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Gustav Ernst | Karin Fleischanderl

Romane schreiben

Geschichten entwickeln
Figuren zeichnen
Stil finden

Vorwort

Immer mehr Menschen verspüren den Wunsch, literarisch zu schreiben. Doch nicht nur Maturanten und Maturantinnen bewerben sich zahlreich um Aufnahme an universitären Schreibkursen1, auch ältere Semester entschließen sich am Höhepunkt ihrer beruflichen Karriere, nach Familiengründung und Babypausen – mit dem Gefühl: jetzt oder nie –, ihre Geschichten zu erzählen und ihre Erfahrungen literarisch zu verarbeiten. Manche von ihnen haben in ihrer Jugend versucht zu schreiben, ihre Ambitionen jedoch Familie und Karriere geopfert. Nun, in einem gewissen Alter, in einer gewissen Lebenssituation, entdecken sie die Lust am Schreiben wieder.

Die größer gewordene Schreiblust mag auch damit zusammenhängen, dass heutzutage mehr Manuskripte einen Verleger finden als früher. Neue Produktionsmöglichkeiten, Internet und Computer haben zur Gründung einer Vielzahl kleiner und mittelständischer Verlage geführt; die Herstellung von Büchern ist einfacher geworden, neue Kanäle für Werbung und Rezensionen haben sich aufgetan und um heutzutage als Autor anerkannt zu werden und überleben zu können, muss man nicht unbedingt in einem großen renommierten Publikumsverlag veröffentlichen.

Manche möchten einen Bestseller schreiben – ein durchaus legitimer Wunsch –, doch für die meisten angehenden Autoren und Autorinnen steht die Lust am Schreiben im Vordergrund, sie wollen Fähigkeiten erwerben, die es erlauben, Erfahrungen, Erlebnisse, Themen, die ihnen unter den Nägeln brennen, zu literarisch gelungenen Texten zu verarbeiten, die sich zur Veröffentlichung eignen. Je stärker etablierte Verlage die reißbrettartige Konstruktion von Bestsellern zur Erreichung von Megaverkaufszahlen forcieren und somit das eigentliche literarische Terrain verlassen, desto mehr scheint sich ein literarisches Schreibbedürfnis abseits des Bestsellerglamours samt seinem Marktgeschrei und seinen Schreibvorschriften zu entfalten.

Nur wenige angehende Autoren und Autorinnen haben viel Zeit, sie sind eingespannt in Studium, Beruf, Familie. Deshalb wollen sie schnell, gezielt und effizient lernen, ohne Umwege. Doch das ist unmöglich. Sackgassen, Fehlschläge, Verirrungen und Zeitverschwendung sind das Wesen jeder künstlerischen Entwicklung. Ohne sie gelingt nichts. Aber wie man bei der Lehre anderer Künste gesehen hat, können Fehler und Irrwege gelenkt und kontrolliert und somit minimiert werden. Bei Musik und Malerei hat immer schon gegolten, dass das Handwerkliche beherrscht, gelernt und geübt werden kann und muss. Bei der Literatur hingegen war davon lange nicht die Rede, es war sogar verpönt – außer im angelsächsischen Raum (wo creative writing seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts gelehrt wird) und in Autorenkreisen, denn wie man in Briefen und Tagebüchern nachlesen kann, haben Autoren immer schon in speziellen Gruppen (mit Kollegen, aber auch mit ihren Lektoren) technische, stilistische und sprachliche Fragen methodisch erörtert. Vor allem aber haben sie viel gelesen, um herauszufinden, mit welchen literarischen Mitteln ihre Kollegen und Kolleginnen Großartiges zustande gebracht haben. Autoren und Autorinnen haben literarische Arbeit immer auch als handwerkliche Arbeit betrachtet, reflektiert und diskutiert. In gewissen Phasen des Schreibprozesses taucht immer wieder die Frage auf: Wie könnte ich es besser machen? Die Frage der Machbarkeit, der handwerklichen Bewältigung eines Stoffes, eines Themas, einer Szene ist ein wesentlicher Aspekt literarischen Schreibens.

Dieser Leitfaden ist ein Bericht aus der Praxis: Er beschäftigt sich mit den Problemen, mit denen angehende Autoren und Autorinnen bei ihren ersten Schreibversuchen kämpfen und die deshalb in Schreibseminaren immer wieder zur Sprache kommen.

2005 haben wir ein solches Schreibseminar, die Leondinger Akademie für Literatur2, gegründet, einen zehnmonatigen, aus acht dreitägigen Wochenendworkshops bestehenden Schreibkurs. Seit damals haben wir viele angehende Autoren und Autorinnen begleitet und jede Menge Erfahrung gesammelt.

Der Leitfaden entspringt unserem Wunsch, die Erfahrung weiterzugeben, sowie dem Wunsch der Workshop-Teilnehmer und -Teilnehmerinnen, Grundsätzliches zum literarischen Schreiben nicht nur zu diskutieren, sondern auch nachlesen zu können.

Tatsächlich gibt es jede Menge Lehrbücher aus den USA, die sich sehr an den Kriterien des creative writing und an den Anforderungen des amerikanischen Belletristikmarktes orientieren, doch so gut wie keine praktisch orientierten Ratgeber, die auf die Bedürfnisse angehender Autoren und Autorinnen im deutschsprachigen Raum eingehen.

Die Lektüre dieses Leitfadens ersetzt allerdings auf keinen Fall systematische Textarbeit und Übung. Er ist ein Ratgeber für den Einstieg ins literarische Schreiben und fordert dazu auf, die eigenen Texte an den hier formulierten Ansprüchen zu messen.

Uns ist allerdings bewusst, dass handwerkliche Fähigkeiten allein nicht ausreichen, um ein gutes Buch zu schreiben. Dafür braucht man zündende Ideen und kreatives Feuer, vor allem aber auch Ausdauer, psychische Robustheit, ein Übermaß an Phantasie und nicht nur literarisches und künstlerisches Interesse, sondern vor allem Begeisterung für die literarische Arbeit und eine unbändige Lust zu schreiben. Es reicht auch nicht, bloß die hier formulierten Gesetze und Regeln zu beachten, sondern man muss vor allem schreiben – viel schreiben – und die Texte einem möglichst professionellen Feedback unterwerfen, wenn möglich dem Feedback erfahrener Autoren, die in ihrer langjährigen Praxis die Fähigkeit erworben haben, knifflige literarische Probleme qualifiziert zu erörtern.

Und vor allem sollte man viel lesen!

Außerdem ist uns bewusst, dass sich die Welt der Literatur mit ihrem Formenreichtum in einem Leitfaden nicht erschöpfend behandeln lässt. Gerade in der Moderne haben Autoren und Autorinnen die überlieferten handwerklichen Regeln des narrativen Schreibens modifiziert, gebrochen oder auch schlichtweg ignoriert. Die Werke einer Elfriede Jelinek oder eines Peter Handke lassen sich gewiss nicht immer daran messen, ob z. B. die Grundsätze der Dramaturgie befolgt wurden oder nicht. Für jede in diesem Leitfaden formulierte Regel lässt sich wahrscheinlich ein Beispiel finden, das beweist, dass auch die Ausnahme von dieser Regel hervorragend funktioniert.

Wir haben in diesem Leitfaden die Grundlagen des narrativen Schreibens formuliert, um so angehenden Autoren ihre ersten Gehversuche beim Erzählen von Geschichten zu erleichtern, und um auf diese Weise auch eine – nicht streng literaturwissenschaftliche – Metasprache zu liefern, die es ermöglicht, sich professionell über Texte zu unterhalten.

Mit diesem Buch wollen wir angehende Autoren und Autorinnen ermuntern, sich mit den Grundlagen und Normen des Schreibens auseinanderzusetzen, sie sich anzueignen, sie in der Schreibpraxis zu überprüfen und anzuwenden, um sie in der Folge auch produktiv überschreiten zu können.

Karin Fleischanderl und Gustav Ernst

Autorenschaft

Der Alltag nahezu aller, die im Erwachsenenalter aufgrund eines plötzlichen Interesses Literatur schreiben oder ihre bisherige Schreibtätigkeit professionalisieren wollen, steht ganz im Zeichen von Familie, Studium oder Beruf. Trotzdem möchten sie mitunter einen Roman schreiben oder einen bereits begonnenen Roman beenden. Das bedeutet, dass sie in ihrem stressigen Alltag Zeit erübrigen müssen, um die intensive Arbeit an einem Roman effektiv vorantreiben zu können – dieses Problem kennen allerdings auch hauptberufliche Autoren. Auch sie haben zuweilen Familie samt den dazugehörigen Verpflichtungen und gehen Tätigkeiten nach, die notwendig sind, um Geld zu verdienen: Lesereisen, Workshops, Verfassen von Beiträgen für Rundfunk und Presse.

Die wenigsten Autoren können vom Schreiben allein leben. Bei einer durchschnittlichen Auflage von 2.000 bis 5.000 Stück (in einem österreichischen Verlag) verdient ein Autor ungefähr 4.000 bis 10.000 Euro – und das auch nur alle zwei Jahre, sofern es ihm überhaupt gelingt, alle zwei Jahre einen Roman zu veröffentlichen. Die meisten Autoren sind daher auf Einnahmen aus zusätzlichen Tätigkeiten angewiesen.

Professionelle Autoren haben allerdings den Vorteil, dass sie bereits mehr oder weniger stabil im Autorenleben Fuß gefasst haben. Ihre wesentliche Arbeit besteht darin, Literatur zu schreiben, etwa einen Roman zu konzipieren und auszuführen. Das heißt, sie haben die dafür notwendige, mühevolle innere und äußere Entwicklung zumindest einmal erfolgreich hinter sich gebracht. Sie wollten Autoren werden und haben alles getan, um es auch zu werden. Dieses Selbstverständnis hilft dabei, den Alltag den Erfordernissen des Autorenlebens anzupassen. Einem professionellen Autor fällt es leichter, seinen Alltag so zu organisieren, dass er Zeit zum Schreiben findet, als zum Beispiel einem Lehrer oder Physiotherapeuten. Das bedeutet, dass alle, die schreiben möchten, neben ihrem beruflichen Selbstverständnis auch ein Selbstverständnis als Autor entwickeln müssen.

Damit ist allerdings nicht gemeint, dass man sich mit der Zeit automatisch als Autor fühlt oder dass man sich nach 100 Seiten Text mit Fug und Recht als solcher bezeichnen und präsentieren darf. Man muss sich vielmehr bewusst machen, welche Voraussetzungen und Umstände für die Autorenschaft notwendig sind und diese auch bewusst herzustellen versuchen. Wie bei jeder Berufsausbildung muss man sich die Frage stellen: Was muss ich wissen und können, um diese Tätigkeit auszuüben, und wie beschaffe ich mir dieses Wissen und Können? Wie funktioniert dieses Handwerk, in welchem Raum, in welcher Situation kann ich es ausüben und wie kann ich üben, um es zu beherrschen? Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist zum Beispiel die Entscheidung, fachmännische Ratschläge einzuholen, etwa in Form von Büchern über das Schreiben, in Form von Schreibworkshops oder Gesprächen mit erfahrenen Autoren und Autorinnen.

Aber es gibt nicht nur äußere Probleme und Hindernisse, sondern auch innere wie Hemmungen, Kleinmütigkeit, Minderwertigkeitsgefühle, geheime Absichten, Motive, Affekte, Obsessionen, Vorlieben. Im Laufe des Schreibens werden manche davon ans Licht drängen und im Text mehr oder minder prominent berücksichtigt werden wollen. Man darf sie jedoch nicht einfach in den Text hineinlassen. Man muss ihre Bedeutung für den Text überprüfen und abwägen. Und falls man sie doch hineinlässt, muss man eine angemessene literarische Form für sie finden.

Der Autor sollte sich seiner Motive bewusst sein. Sie müssen nach reiflicher Überlegung entweder sinnvoll eingesetzt oder unter Kontrolle gehalten werden. Sie sollen die literarische Arbeit nicht stören, den Autor nicht ablenken und sich nicht heimlich Eingang in den Text verschaffen und dort unbeabsichtigte Bedeutungen oder Wendungen hervorrufen. Soll ein Roman zum Beispiel nur aus dem Grund geschrieben werden, um nach einer (in der außerliterarischen Wirklichkeit erfolgten) Scheidung dem ehemaligen Partner am Zeug zu flicken oder möchte der Autor sich aufgrund seiner vermeintlich verpfuschten Kindheit an seinen Eltern rächen, wird es ihm kaum gelingen, der komplexen Wirklichkeit Rechnung zu tragen, beziehungsweise die in einem Roman erforderliche erzählerische Gerechtigkeit herzustellen.3

Aus diesem Grund muss der Autor sich ständig im Auge behalten, sich argwöhnisch beobachten, um nicht aufgrund unterdrückter oder nicht beachteter Affekte und Neigungen unliebsame Überraschungen im Text zu erleben.

Unerlässlich ist der absolute Wille, schreiben zu wollen und das damit verbundene Interesse, herausfinden zu wollen, wie andere literarische Autoren und Autorinnen schreiben und geschrieben haben. Durch intensives Lesen vergrößert und vertieft man nicht nur das Wissen darüber, welche Schreibweisen und literarische Gestaltungsmöglichkeiten es bereits gibt, sondern man vergrößert und vertieft auch die eigenen Fähigkeiten, eine eigene Sprache und eigene Erzählformen zu entwickeln. Indem man die Fähigkeiten der anderen studiert, nachvollzieht und lesend in sich aufnimmt, bildet man eigene Fähigkeiten aus. Man modifiziert, korrigiert, bereichert sein bisheriges Sprach- und Gestaltungsvermögen. Allerdings nicht nur lesend, sondern gleichzeitig auch schreibend, indem man konkret ausprobiert, was man bei der Lektüre gelernt hat, wozu man durch sie angeregt und ermuntert wurde.

Schreiben ist am Anfang immer ein Schreibeinübungsprozess, ein methodisches Aneignungsverfahren, ein Prozess des Suchens, um die eigenen Sprach- und Erzählmöglichkeiten zu finden, ein Ausprobieren, um zu erfahren: Was kann ich am besten? Wie kann ich den Text besser machen? Wann stellt sich das Gefühl ein, eine Situation treffend beschrieben, eine Abfolge von Ereignissen spannend erzählt zu haben? Dabei sollte man mit Geduld und Ausdauer zu Werke gehen und sich immer vor Augen halten, dass Gott die Welt nicht an einem Tag erschaffen hat. Man sollte die Schreibarbeit als einen Prozess verstehen, der wie jeder Prozess Fortschritte und Rückschritte beinhaltet, Momente der Frustration, der Mutlosigkeit, der Verzweiflung, aber auch der Freude, wenn ein Satz, eine Erzählung unter vielen Mühen gelungen ist. Dieses Gelingen ist das Ergebnis von Arbeit, von Versuch und Irrtum und neuerlichem Versuch. Genau dazu muss man als Autor bereit sein. Darauf muss man sich einstellen. Diesen Prozess muss man unerschrocken und selbstbewusst in Angriff nehmen wollen und offensiv und hartnäckig vorantreiben. Das heißt: Viel lesen, viel schreiben und, unbeeindruckt von Rückschlägen, kühn seine Fähigkeiten ausbilden wollen. Nur so geht es! Ein guter Text steht immer erst am Ende eines Prozesses, nie am Anfang.

Der Autor sollte also prozessfähig sein, sich Kontinuität und Ausdauer verordnen, er sollte regelmäßige Schreibzeiten fixieren, einhalten und einen gleichbleibenden Schreibort aufsuchen. Im Trubel der alltäglichen Tätigkeiten und Verpflichtungen ist das zugegeben schwierig. Umso wichtiger ist es, sich genau zu überlegen, wann man am besten schreiben und sich genügend freie Zeit verschaffen kann, um mit einiger Regelmäßigkeit ungestört an seinen Texten arbeiten zu können. Besonders bei einem größeren Projekt wie einem Roman ist Regelmäßigkeit das Um und Auf. Außerdem sollte man herausfinden, welche Vorbereitungen und Rituale man braucht, um am besten mit dem Schreiben beginnen zu können, um sich einzustimmen, sich wieder in den Text hineinzubegeben, sich die nötige Schreibkonzentration zu verschaffen. Und wie lange man sie aufrechterhalten kann. Wie man Störungen vermeidet und wie man damit umgeht, wenn es an einem Tag nicht so gut läuft. Und wie lange man das Schreiben unterbrechen darf, ohne den Arbeits- und Textzusammenhang zu verlieren. Alle diese Erfahrungen sollte man als Autor bewusst suchen. Sich als Autor zu erschaffen, heißt eben auch, mehr über sich selbst, über die eigenen Schreibbedingungen, die innere Verfasstheit beim Schreiben, über die eigenen Gefühle, Ängste, Blockaden in Erfahrung zu bringen und herauszufinden, wann und aus welchem Grund sie auftreten und wie sie zu bewältigen sind. Jeder Autor macht andere Erfahrungen mit sich und entwickelt andere Methoden, mit etwaigen Problemen fertig zu werden. Aber man muss ihnen bewusst ins Auge sehen. Das auf diese Weise erzeugte Gefühl, weitgehend Herr seiner Tätigkeit zu sein, stärkt das Selbstbewusstsein als Autor, das man unbedingt braucht und das während des Schreibens oft genug auf die Probe gestellt wird.

Wie lange man an einem Text sitzen muss, bis er den Erwartungen entspricht, tut nichts zur Sache. Die Effizienz beim Schreiben ist der Effizienz, die man von anderen, nichtkünstlerischen Arbeiten kennt, radikal entgegengesetzt. Mit dieser Tatsache muss man sich am Anfang der Schreibtätigkeit oft erst mühsam anfreunden. Aus Alltag und Berufsleben ist man gewohnt, eine in Auftrag gegebene Arbeit bis zu einem genau festgelegten Zeitpunkt fertiggestellt zu haben. Das wird vom Auftraggeber erwartet. Man erwartet es auch selbst. Man hält es für selbstverständlich und liefert auch pünktlich zum festgesetzten Termin. In der Kunst ist es anders. Es ist ungewiss, wie lange man braucht, um einen Roman mit all seinen Unwägbarkeiten zu schreiben. Allen Plänen und Konzepten zum Trotz ist der konkrete Arbeitsverlauf beim Schreiben nicht genau planbar und sein Ende daher auch nicht genau festlegbar. Das bedeutet für den Autor, dass man zwar einen Termin anpeilen kann, zu dem man mit dem Roman fertig sein möchte – und mitunter ist es auch gut, einen Termin anzupeilen, um die Arbeitsmoral aufrechtzuerhalten und sich nicht zu vertrödeln –, dass man sich aber keineswegs zwingen darf, ihn auch unbedingt einzuhalten! Als Autor sollte man sich sagen: „Ich darf mich nicht hetzen lassen und will mich auch selbst nicht hetzen!“ Die Aufmerksamkeit sollte der Arbeit am Text gelten, nicht dem Termin. Erfahrenen Autoren, die ihre Mittel gut kennen und imstande sind, deren Einsatz effizient zu steuern, gelingt es natürlich, Abgabetermine einzuhalten. Doch meistens überziehen auch sie. Für den angehenden Autor ist es deshalb unumgänglich, sich vom üblichen wirtschaftlichen Effizienzbegriff zu verabschieden, den man aus der Lohnarbeit kennt und den man sich aus ökonomischen Gründen angeeignet hat. Oft genug wird man sich gegen die drängenden Fragen der Freunde, der Familie, mitunter auch eines Verlags oder einer Zeitschrift zur Wehr setzen müssen: Wie lange brauchst du noch? Wann ist dein Roman endlich fertig? Hast du nicht gesagt, morgen?

Allzu häufig ist jedoch das Gegenteil der Fall: Fürs Erste warten kein Verlag und keine Zeitschrift auf den Text. Zum Schreiben und vor allem zum Weiterschreiben muss man sich also selbst motivieren. Aus besagtem Grund ist diese Selbstmotivation oft aber nicht so leicht herzustellen. Der Alltag bietet jede Möglichkeit, auszuscheren, sich abzulenken, anderes wichtiger zu nehmen. Oft äußern Autoren die resignierte Frage: „Zahlt es sich überhaupt aus, zu den Tausenden Büchern, die ich in einer Buchhandlung sehe, noch eines hinzuzufügen? Warum sollen die Leser ausgerechnet mein Buch lesen?“ Eine gute und berechtigte Frage, die man aber, will man wirklich Autor werden, mit einer durchaus erlaubten und auch notwendigen Überheblichkeit und einem gewissen Maß an Größenwahn beantworten muss: Ich schreibe meinen Roman, weil ich ihn schreiben muss. Auch wenn es Millionen Romane gibt, mein Roman wird außergewöhnlich und der beste sein!

Als angehender Autor, als angehende Autorin muss man unbedingt eine Fähigkeit erwerben: Kritik zu ertragen und sie produktiv zu machen. Kritik ist fürs Erste immer eine Kränkung. Für Anfänger und für Meister. Es steht einem auch zu, sich gekränkt zu fühlen. Und man sollte die Kränkung ordentlich auf sich wirken lassen. Sie ist ein Motivationsschub. Es kommt einzig und allein darauf an, wie man mit Kritik umgeht. Die meisten Anfänger blocken zunächst einmal ab und verteidigen ihren Text. Sie wollen jede Debatte verhindern. Sie lassen keine Kritik zu. Sie fühlen sich persönlich angegriffen. Der Text hat so zu bleiben, wie er ist, und Punkt. Als Anfänger hat man noch zu wenig Erfahrung damit, einen einmal zu Papier gebrachten Text auseinanderzunehmen, umzuschreiben, zu korrigieren und dann wieder zusammenzufügen. Man denkt: Ich kann nur auf diese Weise schreiben, das ist meine Kunst, die lasse ich mir nicht nehmen. Man fürchtet: Wenn der Text nichts wert ist, bin auch ich nichts wert.

Doch Kritik ist eine wesentliche Korrektur- und Kontrollinstanz und eine unerlässliche Hilfe, literarische Fähigkeiten weiterzuentwickeln und produktiv zu entfalten. Man zwingt sich, die vorgebrachten Argumente und Einwände möglichst distanziert und emotionslos zu bedenken; man prüft, ob sie gerechtfertigt sind oder ob sie vielleicht doch der eigenen Absicht widersprechen und eventuell aus einem anderen, nicht zum Text passenden Blickwinkel vorgebracht wurden. Mit dieser Prüfung sollte man sich Zeit lassen, vielleicht einmal darüber schlafen und eine zweite Meinung einholen. Kritik signalisiert oft, dass etwas am Text nicht stimmt, vielleicht nicht genau das, was der Kritiker auszuführen und zu benennen versucht hat. Aber vielleicht etwas anderes, das man mithilfe einer genauen Analyse früher oder später herausfinden kann. Oft spricht der Kritiker auch eine Stelle an, bei der man selbst unsicher ist und ahnt, dass etwas nicht stimmt, ohne es sich eingestehen zu wollen oder zu können.

Es lohnt immer, sich mit Kritik auseinanderzusetzen. Man lernt viel über den eigenen Text und über das eigene Verhältnis zum Text. Wichtig dabei ist, Autor und Text getrennt zu halten, also sich und seine Fähigkeiten nicht völlig mit der vorliegenden Fassung des Textes zu identifizieren. Man darf nicht denken: „Ich bin ein schlechter Autor.“ Man muss sich vielmehr damit abfinden, dass die kritisierte Fassung noch nicht so ist, wie sie sein könnte. Sie hat ausgedient und wandert zu den Entwürfen. Man sollte sich vielmehr klarmachen, dass man selbstverständlich in der Lage ist, jederzeit eine weitere, bessere Fassung herzustellen. Mit einem Wort: Man kann viel mehr, als diese Fassung – eine Zwischenfassung! – zeigt. Das hilft dabei, die Kränkung im Zaum zu halten. Denn nicht der Autor ist kritisiert worden, sondern der Text. Der Autor sollte sich denken: „Nicht ich bin ein schlechter Autor, der Text ist schlecht. Ich bin allerdings dazu aufgefordert worden, ihn neu zu schreiben.“

Mit der Fähigkeit, Kritik zu verkraften und produktiv einzusetzen, eignet man sich die Fähigkeit an, sich vom Text emotional zu lösen, ihn zu objektivieren und distanziert zu betrachten wie einen fremden Text. Die Angst vor Kritik zwingt den Autor – sofern er sich als guter Autor retten möchte – zu einer Emsigkeit und Genauigkeit beim Eruieren von Fehlern und Mängeln, sie schult ihn, selbst Mängel und Fehler zu entdecken. Was allerdings nicht heißt, dass ein fremder Blick dadurch völlig unnötig würde.

Der literarische Blick, die literarische Sprache

Literatur ist ein komplexes, ästhetisch anspruchsvolles Gebilde, Literatur ist wie jede Kunst höchste Form. Literatur ist mitunter schwierig zu rezipieren. Sie gibt nicht nur inhaltlich, sondern auch formal Rätsel auf, deren Entschlüsselung dem Leser Genuss bereitet.

Wenn man sich vornimmt, eine Geschichte so zu erzählen, dass sie den Gesetzen des Mediums Literatur entspricht, entscheidet man sich dagegen, sie in banalen, alltäglichen Worten oder so zu erzählen, wie ein Journalist sie unter Umständen erzählen würde. (Womit allerdings nicht gesagt sein soll, dass alltägliche oder journalistische Erzählungen keinesfalls literarische Qualitäten aufweisen können.)

Wenn man sich vornimmt, literarisch zu schreiben, möchte man ein Werk verfassen, das schöner, gültiger, aussagekräftiger, überraschender, spannender usw. ist als der Alltags- oder der Mediendiskurs. Dafür notwendig ist eine spezielle, eben eine literarische Sprache. Um von der alltäglichen auf die literarische Berichterstattung umzuschalten, bedarf es eines speziellen Blicks und einer speziellen Methode. Sowohl in Bezug auf das außerliterarische Material, das man bearbeiten möchte, als auch in Bezug auf das sprachliche Material, das Ausdrucksmittel der Literatur, begibt man sich in einen anderen Wahrnehmungsmodus als im Alltag. Man legt gewissermaßen einen Schalter um.

Diese Methode – die literarische Arbeit – besteht im Wesentlichen in einer speziellen Wahrnehmung, im Auswählen und im Neu-Organisieren des Wahrgenommenen.

Der literarische Blick

Eine literarisch beschriebene Szene besteht aus konkreten Details. Jedes Detail vermittelt eine Information. Jede dieser Informationen sagt etwas Bestimmtes über eben diese Szene aus, in der Summe ergeben sie eine schlüssige und anschauliche Auskunft über das beschriebene Ereignis.

Für gewöhnlich fällt einem gleich zu Beginn eine Unmenge an Details ein. Und falls man die Szene, die man beschreiben möchte, vielleicht sogar selbst erlebt oder gesehen hat, gibt es womöglich ein noch größeres Angebot an Einzelheiten. Aber nicht alle sind für die Darstellung der Szene sinnvoll und brauchbar. Man muss eine Auswahl treffen. Aber welche?

Eine erste sinnvolle Übung, um diese Methode auszuprobieren, besteht darin, einen Blick aus dem Fenster zu werfen: Man versucht, in auktorialer Erzählweise4 objektiv und neutral zu beschreiben, was man draußen vor dem Fenster sehen und beobachten kann. Dabei wählt man bewusst nicht die Ich-Perspektive, weil diese dazu verführen könnte, objektive Fakten durch subjektive Wahrnehmungen zu ersetzen. Es soll vielmehr ausschließlich beschrieben werden, was draußen zu sehen ist bzw. was sich draußen tut.

Im zweiten Stock im Haus gegenüber wird ein Fenster geöffnet. Eine junge Frau schaut heraus. Sie trägt ein rotes T-Shirt. Sie fährt sich mehrmals mit beiden Händen durchs Haar und blickt die Straße hinauf. Unter ihr tritt ein Mann mit einer Aktentasche unter dem Arm aus dem Haustor. Er überquert die Fahrbahn und stellt sich zur Straßenbahnhaltestelle. Die Bäckerei an der Ecke ist geschlossen. Ein junger Mann beugt sich abrupt über einen Kinderwagen. Vor der Tür eines Handy-Ladens steht eine Frau und raucht. Daneben ist der Gehsteig aufgegraben. Rundherum ist ein Absperrgitter aufgestellt. Ein Arbeiter steht in der Grube und schaufelt Erde heraus. Kurz spiegelt sich die Sonne in der Windschutzscheibe eines Taxis, das in die Seitengasse abbiegt. Der Mann an der Haltestelle schnäuzt sich. Er geht zur Bank im Wartehäuschen, legt seine Aktentasche hin, setzt sich und putzt sich die Nase. Mit Blaulicht und Sirene rast eine Ambulanz hinter ihm vorbei. Er schaut ihr nach. Dabei fällt ihm das Taschentuch aus der Hand.

Die nächste Übung könnte darin bestehen, einen Auffahrunfall zu beschreiben: Ein Auto ist an einer Kreuzung bei Rot stehen geblieben, ein anderes ist ihm hinten hineingekracht. Welche Details sind wichtig, welche nicht?