Illustration

 

Aleš Šteger

Logbuch der Gegenwart Aufbrechen

Aus dem Slowenischen
von Matthias Göritz
Mit einem Vorwort von
Alberto Manguel

Inhalt

Alberto Manguel – Die Kunst Fragmente zu bewahren

Kochi – 23. März 2016

Solowki – 19. Juli 2017

Shanghai – 29. Mai 2018

Bautzen/Budyš – 17. April 2019

Alberto Manguel

Die Kunst Fragmente zu bewahren

„These fragments I have shored against my ruins“

T. S. Eliot, The Waste Land

„Diese Fragmente stütz ich gegen meine Trümmer“

T. S. Eliot, Das wüste Land

Ein Text existiert nie (wie wir uns das so unschuldig vorstellen) als sequentielles Ganzes. Das Lesen geschieht im Augenblick. Schauen Sie sich ein Wort oder einen Satz an, blättern Sie um oder klappen Sie den Bildschirm zu, und der Text ist für den Leser nur noch als eine Art Erinnerungsspeise vorhanden. Die Priester in einer kleinen Kirche in der Nähe von Mailand hüten eine Truhe mit, wie sie sagen, der ganzen Dunkelheit Ägyptens, und wenn man darum bittet, heben sie den Deckel leicht an und lassen einen hineinsehen. Der alte Fluch, der den Pharao traf, der sein Herz gegen Mose verhärtet hatte, existiert nur für die Gläubigen – als ein einziger, denkwürdiger Blick. Unser Blick kann nur den Moment des Sehens erfassen: Alles andere ist Erinnerung oder Traum.

Um 1350 schrieb Francesco Petrarca einen Brief an seine Familie, in dem er über seinen Aufstieg zum Mont Ventoux berichtete und sich rühmte, der Erste gewesen zu sein, der einen Berg „nur wegen der Aussicht“ bestiegen hätte. Petrarcas Impuls, aufzuzeichnen, was er sah, als er es sah, in dem Moment, als er es sah, widersprach dem reflektierenden Stil seiner Vorfahren. Die großen Autoren, die ihm bis einschließlich Dante vorausgingen, versuchten, ihre Erfahrung der Welt a posteriori aufzuzeichnen; Dantes Göttliche Komödie ist die Nachbesprechung seiner erstaunlichen Reise. Petrarcas Impuls (wie der unserer Selfies), sich im Hier und Jetzt darzustellen, muss seinen Lesern wunderbar neu und sogar arrogant vorgekommen sein.

Ein Teil dieser Neuheit (und auch dieser selbstbewussten Arroganz) durchdringt Aleš Štegers Bericht. Sein expliziter Zweck ist es, das Reiseerlebnis (ob in Kochi in Indien, auf Solowki in Russland, im chinesischen Shanghai oder in Bautzen bzw. Budyš in der Oberlausitz) wie mit dem Auge einer Handkamera festzuhalten, die Ereignisse weder vorherzusagen noch nachträglich zu kommentieren. Die Aymara in Südamerika glauben, dass die Zeit nicht von der Vergangenheit her in die Zukunft fließt, sondern von dem herkommt, was wir erleben werden, und dass nur die Gegenwart existieren kann. Šteger teilt diese anti-heraklitische Intuition. Wir sind (Šteger zufolge) immer in der richtigen Erfahrung, die einzig zulässige Konjugation findet in der Gegenwart statt. Was gesehen und gefühlt wurde, was wir eines Tages sehen und fühlen könnten, sind imaginäre Konstrukte ohne materielle Gültigkeit. Gedächtnis und Vorstellungskraft sind für Šteger gleichbedeutend; Voraussage und Fiktion sind die gleiche kreative, aber unzuverlässige Handlung. Gegen die Behauptungen der Physik, dass der einzige Ort, den wir nicht wirklich beobachten können, derjenige ist, an dem wir uns befinden, und der einzige Moment, den wir niemals festhalten können, derjenige ist, der jetzt stattfindet, weil er bereits vergangen ist, versucht Šteger zu beweisen, dass das Gegenteil zutrifft: Wir können nur diesen Ort hier kennen und diese Zeit, in der wir stehen, wie Hamlet in seiner Nussschale, und uns Könige des unendlichen Raumes nennen.

Dieser Hamlet-Kern, den Šteger bezeugt, ist vieles zugleich: ein Fragment des universalen Alephs, ein Moment jener „toten Zeit“, die Šteger in den Uhren sieht, die in einem Juwelierschaufenster in Bautzen ausgestellt sind. Wenn Šteger also beispielsweise in Bautzen ist, laufen alle Kapitel der Geschichte zusammen: das Gelbe Elend aus der Stasizeit, das Budyš der fast vergessenen sorbischen Minderheit, das zeitgenössische Bautzen, das kürzlich seine NSVergangenheit wieder ausgegraben hat. Und doch ist der Ort, den Šteger wählt, keiner von diesen, er schließt vielmehr alle ein, bildet unglaublich dünne Lagen geologischer Schichten aus. Štegers Auge verwandelt chronologische Abfolge und akribische Kartografie in einen einzigartigen universellen Punkt, der immer allgegenwärtig ist. Bautzen steht in Štegers Augen für das wahrnehmbare Universum, immer innerhalb und immer außerhalb der Zeit.

Die Zeit verschlingt. Aus dem gemeinsamen Gefühl endloser Auflösung entstand für unsere Vorfahren das Bild des alten Mannes, der seine Kinder verschlingt und zerstört, was er geschaffen hat. Aber obwohl der Mythos von einem einzigen Ereignis erzählte, das sowohl ein Ende als auch einen Anfang hatte, wussten die Griechen, dass die Zeit kein Ende nahm, dass Schöpfung und Zerstörung kontinuierlich weitergingen und dass der Begriff des Daseins untrennbar mit dem der Zeit selbst verflochten war, weil wir, die durch die Zeit zerstört werden, auch aus der Zeit gemacht sind. Heraklits lakonische Aussage, dass „wir nie zweimal in denselben Fluss steigen“, bedeutet möglicherweise nicht, dass sich der Fluss ändert, sondern dass wir uns immer sofort ändern. Die Zeit vergeht nicht: Wir vergehen in der Zeit, wie Ronsard mehr als einmal beklagte: „Las! Le temps, non, mais nous nous en allons.“ Aber zu unserem großen Bedauern ist eine Existenz außerhalb der Zeit nicht denkbar. Sein heißt, in der Zeit zu sein, und als die mittelalterlichen Theologen Gott als einen Kreis begriffen, dessen Umfang nirgendwo und dessen Mittelpunkt überall ist, spiegelte das Bild die völlige Allgegenwart der Zeit perfekt wider. Diese Erkenntnis hat eine schreckliche Konsequenz: Wenn die Zeit ein Kontinuum ist, jenseits dessen nichts existiert (oder vielmehr nichts sein kann), dann sind alle kommenden Ereignisse und alle vergangenen Ereignisse bereits vorherbestimmt, und Luther hatte Recht, als er es uns erzählte, dass wir bereits in unserer Wiege dazu bestimmt sind, verdammt oder gerettet zu werden. Zukünftige Ereignisse verlangen (oder schaffen) die Ursachen, von denen sie bereits die Wirkung sind.

Aristoteles schlug in einem Text zweifelhafter Autorschaft eine Theorie der Zeit vor, die unter dem Namen Ewige Wiederkehr bekannt werden sollte. Die Zeit wiederholt sich und wir werden wieder Zeuge des Falles von Troja und des Todes von Agamemnon sein. Wenn solche Wiederholungen wahr sind, dann sind wir nicht nur die Vorfahren unserer Enkelkinder, sondern auch unserer Großeltern. Mehrere Kirchenväter lehnten das Konzept ab: Origenes, weil es den freien Willen leugnete; Augustinus, weil es unvorstellbar war, dass Christus erneut gekreuzigt und wiederauferstehen würde. Im dritten Jahrhundert vor Christus schlugen die Stoiker eine elegante Lösung vor: Die Zeit käme wieder, argumentierten sie, jedoch mit kleinen Abweichungen. Diogenes wird wiedergeboren, aber er wird nicht derselbe Diogenes sein, und der listenreiche Odysseus wird eine weitere Reise unternehmen, aber der schlaue Mann wird nicht derselbe Odysseus und seine Reise eine andere sein. Die Zeitkreise, so schlugen die Stoiker vor (wie zu anderen Zeiten auch ähnliche Denker in Indien und China, die ihre Argumentation zur Beweisführung stellten), verlaufen nicht in den gleichen Rillen, sondern steigen in einer unendlichen Spirale auf oder ab und auf jeder dieser Spulen gibt es Variationen, die der Zeit die Illusion von Fortschritt verleihen. Jahrhunderte später sollte Vico sich vorstellen, dass die Zeitkreise nicht miteinander verbunden waren, dass drei verschiedene Zeitalter oder Zeitabschnitte endlos aufeinander folgten, dass die Zeit von einem zum nächsten sprang, ohne allmählich zu vergehen, und dass es unser Wille war (zuzüglich einer Kombination aus Vorsehung und geschicktem Wissen), der es uns ermöglichte, die Weisheit, die wir uns in der vorangegangenen Zeit erworben hatten, von der letzten wieder in die erste zu tragen, ein Lernen und Verlernen in der Ewigkeit.

Für Petrarca ist die Zeit Teil einer anderen Reihe von Kreisen, in denen die Ewigkeit die Zeit verschlingt. In einer berühmten Gedichtserie, I Trionfi, feierte er die aufeinanderfolgenden Siege der Liebe, dann der Keuschheit über die Liebe, des Todes über die Keuschheit, des Ruhmes über den Tod, der Zeit über den Ruhm und schließlich der Ewigkeit über die Zeit. Es ist ein seltsames Konzept, dass diese Kontinuität oder Gesamtheit der Zeit in ihrem geflügelten Streitwagen schließlich die vergehende Zeit selbst besiegt. Um den Kreis zu schließen, schlug Joseph Brodsky vor, dass die Zeit uns während des gesamten Lebens in verschiedenen Sprachen anspricht – Liebe, Glaube, Erfahrung, Geschichte, Müdigkeit, Zynismus, Schuld, Verfall usw. –, von diesen ist die Liebe „deutlich die lingua franca“. Von dieser lingua franca sprach Quevedo, als er den Tod als Ergebnis der Zeit akzeptierte und hartnäckig behauptete: „Ich werde Staub sein, aber ein liebender Staub.“ Dies ist der Staub, den Šteger so fleißig in diesem Buch gesammelt hat.

Von all diesen mutigen und fantastischen Theorien, von all den wunderbaren und eindringlichen Metaphern, die wir uns im Laufe der Zeit ausgedacht haben, um die Zeit darzustellen, sind diejenigen, die am Ende dieses zweiten Jahrtausends (selbst eine einfältige und willkürliche Vorstellung) entstanden sind, vielleicht die armseligsten. Ein Mann, der seine Kinder verschlingt, ein Krieger im Streitwagen, der siegt und besiegt wird, ein sich unendlich verändernder Fluss, ein Kreis, der mit Gott zusammenfällt, ein Brunnen, der aus der Zukunft fließt, ein sich wiederholender Kreis oder eine Reihe sich wiederholender Kreise: All diese Bilder wurden erträumt und mit der Warnung versehen, die unter den Stunden einer römischen Sonnenuhr eingraviert ist: „Jede verwundet, die letzte aber tötet“. Stattdessen scheint die Ikonografie des 21. Jahrhunderts nur von Langeweile oder Ungeduld inspiriert zu sein: eine E-Mail, die an einem Südseestrand eingeht, ein Flugzeug, das die Schallmauer durchbricht, Kommunikation, die (wie die Werbung von IBM) posaunt: „schneller als ein Gedanke“ stattfindet. Die wenigen Sekunden, die unsere Computer zum Herunterladen eines kleinen Informationsausschnitts benötigen, erscheinen uns zu lang: Damit unser Zugriff sofort erfolgen kann, möchten wir die Zeit am liebsten in ihrer Gesamtheit eliminieren. Die gepriesene Tugend des Internets stellt jedoch das Gegenteil von ewiger oder unendlicher Zeit dar: Sie ist die Abwesenheit von Zeit, und das bedeutet die Abwesenheit von Existenz. Wir streben nach virtueller Realität, wir sehnen uns danach, die Körperlosigkeit des Textes hinter dem Bildschirm anzunehmen. Isoliert vom physischen Kontakt mit anderen Menschen, eingeschlossen in einem Universum aus Werbung und Propaganda, das sich nur mit der Oberfläche und niemals mit der Tiefe befasst, sich nur einer verlockenden Zukunft bewusst ist und die bedauerliche Vergangenheit nicht kennt, haben wir uns die Zeit als eine Hürde aufgebaut, die es zu überwinden gilt. Das ist, als würde man sich das Leben selbst als Hindernis vorstellen. „Wann hattest du das letzte Mal Zeit, das ganze Buch zu lesen?“, fragt eine Anzeige für die Net Library, einer Website, die anbietet, die Bücher zu „überfliegen“, damit man schnell „auf den Punkt kommt und dann weitermachen kann“. Im achten Jahrhundert stellte sich Beda der Ehrwürdige unser Leben traurig als den Flug eines Vogels durch eine beleuchtete Winterhalle vor, als schnellen Übergang von Dunkelheit zu Dunkelheit. Heute würden wir Bedas Klage als Prahlerei lesen.

Im Fall von Bautzen wird die Stadt selbst zum Wahrzeichen dieses bedaschen Lebensbilds. Bautzen (wie uns die Reiseführer mitteilen) steht heute exemplarisch für eine Stadt der DDR vor dem Fall der Berliner Mauer. Diese Stadt zeigt ihre mittelalterliche Vergangenheit in einer Reihe zerfallender Türme, von denen die Alte Wasserkunst die bemerkenswerteste ist, ein Turm, der sowohl Museum als auch Aussichtsturm ist. Šteger begreift (ohne es zu erwähnen), dass dieses Phänomen kein Zufall ist. Die Geschichte konzentriert sich hier in einem gegenwärtigen Moment, und Wasser ist das alte Symbol der Geschichte. Das Museum war für die alten Griechen das Haus der Musen, die die Töchter von Mnemosyne waren, der Göttin der Erinnerung, deren traditionelle Farbe, wie die von Apollo, wie die der von Touristen heiß begehrten, handverzierten sorbischen Ostereier (die Šteger erwähnt), gelb ist.

Aus solch winzigen Beobachtungen, aus Štegers Versuch, die Welt durch die Begegnung von Zufallsfragmenten aufzuzeichnen, folgt dies: Jenseits der Rekonstruktion der gesamten Gestalt durch einen zufällig beobachteten Teil muss man auch die Löschung eines Teils (oder mehrerer Teile) andeuten im unvorstellbaren Ganzen. Wenn nicht alles gesagt werden kann, muss Unvollständigkeit ausreichen. Dichter gehen dieses Risiko ein. Sie glauben (wie Šteger), dass Sprache im Großen und Ganzen ein Spiel ist und dass manchmal, selten, wenn die Sterne einem gewogen sind, durch die Äußerung von Wörtern Bedeutung entsteht. Im sechsten Jahrhundert vor Christus ließ Lasos aus Hermione mit spielerischem Spaß den Buchstaben Sigma aus seiner Ode an die Zentauren aus; zehn Jahrhunderte später fügte Cervantes dem Don Quijote einige „gestutzte“ Sonette hinzu, in denen nicht die letzte, sondern die vorletzte Silbe jeder Zeile den Reim trägt. Štegers Buch ist ein Text, der sich mitten im Flug befindet, sur le pouce, wie die Franzosen sagen. Diese Poesie ist in der Tat ein Beweis für unser angeborenes Vertrauen in die Aussagekraft des Wortspiels: dafür, dass wir uns darauf verlassen sollten, dass aufgeschriebene Kritzeleien Sinn verleihen, oder dass ausschnitthafte Beobachtungen dazu dienen können, um Gedanken auszudrücken. Sie verdeutlicht einen Glauben, der nicht so weit von dem jener Renaissance-Nekromanten entfernt ist, die glaubten, dass der geheime Name Roms Roma war, rückwärts geschrieben.

Aber die Götter unseres alltäglichen Pantheons werden nur selten offiziell anerkannt. Die meisten unserer Schulen fordern wahrscheinlich kein Studium der Antike mehr, doch unsere kollektive Vorstellungskraft weigert sich, die Gegenwart dessen aufzugeben, was sich die Imagination unserer Ahnen für uns ausgedacht hat. Als Gesellschaft (als Inder, Russen, Chinesen oder Europäer) haben wir uns vielleicht entschieden, vor allem materiellen Komfort und finanziellen Gewinn anzustreben, die klare und leere Sprache der Propaganda als eine Tugend zu betrachten und die sofort verfügbare Information über das zu stellen, was längeres Nachdenken erfordert. Aber kurz außerhalb der Stadtmauern, die wir errichtet haben, um uns vor Komplexität und Zweideutigkeit zu schützen, haben die alten Geschichten von Rache und Liebe, von wunderbaren Geburten und schrecklichen Todesfällen, von Metamorphosen und Stadtgründungen, von Flüchen und Questen ihre Zelte aufgeschlagen und setzen alles daran, uns weiter heimzusuchen und durch die Risse in unseren hartnäckigen Pragmatismus zu sickern. Als Homer zu seiner Zeit von den Geschichten der Götter erzählte, schenkte er seinen Mit-Griechen (und allen nachfolgenden Generationen) nur eine Version des Resultats dieser langwierigen, komplexen Beziehungen, die aus genau einer bestimmten Vision der Welt entstand und diese wiederum auch mitbestimmte.

Genau das ist die Vision, die Šteger uns in aller Demut anbietet.

Illustration

Als ich vor zwanzig Jahren das erste Mal nach Indien kam, erlebte ich einen Kulturschock. Diese Überfülle von Farben, Aromen, dem Puls eines Lebens, das in einem Moment von der Tragödie zur Freude umschlägt, die Fremdheit in vielen Dingen und die Faszination für eine völlig disparate Logik. Mehr Puls und noch mehr Pulsieren, ein Leben, das mit dem Tod tanzt und ihm niemals von der Seite weicht, das alles hat für immer eine Spur in mir hinterlassen. Indien, seine Kultur und das alltägliche Leben, in dem alles wirkt wie sein eigenes Gegenteil. Die völlige Offenheit, die Unvorhersehbarkeit, die unerhörte Opulenz des Seins haben mich eingenommen, füllten meine Träume und Gedanken.

Die vedische Tradition besagt, dass hinter einem vergänglichen Namen und einem Scheinbild ein unsterblicher Atem steht. Ich erinnere mich an eine tote Frau auf der Straße, an ein weinendes Kind über ihr. Ich erinnere mich an religiöse Feierlichkeiten.

Ich erinnere mich an die morgendliche Yogaroutine unserer Gastgeber um vier Uhr morgens vorm laufenden Fernseher.

Ich erinnere mich an das Mitsingen bei den Masala-Filmen in den Kinos und an die knackenden Menschenknochen, die vom Feuer am Ufer des Ganges in Varanasi verschlungen wurden. Allen Erfahrungen zum Trotz bleibt das tägliche Leben in Indien unberechenbar.

Das einzig Gewisse ist, dass ich mich mit Fülle konfrontieren werde, dass der Weg überraschend verlaufen wird und dass ich am besten einen Führer haben sollte, eine Art Vergil, falls möglich jemanden, der sich dieser Rolle nicht bewusst wäre, und wir gerade deshalb ungestört durch Wohlstand und Armut, Vergangenheit und Zukunft navigieren könnten. Ich habe selbst Mitleid mit mir, während ich dies schreibe. Diese Worte, diese Gedanken, die wir Westler mit unserem Hang zu klaren Gegensätzen sehen, sie würden von keinem Inder geschrieben werden, weder von einem Mann noch von einer Frau.

Ich wiederhole: Pulsieren, das Pulsieren einer Ganzheit des Lebens.

Illustration

Kein Strom.

Ein heftiger Sturm mitten in der Nacht.

Der Lüfter hört auf, die Unendlichkeit seiner Umdrehungen zu zählen, und sofort schlagen die Mücken wieder zu – wie winzige Dämonen.

Ich verliere die letzten Abwehrmöglichkeiten gegen die Albträume.

Inmitten eines Traums, in dem eine Schlacht zwischen Außerirdischen in blauen Raumanzügen vorkam, höre ich das Kristallzwitschern eines morgendlichen Vogels, das sich frei durch das Metallgitter des Fensters bewegt.

Tropfen. Regentropfen, die auf die Metalloberfläche prasseln.

Der Morgen wacht plötzlich auf, als würde jemand das Licht einschalten.

Es leuchtet draußen.

Ich trete aus dem kastenförmigen Hotel mitten in eine üppige Architektur aus Tönen.

Auf der Straße pumpt eine Frau im Sari Wasser, hinter ihr ein surrender Motor, der sich an das morgendliche Kreischen der Krähen hängt.

Und irgendwo ein Lied, von irgendwo kommend, ganz unbestimmt, von hinten, vorne. Irgendwo.

Kein Strom im Zimmer, aber draußen ist alles, was meine Sinne erreicht, pure Elektrizität.

Das Lied hallt immer klarer durch die Luft.

Der Klang des Liedes hat die Form eines Märtyrers, der auf den Postern immer drastisch dargestellt wird.

Blut spritzt, die Nägel durchbohren die Handflächen.

Das ist mir nicht fremd, aber hier scheint das furchtbar künstlich zu sein, aus einer anderen Kultur übernommen.

Die Morgenmesse in der Kirche, zwei Tage vor Karfreitag.

Der Kreuzweg, was für ein ungewöhnlicher Start in den Tag.

Mir fällt ein, was für ein überraschender Beginn das für Indien ist, während ich den Betenden zusehe, die ihre Schuhe ausziehen, um barfuß vor dem Allmächtigen zu stehen, als wären sie in einem Hindutempel oder in einer Moschee.

Illustration

Denn alles ist Religion.

Hier ist alles Religion.

Einschließlich des Kommunismus in Kochi und Kerala.

Auch der Sari der Frau, die in die Kirche geht.

Auch das Motorrad des Jungen, der gekommen ist, um an diesem Tag zu beten.

Alles ist Religion und wir alle sind Teil des Rituals.

Was immer ich auch mache, ich bin Teil des Kultes.

Was immer ich auch denke, es muss von einem schelmischen Gott herrühren, der mir Irrtümer und Täuschungen einflüstert, Gutes tut und weniger Gutes.

Etwas in dieser Richtung.

Denn überall ist Elektrizität.

In dem Hymnus an ihn, der unter dem Gewicht des Kreuzes zusammenbrach, in der Malayalam-Sprache.

Illustration

In den kreischenden Krähen auf den Kronen der Morgenpalmen.

Im Helm eines Jungen, der sich als Nächstes nähert.

In der Mücke, die auf meiner Handfläche landet, ihren Stachel in die Poren sticht, die dann mit einem Juckreiz anschwellen.

Pfützen auf den Straßen, in denen sich ein bewölkter Himmel anschaut.

Betäubende Musik in einem Bus, der lächelnde Frauen ausspuckt, lächelnde Kinder und schließlich den lächelnden Fahrer.

Hinter ihnen, über ihnen riesige Bäume, deren Äste sich über die Dächer der nahe gelegenen Gebäude erstrecken, einen feinen, grünen Fächer webend zwischen der Erde hier und dort.

Ich gehe zu einem von ihnen.

Ich frage, wie sie den Baum hier nennen: Tanalmaram.

Ich lege meine linke Hand auf die Rinde.

Ich frage, in Abwesenheit menschlicher Worte, ich frage in Abwesenheit von Gedanken.

In einer Sprache, die wir teilen.

Mit dem Atem, einer Sprache ohne Worte.

Woher, wo und wohin?

Grundlegende Fragen.

Antworten rutschen in meine Handfläche.

Ich trage sie bei mir.

Wenn der Wind wehte, würde es Antworten rascheln.

Aber ohne Wind, inmitten von surrenden Bussen, Rikschas und Hupen, die durch das Kreischen der Krähen klingen, bleibt die Konversation mit der Baumrinde leicht unbemerkt.

Ein kleiner Hund nähert sich mir.

Er steht mitten auf der Straße und achtet nicht auf den Verkehr.

Er ist sicher, misstrauisch zuversichtlich, desinteressiert neugierig.

Was passiert, passiert eben.

So ist dieser Hund.

So ist der Morgen heute, voller Hupen und Hymnen und kreischender Krähen.

Illustration

Der Hund folgt mir ohne Eile, jetzt ist er mir auf den Fersen, dann führt er mich auf den Weg.

Ein Bus hupt ihn an.

Runter von der Straße, Hund.

Der Hund kümmert sich nicht um meine Ängste, seinen Körper und seinen Gang.

Was auch immer passiert, passiert und: wenn nichts Besseres kommt, bewege ich mich.

So geht er.

Seine beiden Vorderpfoten trotten stolz in einer geraden Linie, während sein lockiger Schwanz die Hinterpfoten über das Pflaster dirigiert, ein paar Zentimeter entfernt von den riesigen Busreifen.

Die Passagiere steigen lächelnd aus dem Bus.

Wieder lächeln sie.

Wie beispiellos, wenn nicht sogar verdächtig.

Hafen, ein Terminal für Passagiere.

Was wir Menschen nicht alles in unseren Leben tun, Morgen für Morgen.

Illustration

Löcher in Kokosnüsse hacken oder Tee von Tasse zu Tasse gießen, als ob das Gießen alles ist, was wir sind, ein Moment, in dem uns eine Konstellation, ein Schicksalsschlag oder eine Gottheit aus einer Tasse in die andere umgießt.

Sie erzählen mir von einem verheerenden Unfall.