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Stefan Slupetzky

Im Netz des Lemming

Kriminalroman

1

„Hast du den armen kleinen Kauz gesehen?“

„Wen meinst du?“ Klara wirft den Ärztemantel auf die Küchenbank und schraubt die silberne Kaffeemaschine auf. „Ich hab zwar einen Papagei und eine Eule unter meinen Patienten, aber keinen Kauz.“

Der Lemming lässt die Zeitung sinken. „Na, den neuen Freund vom Ben.“ Er deutet Richtung Tür. „Der Kleine ist heut nach der Schule mit zu uns gekommen.“

„Schön. Und warum ist er arm?“, fragt Klara, während sie Kaffeepulver in die Maschine füllt.

„Na, erstens wegen … Ach, du wirst schon sehen. Und zweitens wegen seines Namens. Wer tauft seinen Buben bitte Loll?“

„Bist du dir sicher? Loll?“

„Natürlich bin ich sicher. Jedenfalls hat er sich so genannt, und auch der Ben hat immer Loll zu ihm gesagt. Das ist mein Vater, Loll, schau her, Loll, gehen wir in mein Zimmer, Loll … Ich hab zuerst gedacht, es ist ein Spitzname, nur woher soll der kommen? Von Lolitus?“

Klaras Lachen ähnelt einem hellen Glockenklang. Sie wendet sich zum Lemming um und sieht ihn an. „Du glaubst das wirklich, oder?“

„Was?“

„Na, dass der Kleine Loll heißt.“

„Warum soll ich es nicht glauben?“

Klara neigt den Kopf zur Seite. „Manchmal könnt ich mich in dich verlieben, Poldi“, meint sie mit glänzenden Augen.

„Danke. Ganz besonders für den Konjunktiv. Sag, steh ich auf der Leitung oder hab ich was verpasst?“

„Nicht viel. Nur dreißig Jahre Internet, den Vormarsch der sozialen Medien und den untrennbar damit verbundenen Wortschatz unseres Sohnes.“

„Mama, dürfen wir was Süßes?“ Benjamin schiebt seinen strubbeligen Haarschopf durch die Küchentür, und hinter ihm erscheint ein weiterer Kopf, dessen Gesicht in schmerzhaftem Kontrast zu seinen engelsgleichen blondgelockten Haaren steht: unter der niedrigen, zurückweichenden Stirn zwei große blaue Augen, zwischen diesen eine kleine knubbelige Nase und darunter eine tiefe, dunkelrote Narbe in der Oberlippe – eine so genannte Hasenscharte. Beiderseits des Einschnitts wölben sich die Lippenflügel prall nach außen, so, als steckten große Erbsen oder kleine Weinbeeren darunter.

„Sicher dürft ihr etwas Süßes“, lächelt Klara. „Aber nur, wenn du mir vorher deinen Freund vorstellst. Ich bin Bens Mutter“, wendet sie sich an den Blondschopf. „Allerdings heiß ich nicht wie der Ben. Nicht Wallisch, sondern Breitner. Klara Breitner.“

„Lol“, antwortet Loll.

„Lol, Digga“, kichert Ben. „Gib Check, Digga!“

„Okay … Ich glaube, ihr wollt doch nichts Süßes.“ Klara zuckt die Achseln und stellt die Kaffeemaschine auf den Herd, während die Buben halb erstaunte, halb bestürzte Blicke wechseln.

„Wetehaa“, raunt Ben.

„Entschuldigung“, gibt Loll sich endlich einen Ruck. „Ich heiße Mario. Mario Rampersberg.“

Der Lemming ist bis jetzt mit offenem Mund und großen Augen dagesessen. Er hat eindeutig etwas verpasst. Als hätte man ihn in der Blüte seiner Jugend eingefroren und erst dreißig Jahre später wieder aufgetaut. Jetzt aber horcht er auf.

„So wie der Regisseur?“, fragt er. „Kurt Rampersberg? Bist du mit ihm verwandt?“

Der Kleine nickt. „Mein Vater.“

Nur mit Mühe kann der Lemming sich den Kommentar verkneifen, der ihm auf der Zunge liegt. Du armer kleiner Kauz, denkt er im Stillen …

Kurt Rampersberg war bis vor Kurzem einer jener Regisseure, deren Filme es nur selten in die Kinos schaffen und, wenn überhaupt, dann erst zu nachtschlafender Zeit im Fernsehen laufen. Seine Dokumentationen waren weder pornografisch noch politisch, sondern bestenfalls poetisch: stille, unscheinbare Kieselsteine unter all den schillernden Juwelen der Filmkunst. Aber eben Steine ohne das Gefunkel elitärer Wichtigtuerei. Sie trugen Titel wie Die Hütehüter – über den Verein zur Pflege der Tiroler Hutkultur oder Gemustert ausgemustert – wenn Soldaten Rentner werden. Cineasten älteren Semesters mag der Filmemacher ein Begriff gewesen sein, doch war er meilenweit von dem entfernt, was man als prominent bezeichnet. Dann aber, vor knapp zwei Jahren, ist die Tragödie passiert: Rampersbergs Frau – Marios Mutter – ist an einem Sommerabend auf dem Heimweg überfallen, mit Fausthieben traktiert und vergewaltigt worden. Tags darauf ist sie im Krankenhaus ihren Verletzungen erlegen.

Dass die Zeitungen sehr ausführlich über den Fall berichteten, lag weniger am medialen Sommerloch als an der Grausamkeit der Tat und an der Herkunft des Verbrechers: Milad H., ein junger Flüchtling aus Afghanistan, der über den Iran und die Türkei in die EU gekommen war.

Die Diskussion über die kulturelle Unvereinbarkeit von Islam und Christentum, von Orient und Okzident flammte von Neuem auf, und während immer lauter rigorose Maßnahmen zur Eindämmung des Flüchtlingsstroms gefordert wurden, führten nur noch wenige den Wert der Nächstenliebe und Barmherzigkeit ins Treffen. Wie auch immer man zu dieser Frage stehen mochte: Die brutale Tat bewegte alle Österreicher, alle trauerten mit Rampersberg, das ganze Land stand hinter ihm. Geteilt waren nur die Ansichten darüber, wie die Politik auf das Verbrechen reagieren sollte.

„O Em Dschi!“, stört Ben die Gedanken des Lemming. „Echt? Dein Vater ist ein Filmemacher?“

„Ja“, sagt Mario mit einem Achselzucken. Er wirkt nicht gerade stolz, das Thema scheint ihm Unbehagen zu bereiten. Fast erleichtert horcht er auf, als ein Geräusch aus seiner Hosentasche dringt: der Klang einer elektrischen Gitarre, die die ersten beiden Takte von Smoke on the Water intoniert.

„Was geht?“, fragt Ben.

Mario zieht ein Smartphone aus der Tasche. Er wischt einen nicht vorhandenen Schmutzfleck vom Display und lauscht ein paar Sekunden lang mit unverhohlener Unlust in den Hörer. „Jetzt schon?“, sagt er. „Ja, okay, wenn’s sein muss.“ Dann steckt er das Handy wieder weg. „Mein Dad. Ich muss jetzt heimfahren.“

„Junge! Chill dein Leben!“, zetert Ben. „Was ist jetzt mit was Süßem?“

„Wenn du magst, geb ich dir etwas mit“, meint Klara und zieht eine Lade auf. „Als Marschverpflegung.“

„Marschverpflegung“, brummt der Lemming. „So, als ob er nach … nach Russland müsste.“ Und weil ihm inzwischen dämmert, was der eine oder andere exotische Begriff der beiden Buben zu bedeuten hat, fügt er ein dezidiertes „Loll!“ hinzu.

„Voll episch!“, nickt Ben anerkennend. „Alles klar!“

„Wo wohnst du, Mario?“, fragt Klara, während sie dem Kleinen einen Schokoladenriegel hinhält.

„Gleich beim Zoo. In der Maxingstraße.“

„Echt? Da haben wir ja denselben Weg.“ Der Lemming schaut zur Küchenuhr. „Ich muss jetzt sowieso auch aufbrechen.“

„Mein Dad ist nämlich so was wie ein Cop“, fügt Ben hinzu. „Im Tiergarten.“

„Damit dort in der Nacht kein Elefant gestohlen wird“, grinst der Lemming.

Mario betrachtet ihn mit ernster Miene. „Lol“, sagt er dann leise.

Eine Viertelstunde später sitzen sie nebeneinander in der Straßenbahn, der fünfundfünfzigjährige ergraute Nachtwächter Leopold Wallisch und der elfjährige blonde Schüler Mario Rampersberg. Vor ihnen liegen zwölf Stationen: eine halbe Stunde Reisezeit, die mit Gesprächen überbrückt sein will, wenn sie sich nicht in jenem bleischweren, betretenen Schweigen festfahren soll, das man aus Aufzügen und Wartezimmern kennt. Im Wagen sitzen auch noch andere Fahrgäste, die meisten spielen mit ihren Smartphones, manche mustern Mario mit verstohlen-mitleidigen Blicken. Nur ein alter Mann mit einem grünen Trachtenhut starrt den Lemming vorwurfsvoll an. Wahrscheinlich hält er ihn für Marios Vater und gibt ihm die Schuld an dessen schlecht vernarbter Lippenspalte. Vielleicht ist er aber auch der Meinung, dass Missbildungen in Straßenbahnen nichts zu suchen haben – so wie übrigens auch Kinderlachen, Obdachlose, Ausländer und Schwule.

„Gehst du mit dem Ben in eine Klasse?“, fragt der Lemming.

„Nein.“

„Aha. Ich dachte … Aber in dieselbe Schule?“

„Ja.“

„Bist du schon in der Dritten?“

„Nein.“

„Auch in der Zweiten?“

„Ja.“

„Das heißt, ihr geht in Parallelklassen?“

Der Kleine nickt, ohne den Lemming anzusehen. Beinah entschuldigend senkt er den Kopf und sagt: „In meiner Klasse hab ich keine Freunde. Und der Ben … Ich find ihn nett. Er schämt sich nicht, mit mir zu reden.“

Unversehens steigen dem Lemming Tränen in die Augen. Nicht nur, weil ihm Mario so leidtut, sondern auch, weil er so stolz auf Ben ist. „Warum soll er sich denn schämen?“, fragt er mit belegter Stimme, und am liebsten würde er den kleinen blonden Buben in den Arm nehmen, um ihn zu halten und zu trösten.

„Schauen Sie mich doch an. Ich bin ein Freak.“

„Das bist du nicht. Wie kommst du denn auf die Idee?“

„Ich schaue aus wie die totale Missgeburt. Wie eine Strafe Gottes. Wahrscheinlich hat der Araber meine Mama deshalb umgebracht.“

Der Lemming klappt den Mund ein paar Mal auf und zu, ihm bleibt die Sprache weg. Woher um alles in der Welt hat Mario dieses selbstzerstörerische Denken? Wie um seine stummen Mundbewegungen zu untermalen, schallt plötzlich ein Geräusch durch den Wagen: das Quaken eines Froschs. Marios Handy.

Jabberpal.“ Der Kleine wischt über das Display, malt ein großes M darauf, um es zu entsperren, und liest dann eine Nachricht. Gegenüber stößt der Alte mit dem Trachtenhut ein indigniertes Räuspern aus. Der Lemming kramt in seiner Jackentasche, bis er findet, was er sucht: ein Päckchen Malzbonbons.

„Wollen Sie ein Hustenzuckerl?“ Herausfordernd hält er dem Mann die Schachtel hin. Der Alte tut, als habe er es nicht bemerkt; er rümpft die Nase, dreht sich weg und schließt die Augen.

Jabberpal?“, wendet der Lemming sich jetzt wieder Mario zu. „Was ist das?“

„Eine Plattform.“

„Ah … Und wofür braucht man das?“

„Zum Posten und zum Chatten. Es ist ein soziales Netzwerk.“

„Ah … Und wofür ist das gut?“

Zum ersten Mal, seit sie vor einer Viertelstunde aufgebrochen sind, schenkt Mario dem Lemming einen Blick. Einen verblüfften, ungläubigen Blick. „Im Ernst jetzt? Lol. Sie wissen nicht, was ein soziales Netzwerk ist?“

„Na ja, ein bisserl hab ich schon davon gehört: Da treffen sich verschiedene Leute im Computer und erzählen sich, was sie gerade frühstücken oder wo sie auf Urlaub waren.“

„So zirka.“ Mario wiegt den Kopf. „Das Schöne ist, man kann dort unter einem ausgedachten Namen mit den anderen reden, ohne dass sie wissen, wie man ausschaut oder wie man heißt.“

„Da reden also Fantasiefiguren miteinander?“

„Meistens schon. Ich hab dort fast nur Freunde, die mich gar nicht kennen. Nur der Ben und zwei, drei andere wissen, wer ich wirklich bin …“

„Der Ben ist auch auf dieser Dings, auf dieser Plattform?“

„Sicher.“

Klara, denkt der Lemming jetzt bestürzt, hat vorhin untertrieben: Er hat nicht nur die Entwicklung des Internets verpasst, sondern auch die Entwicklung seines Sohnes. Benjamin, der gestern noch auf allen vieren gekrabbelt ist, tanzt heute schon auf virtuellen Plattformen, die er, der Lemming, nie betreten hat. Wenn er den Anschluss nicht verpassen, das Verständnis für Bens Lebenswelten nicht verlieren will, muss er handeln, und er darf das nicht erst morgen tun.

„Ich glaub, ich könnt noch manches von dir lernen“, lächelt er Mario zu. „Magst du mir zeigen, wie das funktioniert mit diesem Netzwerk?“

Marios Physiognomie mag ja vielleicht der eines Hasen ähneln, aber seine Reaktion gleicht eher der eines bedrohten Igels. Eines Igels, der sich flugs zusammenrollt und seine Stacheln aufstellt.

„Sie müssen nicht nett zu mir sein, nur weil ich hässlich bin!“

Der Kleine spuckt die Worte aus wie etwas Bitteres, das einem auf der Zunge liegt; der Lemming aber sitzt schon wieder sprachlos da und ringt die Hände, hin- und hergerissen zwischen Mitleid und Verärgerung. Wie kann er diesem Kind nur seinen Selbsthass nehmen, seine Frustration und seine barsche Art der Selbstzerfleischung? Wie um Himmels willen kommt Ben mit Marios Zurückweisung zurecht, sobald er ihn als Freund behandelt? Oder spielt sich die Kommunikation zwischen den beiden ohnehin vollkommen anders ab? Im Loll- und Wetehaa- und Digga-Universum?

Trost, so überlegt der Lemming, nährt sich immer aus sich selbst: Es geht nicht um die Sachlichkeit und Logik mitfühlender, ermutigender Worte, sondern um den Akt des Tröstens an sich. Darum, dass da jemand ist, der Anteil nimmt. Der einem Hoffnung geben will. So wie ja auch der Sinn des Lebens einzig und allein das Leben selbst ist. Aber das Misstrauen, das Mario der Welt entgegenbringt, macht es der Welt nicht leicht, ihm einen Platz zu bieten, ihn mit offenen Armen aufzunehmen. Kurz gesagt: Er steckt in einem Teufelskreis, den nur ein Außenstehender durchbrechen kann.

„Weißt du, dass ich vor vielen Jahren wirklich bei der Polizei gewesen bin?“, versucht der Lemming es erneut. „Sogar ein Krimineser? Und dass man mich hochkant rausgeworfen hat? Ich sag dir auch, warum: Weil ich zu den Verbrechern netter war als zu mir selbst. Weil ich erst lernen musste, auf mich achtzugeben und mir selbst ein Freund zu sein …“

„Mich würden sie erst gar nicht nehmen bei der Polizei“, fällt Mario ihm ins Wort. „Ich meine, Bullen haben keine Hasenscharten.“

„Stimmt doch gar nicht. Nimm zum Beispiel diesen coolen Typen aus den Achtzigern, wie hat der noch geheißen … Hammer, ja, Mike Hammer! Der war sogar Fernsehdetektiv! Okay, er hatte einen Schnurrbart, aber …“

„Nie im Leben“, unterbricht ihn Mario, „bringt mich irgendwer zum Film – mit oder ohne Bart. Ich lass mich doch nicht fertigmachen wie mein Papa … Darf ich?“ Er zeigt auf die Malzbonbons.

„Ja, sicher.“

Mario bedient sich, und er steckt sich das Bonbon gerade in den Mund, als wieder das groteske Quaken seines virtuellen Froschs ertönt. Sofort zieht er das Smartphone aus der Tasche.

Mittlerweile fahren sie am Bett des Wienflusses entlang, in dem – neben dem in Beton gezwängten und zum Rinnsal regulierten Fluss – die Gleise der U4 verlaufen. Links vor ihnen spannt sich die Kennedybrücke über Fluss und U-Bahngleise, dort befindet sich auch eine Straßenbahnstation, die vorletzte vor dem von Mario und dem Lemming anvisierten Reiseziel. Schon geht die Tramway in die Kurve.

Jabberpal?“ Der Lemming lächelt Mario zu.

Der Kleine aber lächelt nicht zurück. Den Kopf nach vorn geneigt, starrt er das Handydisplay an. Ein Display, dessen grüner Schimmer sich wie eine jähe Übelkeit auf Marios Gesicht legt, sich in seinen Augen widerspiegelt.

Feuchte Augen.

„Ich muss raus.“ Der Bub springt auf und stürzt zur Tür, gerade als die Straßenbahn in die Station einfährt. Bevor der Lemming reagieren kann, öffnet sich die Falttür, und Mario springt ins Freie.

„Warte!“ Auch der Lemming ist jetzt aufgesprungen, um dem Kleinen nachzulaufen. Fluchend zwängt er sich durch die schon wieder zuklappende Tür, fünf Meter hinter Mario, der die Straße überquert und auf das eiserne Brückengeländer zusteuert, ohne auf den Verkehr zu achten. Bremsen quietschen, Autos hupen, Fäuste ballen sich hinter Wagenfenstern. Mario läuft einfach weiter. Läuft auf das Geländer zu.

„Bleib stehen!“ Der Schrecken steht dem Lemming ins Gesicht geschrieben; wie der Trailer eines Films spielt sich das Kommende vor seinem inneren Auge ab. Nur dass der Bub in seiner Tagtraum-Fantasie nicht Mario ist, sondern Benjamin. Sein Sohn, das Zentrum seines Lebens. Ben.

Der Schrecken wird zum Grauen, das Hämmern seines Herzens sprengt ihm fast die Brust. „Herrgott, so bleib doch stehen!“ Mit einem Hechtsprung weicht der Lemming einem Motorroller aus, rennt weiter. Fast hat er den Buben, der gerade auf die Brüstung klettert, eingeholt. Er schnellt nach vorn, mit ausgestrecktem Arm, erfasst den Ranzen, der auf Marios Rücken hängt, greift mit der Rechten nach und krallt die Hand in Marios Jackenkragen.

Doch der Kleine ist bereits gesprungen. Schon sackt er nach unten, bis der Klammergriff des Lemming ihn zum Stillstand kommen lässt. Jetzt hängt er stumm in seinen Jackenärmeln, acht Meter über den U-Bahngleisen, und der Lemming hakt sein rechtes Bein in eine Strebe des Geländers, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er wird nicht loslassen, wird seinen Griff nicht lockern. Nicht in diesem Leben.

„Hilf mir, Mario …“, ächzt er. „Halt dich vorne an den Rucksackgurten fest … Wir schaffen das, wir beide …“

„Lol“, sagt Mario und hebt die Arme.

Wie ein Windhauch klingt es, als er aus den Ärmeln schlüpft. Dann fällt er, und dem Windhauch folgt das dumpfe Poltern seines Kinderkörpers, der gegen die Windschutzscheibe einer einfahrenden U-Bahn schlägt.

2

Diese bleierne Müdigkeit. Als wäre man von Kopf bis Fuß in eine schwere Steppdecke gehüllt. Und trotzdem diese Kälte in den Gliedern. Vor dem weitläufigen Wolfsgehege flattern Fledermäuse durch die Dunkelheit: Es gibt hier auch ein Leben außerhalb der Käfige und Volieren, ein freies, wildes Leben.

Sternenklar spannt sich der Nachthimmel über den Zoo. Der Lemming sitzt auf einer der Besucherbänke, um die letzten Stunden noch einmal Revue passieren zu lassen. Fast fünf Stunden, um genau zu sein.

Am Anfang war es völlig leer in seinem Kopf. Er ist nur dagestanden, Marios Rucksack, Marios Jacke in den Händen, und hat über das Geländer auf den Gleiskörper gestarrt. Da unten war es ruhig, so ruhig, als hätte irgendein verrückter Gott die Uhren angehalten. Dann der erste eigentümliche Gedanke: Wenn die Zeit stillstehen kann, muss man sie doch auch zurückdrehen können. Und der zweite: Wie wird Ben diese Tragödie verkraften …

Nach gefühlten fünf Sekunden sind auch schon die Einsatzwägen eingetroffen. Unten auf den Gleisen weiße Rettungssanitäter, oben auf der Brücke blaue Polizisten. Doch die Sanitäter haben bald den dunkelgrauen Herren von der Bestattung Platz gemacht.

„Haben Sie was mitbekommen?“ Eine junge Polizistin hat den Lemming fragend angesehen. Auf sein stummes Nicken hin hat sie den Blick gesenkt und Marios Schultasche gemustert. „Ist das Ihre?“

Sie hat ihm den Ranzen abgenommen, Marios rote Jacke aber schlichtweg übersehen. Ihm selbst ist auch nicht in den Sinn gekommen, sie der Polizei zu übergeben, schließlich hatte er sich ja noch kurz davor geschworen, sie nicht loszulassen. Stunden später erst, bei seinem Eintreffen im Tiergarten, hat er die Jacke auf die Kleiderablage im Wächterhaus gehängt.

Ja, er ist arbeiten gegangen, hat sich – zwar verspätet, aber doch – zu seinem Nachtdienst in Schönbrunn gemeldet. Nur nicht heimfahren, nur nicht dahin, wo am späten Nachmittag alles begonnen hat. Stattdessen einfach nur allein sein mit sich und dem nachtschwarzen Zoo, den verschlafenen Urwald durchstreifen, der das Dickicht seiner wild mäandernden Gedanken widerspiegelt.

In der Finsternis des Wolfsgeheges glimmen gelbe Augenpaare auf, um nach Sekundenbruchteilen wieder zu verlöschen.

Marios Vater. Wer wird es ihm sagen? Wahrscheinlich hat ihn die Polizei schon informiert. Das Elend dieses Mannes ist nicht vorstellbar, so einen Schmerz kann doch kein Mensch aus Fleisch und Blut ertragen: Vor drei Jahren hat er auf die brutalste Art die Frau verloren, und jetzt … Wie soll man jemals wieder froh werden, wenn einem so etwas geschieht? Wie soll man überhaupt noch weiterleben, essen, schlafen, atmen können, Tag für Tag gefangen in der eigenen zerstörten Existenz?

Der Lemming denkt an Ben und Klara, und er stellt sich vor, das Schicksal Rampersbergs hätte ihn selbst ereilt. Die Vorstellung zerreißt ihn förmlich. Er schluchzt auf, schlägt sich die Hände vors Gesicht. Er beugt sich vor, den Kopf noch immer in den Händen, und weint stumm. Erst als die Tränen nach und nach versiegen, mischt sich eine Spur von Dankbarkeit in seine Trauer. Dankbarkeit dafür, dass er ein besseres Los gezogen hat als Marios Vater, Dankbarkeit für diese große Ungerechtigkeit des Schicksals. Und obwohl er sich für seine Regung schämt, so ist es dennoch eine Scham, mit der er besser leben kann als mit dem Tod seiner Familie.

Marios Tod wirft seinen Schatten trotzdem auch auf sie.

Wie soll ich es nur Ben erklären, überlegt der Lemming. Auf dem Herweg hat er Klara angerufen, lange haben sie gesprochen und am Schluss entschieden, Ben am nächsten Tag nicht in die Schule gehen zu lassen. Wenn der Lemming morgen heimkommt, werden sie versuchen, ihrem Sohn den Selbstmord seines Freundes schonend beizubringen.

Von Südwesten her ertönt mit einem Mal ein heiserer Ruf, gefolgt von einem harten Klappern. Dort steht die Voliere der Habichtskäuze, die einander so vor Eindringlingen warnen. Vielleicht streift ein Marder durch den Wald.

Warum hat Mario das getan? Der Lemming ruft sich die Straßenbahnfahrt in Erinnerung, Marios seltsames, teils Nähe suchendes, teils schnippisches Verhalten, seinen Hang zur Selbsterniedrigung. Hat ihn der Mord an seiner Mutter so gebrochen? Oder war sein angeknackstes Selbstbewusstsein wirklich nur die Folge seiner Oberlippenspalte?

Wieder dieses klappernde Geräusch. Dann, aus der Richtung des Regenwaldhauses, wo sich die Teiche des Freilandaquariums befinden, ein sonores Quaken: Es herrscht Laichzeit bei den Springfröschen.

Ein Quaken? Hat die Katastrophe denn nicht überhaupt erst mit dem unseligen Quaken von Marios Handy angefangen? Er hat eine Mitteilung bekommen, und in dieser Nachricht muss etwas gestanden sein, das ihn – im wahrsten Sinn des Wortes – aus der Bahn geworfen hat. Aber das Handy liegt jetzt wohl zerschmettert auf den Schwellen der U4.

Die Habichtskäuze spielen heute Nacht verrückt. Schon wieder dieser heisere Warnruf, dieses Schnabelklappern. Seufzend steht der Lemming auf; er kann den nachtwachenden Käuzen schließlich nicht die ganze Arbeit überlassen. Dienst ist Dienst.

Er steigt den Waldweg zum Tirolerhof bergan. Das Mondlicht bricht nur hin und wieder durch die Baumkronen; die Taschenlampe hat er wie so oft im Wächterhaus vergessen. Achtsam setzt er Schritt vor Schritt, nach einer Weile aber bleibt er stehen und lauscht. Tatsächlich: Er vernimmt ein leises Scharren, ein Scharren wie von Pfoten oder Hufen auf dem trockenen Boden. Ehe er weiß, wie ihm geschieht, kommt aus der Dunkelheit ein Schatten auf ihn zu, ein breiter, untersetzter Schatten, ja ein Schatten wie … von einem Bären.

Jetzt nur keinen Fehler machen: keine Drohgebärden, keine hastigen Bewegungen, vor allem keine Furcht zeigen, ganz ruhig bleiben und nicht davonlaufen. Der Angstschweiß bricht dem Lemming aus den Poren.

Immer näher kommt der Schatten, trottet direkt auf ihn zu. Vielleicht hat ihn das Tier ja überhaupt noch nicht bemerkt; erst vor zwei Monaten hat Klara ihm erzählt, dass Bären zwar einen vortrefflichen Geruchssinn haben, aber keine guten Augen. Noch acht Meter, noch sechs, dann nur noch vier … Der Lemming richtet sich zu seiner vollen Größe auf. Er breitet ruckartig die Arme aus und brüllt, so laut er kann: „Geh scheißen, Bär!“

Der Schatten zuckt so jäh zurück, dass er ins Straucheln kommt; mit einem heiseren Schrei stürzt er zu Boden.

Ein Moment der Stille. Dann eine erboste Männerstimme: „Sagen S’, Wallisch, sind Sie völlig wahnsinnig geworden? Um ein Haar hätt mich der Schlag getroffen!“ Fluchend rappelt sich der Schatten hoch, um sich den Staub von seinem Tweed-Sakko zu wischen.

„Chefinspektor?“, fragt der Lemming. „Chefinspektor Polivka?“

„Wer sonst? Sie werden doch wohl nicht wirklich einen Bären erwartet haben.“

„Nein, natürlich nicht. Mit Ihnen hab ich trotzdem nicht gerechnet. Wie sind Sie denn überhaupt ins Tiergartengelände reingekommen?“

Polivka schnaubt halb belustigt, halb gelangweilt auf. „Ich bin ein Krimineser, Wallisch. Schon vergessen?“

Nein, natürlich hat der Lemming nicht vergessen, dass der gute Polivka Ermittler bei der Kriminalabteilung für Gewaltverbrechen ist. Erst vor zwei Jahren haben sie mit vereinten Kräften eine Mehrfachmörderin verfolgt, der Lemming, weil ihn Klaras Neffe dazu überredet hat, und Polivka, weil er vom Lemming in die Sache mit hineingezogen wurde. Dass die beiden Männer wider Willen eine gewisse Sympathie verbindet, findet ab und zu in der gemeinsamen inbrünstigen Vernichtung alkoholischer Getränke seinen Niederschlag. Wenn sie einander dann in fortgeschrittenem Stadium das eine oder andere persönliche Geheimnis anvertrauen, tun sie das aber nach wie vor mit einem distanzierten Sie. Das Duzen ist und bleibt tabu.

Verwunderlich nur, dass der Chefinspektor relativ gemäßigt auf den Schrecken reagiert, den ihm der Lemming eingejagt hat. Denn im Grunde passt das gar nicht zu seiner cholerischen und nachtragenden Art. Mag sein, dass ihm sein klammheimliches Eindringen ins Zooterrain auf dem Gewissen lastet. Oder dass er schlichtweg aus der Übung ist: Seit seine Frau Mama mit seinem Vorgesetzten Oberst Schröck ein Techtelmechtel angefangen hat, scheint Polivka nur noch sporadisch mit der alten Frau zu streiten. Nicht, dass er die Liaison goutieren würde, aber wenn er nach der Arbeit heimkommt und die Mutter wieder einmal ausgeflogen ist, fehlt schlicht der Anlass für Zerwürfnisse. Ja, Polivka wohnt immer noch in seinem Elternhaus: Statt eine eigene Wohnung anzuschaffen, steckt er seinen Lohn lieber in Flugtickets nach Frankreich, wo Sophie lebt, seine Herzensdame, seine gallische Geliebte, seine Gauloise.

„Jetzt sagen Sie schon, Chefinspektor, was führt Sie zu nachtschlafender Stunde in den Tiergarten?“

„Wir müssen reden, Wallisch.“

„Und worüber?“

„Kommen Sie.“

Polivka zieht den Lemming Richtung Elefantenpark, hinter dem sich der Wirtschaftshof, die Flugvolieren und das Wächterhaus befinden. Allerdings ist dieses Wächterhaus vor ein paar Jahren zur Sicherheitszentrale hochgerüstet worden: Auf sechs Monitoren flackern Bilder der unzähligen am Tiergartengelände installierten Überwachungskameras. Der Lemming müsste also gar nicht mehr hinaus, er könnte sich bei seinen Nachtdiensten auf virtuelle Rundgänge beschränken.

Nachdenklich betrachtet Polivka die Bildschirme und setzt sich auf ein kleines, abgewetztes Sofa, das neben dem Schaltpult steht. „Okay“, sagt er, ohne den Lemming anzusehen, „warum ich hergekommen bin, ist, sagen wir, ein bisserl eine heikle Angelegenheit … Mit anderen Worten: Es gibt ein gehöriges Problem.“

„Das wär ja ganz was Neues“, antwortet der Lemming bitter. „Aber gut, erzählen Sie, mich kann heute ohnehin nichts mehr erschüttern.“

Polivka atmet tief durch und räuspert sich. „Es ist da vorhin eine Sache bei uns reingekommen, der ich nachgehen muss. Ein Mordfall, noch dazu ein ausgesprochen ungustiöser. Heut am Nachmittag hat sich im Zehner, also in der Straßenbahn, ein älterer Mann an einen elfjährigen Schulbuben herangemacht. Hat sich laut einer Zeugenaussage schon drüben in Ottakring im halbleeren Wagen zu ihm gesetzt, ihn angesprochen und ihm Zuckerln angeboten. Klassische Geschichte. Aber wie der Bub dann bei der Kennedybrücke aus der Tram gesprungen und vor ihm davongelaufen ist, ist er dem Kleinen nach. Er hat den Buben eingeholt, gepackt und über das Geländer auf das U-Bahngleis geworfen.“

Mich kann heute ohnehin nichts mehr erschüttern … Hat der Lemming das gerade noch gesagt? Jetzt steht er da, mit weichen Knien und einer Farbe im Gesicht, die jener der blassgrauen Bilder auf den Monitoren gleicht.

„Die Polizei hat Ihre Daten aufgenommen, Wallisch, also bin ich gleich hierhergekommen, noch bevor sich die Kollegen auf den Weg machen. Jetzt setzen Sie sich einmal hin, sonst klappen S’ mir am Ende noch zusammen. Gut, und jetzt erzählen Sie: Wie hat sich die Sache abgespielt?“

Der Lemming tut es. Langsam, stockend kommen ihm die Worte aus dem Mund, es ist eine Tortur, sich mit der Schilderung des echten Grauens von falschen Vorhaltungen reinwaschen zu müssen. Polivka hört zu, mit ernster, konzentrierter Miene.

„Also hat der Kleine anscheinend auf eine Nachricht reagiert, die jemand ihm geschickt hat“, brummt er schließlich. „Und wo ist jetzt dieses Handy?“

„Keine Ahnung. Hat die Spurensicherung es nicht gefunden? Unten auf den Schienen?“

„Nein“, meint Polivka und fügt dann stirnrunzelnd hinzu: „Sagen Sie, Wallisch, haben Sie das gerade auch gehört? Sind Ihnen vielleicht irgendwelche Frösche ausgekommen?“

„Frösche?“ Eben hat der Lemming wieder etwas Farbe angenommen, als er neuerlich erbleicht. Er starrt Polivka an, springt auf und läuft zur Kleiderablage, auf der das letzte Stück Erinnerung an ein kleines, unerfülltes Leben hängt: Marios rote Jacke.

In der rechten Außentasche steckt das Smartphone.

An Broodalkiller – privat
von Bowserzorn
14. Mai 2019, 21:55

Hey broodal, hast du meinen Dad gut abgeliefert? Schläfst du schon? Ich hab den Mama 77-Scheiß gerade erst gelesen: Omg, wie krank ist das denn! Aber denk an den SI-Kurs, lass dich nicht von so was unterkriegen!
Also dann bis morgen in der Schule, B

„Warum die Buben in dem Alter immer gar so martialisch sein müssen“, knurrt Polivka. „Ich meine: Broodalkiller, Bowserzorn … Aber wahrscheinlich waren wir ja als Kinder auch so.“

„Wenn es nur die Kinder wären“, antwortet der Lemming. „Bowserzorn muss jedenfalls der Ben sein. Broodal, Bowser, das sind, glaub ich, Charaktere aus einem Computerspiel.“

„Aus Super Mario