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Otto Grünmandl

Ein Gefangener

Werkausgabe Band 1

Kurzprosa und Gedichte

Herausgegeben und mit einem Nachwort von
Maria Piok und Ulrike Tanzer

Gerhard Polt

FÜR OTTO

Weil der Otto einmalig war und bleibt, könnte ich versucht sein, seine Einmaligkeit zu dokumentieren. Warum, wieso, inwiefern war er einmalig? Davor drücke ich mich. Als sein Freund bin ich nicht neutral und muß meine Belege nicht auspacken, um diesen großen, liebenswerten Menschen zu beweisen. Er braucht nicht bewiesen zu werden. Er war Mensch-Darsteller und Mensch-Verteidiger. Nie sein Ankläger.

Jemand, der über ein derartig großes Verzeihungspotential verfügt, ist für mich ein Bühnen-Held, obwohl er nie einen Helden verkörpert hat. Ein Unheld, der den Menschen das Lächeln herbeigezaubert hat aus dem Etwas, aus dem Immer und aus dem Nichts. Der Unvollkommenheit unserer Natur, unserer Lächerlichkeit selbst selten bewußt, half er immer auf die Sprünge. Er tat dies leise – auf der Bühne und überall da, wo ich ihm begegnet bin.

Für immer unvergessen bleibt sein Abschied:

„Woasch Gerhard, i stirb jetz amal derweil, und dann schau ma weiter!“

EIN GEFANGENER
Novelle

Meinem Vater

LITANEI

In einem Fluß liegen, wie von unsichtbaren Stricken an den Handgelenken der ausgestreckten Arme gehalten, daß einen die Strömung nicht abtreibt und das Wasser durch den geöffneten Mund hindurch den ganzen Leib durchfließt und verwandelt. Die Sonne brennt nieder und ihre Strahlen glitzern in den weißen Krönchen der ruhig dahingleitenden Wellen, und das Wasser fließt durch die Poren der Haut und löst und verwandelt und fließt durch Fleisch und Blut, durch Herz und Leber und alle Eingeweide und löst und verwandelt, bis nichts mehr da ist als in der Erinnerung das Bild des Mannes, der so im Wasser lag: mit ausgestreckten Armen und daran gehalten von unsichtbaren Stricken, daß ihn die Strömung nicht abtreibe und das Wasser durchfließe, löse und wandle: Ein Gefangener.

ES GESCHAH

„Ein Gefangener ist ein Mensch, der nicht weiter kann. Ein Gefangener ist ein Mensch, der wartet.

Ein Gefangener ist ein ...“

Der rechte Unterarm des am Rücken liegenden Kranken ragte mit der wie dozierend emporgehaltenen Hand, den Ellenbogen gestützt an der eisernen Bettkante, senkrecht zur kahlen Zimmerdecke.

Das Lazarett lag in einem Hotel nahe der Hauptstraße. Draußen fuhren die ganze Nacht die Lastwagenkolonnen der von dem Land Besitz ergreifenden Besatzungstruppen vorbei. Lautlos brachen ihre Scheinwerfer durch die geschlossenen Fenster, warfen den Schatten des aufgereckten Armes groß an die glatte Wand, wo er fremd und schwarz die paar Sekunden verharrte, die ein Auto braucht, um eine Kurve zu nehmen, und dann wie ein gefällter Baumstamm schräg niederstürzte. Hernach wieder das Dunkel der Nacht, in dem der Kranke nicht einmal die Finger seiner Hand erkennen konnte, so tief füllte es den Raum. Er war froh um diese Scheinwerfer, er badete seine Finger in ihrem Licht, und seine Phantasie spielte mit den Schattenfiguren. „Schattenspiele“, redete er zu sich selbst, „sind Gefangenenspiele; man hört sie nicht.“

Arm und Hand fielen ihm müde herunter. Er schloß die Augen und blieb eine kleine Weile ganz ruhig liegen. Dann begann er wieder:

„Ein Gefangener ist ein Mensch, der zwar einen eigenen Willen hat, ihn jedoch nicht geltend machen kann.

Ein Gefangener ist ein Mensch, der will, aber nicht kann.

Ein Gefangener ist ein Ohnmächtiger.

Ein Gefangener ist ein Mensch, über den verfügt wird.

Ein Gefangener ...“

AUS DEN AUFZEICHNUNGEN UND BRIEFEN DES AMERIKANISCHEN SOLDATEN F. M.

Aus einem Brief:

Gestern befreiten wir einen Gefangenen.

Nachdem wir schon am Nachmittag unser Tagesziel, ein Industriedorf namens Klein-Ludditz, erreicht hatten, beschloß der Chef, die Zeit bis zum Dämmern noch auszunützen, und schickte uns zu dritt mit einem Jeep fort, die nähere Umgebung dieses schmutzigen, trostlosen Nestes auszukundschaften. Wir verließen den Ort in südlicher Richtung, kamen bei einem leerstehenden Barackenlager vorbei und bogen dann nach Osten in ein kleines, sanft aufsteigendes Tal ein. Der Weg wurde bald so schmal, daß wir unseren Jeep stehenlassen und zu Fuß weitergehen mußten, was infolge des hier noch überall tief liegenden Schnees ziemlich mühsam war. Wir beschlossen daher, für den Anstieg zum oberen Tal-Ende nicht den Weg zu benützen, sondern den die rechte Talseite bestehenden Wald. Hier kamen wir denn auch viel leichter und schneller vorwärts, was für uns notwendig war, wollten wir, wie es uns der Chef befohlen hatte, bis zum Einbruch der Dunkelheit wieder zurück sein. Allerdings hatte das Dickicht des Waldes nicht nur den Vorteil für uns, daß der Boden vor allzuviel Schnee bewahrt blieb und wir nicht zu waten brauchten, sondern auch den Nachteil, daß es uns weitgehend der Sicht beraubte, uns allerdings gleichzeitig auch vor eventuellen feindlichen Beobachtern schützte.

Nachdem wir so den oberen Talschluß erreicht hatten, traten wir vorsichtig an den Waldrand und blickten, hinter Bäumen und Gesträuch gut getarnt, ins Freie hinaus. Zu unserer größten Überraschung erblickten wir etwa hundert Meter von uns entfernt ein großes Gebäude, das man fast für eine in Betrieb stehende Fabrik hätte halten können, wäre es nicht in einem Zustand elender Verwahrlosung gewesen, der einem sofort deutlich machte, daß es schon lange Zeit leergestanden haben mußte.

Wir hatten es erst wenige Sekunden beobachtet, als plötzlich ein Schuß knallte. Gleich darauf stürzte ein Mann aus dem großen Tor des verlassenen Gebäudes und rannte aus Leibeskräften auf den Wald, direkt auf uns zu. Zuerst dachten wir, es wäre ein feindlicher deutscher Soldat, dann aber sahen wir, daß es ein Gefangener war. Er war bis auf ungefähr fünfzig Meter an uns herangekommen, als ein zweiter Mann, diesmal wirklich ein feindlicher Soldat, mit schußbereitem Gewehr in den Händen aus demselben Tor kam und ihm mit großen Sprüngen nachsetzte. Der Gefangene blickte sich um und warf sich, als er seinen Verfolger bemerkte, in den Schnee, wo er sofort so tief versank, daß er nicht mehr zu sehen war. Dies rettete ihm wahrscheinlich das Leben, denn im selben Augenblick hielt sein Verfolger inne und setzte das Gewehr zum Schuß an. Als er nun aber nichts mehr als das leere Schneefeld vor sich sah, nahm er es wieder ab und watete auf die Stelle zu, an der sich der Gefangene niedergeworfen hatte. Dabei hielt er das Gewehr in den Händen, als gelte es, einem Wild den Fangschuß zu geben. Über seine mörderische Absicht konnte kein Zweifel bestehen. Zwei von uns hoben ihre Maschinenpistolen und schossen auf ihn, er torkelte noch einige Schritte vor und fiel dann in den Schnee, wo er wie der Gefangene auf der Stelle unterging und versank.

Wir schrien nun dem Gefangenen zu und fragten ihn, ob sich noch jemand in der Fabrik befände. Zögernd stand er auf, winkte, als er unsere Frage verstanden hatte, „nein“ mit den Händen und kam auf uns zu. Er erzählte uns, daß er von einem Wachsoldaten hätte nach rückwärts gebracht werden sollen. Dabei seien sie während einer Rast in der Fabrik von diesem Blindwütigen – er machte eine Geste in das Schneefeld hinaus – gestellt worden, der den Wachsoldaten erschossen habe und dem er selbst nur durch unser Dazwischentreten mit knapper Not entkommen sei.

Da wir noch etwas Zeit zu haben glaubten, sagten wir dem Gefangenen, er möge in der Fabrik auf uns warten, wir würden noch eine Kleinigkeit weiter vordringen, jedoch bald wieder zurück sein und ihn dann sofort zur nächsten SFBG (Sammelstelle für befreite Gefangene) bringen.

Am Rückweg gerieten wir wieder in tiefen Schnee und kamen dadurch langsamer vorwärts, als wir angenommen hatten. Als wir die Fabrik wieder erreichten, war es bereits dunkel geworden. Wir suchten den Gefangenen, fanden ihn jedoch nirgends. Bedrückt, einen Fehler gemacht zu haben, indem wir den Gefangenen allein zurückgelassen hatten, traten wir schließlich den Rückweg an. Ziemlich weit unten, nur mehr wenige hundert Meter von unserem Jeep entfernt, fanden wir ihn dann. Er lag regungslos und zusammengekrümmt mitten am Weg. Als wir ihn anrührten, stöhnte er leise und schlug kurz die Augen auf, um sie gleich wieder zu schließen. Auf unsere Fragen gab er keine Antwort.

Jetzt erst bemerkten wir, daß wenige Schritte von ihm entfernt noch wer lag. Es war ein toter Feindsoldat. Wir legten diesen aus dem Weg in den Schnee, merkten die Stelle mit zwei jungen Bäumen, die wir aus dem nahen Wald brachten, und trugen dann den Gefangenen zum Jeep hinunter. Von Klein-Ludditz wurde er sofort mit unserem Sanitätswagen in das nächste rückwärts gelegene Lazarett gebracht. Wie uns der Sanitäter nachher mitteilte, befand er sich in einem sehr schlechten Allgemeinzustand, wies jedoch keinerlei Verletzungen auf, die auf einen Kampf mit jenem toten Feindsoldaten, der neben ihm gelegen war, hätten schließen lassen.

Wir holten den Toten am nächsten Tag und ließen ihn am Ortsfriedhof bestatten. Er hatte einen Kopfschuß, eine kleine, kreisrunde, schwarze Öffnung mitten in der Stirn.

LITANEI

Ein Gletscher gab einen Toten frei: seine Gesichtshaut war gebräunt und glattrasiert, wie am Tage des Unglücks, seine Augen glänzten seltsam durch das blanke Eis, alles an ihm schien wohlbehalten und heil. Doch als man ihn aus dem Eise gehackt hatte, wurde es offenkundig, daß es doch nur ein Leichnam war. Rasch verweste er.

ES GESCHAH

Es geschah zu der Zeit, da die Fronten des einst so mächtigen Reiches ins Wanken geraten waren. Der Zusammenbruch war nur noch eine Frage von Wochen, vielleicht auch nur von Tagen. Von allen Seiten drangen die feindlichen Armeen in das Innere des Landes vor. Aber noch gaben sich die Machthaber nicht geschlagen. Sie erließen Befehle und Verordnungen. Sie drohten und verfolgten und waren ohne Gnade. Manchmal jedoch packte den einen oder anderen unter ihnen die Angst und die taten und befahlen dann Unverständliches.

Ein Wachsoldat in einem der großen Gefangenenlager bekam Befehl, einen einzelnen Gefangenen in ein anderes, frontwärts gelegenes Lager zu bringen. Der Wachsoldat fügte sich diesem Befehl nur unwillig und mit mürrischem Gehorsam, denn was ihm da befohlen ward, erschien ihm doppelt unsinnig.

Unsinnig einmal, weil sich der Befehl so ausführlich mit dem Schicksal eines Einzelnen befaßte, wo das von Tausenden und Abertausenden sich einer noch im Dunkel verborgenen Entscheidung von Tag zu Tag mit größerem Ungestüm näherte, und unsinnig zum zweitenmal, weil die Ausführung dieses Befehls das genaue Gegenteil dessen bedeutete, was bei erfolgreichen Feindoffensiven bisher immer angeordnet worden war: Die Rückverlegung sämtlicher Gefangenenlager aus den bedrohten Gebieten in weniger bedrohte. Freilich, wo waren noch solche?

*

Der alte Mann mit der roten Tellermütze auf dem seitlich geneigten Haupt machte sich keine Illusionen. Er wußte, dies würde einer der letzten Züge sein, die er abzufertigen hatte. Langsam hob er den Signalstab. Am liebsten hätte er den Zug noch einmal angehalten, aber das war nicht mehr möglich. Pfeifend, zischend und ratternd, Ruß und Dampf in den grauen Winterhimmel stoßend, rollte er aus der kleinen Station in die verschneite Landschaft hinaus. Der alte Mann blickt ihm nach, bis er nichts mehr von ihm sehen konnte, dann ging er mit müden Schritten in den Dienstraum zurück und signalisierte die ordnungsgemäße Abfahrt.

Als die Schaffnerin sah, daß auf der offenen rückwärtigen Plattform des letzten Waggons nur noch ein Gefangener und sein Wachsoldat standen, zog sie – angerührt von der eisigen Kälte da draußen – die schlecht schließende Schiebetür mit einem gewaltsamen Ruck ihrer beiden rot gefrorenen Hände wieder zu. Sie blickte ihr Spiegelbild in dem aus Verdunkelungsgründen dunkelblau gestrichenen Türglas an und überlegte, ob sich die Vorschriften bezüglich des Transportes von Gefangenen nicht umgehen ließen und man die beiden da draußen nicht unter irgendeinem Vorwand in das Wageninnere bringen könnte, aber es fiel ihr nichts ein. Sie setzte sich nieder und begann ein einsilbiges Gespräch mit ihrem Gegenüber. Wenn sie ihnen einfach sagen würde, sie sollen hereinkommen, was könnte ihr schon geschehen?

„Ja, ja“, sagte da ihr Gegenüber, dem sie von der Schwere ihres Dienstes erzählt hatte, „heutzutage in dieser großen Zeit müssen eben alle ihre Pflicht tun, Mann und Frau, und den Platz ausfüllen, auf den sie der Führer gerufen hat.“ Sie sah ihn erstaunt an und wußte nicht, ob er es ironisch oder ernst gemeint hatte, dann blickte sie sich um und beobachtete verstohlen die anderen Fahrgäste. Es waren nicht sehr viele, vielleicht zehn oder zwölf, aber selbst unter diesen wenigen mochten welche sein, die Krach schlagen würden. Ach was, dachte sie, die sollen mich, warum sollen die zwei da draußen frieren, das müßte mir erst noch einer erklären.

„Man muß halt schauen, daß man sein möglichstes tut“, setzte sie das Gespräch mit dem Gegenüber fort. Die Tür hatte sich wieder etwas gelockert. „Jetzt lasse ich sie herein“, murmelte sie unhörbar im Aufstehen. Dann aber rückte sie nur das schwarz-gelbe Plakat zurecht, das oberhalb der Tür hing und verrutscht war, dabei blickte sie wieder in das dunkelblaue Türglas. Frieren die da draußen, sollen es die herinnen auch, dachte sie.

„Warum schließen Sie die Tür nicht?“ fragte ein Fahrgast gereizt. „Ich habe keinen Schlüssel“, sagte sie, und im Niedersetzen zu ihrem Gegenüber: „außerdem ist die Luft hier herinnen so schlecht, daß man das Frieren gern in Kauf nimmt, wenn sie dadurch nur ein bißchen besser wird.“

„Darüber“, antwortete der, „darüber ...“

Durch den schmalen Spalt der leicht geöffneten Tür drang ein eisig scharfer Luftzug herein.

AUS DEN AUFZEICHNUNGEN UND BRIEFEN DES SOLDATEN F. M.

Aus einem Brief:

Manche gehen jetzt Wetten ein, daß wir in längstens einem Monat zu Hause sind, andere wieder schwören darauf, daß wir noch länger hierbleiben. Ich halte beides für möglich.

Seit voriger Woche bin ich als Dolmetscher in einem großen Sammellager für Kapitulationsgefangene eingesetzt.

In allen Großstädten ist ab acht Uhr abends Ausgangssperre. Die dürftig beleuchteten Straßen – wie viele Laternen überdauerten schon diesen Krieg – sind leer und scheinen ohne Ende, unnatürlich, gespenstisch ist ihre Stille von nichts unterbrochen, als dann und wann von den widerhallenden Schritten patrouillierender Militärpolizei oder dem auf- und abschwellenden Brummen und Dröhnen durchfahrender Militärkraftwagen. Manchmal hört man auch aus halb offenstehenden Parterrefenstern Leute reden, ein Radio spielen, ein Kind schreien oder die tappende Geschäftigkeit hin und her eilender Schritte, das Zuschlagen einer Tür und dergleichen mehr, und all diese Geräusche und Töne aus den Fenstern haben eines gemeinsam: sie sind wie aus einer anderen Welt. Überall sind die ätzenden Spuren des Krieges zu sehen, der über dieses Land kam. Bombentrichter, Häuserruinen, gesprengte Brücken. Manchmal sieht man Gestalten hinter den mit Pappendeckel geflickten Fenstern stehen, die immer schnell verschwinden, sobald sie merken, daß sie beobachtet werden. Von meinem Quartier aus sehe ich auf eine Allee, deren Bäume verbrannt sind; kahle, verkohlte Stümpfe säumen die Straße.

ES GESCHAH

Der zu Boden gehaltene Blick des Gefangenen blieb an den groben, fetzenumrandeten Holzpantoffeln, in denen seine Füße staken, hängen. Erbarmen überkam ihn mit diesen armen, vor Kälte steifen Füßen, die ihm gehörten und die ihm doch wieder leid taten, als wären sie etwas Selbständiges, etwas, das nirgendwohin gehörte, etwas unsagbar Verlassenes.

Er wußte natürlich genau, daß dies nicht zutraf, daß sie ihm gehörten, er war ja nicht verrückt, daß er ihnen eine eigene Existenz zugebilligt hätte. Aber trotz all dieses Wissens um ihre unselbständige, unbeseelte Werkzeugnatur, die er ihnen mit hartem Sinn zuerkannte, taten sie ihm leid wie zwei arme Kreaturen.

Es jammerte ihn ihre schwärende Ungestalt, die sich zu vergegenwärtigen er nur die Augen zu schließen brauchte, und sie jammerte ihn doppelt, da er ihnen nicht helfen konnte und machtlos zusehen mußte, wie sie, umwickelt von grauem Fetzenwerk, steif und unbeweglich in den schweren Holzpantoffeln staken, als wären sie in noch viel schlimmerer Gefangenschaft als er selbst. Gewißheit überfiel ihn, daß sie zugrunde gehen müßten, wenn ihnen nicht bald geholfen werde, und lähmender Schrecken, da ihm zugleich offenbar wurde, daß mit ihnen ein Stück von ihm selbst unwiederbringlich zugrunde gehen würde.

Von dem quälenden Anblick weg richtete er seine Augen auf den schmalen Spalt der sich erneut lockernden Tür, durch den sein Blick schräg in das Wageninnere fiel. Er konnte niemanden wahrnehmen, als die mit dem Gesicht zur Tür sitzende Schaffnerin, die sich gerade mit ihrem Gegenüber unterhielt, das für ihn, da es unmittelbar hinter der Tür saß, jedoch nicht mehr sichtbar war.

Allmählich, beinahe so als wachse es erst, gewahrte er noch etwas anderes, Verblüffendes: in der Tiefe des blauen Türglases sein Spiegelbild. Er betrachtete es lange und es fiel ihm auf, daß es sich mit der Schaffnerin, die er durch den schmalen Türspalt hindurch betrachten konnte, deckte. Je nachdem er das eine oder das andere Auge zudrückte, sah er diese oder jenes. Je länger er dies probierte, um so mehr begann es ihn zu reizen, lediglich durch das Zukneifen eines Auges die Schaffnerin da drinnen verschwinden zu lassen und sein Spiegelbild an ihre Stelle zu setzen. Und je länger er sich diesem absonderlichen Spiel hingab, bald das eine Auge, bald das andere zukniff, bald die Schaffnerin sah, bald sein Spiegelbild, um so weniger konnte er dem Verdacht widerstehen, der sich ihm schon jetzt, da er noch nicht einmal feste Umrisse hatte, hartnäckig und herausfordernd aufdrängte: Wie, wenn ... Wie, wenn ... Wie, wenn sein Spiegelbild mit denen da drinnen im warmen Wagen säße, wenn sein Spiegelbild es wäre, das sich mit dem unsichtbaren Gegenüber der Schaffnerin unterhielte, wenn ihm die Antworten dieses Unsichtbaren gälten, wenn die Schaffnerin da drinnen ins Leere redete. Er schloß ein Auge und sah, wie die Schaffnerin redete, und er schloß sein anderes Auge und sah, wie sein Spiegelbild mit zugekniffenem Auge die Antworten ihres Gegenübers anhörte und er dachte sich: mit wem unterhält sie sich überhaupt? Doch nicht, wie sie sicher meint, mit ihrem Gegenüber, denn das spricht ja zu meinem Spiegelbild. Vielleicht, diese Möglichkeit schien ihm noch die naheliegendste, unterhält sie sich mit mir, nur daß ich nicht verstehe, was sie sagt, und ihr daher auch keine Antwort geben kann, ganz abgesehen davon, daß dies für mich als Gefangenen in diesem verfluchten Land gar nicht tunlich wäre. Mein Spiegelbild, sonst wäre es ja wohl auch kaum mein Spiegelbild zu nennen, hat übrigens dieselben Schwierigkeiten. Da – das Ergebnis seiner Spekulationen begann ihn mit hysterischer Lustigkeit und einem sich ins Verrückt-Vermessene steigernden Hochmut zu erfüllen – da reden also die zwei da drinnen, das Gegenüber zu meinem Spiegelbild, die Schaffnerin zu mir, und glauben sich miteinander zu unterhalten und zu verstehen, während sie sich in Wirklichkeit mit einem ganz anderen in ein Gespräch verwickelt haben, und während sie sich Rede und Antwort zu geben glauben, ist das, was sie dafür halten, nichts anderes, als das von mir und meinem Spiegelbild unverstandene und unbeantwortet bleibende Geplapper ihrer auf- und zuschnappenden Mäuler.

Ach Einbildung, alles ist Einbildung, die Kälte vor allem ist Einbildung. Er grub seine Hände noch tiefer in die Taschen seines alten, verschlissenen Militärmantels und duckte den Kopf noch mehr in den weiten, aufgestellten Kragen. Er blickte kurz zu dem Wachsoldaten hinüber und senkte dann abermals seinen Blick auf das dunkle, gerippte Bodenblech, auf das der Wind dann und wann ein Häufchen Schnee wehte, um es gleich wieder fortzublasen. Was, außer dem Gefangenen und seinem Wachsoldaten, hätte sich auch sonst noch an dieser kalten, ausgesetzten Stelle halten können.

AUS DEN AUFZEICHNUNGEN UND BRIEFEN DES SOLDATEN F. M.

Aus einem Brief:

Der Teufel hole alle Psychologen. Unser Alter ist auch einer oder will es zumindest sein. Nun hat er ein P. I. B. (Psychologisches Informationsbüro) eingerichtet und ich habe infolge meiner Sprachkenntnisse die Ehre, darin den Großinquisitor zu spielen. Ich muß Dir allerdings gestehen, daß ich mich recht schlecht auf dieses Geschäft verstehe, obwohl ich die Fragen nur von einem Formular herunterzulesen brauche. Die ersten paar Tage gefiel es mir nicht einmal so übel. Es war etwas Neues und wie alles Neue zunächst auch ganz interessant. Jetzt aber hängt es mir schon zum Hals heraus. Es sind immer dieselben Fragen, die ich zu stellen habe, und es sind immer dieselben Antworten, die ich darauf bekomme. Es sind zunächst sogenannte Hauptfragen zu stellen, denen dann je nach der erzielten Antwort entsprechende Unterfragen folgen. Ein besonders bei jüngeren Gefangenen empfohlenes Schema sieht zum Beispiel so aus:

Hauptfrage: Hassen Sie uns?

Antwort: Ja. Unterfrage: a) Seit wann? b) Warum?

Antwort: Nein. Unterfrage: c) Haben Sie uns einmal gehaßt? d) Warum hassen Sie uns jetzt nicht mehr?

Lautet die Antwort auf Unterfrage c) „Nein, niemals“, so ist die Untersuchung als uninteressant abzubrechen.

Der Alte, der die Frageformulare selbst entworfen hat, sagt dazu, man müsse den Stier bei den Hörnern packen. Bis jetzt allerdings hat sich noch keiner bei den Hörnern packen lassen. Sie geben alle ausweichende Antworten. Vielleicht liegt es auch an mir, ich verstehe mich nun einmal nicht darauf, Fragen zu stellen. Noch nie in meinem Leben habe ich so viel und mit so vielen Menschen gesprochen wie in diesen Tagen, noch dazu in einer Sprache, die ich zwar leidlich verstehe, die mir aber trotzdem fremd ist. Ich habe mich aber auch noch nie so allein gefühlt, noch nie so nach einem Gespräch gesehnt.

Tagebucheintragung:

Seit einigen Tagen suche ich nach dem Gefangenen, den wir damals im Feber zuerst vor dem Erschießen und dann vor dem Erfrieren retteten. Er müßte eigentlich noch irgendwo hier in einem Lazarett liegen.

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Ich habe ihn gefunden und war gestern bei ihm. Er liegt allein in einem Zimmer. Er erkannte mich nicht und starrte mich an: „Wer sind Sie?“ und gleich darauf: „Was wollen Sie?“

Ich war verlegen und wußte nichts Rechtes zu sagen; schließlich fiel mir nichts Besseres ein: „Erkennen Sie mich nicht mehr? Ich bin sozusagen einer Ihrer Befreier.“

„Ja“, sagte er langsam, „ich erinnere mich. Einer von den drei Soldaten am Waldrand.“

Ich nickte und fragte ihn: „Wie geht es Ihnen?“

Er, auf sein Krankenbett weisend: „Sie sehen, ich bin noch immer ein Gefangener.“

Ich: „Diese Gefangenschaft wird Ihnen wohltun.“

Er: „Mag sein.“

Dann trat der behandelnde Arzt mit einer Krankenschwester herein und ich verabschiedete mich.

ES GESCHAH

Der Wachsoldat, dessen schäbige, graue Uniform sich nur wenig von der des Gefangenen unterschied, erschrak, als er – bisher zeitlos vor sich hinstarrend – auf der Höhe des mächtigen, langgestreckten Hügels, den der Zug eben mit viel Dampf und Geratter hinaufkeuchte, zwischen riesigen, sich zerteilenden Nebelfetzen plötzlich die Umrisse eines großen Gebäudes gewahrte. Er beugte sich vor, um es besser zu sehen. Doch da bog der Zug in eine Kurve ein, eine hohe, steile Böschung schob sich vor seinen Blick und sperrte ihn.