Cover

Wolfgang Paterno

„So ich noch lebe …“

Meine Annäherung an den Großvater

Eine Geschichte von Mut und Denunziation

„Niemand auf der Welt kann ein Leben, sei es nun lang oder kurz gewesen, ungeschehen machen.“ 1

Ralf Rothmann

„Das Entziffern der Schrift ist das
Entziffern eines Menschen.“
2

Anne Weber

„Der Körper vergeht, die Erzählung besteht,
sie löst sich aus dem Körper und lebt auf.“
3

Florjan Lipuš

„Er war ein Mensch!“ 4

Leserbrief Vorarlberger Nachrichten, 1979

Vorrede

„So ich noch lebe …“ ist das Buch einer Suche. Es erzählt die Geschichte des Vorarlberger Zollwachebeamten Hugo Paterno, der am 19. Dezember 1896 in Bludenz geboren und als ein Opfer von Denunziation und Verfolgung am 7. Juli 1944 in München-Stadelheim hingerichtet wurde; es berichtet über ein Leben, das jahrzehntelang verdrängt wurde, und über ein Sterben, das nahezu vergessen ist. „So ich noch lebe …“ erzählt von einer Zeit, in der ein Menschenleben wenig wert, in der Verrat an seinem Nächsten auf der Tagesordnung stand, in beängstigender Gemengelage aus Neid, Rachelust, Missgunst, Gehässigkeit, Wichtigtuerei. Dieses Buch ist weder wissenschaftlicher Bericht noch lückenlose Recherche einer Biografie, vielmehr der Versuch, den weißen Flecken und Leerstellen einer nahezu entschwundenen Existenz hinterherzuschreiben.

Mein Großvater Hugo Paterno ist mir ein Unbekannter, ein Fremder, mit dem ich kein klares Bild und, wenn überhaupt, Emotionen zweiter und dritter Hand verbinde – und der zugleich, in geisterhafter Gleichzeitigkeit, als Vater meines eigenen Vaters letztlich dafür verantwortlich ist, dass ich über sein Leben und Sterben berichte.1

Hugo Paterno ist innerhalb seiner Familie, inner- und außerhalb seines Heimatorts Lustenau ein Vergessener. Die wenigen Darstellungen seiner Lebensspuren, im Abstand von Jahrzehnten in Zeitungen und historischen Überblicksartikeln verstreut publiziert, entbehrten zumeist jeder gesicherten Grundlage, sie waren und sind schlicht falsch. Seine Biografie wurde schon immer verzerrt dargestellt. Man gab sich damit zufrieden, von seinem Sterben 1944 unter dem Fallbeil zu berichten, und verabsäumte dabei, nach den Einzelheiten seines Lebens zu fragen; das schwarzdüstere Schlussbild überdeckte den Rest. Niemand fragte nach, kaum jemand hakte ein. Die Antwort auf jedes Nachbohren war Stillschweigen.

Hugo Paternos Geschichte steht für vieles, wenn es um das Stillhalten und Schweigen nach 1945 geht. Nicht nur die Täter verstummten, die Opfer richteten sich ebenfalls in ihrer Wortlosigkeit ein. Sein Schicksal bot dem Schweigen tausend Türen. Man nahm in Kauf, dass der Großvater für seine konsequente Haltung den Preis des Vernichtet- und Vergessenwerdens entrichten musste, und man verabsäumte – über dem kaum je gezeigten Stolz, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, nämlich auf jener der Opfer – nach den näheren Umständen seines Lebens und Sterbens zu fragen. Im Juli 1944, als er enthauptet wurde, räumten die Nazis mit ihren Gegnern an der inneren Front gnadenlos auf, Widerstand zwecklos. Nach 1945 wollte man mit den Widerständlern nichts zu tun haben, die Familien blieben unter sich, die Opfer wurden in kleinem Rahmen gewürdigt, ihre Nachleben oft nicht über die Zeit gerettet.

„So ich noch lebe …“ erzählt auf Basis erstmals eingesehener Dokumente, die während der Jahrzehnte unbeachtet in tiefen Kellern lagerten, verschollen geglaubter Fotos und Briefe vom Leben und Sterben Hugo Paternos. Bei all dem kann ich aber nie so tun, als kannte ich ihn.

Es brauchte mein halbes Leben, damit ich mich, als eines seiner sieben Enkelkinder, auf seine verwischten Spuren machte, auf die Suche nach dem Großvater, der er nie war. Hugo war 48 Jahre alt, als er starb, genauso alt, wie ich, sein Enkel, heute bin.

Als ich Kind war, hieß es, Hugo sei enthauptet worden. „Guillotiniert“ ist ein schwieriges Wort für ein Kind, einmal der Aussprache wegen, vielmehr dem Sinn nach. Dem Großvater wurde der Kopf abgeschlagen? Hugos Haupt fiel unter dem Fallbeil? Opa geköpft? In unserer Familie wurde von dem fernen Verwandten mit abgetrenntem Kopf nie viel Aufhebens gemacht. Der Opa ohne Kopf und ohne Geschichte war dem Kind bald so selbstverständlich wie dem Nachbarsbuben sein leibhaftiger Großvater, der auf der Holzbank in der Sonne saß.

Zu Beginn der Spurensuche, im Sommer 2010, stand ein Briefbündel, verschnürt mit lila Schleife, über Jahre der Zierschmuck auf einer Kommode meines Vorarlberger Elternhauses: Hugos Haftbriefe aus Innsbruck, Berlin und München, vollgeschrieben mit schwarzer Tinte, adressiert an seine Familie in Lustenau, stockfleckig gewordene Blätter, die niemand mehr lesen wollte oder, bedingt durch die schwer entzifferbare Schrift, nur mehr wenige lesen konnten. Dazu die Geschichten über Hugo, die nie auserzählt, immer nebenher fallengelassen wurden, umnebelt blieben. Ein Großvater ohne Kopf, der einem nichts weiter hinterlässt als einen Packen ungelesener Briefe und verstreute Erzählungen.

Nach jahrelanger Suche in Archiven und Bibliotheken, auf Dachböden und in Kellern füllen die Dokumente von und über Hugo – Taufscheine, Briefe, Bücher, Meldezettel, Fotos, Fotokopien und Ausdrucke, Mitarbeiterlisten, Postkarten, Gerichtsakten, Anschuldigungsschriften, Urteile, Zeugen- und Vernehmungsprotokolle – zwei Aluminiumkisten mit je 47 Liter Fassungsvermögen. Hugos Leben und Sterben hat in zwei silberfarbenen Kisten Platz, in die zentimeterhohe Papierstapel, etliche Heftordner und eine blaue Sammelmappe mit Fotos passen. Der Weg zu ihm führt über Berge alter, vergilbter Zettel, die einen als Rechtsakt verbrämten Mord bezeugen. Aus dem, was Hugo schrieb und was über ihn geschrieben wurde, lässt sich sein Leben nachvollziehen.

Dieses Buch ist kein Dokument später Abrechnung. Die Namen von Hugos Denunzianten, deren alt gewordene Kinder teils bis heute in ihren Elternhäusern leben, sind ebenso unkenntlich gemacht wie jene der Nazihetzer, die Hugo verhafteten, verhörten, verurteilten: Rudolf G., Rosa R., Reinhold S., Bartholomäus B., Max H., Sebastian M., Heinrich W., Karl F., Paul L. und Franz T.

Rachegelüste und niederträchtige politische Motive boten den Anlass für seine Denunziationen in Gaißau und Lustenau; jenseits des Arlbergs hatte die Verleumdung letztlich Hugos Haft und Hinrichtung zur Folge. Der Ort in Tirol, in dem er 1943 als Zollwachebeamter im Außendienst war, wird deshalb mit S. anonymisiert.

„So ich noch lebe …“ ist ein Buch mit Fußnoten. Sie sollen helfen, Hugos Daseinsspuren zu sichern, ihrem leisen Verschwinden aus Zeit und Raum zum Trotz – damit dieses Leben, das die kaiserlich-königliche Monarchie, die junge österreichische Republik und die nationalsozialistische Diktatur überspannte, am Ende nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann.

Dieses Buch ist keine historische Abenteuergeschichte, in der ein Einzelner gegen die bösen Nazis kämpft. Die Fußnotenzeichen sollen als kleine Widerhaken daran erinnern. Wer will, kann den Anmerkungsapparat einsehen. Wer Hugos Geschichte nicht verlassen möchte, lässt die Anmerkungen bedenkenlos links liegen. Niemand muss Fußnoten lesen.2

Gewidmet ist dieses Buch Hugos Kindern Anita, Imelda, Josef und Quido, die durch den frühen Tod ihres Vaters der Kindheit und Jugend beraubt wurden und die heute nicht mehr am Leben sind – und, ganz besonders, Hugos Urenkeln Paul und Lotti. Geschichte kennt kein Ende.

Prolog

Der Fremde

Hugo war der Fremde. Man nannte ihn „Opa“, auch wenn das Wort unpassend schien für einen, der entrückte Erinnerung war. Hugo war da, und er war nicht da. Von Anfang an war er uns abhandengekommen. „Opa“ drückt Vertrauen und Nähe aus; Hugo war immer der verwehte Traum eines Großvaters. Eine schemenhafte Gestalt, die man aus Verlegenheit „Opa“ nannte, von der man nicht einmal mehr ahnte, dass sie eine Geschichte gehabt haben könnte.

Wie ihn am besten nennen? Opa? Großvater? Wie sich einem Mann annähern, der auf Fotos schlank und filigran wirkt, sodass er fast etwas Zerbrechliches an sich hat? Hugo ist mein Großvater, ohne dass er es je gewesen ist. Ein Opa ohne Kopf. Wie ihn also nennen? Vielleicht einfach nur Hugo.

Hugo ist der Unbekannte, dessen Leben und Sterben an uns, seine Verwandten, als kalter Kern familiären Unglücks bis heute heranreicht: Als Vater wurde er seinen vier unmündigen Kindern entrissen; seine Frau Maria wurde zur Witwe; er starb nicht für Volk und Vaterland, sondern durch Volk und Vaterland, was ihm Volk und Vaterland weit über seinen Tod hinaus übelnahmen. Sekunden des Grauens unter dem Fallbeil machten Jahrzehnte der Erinnerung zunichte. Der festgefrorene Augenblick, als Hugos Leben auf der Guillotine verlosch, legte sich irgendwann über sein ganzes Dasein, bis auch dieser eine, schreckliche Moment nur mehr Erinnerung war. Das barbarische Ende verzerrte seine Existenz, entstellte sie bis zur Unkenntlichkeit. Was blieb, waren Trauer und Trauma, die sich selten unverhüllt zeigten, nie mit fratzenhaftem, bedrohlichem Antlitz gegen seine Hinterbliebenen anstürmten, gerade so, als wäre ein Verwandter ohne Kopf das Normalste der Welt: An den Scherben von Hugos Schicksal schnitt und schneidet sich seine Familie bis heute die Finger wund, die einen mehr, die anderen weniger; die einen, indem sie sich an das Wenige, was man von Hugo weiß, zu erinnern versuchen, die anderen, indem sie ihn in die tiefste Hölle des Vergessens verdammen.

In der Familie fielen die immergleichen Sätze über Hugo. Er sei Zollwachebeamter gewesen, ein frommer Mann, dem im Krieg das Schlimmste widerfahren sei. Irgendwie gehörte er zur Familie, und dann auch wieder nicht. In der Welt außerhalb kam er so gut wie nicht vor. Lustenau, das Vorarlberger Heimatdorf des Großvaters nahe der Schweizer Grenze, in dem auch ich aufwuchs, hüllte sich in Schweigen. Ich kann mich nicht daran erinnern, als Kind und Jugendlicher jemals auf Hugo angesprochen worden zu sein, in einem Ort, in dem die Frage „Wem gehörst du?“, in klingendem Dialekt vorgebracht, zum Ritual jedes Kennenlernens gehört, damals wie heute. Jahrzehntelang sah sich in Lustenau niemand dazu veranlasst, den wenigen Spuren von Hugo, der sich vor dem endgültigen Vergessen mit knapper Not in das Gedächtnis seiner Familie gerettet hatte, zu folgen. Man schwieg sich aus, während Hugo durch die Geschichten und Legenden der Familie geisterte, als sei er nie wirklich mitgemeint, auch wenn man über ihn sprach.

Die Letzten, die Hugo näher kannten, sind tot, seine Frau Maria und seine Kinder Anita, Imelda, Josef und Quido, mein Vater. Man kann sich Hugo nur mit Hilfe seiner hinterlassenen Lebensspuren in den beiden Alukisten nähern, durch wenige Relikte und Artefakte, die in meinem Lustenauer Elternhaus, in dem der Großvater nie wohnte, aufbewahrt sind.

Da ist das gemalte Bild im Goldrahmen an der Wand des Fernsehzimmers, das einen ernst dreinblickenden Mann mit abstehenden Ohren und angespannter, wie gemeißelter Miene zeigt, die Haare kurz, der Blick geradeaus gerichtet. In meiner Erinnerung verschmilzt Hugos Augenspiel mit dem eines eigenbrötlerischen Hausgastes, der immer da war, dessen Präsenz aber auch immer etwas Statuarisches hatte; ein schweigsamer Mitbewohner, der nie da war.

Wenige Gegenstände bergen Hugos Lebenstragödie: sein Bajonett aus dem Ersten Weltkrieg, gefährlich spitz; die grüne Uniformjacke mit den billig wirkenden silbrigen Kordeln im Keller, nicht meine Größe, an den Schultern zu eng, die Ärmel zu kurz, die Dienstkleidung eines Beamten der Reichsfinanzverwaltung des Deutschen Reichs im Range eines Oberzollinspektors; das in hellbraunes Packpapier eingeschlagene Buch „Das österreichische Zollrecht und Zollverfahren“, abgegriffen und zerfleddert von seiner Wanderung durch Zeiten und Räume, die Seiten übersät mit Hugos handschriftlichen Anmerkungen, vieles davon in stenografischen Kürzeln, eingelegte Zettel, selbstgebastelte Register – das Dienstbuch eines beflissenen Beamten; die große Heckenschere mit den vom vielen Handhaben schwarz gewordenen Holzholmen; das Sofa mit kratzigem Bezug und steil aufragenden Seitenteilen, auf dem mein Bruder und ich später lagen und oft Kinderkrankheiten auskurierten, längst entsorgt; es gibt ein Foto, auf dem das Sofa für ein Familienbild im Garten steht, Hugo links hinten in weißem Hemd, Anzugweste und Krawatte, eine Lederschürze umgebunden, offenbar ein Augenblick zwischen Arbeit und Feierlichkeit. Schließlich das Kreuz, groß, wuchtig, die Inschrift „INRI“ über dem Holzheiland. Auf einem der alten Fotos hängt es in einem Zimmer, in dem Freunde der Familie und Hugos Schwiegereltern um einen Tisch mit Kuchen und Weingläsern sitzen, der Großvater in der Mitte. Jesus am Kreuz verließ Hugo sein Leben lang nie.

Abb-1.jpg

Abb. 1: Augenblick zwischen Arbeit und Feierlichkeit – Hugo als Familienmensch (undatiert)

Abb-2.jpg

Abb. 2: Im Schatten des Holzheilands – Hugo mit Freunden und Schwiegereltern (März 1932)

Und da waren und sind die wenigen Erzählungen über Hugo, nicht mehr als Splitter und Flickwerk aus einem zerrissenen Leben: Hugo sei, besagt die Familienüberlieferung, ein unerschrockener Mann gewesen, einer, der in dunkler Zeit zu seinen Idealen gestanden sei. An einem Kiosk in Innsbruck habe er sich gegen Kriegsende geringschätzig über Hitlers Regime geäußert, er sei denunziert und bald darauf in München, Jahrzehnte vor meiner Geburt, zum Tod verurteilt worden. So lange ich zurückdenken kann, stellte ich mir vor, wie Hugo zwischen Zeitungsständern und vor Zigarettenschachtelreihen steht und dabei vor den Falschen das Falsche sagt und durch deren stilles Schäumen und gehässiges Geifern am Ende in der Todeszelle landet. Weshalb ich mir dazu immer eine Szene voller Sonne ausmalte, weiß ich nicht. Opa ohne Kopf. Lange Zeit ließ sich die Geschichte des Großvaters in einem Satz erzählen. Nichtwissen und Nichtwissenwollen wurden in die ewig gleichen Andeutungen gekleidet. Es seien undatierte Fotos in Schubladen vorhanden, man erinnere sich auch an Briefe aus der Haft – Konkretes und Belegbares aber, mit dessen Hilfe sich diese Biografie, Stück für Stück, vergegenwärtigen ließe, sei nicht mehr verfügbar, man habe sich mit den Lücken im Lebenslauf abzufinden. Hugo war da. Und er war nie da.

Die wenigen Geschichten, die über Hugo erzählt wurden, gewannen von ihrem drastischen Ende her an Bedeutung. Der Weg seines Sterbens gab seinem Leben erst einen Sinn. Von seinem Dasein gab es dafür kaum ein Bild, das blieb. Ich erinnere mich, wie erzählt wurde, dass Hugo im Himmel, in den auch wir dereinst kämen, auf uns warte. Ich erinnere mich, wie es hieß, Hugo habe Italienisch gesprochen. Hätten die Nazis meinen Großvater nicht umgebracht, wäre mein Vater als Sohn eines Italieners aufgewachsen, dann spräche ich unter Umständen Hugos Muttersprache, sicher Brocken davon. Den großen ausgefuchsten Geschichtstableaus habe ich immer misstraut. Durch Hugo erfuhr ich, dass Geschichte bis in die haarfeinen Ritzen und Spalten des Lebens sickert. Dass nur ein Großvater mit Kopf mit seinen Enkeln in seiner Muttersprache spricht.

Ich erinnere mich an das Rosenkranzbeten als Kind, an den Stubentisch, um den zu Allerseelen die Verwandten versammelt waren. An die sägenden Stimmen der Tanten und Freundinnen der Familie, an die quälende Unaufhörlichkeit des Gebets: Vater unser. Gegrüßet seist du, Maria. Herr, gib Hugo die ewige Ruhe. Und das ewige Licht leuchte ihm. Herr, lass Hugo ruhen in Frieden und schenke auch uns eine glückliche letzte Stunde. Hugos Name blitzte im Totengebet nach dem Rosenkranz auf, der in unserer Stube so lange heruntergeleiert wurde, bis die meisten Mitbeter der Reihe nach selbst verstorben waren.

Ich erinnere mich, wie ich als Kind in der Nachtkästchenschublade auf der Bettseite meines Vaters einen Schatz fand, eine Kostbarkeit hinter Glas, schwarzer Fond, zart goldumrahmt, in der Mitte Hugos Porträtfoto, darüber ein stilisierter Zweig, in gekünstelter Handschrift: „Dem lb. Quido! Dem lb. Schätzle extra Grüße. Sei immer brav und gedenke jeden Tag an mich wie auch ich an Dich denke, ehe Du erwachst. Dein Vater.“ Ich erinnere mich, wie mir als Kind beim Lesen Tränen in die Augen stiegen.

Mein Vater war sieben Jahre alt, als Hugo hingerichtet wurde. Quido erzählte nie viel von seinem Vater, an den er wenige Erinnerungen hatte. Hugo habe ihn am ersten Volksschultag begleitet, Hand in Hand, darauf vergaß Quido nie; danach habe er Hugo nie mehr gesehen. Ich erinnere mich, wie Hugos Nachricht an sein Schätzle später am Kopfende des Bettes von meinem Vater hing, über seinen Tod vor einigen Jahren hinaus, bis heute.

Abb-3.jpg

Abb. 3: Kostbarkeit hinter Glas – Erinnerungstafel für Sohn Quido

Verstreute Spuren eines Daseins, das sich zu keinem Ganzen fügen wollte. Hugos Geschichte ist eine Geschichte des Vergessens, Verschlampens, Verdrängens. So gesehen zeugte jahrzehntelang einzig sein Name auf zwei Grabsteinen, der eine auf dem Friedhof im Lustenauer Ortsteil Rheindorf rechts beim Eingang, der andere mitten auf dem Bludenzer Begräbnisfeld, von diesem Geisterleben: Hugo Paterno, 1896 bis 1944.

Jeder tut mit

Der Verrat ist so alt wie die Menschheit selbst, aber erst im Nationalsozialismus avancierten Hetze und Heimtücke zum Massenphänomen. Der Akt der Denunziation galt selbst im NS-Wertesystem als unehrenhaft – zugleich legitimierte kein anderes Staatswesen der jüngeren Geschichte die verleumderisch-verbrecherischen Umtriebe seiner Untertanen in einem solchen Ausmaß. Denunziationen richteten sich gegen „Arbeitsscheue“ und „Staatsfeinde“, Parteigenossen und Juden, Außenseiter und Nachbarn, Arbeitskollegen und Familienmitglieder gleichermaßen: „Die überwiegende Mehrheit der Deutschen und Österreicher war tatsächlich empört, wenn jemand über den ‚Führer‘ herzog und ihn verächtlich machte, wenn jemand abfällige Äußerungen über die Erfolge in der Wirtschafts- und Sozialpolitik machte oder sich gar kritisch über die allerorts als erhebend empfundenen Siege im ‚Blitzkrieg‘ äußerte.“1 So beschreiben die Politikwissenschaftlerin Nina Scholz und der Historiker Herbert Dohmen in ihrer 2003 erschienenen Untersuchung „Denunziert“ mit Schwerpunkt auf der Verleumdung jüdischer Personen in Wien ab März 1938 die kollektive mentale Verfasstheit, vor deren Hintergrund das System der freiwilligen NS-Zuträger nahezu reibungslos funktionierte: Im Dritten Reich stand die Diffamierung an der Tagesordnung, die NS-Gesetzgebung, lese ich bei Scholz und Dohmen, stellte ein „Eldorado für Denunzianten“2 dar. Auf dem Buchcover von „Denunziert“ ist eine Ansammlung von Menschen zu sehen, die sich unter einem weißen Spruchbanner mit schwarzer Schrift versammelt hat: „Jeder tut mit. Jeder denkt nach. Jeder meldet.“

Anlass dazu boten Rachegelüste wie angeblich hehre politische Motive, familiäre Streitereien wie das Abhören sogenannter „Feindsender“. Zum Weitermelden des in Wirtshaus und Arztwartezimmer, Nachbarschaft und Bekanntenkreis, auf offener Straße und in Hinterzimmern Vernommenen fühlten sich viele berufen, wobei die Einleitung der Strafverfolgung letztlich in den Händen der Gestapo lag. Den von vorsätzlich falschen und infamen Verdächtigungen Betroffenen drohte Enteignung, Kerker, Konzentrationslager oder Todesstrafe.

Der Nationalsozialismus als allmächtiges Terrorsystem, bei dem jeder mitmachen musste, ist von der Forschung längst als Mythos enttarnt – ebenso wie die Ausreden ehemaliger NS-Zuträger: Nach 1945 stellten viele Mitläufer in Abrede, über die bisweilen fatalen Folgen für die Opfer ihrer Spitzeldienste unterrichtet gewesen zu sein. „Sie haben es ganz genau gewusst“, sagt der Grazer Historiker Heimo Halbrainer, der 2007 die Studie „‚Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant‘“ zur gezielten Verleumdung in der Steiermark zwischen 1938 und 1945 veröffentlichte: „Dennoch übertrug man sein eigenes schuldhaftes Verhalten oder das seiner Familienangehörigen nach 1945 lieber auf Institutionen wie jene der Gestapo, auf das ausgemachte Böse, den manifesten Terror: ‚Die Gestapo sieht alles, hört alles, weiß alles‘, so hieß es damals. Dass die Gestapo in Relation eine eher kleine Einheit war, die all die angeblichen Widergesetzlichkeiten nie auf eigene Faust hätte feststellen können, wird dabei häufig ausgeblendet.“3

Hugos Geschichte steht für die Unkultur des gezielten Rufmords. Sein Fall liefert Einblicke in das politische und soziale Gefüge des NS-Schreckens und in die Motivlagen der willfährigen Handlanger des Regimes. Er enthüllt, nahezu musterhaft, die Mechanismen und Grausamkeiten des Verrats aus niederen Beweggründen.

Kriegsenkel

„So ich noch lebe …“ ist Geschichtsschreibung von unten, von der Peripherie her, mit einem Menschen im Mittelpunkt, den die große Geschichte vergessen hat.1 Eine Lebensgeschichte, die vom Alltag eines Beamten berichtet – und von existenziell Einschneidendem im nationalsozialistischen Verfolgungsstaat. Wenn es nach der deutschen Publizistin Sabine Bode geht, bin ich ein „Kriegsenkel“, in dessen Biografie sich Spuren des Zweiten Weltkriegs zeigen.

In dem Wort „Kriegsenkel“ hallt für mich viel „Krieg“ und wenig „Enkel“ nach. Hugo ließ mich nicht als Kriegsenkel zurück. Er war als Soldat im Ersten Weltkrieg, für Hitler musste er sich nicht Gewittern von Stahl und Schrapnell ausliefern. Im Zweiten Weltkrieg bewachte er als Zöllner die Grenzen der Heimatfront. Militärischer Musterung musste sich Hugo, Wehrnummer 96/64/3/10, laut Wehrpass im Jänner 1939 in Bregenz und Ende Juli 1943 in Innsbruck unterziehen; „garnisonsverwendungsfähig“ und „Heimat“ ist in den Wehrpass in Frakturschrift gestempelt.2 Hugos Wehrpass ist ein notizbuchkleines, mit schwarzem Faden geheftetes Büchlein von 52 Seiten in Militärgrün, Reichsadler auf dem Umschlag und aufklappbaren Innentaschen vorne und hinten. In der vorderen steckt ein Zettel mit Bleistiftnotizen, vor Jahrzehnten hineingesteckt: „Volksgerichtsrat Dr. L., Reichsanwalt Dr. F., Potsdam, Referent Staatsanwalt Dr. P., Reichsrichter Dr. I.“ Darunter sind die Namen jener Männer, die Hugo im Mai 1944 in München in seiner Hauptverhandlung zum Tode durch das Fallbeil verurteilten.

Abb-39.jpg

Abb. 4: Ausbildung an Gewehr und Handgranate – Auszug aus Hugos Wehrpass (Jänner 1939)

Ein Weltkriegsorden, der im Internet als „Ehrenkreuz für Frontkämpfer 1914–1918“ herumgeistert, ein Relikt aus den Aluminiumkisten mit Hugos zusammengetragenen Habseligkeiten.3 Ein spielzeugkleines Kreuz am Band mit spitzer Stecknadel, in dem der Ungeist des Krieges, der in dem bronzierten Eisen steckt, nicht mehr zu wecken ist. Hugo war Soldat im Ersten Weltkrieg. Diese Epoche war bereits meinem Vater ferne Erinnerung, für mich ist die Zeit vor über 100 Jahren äonenweit entfernt. Hitlers Krieg war bei uns das Hintergrundrauschen in Hugos Geschichte. Hitler war das Arschloch, das den Großvater auf dem Gewissen hatte. Hitler war der Schweinehund, der an Hugos Misere Schuld trug. Immer wieder fielen bei uns solche Sätze, denen aber keine Sätze über Hitler und den Krieg vorangegangen waren, denen keine Sätze über Hugos Leben und Sterben folgten.

„Ich möchte die Kriegsenkel ermutigen, ihre Familiengespenster endlich aus ihrem Schatten herauszulocken, damit diese keine Verwirrung mehr stiften können“4, schreibt Sabine Bode, die vielfältige Traumata und familiäre Zerwürfnisse, verunsichertes Lebensgefühl und unauflösbare Ängste im Leben vieler Kriegsenkel ortet. Hugo war das Gespenst ohne Kopf, von Anfang an ein Schemen seiner selbst. Die „langen Schatten von NS-Zeit und Krieg“5, über die Bode schreibt, waren in unserer Familie ein Schweigen über Schatten.

„Wenn das Urteil wirklich vollstreckt werden sollte, würden wir nicht nur unseren Ernährer verlieren“, schrieb Hugos Frau Maria in einem Gnadengesuch für ihren zum Tode verurteilten Mann, „sondern es wäre für uns alle ein namenloses Unglück, das unser ganzes Leben für immer zerstören würde.“6 Ein Unglück ohne Namen beschäftigt und beschädigt seitdem Hugos Familie.

Über „seelische Trümmer“ und die „Erbschaft Krieg“ lese ich in dem Buch „Die Kinder der Kriegskinder und die späten Folgen des NS-Terrors“ von Heike Knoch, über „destruktive Implantate des Krieges“, über Schmerz, Aggression, Scham, „seelische Trümmer“ und den „unbewussten Verzicht der Kriegsenkel auf ein eigenes Leben“.7 Nie wäre ich von selbst auf den Gedanken gekommen, als Hugos Enkel zwangsläufig eine „Trümmerkindheit“8 erlebt zu haben, während mein Vater, Hugos jüngster Sohn, mit dem „Schuttabtragen“9 beschäftigt war. Hugos kleine Geschichte war, verschuldet von seinen Nächsten, im Dunkel der großen Geschichte kaum mehr zu erkennen.

Maria schrieb weiter in ihrem Gnadengesuch: „Auf Milde und Gnade hoffend und mit dem feierlichen Versprechen, mich durch mein Verhalten stets eines Gnadenaktes würdig zu erweisen und auch meine Kinder in diesem Sinne zu erziehen, und in der festen Überzeugung, dass mein Mann seine Tat tief bereut, danke ich im Vorhinein herzlich.“10 Namenloses Unglück drückt nieder, lässt einen klein sein, demoliert Leben in langsamer Bewegung: Hugo gab uns, seinen Hinterbliebenen, nichts und gleichzeitig alles mit auf den Weg.

Spurensuche

Wer sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinandersetzt, muss mit Widerstand rechnen. Feldkirch im Februar 2011. Im ersten Stock jener Behörde, die sich um die Verwaltung des lokalen Zollwesens kümmert, haben Mitarbeiter in einem Seitenarm des weitläufigen Stiegenhauses ein kleines Museum eingerichtet: Uniformen, Hinweistafeln, Requisiten aus dem Arbeitsalltag der Grenzwache, Zeugnisse der einstigen Bedeutung. In einem der Schaukästen ist ein Zeitungsartikel von 1984 zu finden, eine Reminiszenz an Hugo, die ausnahmsweise nicht vor Fehlern strotzt.

Mit einigem Stolz führen die Beamten durch den museal ausgestalteten Flur, ergehen sich in weitschweifigen Erklärungen zu Dienstgraden, Amtsbezeichnungen und Warenkontrollen. Schließlich deuten sie auf die Zeitungszeilen hinter Glas, in denen unter anderem von „heldenhaftem Tod“ und Märtyrertum, von einem aus ihren Reihen die Rede ist.1

In den Gewölben des Gebäudes lagert auch der Personalakt von Hugo Paterno, der von 1920 bis zum Todesurteil 1944 Zollbeamter war. Den Amtsträgern vor Ort ist es strikt untersagt, den Akt auszuhändigen, auch Jahrzehnte nach dem Ableben des Betroffenen, auch einem nahen Verwandten gegenüber nicht. Das Schulterzucken der Beamten, verbunden mit dem Hinweis, sich mit der Bitte um Einblick in den Personalakt direkt an die übergeordnete Dienststelle zu wenden, deren Antwort prompt erfolgt: Unter „Berufung auf die gebotene Amtsverschwiegenheit“2 könne, so die Order, keinesfalls Akteneinsicht gewährt werden.3

Die Suche nach Lebensspuren wurde nicht nur in diesem Fall von Amts wegen behindert. Der Anfrage an das Landesgericht Innsbruck, ob noch Material zu Hugos Fall in den Tiefenspeichern lagere, folgte die Auskunft, dass solches „nicht mehr vorhanden“ sei.4

Das Vorarlberger Landesarchiv wiederum teilte mit, der „Opferfürsorgeakt nach Maria Paterno“, der Witwe des Hingerichteten, sei „in Verstoß“ geraten, die detaillierte Nachkriegsdokumentation sei seit spätestens 2008 nicht mehr an ihrem Platz.

Das Vorarlberger Dossier ist bis heute unauffindbar, in Innsbruck tauchten nach zig Anfragen und Telefonaten doch noch Prozessakten auf. Nach Einspruch im ressortzuständigen Finanzministerium wurde schließlich auch der zuvor unter Verschluss gehaltene Personalakt in Feldkirch freigegeben, mit befremdlicher Auflage: In den neun zerschlissenen Dokumentenmappen, nach Jahrzehnten ans Tageslicht gehoben, wurden die Namen noch lebender Personen geschwärzt. Die Namen von Hugos Söhnen Quido und Josef, meines Vaters und Onkels, beide Mitte der 1930er-Jahre geboren und 2016 und 2017 kurz hintereinander verstorben, sind unter dicken schwarzen Strichen verborgen. Geschwärzte Geschichte.

Hugo wurde nach Aktenlage mindestens dreimal denunziert: 1938 in der Vorarlberger Grenzgemeinde Gaißau, 1940 in Lustenau und 1943 in einem entlegenen Tiroler Gebirgsdorf, im Grenzgebiet zu Deutschland. In Gaißau beklagt sich Mitte Oktober 1938 ein Arbeitskollege in denunziatorischer Absicht über Hugo bei der übergeordneten Dienststelle; in Lustenau findet im April 1940 in der Wachhütte am Schlagbaum der Lustenauer Oberfahrbrücke, die über den Rhein ins Schweizerische Berneck führt und 1957 abgebrochen werden wird5, ein Gespräch zwischen Hugo und dem Hilfszollassistenten Rudolf G. statt, worauf G. Hugo anzeigt; im Sommer 1943 schließlich liefert die Tabaktrafikantin Rosa R. im Tiroler S. nach einer Dienstverrichtung, während der R. und Hugo ins Reden über Hitler und die Partei kommen, den Großvater aus niedrigen Beweggründen an den Nazistaat aus.

Vielleicht finden sich in Lustenau und dem Tiroler Dorf S. erste Antworten auf die Fragen nach dem Wie und Warum. Einer der Söhne jenes Mannes, der seinerzeit in Lustenau führend Aufhetzung und Diffamierung betrieben hatte und zu Beginn der 1990er-Jahre an Demenz starb, lebt heute einen Steinwurf von seinem ehemaligen Elternhaus entfernt. Horst G., ein freundlicher Herr in rotem Pullover, bittet einen nach kurzem Zögern herein, in ein in die Länge gezogenes Wohnzimmer; viel dunkles Holz und eine Wand aus roten Backsteinziegeln. Er bietet Bier und Schnaps an, er sagt, Rudolf G., sein Vater, der fanatische Nationalsozialist der 1940er-Jahre, der Hugo in Lustenau denunzierte, sei ihm stets „katzgrau“, blass und fremd geblieben: „Er meinte nur, solange ich lebe, sollte ich keiner Partei beitreten.“ Von der illegalen Mitgliedschaft seines Vaters in der NSDAP ab 1933 und der SA ab 1938, von dessen verleumderischem Eifer gegen Hugo will Horst G. noch nie gehört haben. Er selbst sei 1943 auf die Welt gekommen, das „Hitlerzeug“ interessiere ihn nicht, es seien seines Wissens auch keine Unterlagen mehr vorhanden. „Und meinen Vater kann ich nicht mehr fragen.“

In S., eine halbe Stunde Autofahrt von Innsbruck entfernt, in dem Hugo 1943 als Zollwachebeamter auf Außendienst abermals Opfer einer Denunziation wurde, lebt der Sohn der einstigen Verleumderin. In dem von Bergmassiven umstellten Ort mit saisonal hohem Tourismusaufkommen liegen Kirche, Einkaufsmarkt und Gemeindeamt einen kurzen Spaziergang entfernt, entlang einer Durchzugsstraße; vom Bahnhof bis zum Eigenheim mit den vielen Blumen am Balkon sind es nur wenige Minuten.

Ende Juli 1943 führte Hugo in diesem Haus, das damals noch eine Trafik beherbergte, eine Revision durch. Rosa R. – Mutter von drei Kindern, seit 1940 Eignerin der Tabaktrafik – und der Beamte kamen nach der Dienstverrichtung in der Küche ins Gespräch, in dessen Verlauf Paterno, den späteren Angaben R.s zufolge, Appelle gegen den Nationalsozialismus geäußert habe.6

Über Umwege, in der Verkettung von böser Nachrede und arglistiger Diskreditierung, erlangte die Gestapo Kenntnis von der Konversation, worauf Hugo im September 1943 verhaftet wurde – bis zur Vollstreckung der Todesstrafe am 7. Juli 1944 in München-Stadelheim blieb er von da an in Gefangenschaft, neun Monate und 21 Tage lang.

Rosa R., von einem ortsansässigen Polizeibeamten in einer Niederschrift aus der Nachkriegszeit als „überzeugte ortsbekannte Nationalsozialistin“ beschrieben, starb 1992 nach langer Krankheit. Einer der Dorfhonoratioren sagte mir 2011 am Telefon, dass „vor langer Zeit etwas gewesen“ sei, etwas „Kompliziertes“, und dass R. wohl auch keine „leichte Person“ gewesen sein soll, das habe er so gehört, das sage er nur so weiter.

Adolf R., einer der Söhne von Rosa R., der nach wie vor im Haus seiner Mutter lebt und dessen Hausnummer wie ehedem lautet, will von der Vergangenheit ebenfalls nichts mehr wissen. Das Telefonat mit der Bitte um ein Treffen beendete er brüsk. Er habe „kein Interesse, die Sache aufzuwärmen“. Er müsse „nicht mehr argumentieren“, ich solle ihn nicht mehr anrufen. „Für mich ist die Sache erledigt. Auf Wiederhören.“ Aus und vorbei.

Lebenspuzzle

Setzt man das Puzzle der spärlichen Teile über Hugos Leben zusammen, ergibt sich ein erstes, allerdings grundfalsches Bild: Hugo Paterno sei, so ist in historischen Darstellungen und heutigen Zeitungsberichten zu lesen, 1940 verhaftet, am 6. Mai 1944 in Berlin zum Tode verurteilt und am 17. Juli 1944 hingerichtet worden. Zuvor sei „Hans Paterno“ in Innsbruck – dem 2015 publizierten Buch „Die Zukunft wird unser Sterben einmal anders beleuchten“ zufolge im Tiroler Reutte – denunziert worden, worauf die Vorgesetzten der Zollwacheabteilung sich gezwungen gesehen hätten, die Äußerungen ihres Vorarlberger Kollegen der Geheimen Staatspolizei zu melden. Keine dieser Angaben zu den zeitlichen, örtlichen und faktischen Zusammenhängen, die letztlich zur Hinrichtung des Großvaters führten, entspricht den historischen Tatsachen; wenige Quellen formen seit Jahrzehnten das Zerrbild eines tragisch verlaufenen Lebens.1

Ein Jahr nach Kriegsende beschäftigte Hugos Fall die französische Militärregierung in Österreich: „Bei der Gestapo angezeigt: Veterna Hugo“, dokumentiert ein Schreiben. „Peterna“ sei, hält die einleitende Anklageschrift weiter fest, „auf einem öffentlichen Platz in Innsbruck erhängt“ worden.

Im Mai 2006 war in einem Vorarlberger Lokalblatt über Hugo zu lesen: „Der Arbeiter wurde verhaftet, später im KZ Mauthausen erschlagen.“ Die inzwischen gelöschte Falschmeldung, wonach Hugo am „5. Juni 1942 zu 15 Jahren Zuchthaus“ verurteilt worden sei, fand auf der Website einer NS-Erinnerungsinitiative globale Verbreitung.2

Im Vereinsblatt der ÖVP-Kameradschaft, eines rührigen, von Zeitzeugen und deren Nachkommen geführten Gedenkvereins der politisch Verfolgten Vorarlbergs, wurde behauptet, Hugo habe im Lustenauer Kriegsopferbuch einen „ehrenhaften Platz“ gefunden. Dieses Kriegsopferbuch versammelt die Namen und Fotos jener Soldaten aus der Gemeinde, die im Kampf- und Kriegsgetümmel fielen, eine Galerie blutjunger Männer, noch während des Zweiten Weltkriegs chronologisch nach Sterbedatum angelegt. „Unsere gefallenen Helden“ steht auf dem Einband der schwarzen Kladde, auf den Buchrücken sind die Worte „Blut für das Vaterland“ geprägt. Ziemlich genau in der Mitte des voluminösen Folianten findet sich Hugos Konterfei. Auf dem verblassten Schwarz-Weiß-Foto wirkt er mit Anzug und Krawatte, umgeben von Jungmännerporträts in Wehrmachtsuniform, seltsam fehl am Platz. Die dürren Angaben zu seiner Person, mit Hand unter das Foto notiert, zeugen eher von Ratlosigkeit als von böser Absicht: „Zollw. Paterno Hugo. 1896 – 7. 7. 1944.“3

In den 1950er-Jahren ließ die Kommune am Kriegerdenkmal vis-à-vis vom Lustenauer Gemeindeamt die Namen der im Zweiten Weltkrieg Gefallenen anbringen; das 1951 auch in gedruckter Form zusammengestellte und in Buchhandlungen gebrachte „Kriegsopferbuch“ diente dabei als hauptsächlich herangezogene Quelle der Namensfindung. Auf den letzten Seiten der Publikation mit silbergrauem Einband und Gemeindewappen ist ein Erdhügel mit Birkenkreuz abgebildet, trauernde Landser, dazu die Parole: „Kameradschaft über’s Grab.“

Seit damals prangt auch der Name von Hugo Paterno, der sein Leben nicht an der Front ließ und ein Opfer der NS-Diktatur war, in großen Lettern auf dem Mahnmal wider das Vergessen. Was Hitler nicht schaffte, nämlich Hugo zum Parteigänger zu machen, brachten die Nachgeborenen zustande: Hugo, der Soldat. Hugo Paterno, einer von uns. Über ein Geisterdasein ist der Großvater nach seinem Tod nicht hinausgekommen.4

Maul halten

Hugos Geschichte kann kein lebender Mensch mehr bezeugen oder widerrufen. Alle, die ihn kannten und hätten kennen können, sind tot, und jenen, die Kinder waren, als er selbst ein junger Mann war, und heute noch leben könnten, fiel er in Lustenau nicht weiter auf. Warum auch.

Bruchstücke, die kein Ganzes ergeben: Eine alte Frau in Lustenau erinnert sich, dass Hugo verraten worden sei; die Lehrer, sagt ein anderer Zeitzeuge, hätten ihren Schülern vom Schicksal des Großvaters erzählt; Hugos Geschichte sei ortsbekannt gewesen. Erzählungen geistern in Lustenau bis heute herum: Hugo habe die Dinge, die ihm zum Verhängnis wurden, auch dann nicht widerrufen, als ihm der Richter die Möglichkeit dazu geboten habe. Als ob in den Gerichtssälen der Nazis Recht gesprochen wurde, als ob deren Recht und Gesetz verhandelbar wären! Im Dorf erzählen die Alten hinter vorgehaltener Hand: Hätte Hugo seinen Mund gehalten, sein vorlautes Maul, man hätte ihn leben lassen wie andere auch, die durch Vorsicht und Verschwiegenheit nach 1945 noch am Leben waren. Warum musste Hugo seinen Kopf hinausstrecken? Weshalb ist er wohl verhaftet worden? Wohl auch deshalb, weil er sich Unehrenhaftes zuschulden kommen ließ. Hugo, der Verräter an der Sache, der Nestbeschmutzer, der seine gerechte Strafe erfuhr.1

Hätte Hugo sein Maul gehalten, wäre er nicht der Großvater ohne Kopf gewesen. Womöglich hätte ich ihn dann gefragt: Was hast du im Krieg gemacht? Wie war das damals? Gut möglich aber auch, dass wir nie darüber gesprochen hätten. Mit etwas Glück wäre Hugo bei meiner Geburt am Leben gewesen, ein Mann von 75 Jahren, der vielleicht jede Frage weggelächelt hätte. Lange Zeit bin ich nicht auf die Idee gekommen, dass er in Wahrheit ein Held meines Lebens ist.

Auf einem von Hand gezeichneten Stammbaum in einer der Alukisten sind verschiedene Familienstränge eingetragen, ein Gewirr fremder Namen, meine große, unbekannte Familie. „Unsere Urgroßeltern“ steht mit rotem Stift in der rechten oberen Ecke des großformatigen Papiers, viele Namen, Jahreszahlen, Ortsnamen: „Angelo, Spera 1859; Josefine, geboren 1861, gestorben in Hohenems 15.07.1927, Luigi, Josef, Johann Ursula, Antonia, Maria, Hugo 1896“. Eine separate Linie zweigt für Hugos kleine Familie ab. Hugo Paterno, geb. 1896 in Bludenz, verheiratet mit Maria Sperger, Lustenau, vier Kinder: Anita, Imelda, Josef, Quido. Hugos Name ist mit Kugelschreiber rot eingekreist. Ein Pfeil weist in die untere rechte Ecke, hin zu einer von Bleistift umrandeten Bemerkung: „Revoluzzer? KZ?“2 Ich lese „Revoluzzer“ und überlese „KZ“. Hugo, mein Held.

Trude L. treffe ich an einem sonnigen Februartag 2011 im Innsbrucker Nothburgaheim. Trude ist die Tochter von Hugos einstiger Innsbrucker Zimmervermieterin Emma L., die sich nach seiner Verhaftung durch die Gestapo 1943 aufopfernd für ihn eingesetzt hat. Etliche Briefe von Emma an Hugos Frau Maria sind erhalten.

Trude ist 100 Jahre alt, als ich ihr begegne. Sie bleibt der einzige Mensch, den ich auf meiner Suche antreffe, der Hugo noch persönlich gekannt hat.3 Trude, gestreifter grauer Pullover, Seidenschal, schlohweißes Haar, sitzt an diesem Donnerstagnachmittag im hellen Speisesaal des Altenheims, tief in ihrem Rollstuhl versunken. Sie lacht viel, trinkt Kaffee, isst einen Marillenkuchen. Sie singt mehr, als dass sie spricht. Ein Sprechsingen. Sie kann sich an Hugo kaum noch erinnern. Sie weiß fast nichts über den Großvater. In ihrem Leben von 100 Jahren blieb Hugo eine flüchtige Episode. Als ich ihr ein Foto von ihm zeige, sagt sie, er sei ein fescher Mann gewesen. Ein großer, gerader Kerl. Hugo habe für kurze Zeit im vorderen, kleinen Zimmer in der Wohnung ihrer Mutter gelebt. Beim Abschied umfasst sie meine ausgestreckte Hand mit ihren beiden Händen.4

Niemand weiß mehr, wie Hugo lachte. Wie er sprach. Wie sein Gang war. „Hugo Paterno war ein sehr nüchterner Mensch“5, sagt Serafine H. drei Jahre nach seinem Tod, in deren Innsbrucker Wohnung Hugo, nachdem er aus Emmas kleinem Zimmer ausgezogen war, bis zu seiner Verhaftung lebte. Emma L. und Serafine H., vor der Verhaftung seine beiden letzten Quartiergeberinnen in Innsbruck, sind Hugos helfende Engel. Man darf das so sagen, weil er dieses Wort in seinen Briefen gerne selbst verwendet. Serafine erinnert sich 1947: „Aufgefallen ist mir, dass er sehr religiös war und täglich den Gottesdienst besuchte.“ Emma L. und Serafine H. werden Hugo bis zu seinem Ende beistehen. Serafine ist im Dunkel der Geschichte verschwunden. Sie wurde 1889 in Wien geboren, war verwitwete Postangestellte und arbeitete offenbar in einer Innsbrucker Trafik nahe der Hungerburg. Im Februar 1940 übersiedelte sie von Alpbach in die Innstraße 107; im Jahr 1953 verließ sie Innsbruck wieder in Richtung Alpbach. Viel mehr war über sie nicht in Erfahrung zu bringen.

Aus Emmas Leben sind mehr Bruchstücke bekannt. Aus ihren Briefen, von denen sich einige in den hellen Kisten erhalten haben und die sie oft mit „Emmy“ unterschrieben hat, ergibt sich ein flüchtiges Bild von ihr: Brunhilde, ihre Jüngste, ist mit einem Mann verheiratet, der sich 1944 in einem Lazarett in Köln befindet, ihren Enkel nennt Emma „Berndl“ und „herziger Kerl“; Emmas Sohn Raimund ist als Nachtjäger in Holland stationiert. Sie berichtet über Bombardierungen, wie sie sich in Kellern versteckt, über ein brennendes Benzinlager, Flammen und Rauch am Himmel, von Bombentrichtern am Bergisel. Ende Oktober 1944 schreibt sie in einem Brief an Maria vom Tod ihres Sohnes: „Raimund wäre ja nicht abgestürzt, aber sein Fallschirm war von Kugeln durchlöchert. Gott wollte es eben so!“6 Die Namen von Serafine und Emma werden in dieser Geschichte noch oft zu lesen sein.

Emmas Worte über jenen Gott, der den Tod ihres Sohnes wollte, führen ins Herz von Hugos Geschichte. Sein Glaube ist Hugos höchstes Gut. Religion sein Leben. Hugos Religion, an der er bis zu seinem Tod durch das Fallbeil festhält, an die er sich klammert, die ihm Labsal und Obdach ist. Hugos Religion, deretwegen die Nationalsozialisten morden und die Hugo beinahe märtyrerhafte Züge verleiht. Hugos Religiosität, die für mich immer wieder Züge von Blasiertheit trägt, von Verbohrtheit und Verbissenheit, die mir zugleich so fremd ist wie der Großvater selbst. „So ich noch lebe …“ ist auch die Geschichte eines Menschen, dessen Denken und Handeln von Religion bestimmt ist, der nicht an die Nazis glauben wollte.

Abb-24.jpg

Abb. 5: „Ein paar Tage bei Onkel Hugo“ – Großfamilie Paterno (1932)

„Er war in seinen Gesprächen nicht leidenschaftlich“, sagt Serafine später: „Wohl hat er aber in seinen Betrachtungen Probleme der Politik mit religiösen Erwägungen verbunden. Er war sehr bescheiden in seiner Lebenshaltung.“7 Der ruhige, zurückhaltende Hugo, der wenig spricht, gewissenhaft, hilfsbereit, beliebt, geachtet ist.8

Auf dem Foto aus der Aluminiumkiste blicken einem Tote entgegen. Niemand auf dem Familienbild ist noch am Leben. Es muss ein Tag zum Feiern gewesen sein, an dem sich die Erwachsenen und Kinder im Schatten der Lustenauer Reichsstraße 43, einem geduckten Haus mit Schindelholzfassade, in dem Marias Eltern wohnten, versammelten. In das Fotoalbum mit dem speckigen Einband hat jemand neben das Gruppenfoto in verschnörkelter Schrift auf die schwarz kartonierte Seite „Kilbi 1932“ geschrieben. Die Kilbi, Lustenau größtes Volksfest, war für mich als Kind noch Pflicht. Die Männer tragen auf dem Foto Krawatten und Stehkrägen, ein Mädchen mit langen Zöpfen um ihren Hals eine Kette. Hugo überragt alle aus der Gruppe, er steht in der letzten Reihe, seine beiden Töchter sind noch Babys. Das Foto zeigt ihn als Ehemann und Vater. Hugo, der Familienmensch. Hugo, der stolze Beamte. Man kommt ihm nicht näher, so oder so. Er bleibt der Mann auf einem Gemälde, das seine Farben verloren hat. Ein Leben aus Splittern.

Hugo Paterno 1896–1944

Abb-26.jpg

Abb. 6: Hugo, der Glückliche – Geburts- und Taufschein (Juni 1920)

Ein Leben als Geist

Man muss, um Hugos Leben und Sterben zu verstehen, weit zurückgehen in seiner Geschichte, bis zum Tag seiner Geburt. Die Taufmatrikel der Pfarre Bludenz, mit winziger Handschrift notiert, vermerkt unter der Nummer 146 die Geburt von Ugo Felice. Hugo, der Glückliche. „Monat, Tag und Stunde der Geburt: 19. Dezember, 1 Uhr fünf“, links oben der Jahreseintrag 1896. Ein Schrägstrich in der Spalte „Knabe“, geboren im „Haus Nr. Stadt 65“, getauft am 20. Dezember. Auf dem viel später ausgestellten, inzwischen fleckig gewordenen Geburts- und Taufschein, der das Datum vom 17. Juni 1920 trägt, ist als Taufpfarrer Anton Nella, „italienischer Kaplan“, eingetragen, als „Don Nella“1 bekannt, zwei Postwertzeichen oben links: „Deutschösterreich – 1 Krone – 1910“. Von Zerrissenheit ist Hugos Leben früh geprägt: „Land: Vorarlberg“ ist auf dem Dokument zu lesen: „Politischer Bezirk: Bludenz“ – „Diözese: Brixen“ – „Pfarre: Bludenz“. Hugo sei, ist weiter verzeichnet, der „Sohn des Engelbert Paterno in Bludenz“ und der „Josefina Paterno, geb. Degiorgio“. Die Namen von Hugos Eltern, die im April 1884 in Bludenz heirateten, finden sich auf Urkunden und Stammbäumen, vor allem im Fall seiner Mutter – in häufig abenteuerlich voneinander abweichender Schreibweise, als sei es unerheblich, wer man sei. Angelos 1861 geborene Ehefrau wird auf Dokumenten wahlweise als Ginsepina de Gorgio, Ginseppina Degiorgio, Josefina Degiorgio oder Josephine Degorgio vermerkt, Hugos Nachname zu Veterna, Peterna, Perterna oder Paterna verballhornt.2

Die Koordinaten für das, was man mit Migranten im ländlichen Vorarlberg zur Jahrhundertwende anstellen durfte, beginnen zu verrutschen, immer zum Nachteil von Hugos Familie.3 Er ist der Sohn italienischstämmiger Eltern. Vater Angelo – Engelbert – wurde 1859 in Spera, einem Dorf im oberitalienischen Valsugana, im Südosten des Trentino, geboren.

Der Name Paterno ist in Spera, einem von Gebirgsketten eingeschlossenen Weiler in 500 Meter Seehöhe, noch immer allgegenwärtig: An vielen Türschildern ist er zu finden, die Zufahrtsstraße zum Friedhof heißt „Patèrni“. Auf der Begräbnisstätte selbst ziert der Name Paterno viele Grabsteine, eine große Familie bis über den Tod. Der ehemalige Bürgermeister des Bauerndorfs, ein quirliger Mann namens Paterno mit übersprudelnder Neugier und großem Sendungsbewusstsein, kann die Historie der verschiedenen Clans bis in das 16. Jahrhundert wortreich aufschlüsseln, bis ins Brasilien der Gegenwart seien Paternos aufzuspüren. An Ursula, eine von Hugos Schwestern, die offenbar in Spera und danach viele Jahre in einer der Nachbargemeinden lebte, erinnert er sich nicht. Wer in dem Dorf mit der ockergelben Kirche im Ortszentrum den Namen Paterno trägt, fällt nicht weiter auf.

Der Landwirt Angelo macht sich nach Vorarlberg auf, das Arbeitskräfte für die Webereien und Spinnereien, den Tunnel-, Brücken- und Straßenbau sucht4; um 1880 beginnen die Bauarbeiten des Bahntunnels durch den Arlberg, Angelo schuftet zuerst vermutlich als Zementarbeiter, später in einer Brauerei. Jahre später erstehen Angelo und Guiseppina ein Haus in der Riedstraße 20 in Bludenz, einer reihum von Bergen umgebenen Stadt im Süden Vorarlbergs, und eröffnen offenbar bald ein Ladengeschäft für Lebensmittel und Wein. Bis vor wenigen Jahren war das Haus, ein schlichter Bau mit giebeligem Dach, noch in Familienbesitz.

Wer damals in der Gegend um die Riedstraße wohnt, ist ein Welscher, ein Italiener in der Fremde, einer von ganz unten. Der Bludenzer Lehrer und Erzähler Josef Wichner schrieb 1889 in seiner mit „lustiges und lehrreiches Volksbüchlein“ untertitelten Schwanksammlung „Alraunwurzeln“ im Kapitel „Eisenbahngeschichten“: „Und die welschen schmutzigen Arbeiter selbst mit ihrer unverständlichen Sprache, ihrer verbrannten Haut, ihren rollenden Augen und ihren Flöhen und Wanzen, was waren sie Anderes, als ein der Hölle entstiegenes Teufelsgesindel?“5 Welscher war ein Schimpfwort. Welsches Leben wenig wert. Welscher blieb man ein Leben lang. „All das behagte den erbgesessenen Bewohnern des seit Jahrhunderten deutschen Ländchens nicht im Mindesten“, schrieb Wichner fünf Jahre später in seinem „Volksroman“ genannten Buch „Im Schneckenhause“: „Und als im Laufe der Jahre ganze Ansiedlungen entstanden, so machte das den Urbewohnern wenig Freude und sie bezeichneten solche mitten in ihrem Gebiete liegenden italienischen Inseln spöttisch als Kleinvenedig und mieden nach Tunlichkeit den Umgang mit Leuten völlig entgegengesetzter Art und Lebensgewohnheit.“6

Wird Hugo als Kind und Jugendlicher seiner Sprache, seiner Haut, seiner Augen wegen angefeindet? Sieht man in ihm einen mit Wanzen und Flöhen? Ist seine Familie Teufelsgesindel?

Hugo hat sieben Geschwister.78