Illustration

Klaus Merz

Im Schläfengebiet

Erzählung

HAYMON

1

Walter steht an der Reling seines Wohnzimmerbalkons. Er sucht nach einer Melodie für Epileptiker und pfeift das Lied leise vor sich hin.

Seit ihn Mirjam nach einem schweren Anfall endgültig verlassen und sein Arzt ihm versprochen hat, ihn wieder neu einzustellen, verbringt er seine Nächte regelmäßig auf Zwischendeck. Sein Wort für Halbschlaf, für seinen persönlichen Pikettdienst an Bord der angemieteten Zweizimmerwohnung, für sein Eingesponnenbleiben in Erinnerungen, Gedankenspiele, Selbstgespräche. Nach langem, unnützem Widerstand hat er endlich akzeptiert, dass es ihm jederzeit und überall passieren kann, verkrampft und ohne Bewusstsein auf dem Boden vorgefunden zu werden. So gut es geht, will er aber dennoch auf der Hut bleiben davor. Sein frommer Wunsch. Tagsüber begibt er sich auf den Marsch: Das Vergehen beim Gehen läuft unter Aufsicht der Bäume ab, teilt er seiner Tochter auf einer Postkarte mit.

Den mit Verbandstoff umwickelten Suppenlöffel in Mirjams Nachttischschublade hat er wieder von seiner Camouflage erlöst. Die Erkenntnisse der Medizin sprechen ohnehin gegen eine Anwendung dieses gepolsterten Grand-Mal-Bestecks. Und er kann sich die Zunge ja nicht selber gegen seinen Unterkiefer drücken, um sich vor Bissen oder vor dem Ersticken zu schützen. Also isst er wieder Suppe mit Mirjams Gerät.

Lieber allein, als einsam zu zwein, hat er als erste Sentenz auf einem Zettel festgehalten, nachdem er seiner anfänglichen Verwirrung und lähmenden Niedergeschlagenheit über Mirjams Abschied endlich Herr geworden war. Der Zettel mit der Notiz ist als Buchzeichen in seiner ehemaligen Backrezeptsammlung stecken geblieben. Walter liebt Bilder, und er denkt in Sinnsprüchen, wenn’s geht. Sie geben ihm einen Halt.

Omnis vulnerat, ultima necat, steht unter der Sonnenuhr des Chorherrenstifts, dem er im Vorbeigehen alle paar Wochen einen Besuch abstattet. Er hat sich den lateinischen Spruch von einem der Priester übersetzen lassen – «jede verwundet, die letzte tötet» – und beide Versionen in sein Backbuch aufgenommen.

Wenn Walter vom Stubentisch aufschaut, fällt sein Blick auf einen leeren Stuhl, das einzige Requisit im Ölbild, das an der gegenüberliegenden Wand hängt. Seit er allein lebt, ist ihm das Gemälde noch lieber geworden.

2

Es ist früh am Morgen. Die Bitterkeit der beiden vorangegangenen Nächte hängt noch wie eine dunkle Wolke über Walters schwarzblauem Beret. Er lenkt seine Schritte auf den Lebhag zu, der den Friedhof umgibt, um sich hinterm Gebüsch eine Weile lang zum Verschwinden zu bringen.

Als ich neun war, ging ich immer zu den Kühen hinaus und ließ mich von ihnen lecken, hatte Ruth während ihrer ersten gemeinsamen Nacht zu ihm gesagt und eine Traurigkeit in ihren Augen gehabt, die ihn hilflos machte. Bis er im Morgengrauen anfing, Ruth am ganzen Körper lang und behutsam zu lecken. Walters Augen und Hände erinnern sich vor allem an Mirjam, seine Zunge erinnert sich an Ruth. Er steht an ihrem Grab und fährt mit den Augen seinen eigenen Namenszug unter ihren gemeinsamen Doppelnamen in den rötlichen Stein hinein, der auf der Wetterseite Moos ansetzt.

Das Licht wird milder. Die Aufschlaggeräusche der ersten Tennisspieler springen wie Pulsschläge über die dichten Thuja hinweg. Walter freut sich am neuen Tag, holt tief Luft.

Auf der östlichen Seite des Gräberfeldes wächst die Anzeigetafel der Viert-Ligisten in den blauen Morgenhimmel hinein. Null zu Null. Die Fußballer schlafen noch. Ruth Ehrler-Kern, buchstabiert er vor sich hin. Ich bin das Licht der Welt, steht auf einem andern Stein.

Walter grüßt Ruth und verlässt den Friedhof. Das Morgengrauen liegt jetzt hinter ihm. Als er aus dem Laub- und Thujakarree tritt, bleibt er einen Augenblick lang stehen und stößt seine beiden Fäuste waagrecht in die Luft hinaus: Balance! Dann nimmt er Anlauf, um über den bewaldeten Hügel an den nahen See hinüberzukommen. Der großen Schweinemästerei entlang hält er den Atem an. Die Uferwege um den See sind neu eingekiest, die anthrazitfarbene Wasseroberfläche gleicht einer zähen Haut, und das jenseitige Ufer liegt überdeutlich im Morgenlicht. Auf dem nadelartigen Kirchturmfortsatz eines reformierten Dorfes kreist ein Engel mit seiner Schalmei. Walter vernimmt einzelne Töne aus dem goldglänzenden Instrument, setzt die Tonfolge in seinem Kehlkopf fort. Durch die anfangs noch heiser klingende Melodie scheint ein lange nicht mehr gesungener Liedtext durch. Walter wiegt die Choralzeilen auf seiner Zunge, als prüfe er ihr Gewicht.

Seit seiner Konfirmation hat er Gottesdienste gemieden, er ist auch dem «Zwölfmännigen Chor» nie beigetreten, obwohl er seines schönen Vibratos wegen zweimal zu dieser auserlesenen Mitgliedschaft aufgefordert worden ist. Er wäre der einzige Epileptiker und Nichtakademiker gewesen in dieser kleinen Schar, die ihren Klangkörper nur beim Wegsterben eines Stimmgängers still und im Einverständnis mit den verbleibenden Choristen rasch wieder ergänzt. Die Chorproben finden jeden Letzten des Monats statt. Auf dem Piano des Übungslokals liegt seit Jahrzehnten ein ausgestopftes, junges Reh, das einer der musikalischen Gründerväter bei seinem ersten Jagdgang irrtümlicherweise von einer äsenden Geiß weggeschossen hat.

Ohne Jäger kein Wild!, sagt der pensionierte Staatsanwalt immer. Die gestandenen Kameraden glauben ihm seinen Satz. Sie kommen nicht zusammen, um aneinander zu zweifeln, sondern um zu singen.

Walter setzt im Weitergehen einen Zeppelin in die Luft, lässt über dem See Blériots Monoplan aufsteigen. Die zwölfmotorige Dornier DO X, das Großflugboot, behält er noch im Kopf zurück. Die Bronzeplatte über der Gussröhre des kleinen Brunnens am Wegrand, eine Fronarbeit des Verkehrs- und Verschönerungsvereins, erinnert an den legendären Flugtag von 1921.

Er holt eine Köcherfliegenlarve vom Trogboden herauf und hält sie ins Licht, studiert die exakte Mosaikarbeit am steinernen Köcher und glaubt wieder an die Schöpfung. Mit einem Schluck Brunnenwasser spült er seine Morgentabletten hinunter und spürt den Geschmack von Jauche im Mund: Die Flugkörper stürzen ab, die Köcherfliegenlarve wirft er in den Brunnen zurück und verflucht das Menschengeschlecht, das sich selber in den Mund scheißt.

Als er eine Viertelstunde später den eingefriedeten Campingplatz mit Seeanstoß und Bootshafen betritt, um