehmer und ich. Wir alle mit unterschiedlichen Mentalitäten, Kulturen und Sprachen, aber mit einem gemeinsamen Ziel: eine Brücke zueinander zu bauen, die vielleicht nicht so spektakulär sein mag wie die Highline, dafür aber in ein neues und erfülltes Leben führt.

Willkommen im Trainingslager

Ermüdet lächelnd und angespannt locker sitzen diese mir noch komplett fremden Menschen im Kurs, die es innerhalb von ein paar Monaten schaffen werden, mir ans Herz zu wachsen. Sie versuchen meine Frage, wie es ihnen geht, mit einem neutralen „Es geht uns gut, danke“ zu beantworten. Manche schauen mich skeptisch an, andere ganz fröhlich. Skeptisch, weil sie vielleicht eine strenge, zugeknöpfte Klassendame mit einer altmodischen Steckfrisur und einer Professorenbrille erwartet haben. Fröhlich, weil sie jemanden als „Lehrerin“ bekommen haben, der in ihrem Alter ist, vielleicht ein bisschen jünger oder ein bisschen älter, aber auf jeden Fall nicht aus der Epoche der Minnesänger. Ja, und die ersten Flirtversuche lassen nicht lange auf sich warten: „Komme ich mit meinem Charme durch oder muss ich mein Gehirn doch anstrengen?“

Es dauert noch, bis aus einem Klassenzimmer in ihrer Vorstellung ein Diskussionsraum nach meiner Vorstellung entsteht und aus mir, der „Lehrerin“, eine Trainerin wird und – was mir viel wichtiger wäre – eine Begleiterin, die jeden auf sein Podest führt, an die Stelle, die er sich wünscht – oder sich unter meiner Kontrolle bald wünschen wird.

Ein Marathon ist für die meisten Läufer die größte Herausforderung. Der Deutschmarathon ist eine Challenge für die meisten Lernenden und Lehrenden. Wie beim Marathonlauf braucht man einen guten Trainingsplan. Lassen wir den Deutschmarathon beginnen!

Lehrerin oder Trainerin?
Oder: Was mache ich hier überhaupt?

„Frau Lehrerin! Frau Lehrerin, darf ich was fragen?“, hebt die jüngste Kursteilnehmerin aus Syrien eifrig die Hand, wie sie es brav in der Schule gelernt hat.

„Wenn du dich melden möchtest, musst du aufzeigen“, hat mich meine achtjährige Tochter zu Hause aufgeklärt. Diese Fertigkeit ist bei ihr schon so gut antrainiert, dass sie auch beim Mittagessen aufzeigt, wenn sie etwas sagen möchte, und sie gibt mir Bescheid, ob sie schon satt ist oder nur kurz aufs Klo geht. Manchmal erklärt sie es mir ausführlich mit der genauen Angabe der Zielrichtung, des Zeitraums und des vorhersehbaren Ergebnisses.

Dieses „Frau Lehrerin“ bringt mittlerweile die ganze Gruppe zum Lachen und es wird immer wieder zum Spaß gesagt oder um zu prüfen, wie ich diesmal darauf reagiere. Auf die Kleine, die mit ihrer fast gleichaltrigen Schwester ausnahmsweise in einer erwachsenen Gruppe Deutsch lernt, bin ich nicht sauer. Im Gegenteil, ich bin stolz darauf, wie sie sich durchsetzt und wie zielstrebig sie ist. Nur ist sie jetzt nicht in der Schule, sondern im Kurs – und zwar im Training.

Hier ist einiges erklärungsbedürftig: „Unterricht“ wird im Allgemeinen ja als Vorgang zur Aneignung von Wissen und zum Erlernen von Fertigkeiten verstanden. Meist findet dieser Vorgang unter Beteiligung von Lehrenden und Lernenden und in einer bestimmten Institution, zum Beispiel einer Schule, statt.

Lehren und belehren wollte ich nie, weil ich selbst immer noch belehrt werde. Der Lernprozess ist und war für mich wie Integration, das heißt: Auch ich muss etwas Neues lernen und nicht bloß mein Wissen vermitteln. Ich will mich entwickeln, mich verändern, nur so kann ich mir auch von den anderen positive Veränderungen erhoffen.

Wie setze ich das in meinem Sprachunterricht um? Ich mache ihn zum Sprachtraining!

Der Begriff „Training“ steht für Prozesse, die eine verändernde Entwicklung hervorrufen. „Trainingseffekte“ werden durch die Verarbeitung von Reizen hervorgerufen. Mein Kurs besteht also aus einer Folge von Unterrichts- bzw. Trainingseinheiten. Jedes Training ist auch ein Workshop. Nicht nur das Lernen, sondern auch das persönliche und das berufliche Vorwärtskommen stehen im Vordergrund. In der Praxis schaut das ganz grob so aus: Es werden Fragen gestellt, gemeinsam Antworten gesucht und Lösungen erarbeitet. Beim Training steht das eigene Tun im Zentrum, und genau das möchte ich fördern.

Deshalb bin ich eine „Trainerin“ und gestalte ein „Training“ im Kurs. Sollte man mich schon mit „Frau XXX“ ansprechen, dann bitte mit „Frau Trainerin“. Wobei mir mein Vorname viel lieber ist.

Anna und Martha baden

„Anna und Martha baden.“ – Das war der erste deutsche Satz in meinem Leben. Ich habe ihn von meiner Oma gehört. Zwar kann ich mich nicht mehr erinnern, in welchem Zusammenhang, aber ich weiß noch ganz genau, dass Anna und Martha gebadet haben.

Meine Oma studierte Deutsch und Russisch an der Universität in Pensa und war im vierten Semester, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Ich kann mir bildhaft vorstellen, wie sie in einem kalten Hörsaal im Seminar sitzt und den vorgetragenen Lernstoff mit gefrierender Tinte auf ein Stück Zeitungspapier kritzelt. Sie hat es mir nie in Einzelheiten erzählt, aber komischerweise stellte ich mir genau dieses Bild immer dann vor, wenn ich keinen Bock hatte, irgendwas zu lernen, oder mit mir selbst Mitleid hatte, wenn mir etwas zu schwierig und anstrengend vorkam. Später erweiterten Falco mein Vokabular und Rammstein meine Kenntnisse über Zeitformen, und die bezaubernde Deutschlehrerin im Gymnasium bewegte mich zum Germanistikstudium. Die Bekanntschaft mit der deutschen Sprache begann aber im Nominativ.

Schon von Geburt an, wenn ein Mädchen, ein Junge oder eine Deutschtrainerin zum ersten Mal die Welt erblickt, begrüßt die Welt sie im Nominativ. Die Blume ist schön. Die Sonne scheint. Das Auto fährt. Das Baby ist da. Ein neues Leben ist da, und da sind auch die Schmerzen, die Tränen, die Verwandten, die Sorgen, aber am wichtigsten die Eltern, die Freude, das Glück, die Hoffnung, die Entwicklung und nicht zuletzt der Deutsch- und Integrationskurs.

Info für die Muttersprachler:

Der Nominativ ist in der Grammatik die Bezeichnung für einen Kasus (Fall), der vor allem zur Kennzeichnung des Subjekts im Satz dient, für den es aber auch typisch ist, dass er in freier Verwendung eines Substantivs auftreten kann, im Deutschen zum Beispiel in der Anrede. Der Nominativ wird dann auch als „Grundform“ eines Substantivs gebraucht.

Jedes neue Leben auf der Welt beginnt mit dem Nominativ. In der „deutschen“ Welt noch dazu mit dem bestimmten Artikel, sonst wäre das Leben zu einfach. Also für männliche Substantive mit der (der Mann, der Junge), für weibliche mit die (die Frau, die Oma) und im Neutrum mit das (das Baby, das Mädchen). Womit das Wort „Mädchen“ den bestimmten Artikel „das“ verdient hat, ist das Erste, was manche Lernenden total verunsichert.

Das bedeutet dann, man ist ziemlich sicher, dass aus einem Baby (das Baby) ein Junge (der Junge) und irgendwann ein Mann (der Mann) wird. Bei einem Baby weiblichen Geschlechts ist es aber noch ziemlich fragwürdig, ob aus einem Mädchen (das Mädchen) tatsächlich eine Frau (die Frau) wird. Das ist die erste schockierende Nachricht für männliche und weibliche Teilnehmende in einem gendergerechten Kurs, in einem Anfängerkurs der Lernstufe A1.1.**

Selbst der romantische Titel unseres Lern- und Arbeitsbuches steht im Nominativ: Lagune. Der Name vermittelt Ruhe und Entspannung. Das passende Titelbild bezaubert mit einer schimmernden, türkisblauen Meeresoberfläche, friedlich und erfrischend. Es erinnert mich an die vielversprechenden Bilder von Hotelzimmern und die traumhaften Aufnahmen in Urlaubskatalogen – sie wirken hypnotisch und locken uns an, bis man – nach Stunden in überfüllten Shuttlebussen – tatsächlich das Paradies erreicht hat.

Der schöne Schein trügt auch im Lehrbuch, schon auf Seite 3 zwingt gleich die erste Aufgabe jeden zur Ordnung: Ordnen Sie das Gespräch, Kreuzen Sie an, Ergänzen Sie. Und so taucht man ins Meer der deutschen Sprache ein, in stiller Hoffnung, irgendwann wieder lebendig aufzutauchen.

Ziel der Lernstufe A1.1 ist es unter anderem, sich im Wirrwarr der deutschen Artikel zurechtzufinden. In der Übung im Lehrbuch stehen alle Nomina im Nominativ: das Telefon, der Geldautomat, der Bus, das Taxi, die Bank. Auch die Fragen: Wie heißen Sie? Woher kommen Sie? Wie alt sind Sie? Wir lernen Buchstaben und Zahlen und wie man Menschen und Dinge kurz beschreibt und Menschen begrüßt.

Den Herren im Kurs scheint es wirklich Spaß zu machen, Buchstaben und Zahlen zu nennen, wenn es um Autonummern geht, da kann man gleich einen VW mit einem Audi vergleichen. Bei den Damen sind Telefonnummern ein Renner, und je näher sie neben einem netten Nachbarn sitzen, desto lauter, deutlicher und inspirierender klingen sie. Alles, was mit positiven Anreizen gelernt wird, wird nachhaltig gelernt. Hören funktioniert normalerweise besser als Schreiben. Man hört die Welt um sich herum, auch wenn man manchmal nicht genau hinhört, hört man es trotzdem, die Geräusche werden vom Gehirn wie mit einem Spinnennetz aufgefangen. Es ist aber eine andere Sache, wenn man diese Töne und Klänge den Buchstaben zuordnen und sie in Form eines Wortes und einer Reihe von Wörtern aufs Papier übertragen muss, also sie zu schreiben. Ob Ansichtskarten, kurze Briefe oder E-Mails – es wird wöchentlich geschrieben. Die E-Mails stürmen meine Mailbox wie die Nachbarn aus dem Ostallgäu unsere Supermärkte am Tag der Deutschen Einheit und wie wir die ihren an unserem Nationalfeiertag. Die günstige geografische Lage unserer Ortschaft verhindert das Verhungern und Verdursten der benachbarten Orte an den traditionell unerwarteten Feiertagen.

Meine Gewohnheit, das Handy am Wochenende mehrmals zu checken, erschwert den Teilnehmenden ihre kurzen Erholungspausen: Kaum haben sie ein bisschen Luft geschnappt und die Einkäufe erledigt, schon kriegen sie meine Rückmeldung und liebe Grüße. Alles wird aufmerksam gelesen, bearbeitet, Fehler werden unterstrichen und mit Farbe markiert, damit sie ihre Schwachstellen schneller erkennen und die Fehler ausbessern können. In einem persönlich adressierten Absatz findet jeder meine Empfehlungen und Anmerkungen.

„Liebe …, Hier ist M. auf Europa-Reise. Heute bin ich in Wien (München, Rom, Innsbruck usw.)“, so beginnen die Urlaubsgrüße. Urlaub und Freizeit sind ganz tolle Gesprächsthemen, finde ich und hoffe, mit ihrer Hilfe die Atmosphäre aufzulockern, so gut es geht, aber so richtig gut, wie ich mir das vorstelle, geht es dann doch nicht, weil es eben nicht nur um Hobbys und Interessen geht: Die neuen Verben und deren Konjugation bilden einen weiteren Schwerpunkt.

Die weiblichen Kursteilnehmer führen die Gespräche, bei denen es um sie geht, meistens mit Gefühl, darum wird jede zuerst persönlich gefragt, was sie gern in der Freizeit macht. Und es funktioniert: mit den Kindern spielen, shoppen, kochen. Die Männer im Kurs schauen sich gegenseitig kurz an, nicken einander zu, als würde der mentale Meinungsaustausch durch den Blickkontakt auf einer besonderen Ebene stattfinden, und einigen sich gleich nach den ersten zwei Minuten, dass sie alle ohne Ausnahme Fußball mögen. Jeder klingt so überzeugt, dass ich selbst fast bereit wäre, aus innigstem Verständnis und Solidarität einem Fußballklub beizutreten. Weiter versteinern die Männer beim Gespräch, wenn es um Lesen und Museen geht. Fußball und Spazieren sind eindeutig auf Platz 1 in der Hitparade der außergewöhnlichen Hobbys, gefolgt von Kochen. Der Wortschatz im Lehrbuch bietet uns aber viel mehr, zum Beispiel Segeln, Tauchen, Surfen. Ausgesprochen schöne und vor allem zu unserem Wohngebiet, den Tiroler Alpen, passende Freizeitangebote.

Ein sanfter Übergang von diesen Vokabeln zur Realität gelingt mir nicht so ganz, als mir Sido plötzlich zu Hilfe kommt: „Gitarre! Ich spiele nicht Fußball. Ich spiele Gitarre.“

Er löst damit einen Ausruf der Verwunderung und Begeisterung aus: „Stricken. Ich stricke gern am Wochenende!“, schreit Tina.

„Ich male in der Freizeit. Ich kann nicht gut malen, aber ich male gern“, verrät uns Kilu.

„Und du, was machst du gern, Kecheli?“, frage ich.

„Ich spiele Klavier“, flüstert er verlegen. Später werde ich erfahren, dass sein Vater ihm das Klavierspielen beigebracht hat. Kecheli ist nie in die Musikschule gegangen.

„Toll! Schöne, interessante Hobbys. Vielleicht gibt es noch andere Hobbys, ein Hobby, das ihr alle habt?“

„Kochen. Ich koche gern. Nein, Entschuldigung, ich backe zu Hause. Kuchen“, teilt uns Mira fröhlich mit.

„Grammatik lernen! Natürlich!“, rutscht es Sakim raus.

Die Gruppe bricht in schallendes Gelächter aus – und ich auch. Wenn man gemeinsam lachen kann, dann kann man auch zusammenarbeiten.

Im nächsten Unterricht werden kleine, selbstgebackene Muffins in Begleitung der Gitarrentöne verteilt und die großen Kinder stopfen sie sich energisch rein.

„Mit vollem Mund lassen sich die Verben einfacher konjugieren“, stelle ich fest.

Versteckte Message per Messenger

„Stell das Verb ans Ende des Satzes, sofort!“, schreie ich mein Smartphone an.

Meine Freundin, bei der ich gerade einen Termin für meine Nägel habe, und bei dem ich mich eigentlich entspannen und auf das baldige schöne Ergebnis freuen sollte, schaut mich ängstlich an. In ihrem Gesicht kann man ablesen, dass sie selber nicht mehr sicher ist, wohin das verdammte Verb gehört. Ihren Lippenbewegungen nach ist es schwer zu verstehen, ob sie jetzt grade mitlernt oder für alle betet, die an diesem Kreuzzug „Deutschkurs A1.2“ teilnehmen.

Mein Messenger glüht und kocht vor übermenschlichen Anstrengungen. Per E-Mail bin ich heute schwer erreichbar, darum Messenger.

Ich verwende neue soziale Medien und Messengerdienste gerne, um mit meinen Kursteilnehmern zu kommunizieren. Man kann damit auf entspannte Art die Sprache üben, auch ohne sich im Kurs zu sehen oder sich gegenseitig motivierende Sprüche schicken. So wandert die Sprache aus den Lehrbüchern ins alltägliche Leben. Und sie motiviert die Schüler: Rechtschreib- und Grammatikfehler werden nämlich sofort von den anderen Kursteilnehmern mit Emojis in Form von bösen Teufelsgesichtern oder angezündeten Bomben quittiert.

„Du solltest das lieber lassen, mit dem Messenger, WhatsApp, E-Mails. Jetzt ist schließlich deine Freizeit und die bezahlte Lernzeit ist im Kurs“, zischt meine Nagelfee mit starrem Blick und holt mich aus meinen Gedanken zurück.

Ja, sie hat recht. Heute ist Sonntag, ich muss abschalten. Wir haben geregelte Kurszeiten und das hier ist schon Privatunterricht, Computer-based learning – oder besser gesagt „Handy- based drilling“.

Ive ist nicht nur ein Profi in ihrem Bereich, sie ist eine leidenschaftliche Designerin, die die Welt in vielfältigen Formen, Farben, Schattierungen und im UV-Licht sieht. Nägel sind für sie eine Leinwand. Sie feilt und poliert mir die Fingernägel, trägt wie eine Künstlerin mit dem Pinsel das Gel auf und bringt nicht nur die Nägel, sondern auch meine Seele und Psyche in Form. Sie sitzt vor mir, ich vor ihr und Kecheli sitzt jetzt bei schönem Wetter am Sonntag zu Hause und übt diese Sätze. Es ist schon das dritte Mal, dass er die Sätze umschreibt und mir zur Kontrolle schickt. Er will das lernen, er will das begreifen – und das beweist er mir schon seit Freitagabend.

Ja, die Trainerin ist da, um diesen Lerndrang und diese Beharrlichkeit zu unterstützen, im Kampf an seiner Seite zu stehen, an ihn zu glauben, ihn dazu zu bringen, diesen Willen zu entwickeln. Darum antworte ich weiter, darum darf er eine Stunde früher kommen, und ich werde ihm das, war er nicht verstanden hat, noch einmal extra erklären. Ich werde aber auch ein Gespräch über sein Leben führen, seine Ängste und Unsicherheiten, und er wird sich sogar bei mir über mich selbst beschweren.

Und nach diesem Einanderschreiben am Wochenende und dieser Extratrainingsstunde werden wir uns besser verstehen: Ich werde das hören, was ein Kursteilnehmer einer Trainerin nie vor der Gruppe sagen würde – zum Teil aus Mangel an Deutschkenntnissen, zum Teil aus Angst, ausgelacht zu werden –, und er wird hören, was die Trainerin davor wahrscheinlich selten gesagt hat – zum Teil aus Zeitmangel, zum Teil aus Angst, nicht ernst genommen zu werden, oder aus Unsicherheit, nicht überzeugend genug rüberzukommen. Jetzt ist die perfekte Gelegenheit für ihn zu erfahren, wie stolz ich auf ihn bin und wie fest ich daran glaube, dass er diese Lernstufe und viele weitere schaffen wird. Jetzt weiß ich das und er weiß das auch.

Von nun an schweigt Kecheli nicht mehr auf Deutsch, sondern er stellt und beantwortet Fragen und lächelt mich an.

„Deutsch macht stark!“, das sage ich immer, und die Art und Weise, wie man diese Sprache spricht, und welche Message dahintersteckt, macht die Sprache menschlich.

Die Wortfolge. Oder: das McDonald’s-Schild

Es ist eine wichtige Erkenntnis der Philosophie, dass unsere Wahrnehmung nicht objektiv ist. Mein Vater pflegt zu sagen: „Wir betrachten und bewerten die Welt immer durch die Brille eigener Erfahrungen.“ Auch ich sehe durch die Brille kulturell geprägter und historisch gewachsener Muster, die wiederum sehr eng mit der Sprache verbunden sind. Diese Brille und ihr Einfluss auf unsere Wahrnehmung sind uns selbst nicht bewusst. Bewusst werden sie uns – oder zumindest mir –, wenn wir zu den Kausal- oder Temporalsätzen kommen, zu allen Nebensätzen mit den Konnektoren, wie wenn, weil, dass, obwohl und so weiter.